MAGAZIN - Herkunftssprachen einbeziehen, Sprachkompetenzen stärken
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DEZEMBER 2019 MAGAZIN Herkunftssprachen einbeziehen, Sprachkompetenzen stärken gkeit und Integration Köln KONZEPTE • NACHRICHTEN Zeitschrift des Zentrums für Mehrsprachi PROJEKTE • VERANSTALTUNGEN
Impressum Herausgeber: Redaktion: Editorial-Design, Satz & Layout: Peter Liffers, agentur für unternehmenskommunikation ZMI Rosella Benati www.liffers-webdesign.de Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration Elcin Ekinci c/o Petr Frantik Bildnachweis: Stadt Köln, Amt für Integration und Vielfalt Titelfoto: Filmstill Ferienschule / S. Vredenburg, S. 4: KITA Kommunales Integrationszentrum Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt Amana, S. 9-11: BiSS-Trägerkonsortium / A. Etges, S. 22-23: L. Heitmann, S. 25 unten: K. Gebala, S. 26-27: Kleine Sandkaul 5 bei den Autorinnen und Autoren der jeweiligen Beiträge. Nils Brüggemann, S. 31: Filmstill: Deutsche Kinder- und 50667 Köln Auflage 2.000 Jugendstiftung, S. 35: R. Lepore, S. 38-39: D. Sarrazin, www.zmi-koeln.de Köln, Dezember 2019 S. 43: S. Ortelbach, S. 42-43: C. Wengmann, S. 44: Bezirksregierung Arnsberg, S. 45 oben: C. Wengmann, alle übrigen Archiv des ZMI. zmi-Magazin | 2019
Inhalt DEZEMBER 2019 MAGAZIN 4 Leitwort Von Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek und Susanne Kremer-Buttkereit 6 Wer gehört wo dazu? Von Manfred Höhne 7 Interview mit Serap Güler Staatssekretärin für Integration des Landes Nordrhein-Westfalen „Es ist schade, wenn man die eigene Muttersprache nicht weitergibt“. Das Gespräch führte Elcin Ekinci. Wissenschaft und Forschung 9 Bildung durch Sprache und Schrift — BiSS auf dem Weg in den Transfer. Von Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek und Prof. Dr. Hans-Joachim Roth 12 Wissenschaft und Praxis im BiSS-Programm Interview mit Dr. Christoph Gantefort, Dr. Lotte Weinrich und Prof. Dr. Alexandra Zepter Das Gespräch führten Rosella Benati und Petr Frantik. 14 Mehrsprachiges reziprokes Lesen. Von Dr. Christoph Gantefort 16 Von einer Didaktik der Mehrsprachigkeit profitieren alle. Von Prof. Dr. Nicole Marx 18 Migrantische Mehrsprachigkeit und die Präsenz von Herkunftssprachen im Bildungssystem. Von Prof. Dr. Havva Engin 20 Vom „Hier“ und „Da“: Zur Verortung des HSU in der Migrationsgesellschaft. Von Prof. Dr. Sara Hägi-Mead 22 Deutsch lernen mit Kernvokabular. Von Dr. Larissa Heitmann, Dagmar Fretter, Lena Lingk Praxis und Projekte: Aktuelles aus dem ZMI 24 Deutsch lernen mit Spaß und Freude. Das FerienIntensivTraining - FIT in Deutsch in den Sommerferien. Von Mandy Behne, Karoline Gebala, Arne Hinz und Lisa Möller 26 Das Netzwerk Herkunftssprachlicher Unterricht. Von Antje Hansen 28 PROMPT! - Ein Projekt des Zentrums für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln. Von Sandra Longo 30 Forschen und Rätseln auf vielen Sprachen in einer Lernwerkstatt. Von Natascha Berger Stadt und Land: Ideen und Projekte aus der Region 32 „Sprache ist ein nie endendes Konzept“. Interview mit Nilgün Filiz, Amana – Kita BFmF e.V. Das Gespräch führte Elcin Ekinci. 34 „Du wirst es hier nicht einfach haben, du musst doppelt so hart arbeiten.“ Interview mit Roberto Lepore, Handwekskammer zu Köln. Das Gespräch führte Elcin Ekinci. 36 Herkunftssprache anstelle der 2. oder 3. Fremdsprache. Das Gespräch führte Rosella Benati. 38 Integration durch ästhetische Bildung. Eine Nachlese zu Projektpräsentationen anlässliches Welt- flüchtlingstages 2019. Von Carmen Cardaci und Detlef Sarrazin Neue Publikationen im ZMI / Zuletzt erschienen Das ZMI-Magazin ist die Zeitschrift des 40 Aktuelle Neuerscheinungen, vorgestellt vom ZMI Zentrums für Mehrsprachigkeit und Integration Köln: Veranstaltungen 41 Mehrsprachigkeit in der frühen Bildung - Sprachfest am 29. Januar 2019 44 BiSS-Regionalkonferenz am 9. Oktober 2019 44 Fortbildungstag Deutsch 45 6. Kölner Lesekonzert 45 Didakta 2019 46 Interkulturelle Glosse Interespect leben – Was man von Kindern lernen kann zmi-Magazin | 2019
4 Leitwort Leitwort rotzek und von Prof. Dr. Michael Becker-M Susanne Kremer-Buttkereit Das Jahr 2019 war für das ZMI neben seiner inhaltlichen Arbeit zum Schwerpunkt Mehrsprachigkeit auch durch personelle Änderungen geprägt. Die Dienstelle Diversity ist in das neu gegründete „Amt für Integration und Viel- falt“ übergegangen, das direkt der Oberbürgermeisterin Henriette Reker untergeordnet ist. Künftig wird Frau Su- sanne Kremer-Buttkereit als stellvertretende Amtsleiterin und Leiterin des Kommunalen Integrationszentrums die Stadt Köln in der Steuergruppe des ZMI vertreten. Frau Nina Rehberg hat die Leitung der Abteilung Vielfalt im neu- en Amt übernommen und daher die Steuerungsgruppe des ZMI verlassen; sie hat die Belange des ZMI in der Stadt immer gut vertreten. Dafür bedanken wir uns bei ihr sehr. zmi-Magazin | 2019
Leitwort 5 Das ZMI verlassen wird im nächsten Jahr Manfred Höhne von der Be- zirksregierung Köln, der seit dessen Gründung im Jahre 2008 festes Mit- glied der Steuerungsgruppe des ZMI war. Über die Jahre hat er das ZMI mit großem Engagement, Fachkenntnis, Herz und scharfem Verstand maßgeblich mitaufgebaut und gestaltet, um die Berücksichtigung und Einbindung der Mehrsprachigkeit in allen Bereichen der Kölner Bildungs- landschaft voranzutreiben. Aus diesem Grund folgt diesem Leitwort ein persönliches Resümee, in dem Manfred Höhne auf Basis seiner reichhal- tigen Erfahrungen seine Einschätzung zur gegenwärtigen und seine Ide- en für die zukünftige Rolle des ZMI darlegt. Inhaltlich stand das Jahr 2019 im Zeichen der Mehrsprachigkeit – nicht nur in Köln. Die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für die Entwicklung Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Susanne Kremer-Buttkereit von Kindern und Jugendlichen rückt zunehmend ins Zentrum öffentli- Mercator-Institut Leiterin des Kommunalen cher Debatten. So hat etwa Prof. Dr. Paul Lesemann (Universität Ut- Universität zu Köln Integrationszentrums Stadt Köln recht) in seiner Keynote mit dem Titel „Linguistische Superdiversität: Herausforderungen und Chancen in der Bildung“ auf der BiSS-Jahresta- gung am 21. und 22.11.2019 in Berlin die Mehrsprachigkeit in den Mit- telpunkt gestellt. Er hat insbesondere gezeigt, wie mit teilweise sehr ein- fachen Mitteln die Sprachen der Schülerinnen und Schüler in den Unter- Ein wichtiger Baustein bei der Umsetzung ist die Einbindung der Her- richt einbezogen werden können und wie sich dies positiv auf das ganze kunftssprachen in Bildungsprozesse. Das ZMI hat sich den Herkunfts- Lernen auswirken kann. sprachlichen Unterricht daher als Themenschwerpunkt für die Jahre Eine wichtige Rolle im Zusammenhang gelebter Mehrsprachigkeit spielt 2019 und 2020 gesetzt und hierzu eine Reihe von Veranstaltungen, Pro- der Herkunftssprachliche Unterricht (HSU), der in Köln eine lange Tra- jekten und Angeboten initiiert. So findet beispielsweise das ZMI-Sprach- dition hat. Dies wurde durch Publikationen und Veranstaltungen un- fest 2020 unter dem Titel „HSU -Herkunftssprachen in der Schule“ statt. termauert. So lud das Ministerium für Schule und Bildung des Landes Dem diesjährigen ZMI-Magazin liegt zudem ein Beiheft mit Information Nordrhein-Westfalen am 30. Oktober 2019 in Düsseldorf Expertin- zum Herkunftssprachlichen Unterricht in Köln bei. Dieses Beiheft richtet nen und Experten aus dem gesamten Bundesgebiet zu der Fachtagung sich an alle Interessierte am HSU, die sich über Hintergründe und An- „Herkunftssprachlicher Unterricht in Nordrhein-Westfalen – Rahmen- meldemöglichkeiten informieren möchten. bedingungen und Entwicklungsperspektiven“ ein, die gemeinsam Mög- Es bietet sich an, dass wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in die- lichkeiten der Weiterentwicklung und Implementierung des HSU dis- ser Ausgabe des ZMI-Magazins viele Beiträge präsentieren, die die Her- kutierten. In ihrem Grußwort stellte Ministerin Yvonne Gebauer die kunftssprachen und die Mehrsprachigkeit thematisieren. Mehrsprachigkeit als eine besondere Kompetenz heraus, die gezielt Serap Güler, Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, unterstützt und gefördert werden sollte. Der Herkunftssprachliche Un- Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen terricht sei eine Anerkennung der Mehrsprachigkeit in unserer Gesell- (MKFFI), gibt neben gesellschaftlichen Einschätzungen auch einen per- schaft, der die allgemeinen sprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen sönlichen Einblick in den Umgang mit der eigenen Herkunftssprache. und Schüler stärke. Einen wissenschaftlichen Blick auf das Thema werfen die Beiträge von Ein konkreter Arbeitsschwerpunkt des ZMI in Köln lag 2019 in der Um- Nicole Marx, Sara Hägi-Mead und Havva Engin. Antje Hansen und In- setzung der im sog. Eckpunktepapier formulierten Ziele. Auf Initiative grid Gogolin stellen das bereits oben genannte Netzwerk HSU sowie die des Integrationsrates hat das ZMI das Papier „Eckpunkte zur Integrati- Koordinationsstelle Mehrsprachigkeit und Sprachliche Bildung (KoMBI) on von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen in Kölner Schu- vor. Einen Einblick in die Arbeit als Lehrerin für das Fach Türkisch anstel- len“ erarbeitet, das am 27. September 2018 vom Kölner Rat beschlos- le der 2. oder 3. Fremdsprache bietet das Interview mit Şeyda Şengül- sen wurde. Dabei wurden Steuerungsgruppe und Geschäftsführung des Karameşe, Dilek Gündoğan und Ümran Pargan. ZMI von einer Gruppe interdisziplinärer Expertinnen und Experten der Neben den Themen der Herkunftssprache und Mehrsprachigkeit wird in Bezirksregierung Köln, der Stadt Köln, der Universität zu Köln und wei- dieser Ausgabe auch ein besonderer Fokus auf die gemeinsame Initia- terer Organisationen und Träger unterstützt und beraten. Neben einer tive von Bund und Ländern „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS) Beschreibung der Ausgangslage enthält das Papier weitreichende Hand- gelegt. Der Beitrag von Hans-Joachim Roth und Michael Becker-Mrot- lungsempfehlungen, wie die Bildungschancen neu zugewanderter Kin- zek resümiert eine Reihe von Regionalveranstaltungen in NRW, in der der und Jugendlicher, einige von ihnen nach Köln geflüchtet, an Schulen die Zusammenarbeit der verschiedenen Ebenen der Bildungspraxis, der verbessert werden können. Zur planvollen Koordinierung dieser Hand- Bildungsadministration sowie der Wissenschaft deutlich wurden. Er- lungsempfehlungen wurde eine Steuerungsgruppe eingerichtet, beste- gänzt wird dieser Beitrag durch Interviews mit Lotte Weinrich, Alexand- hend aus dem ZMI, dem Kommunalen Integrationszentrum (KI) sowie ra L. Zepter und Christoph Gantefort, die einen Einblick in die konkrete dem Regionalen Bildungsbüro (RBB). Die Kölner Bildungskoordinatorin- wissenschaftliche Begleitung der Kölner BiSS-Verbünde gewährt. nen und -koordinatoren begleiten im Rahmen dieser Steuerungsgruppe Wir wünschen Ihnen viel Spaß und Anregungen beim Lesen des ZMI- maßgeblich den Umsetzungsprozess. Magazins 2019 und grüßen Sie herzlich! zmi-Magazin | 2019
6 Wer gehört wo dazu? e r g e h ö r t w o d a z u ?“ „W von Manfred Höhne Gleichberechtigtes Mitglied in einer sich stets verändernden Gesellschaft Integration durch „Teilgabe“ ist allerdings erheblich mehr! Wie sieht der zu werden, geschieht nicht von alleine. Der Austausch durch Sprache und wichtige Beitrag mehrsprachiger, mit internationaler Familiengeschichte Schrift, das Verstehen anderer, zunächst fremder Kulturen, wird allzu oft hier mit uns lebenden Menschen aus? Und: Wie schaffen wir es, unsere zu einer emotionalen Herausforderung für alle Beteiligten. Jede Begeg- Wahrnehmung hierfür zu schärfen? Die sprachliche Herkunft und die kul- nung mit Verschiedenartigkeit kann aber zugleich den Zauber der Viel- turelle Vielfalt machen hier den Unterschied, denn die Muttersprache und falt offen legen und es sind besondere Momente, sich auf diesen Pro- die dabei sichtbare Sprachkultur in Gestik, Mimik und Körpersprache von zess einzulassen. Kindern und Jugendlichen aus internationalen Familien ist ein Garant für eine Mehrsprachigkeit in einer vielsprachigen Gesellschaft. Von den Stär- Aus diesem Grund ist das ZMI – Zentrum für Mehrsprachigkeit und Inte- ken der Kinder und Jugendlichen ausgehend Konzepte der Mehrsprachig- gration in Köln entstanden. Das ZMI wird für die Sprachbildung und In- keit zu entdecken und zu etablieren wird weiterhin eine zentrale Aufgabe tegration keine „allumfassenden“ Antworten bieten, jedoch ermöglichen des ZMI sein müssen. Überlegenswert ist sicherlich die Zusammenarbeit die Initiativen, Angebote und Strukturen des ZMI einen besonderen Zu- mit den Eltern und ihren Kompetenzen in den jeweiligen Herkunfts- oder gang zu Veränderungen. Muttersprachen zum Aufbau einer auf Augenhöhe praktizierten Lernge- meinschaft. Die Eltern konzeptionell einzubinden und somit Partizipati- Nach mehr als elf Jahren Mitarbeit in der Steuerungsgruppe des ZMI gilt on umzusetzen, ermöglicht professionelle Netzwerke für sprachliche Bil- mein Dank den damaligen Initiatoren aus Politik und Verwaltung, die im dung, für Mehrsprachigkeit und umfassende Integration! Jahr 2008 mit Weitsicht eine Kooperation zwischen der Stadt Köln, der Das bundesweit einmalige ZMI – Zentrum für Mehrsprachigkeit und Inte- Universität zu Köln und der Bezirksregierung Köln ermöglicht haben. gration in Köln kann hierzu entscheidende Impulse geben. Diese Verbindung und die Zusammenarbeit, aber auch die Kraft, die hin- ter diesen drei großen Partnern steht, ist wichtig und wertvoll, damit die … und nun, zum Abschluss, ein ganz besonderer Dank: Potenziale unserer Kölner Kinder und Jugendlichen entdeckt und weiter- Ich danke meinen ehemaligen und aktuellen Kolleginnen und Kollegen hin gefördert werden. Dazu hat das ZMI im Laufe der zurückliegenden der Geschäftsführung und der Steuergruppe. Seit 2008 waren in der Jahre zahlreiche Projekte und Unterstützungsangebote für die Sprachbil- Steuergruppe, bis auf eine kurze zeitliche Ausnahme, immer Mitglieder dung und Integration entwickelt und prozessbegleitend evaluiert. mit internationaler Familiengeschichte vertreten. Das alleine wäre schon Die Entwicklungslinien waren klar und haben weiterhin große Bedeu- beispielhaft! Die fachlichen Auseinandersetzungen, Diskussionen und die tung: Die sichere Kommunikation in der Bildungssprache sowie gute Le- Momente, in denen aufgrund der vorhandenen Mehrsprachigkeit und der se- und Schreibkompetenzen sind zentrale Anforderungen. Kinder und Fachexpertise wie selbstverständlich ein interkulturelles Verstehen aus- Jugendliche sowie die Fachkräfte in den jeweiligen Einrichtungen werden schlaggebend für Entscheidungen wurde - diese Begegnungen bleiben durch innovative Maßnahmen des ZMI bei der Bewältigung der damit dauerhaft in Erinnerung. einhergehenden Aufgaben unterstützt. Somit wird die Teilhabe an zahl- reichen gesellschaftlichen Angeboten erleichtert und oft erst ermöglicht. Es war eine so gute Zeit - vielen Dank! zmi-Magazin | 2019
Interview mit Serap Güler 7 Waren Sie in Ihrer Schulzeit mit dem Konzept Mehrsprachigkeit konfrontiert? Ich besuchte den herkunftssprachlichen Unterricht in der Grund- schule, es war das Ersatzfach für Religion. Das ging bis zur sechsten oder achten Klasse der weiterführenden Schule, danach wurde es nicht mehr angeboten. Ich fand es für mich sehr berei- chernd. Zu Hause wurde nur Türkisch gesprochen, das hatte zwei Gründe: Meine Eltern konnten nur schlecht Deutsch und wollten dieses Defizit nicht an uns weitergeben. Und meine Mutter hat gesagt, du sprichst genug Deutsch draußen, in der Schule und “Es ist schade, wenn man die eigene Muttersprache nicht weitergib t” Interview mit Serap Güler, Staatss ekretärin für Integration des Lan Das Gespräch führte Elcin Ekinci. des Nordrhein-Westfalen. mit deinen Freunden. Für mich als Kind war das keine einfach Situ- mir gefragt, ob ich dolmetschen kann, insbesondere wenn die ation: auf Deutsch zu spielen und in der Schule zu lernen, aber Gäste kein Englisch sprechen konnten. Bei meiner Bewerbung dann die Sprache zu Hause nicht einsetzen zu dürfen. Doch im war das aber kein Kriterium und auch beim Einstellungsgespräch Nachhinein bin ich dafür dankbar. Auch für den herkunftssprach- hat es keine Rolle gespielt. Doch für den Arbeitgeber war meine lichen Unterricht, bei dem ich mich mit türkischen Gedichten be- Mehrsprachigkeit am Ende sicherlich ein Gewinn. schäftigt habe und mit der türkischen Literatur. Das ist etwas, was ich nicht missen möchte. War der Erwerbe der englischen Sprache anders, vielleicht auch leichter? Beherrschen Sie Türkisch so gut wie Deutsch? Vielleicht hatte ich Vorteile, die sind mir nicht so bewusst gewesen. Ich würde nicht sagen, dass mein Türkisch so gut ist wie mein Deutsch. Meine Ausbildung war in deutscher Sprache, dann Wieso haben Sie sich für das Studium der Germa- habe ich Germanistik studiert. Das ist nochmal was anderes, nistik entschieden? wenn man sich so intensiv mit einer Sprache auch wissenschaft- lich auseinander setzt. Und jetzt mache ich Politik auf Deutsch. Ich habe am Campus Essen studiert. Deutsch war mein Lieb- Wenn ich zu bestimmten Dingen auf Türkisch gefragt werde, lingsfach in der Schule und ich habe mich damals gerne mit der muss ich selbst manchmal noch einmal überlegen. Ich habe am deutschen Sprache auseinandergesetzt, weil ich die Sprache ein- Anfang zum Beispiel darüber nachgedacht, was „Integrations- fach schön finde. Meine Hauptfächer waren Kommunikations- gipfel“ auf Türkisch bedeutet, die korrekte Übersetzung lautet wissenschaften und Germanistik. „uyum zirvesi“. Das Umschalten zwischen den Sprachen fällt mir manchmal nicht so leicht. Warum hat Ihr Ministerium ein Gutachten zum Thema Mehrsprachigkeit in Auftrag gegeben? Wurde in Ihrer Ausbildung zur Hotelfachfrau die Mehrsprachigkeit als Ressource angesehen? Wir wollten wissen, wo wir stehen und wo noch Handlungs- felder sind. Deswegen haben wir in unserem Koalitionsvertrag Ehrlich gesagt hat niemand nach meinen Türkischkenntnissen ge- unter dem Kapitel „Integration“ die Mehrsprachigkeit ganz klar fragt. Wichtig war Englisch. Ich hatte in der Schule auch Franzö- benannt. Wir stehen als Landesregierung zur Mehrsprachigkeit. sisch, spreche es aber selten, es müsste aufgefrischt werden. Im Wir halten das für integrationspolitisch wichtig, weil es eine An- praktischen Teil der Ausbildung konnte ich meine Türkischkennt- erkennung und Wertschätzung für die Menschen ist, die hier le- nisse oft einsetzen, das war schon hilfreich. Wenn wir beispiels- ben. Es ist doch schade, wenn Arbeitgeber – wie in meinem Fall weise türkische Reisegruppen hatten, dann wurde immer nach während der Ausbildung – sich nicht für andere Sprachkennt- zmi-Magazin | 2019
8 Interview mit Serap Güler nisse interessieren und sie nicht wertschätzen. Deutschland hat Einwanderungsländer wie Kanada und die Vereinigten Staaten lange gebraucht um zu merken, dass jede Sprache wertvoll ist, das auch nicht in dem Maße machen. Ich finde das schade, aber egal ob es Türkisch, Italienisch oder Griechisch ist. Jede weitere jede Einwanderungsgesellschaft muss ihre eigene Kultur entwi- Sprache, trägt zur Vielfalt bei. Das wurde lange Zeit unterschätzt. ckeln. Und die kann nicht aus der Devise bestehen, du bist herz- Beim herkunftssprachlichen Unterricht ist Nordrhein-Westfalen lich willkommen, aber du musst alles andere abwerfen! Es ist Spitzenreiter im Vergleich zu den anderen Bundesländern. Sich eine politische Aufgabe, das deutlich zu benennen. Zuversichtlich darauf auszuruhen, ist mir aber zu wenig. Durch das Gutachten stimmt mich, wenn ich sehe, wie viele mehrsprachige Kitas es wollten wir schauen, was noch verbessert werden kann. heute gibt. Die gab es zu meiner Zeit nicht, da war die Menta- lität deutlich anders. Das Kind sollte Deutsch lernen und nichts Wie haben Sie die Veranstaltung erlebt, auf der Anderes. Das war zu jener Zeit vielleicht auch richtig, weil viele die Ergebnisse des Gutachtens präsentiert wur- ja auch zu Hause nicht Deutsch gesprochen haben. Ein Freund den? von mir betreibt in Köln eine Kita, die eine deutsch-türkische, deutsch-spanische, deutsch-englische und in Duisburg sogar Ich glaube, sie war ein gutes Signal an die unterschiedlichen eine deutsch-chinesische Gruppe hat. Er sagt, er kriegt gar nicht Akteure. So viele Expertinnen und Experten an einem Tisch zu alle Kinder unter: Ganz viele deutsche Eltern haben ein Interes- haben, war uns ein zentrales Anliegen. Fremdsprachenunterricht se daran, dass ihr Kind schon in der Kita eine weitere Sprache hat genauso seinen Wert wie Muttersprachenunterricht. Beides lernt. Wenn die Möglichkeit besteht, warum sollten sie nicht eine ist wichtig. weitere Sprache lernen? Das ist ein großer Gewinn. Ich würde nicht so weit gehen, dass der muttersprachliche Unterricht ver- Wie geht es nach diesem Gutachten weiter? setzungsrelevant sein soll. Einige Handlungsempfehlungen gibt es schon und ich sehe auch, Was bedeutet diese Ausrichtung des Ministeri- dass das ZMI diese bereits aufgegriffen hat und umsetzt. Es geht ums für die Kommunalen Integrationszentren? auch darum, wie man die Anerkennung der Muttersprache im Regelunterricht aufbauen und fördern kann. Da gibt es durch- Das Thema Mehrsprachigkeit ist bereits bei der Landeskoordi- aus noch Verbesserungspotential. Ich finde es super, dass das nierungsstelle Kommunale Integrationszentren angesiedelt. Wir ZMI Materialien für die Schulen entwickelt und den Lehrkräf- überlegen gerade, wie wir die Zentren stärker unterstützen kön- ten an die Hand gibt. Auch in der Lehrerausbildung sollte die nen, so dass sie praxisorientierter arbeiten können. Natürlich Mehrsprachigkeit eine Rolle spielen. Das sind Punkte, die wir dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass sie regional unterschied- als Landesregierung jetzt nach vorne bringen wollen. Ein Beispiel lich organisiert und strukturiert sind. Wir müssen schauen, wie hierfür ist die Aufstockung der Anzahl der Lehrkräfte für den wir diesen Prozess gestalten. muttersprachlichen Unterricht um 50 auf nunmehr 936 Stellen im Haushaltsjahr 2019. Wie sehen Sie die Arbeit des ZMI und ihre Fort- führung - auch als Beispiel für andere Städte? Was kann Ihr Ministerium konkret im öffentlichen Diskurs tun? Ich kann es nur unterstützen, dass man es auf andere Städte aus- weitet. Es kann natürlich auch eine Herausforderung sein, wenn Wir sollten uns klar dazu bekennen, die Förderung der Mutter- unterschiedliche Akteure mit verschiedenen Zielvorstellungen zu- sprache als politische Aufgabe umsetzen zu wollen. Es ist bei sammenarbeiten. Es macht aber die Stärke Kölns aus, dass alle weitem nicht so, dass diejenigen, die Vielfalt gut finden und ak- Akteure letztlich an einem Strang ziehen. zeptieren, auch das Thema Muttersprache akzeptieren. Ich wur- de letztens auf einer Veranstaltung von einem Vater angespro- Was wünschen Sie sich vom ZMI zum Thema her- chen. Er hätte in der Schule seines Kindes mitbekommen, dass kunftssprachlicher Unterricht? Muttersprachenunterricht angeboten wird und sein Kind nicht daran teilnehmen kann. Sein Kind hat eine deutsch-deutsche Ganz wichtig ist es, die Eltern mitzunehmen. Da ist viel zu tun, Herkunft und da ist es halt nicht so einfach. Dann hat er sich viele kennen ihre Rechte überhaupt nicht. Wenn eine bestimmte aufgeregt, dass der Unterricht mit seinen Steuern bezahlt wird. Anzahl von Eltern zusammenkommt, können sie an ihrer Schu- Ich habe uns immer als Solidaritätsgesellschaft verstanden. Es le einfordern, dass herkunftssprachlicher Unterricht angeboten muss zur Kultur eines Einwanderungslandes gehören, die Her- wird. Dafür muss man ein Bewusstsein schaffen. Es ist wichtig, kunftskultur zu fördern. Dazu gehört natürlich auch die Sprache. dass die Herkunftssprache vermittelt wird. Alles andere widerspricht der Mentalität einer Einwanderungs- gesellschaft. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die klassischen Vielen Dank für das Gespräch. zmi-Magazin | 2019
mehrwert: 9 Aus Wissenschaft und Forschung Bildung durch Sprache und S BiSS auf dem Weg in den Tran chrift – sfer von Prof. Dr. Michael Becker-Mro tzek und Prof. Dr. Hans-Joachim Rot h, BiSS-Trägerkonsortium 2018 startete BiSS-NRW die Planung zu einer bemerkenswerten Reihe von Regionalveranstaltungen, auf denen die Ergebnisse des Bund-Länder-Programms „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS) zusammengetragen und einer fachlichen Öffentlichkeit präsentiert wurden. Die Veranstaltungen fanden zwischen Mai und Oktober 2019 statt, die Regionalveranstaltung des Regierungsbezirks Köln am 9. Oktober. Sie wurden von Seiten der Landeskoordinatorin BiSS Uta Biermann von der Landesweiten Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren (LaKI) in Kooperation mit dem Ministerium für Schule und Weiterbildung sowie den jeweils zuständigen Stellen in den Bezirksregierungen durchgeführt. Auf allen Veranstaltungen gab es durch das Trägerkonsortium einen Überblick zu BiSS aus Bundessicht sowie zu den Verbänden in NRW und ihrer konkreten Arbeit. 1 Warum nun sind diese Veranstaltungen bemerkenswert? Aus un- des Erprobens in eine Phase der breiten Umsetzung ausgerollt wer- serer Sicht sind es zwei Dinge, die eine solche Bewertung rechtfer- den soll. tigen lassen. Zum einen ist es die besondere Kooperation aller an In der Laufzeit des Programms hat sich bundesweit ein gemeinsa- BiSS beteiligten Akteure, zum anderen sind es das Format und die mer Prozess entwickelt, der die Zusammenarbeit der verschiedenen Strategie, mit denen ein großes Bildungsprogramm von einer Phase Ebenen der Bildungspraxis, der Bildungsadministration sowie der 1 Vgl. https://kommunale-integrationszentren-nrw.de/biss-nordrhein-westfalen-vier-veranstaltungen-fuer-den-transfer-die-region-erfolgreich-gelaufen zmi-Magazin | 2019
10 Aus Wissenschaft und Forschung Verantwortlichen vor Ort und das Ministe- rium gab die BiSS-Landeskoordinatorin Uta Biermann einen Überblick über die Arbeit der Verbünde in Nordrhein-Westfalen. An- schließend hatten die Besucher*innen die Möglichkeit, sich das im Detail an „Markt- ständen“ anzusehen. Die Verbünde hatten dazu professionelle Informationsposter an- gefertigt und standen bereit, Fragen zu ihrer Arbeit zu beantworten. Neben den Postern hatten die Verbundkoordinator*innen auch eine Reihe von Materialien mitgebracht, so- dass sich eine intensive Gesprächsatmo- sphäre entfaltete. Es folgte ein Überblick über das Bundesprogramm BiSS durch Mit- glieder des Trägerkonsortiums, jeweils mit einer Betrachtung von Themen und Forma- ten, die sich für den Transfer anbieten. Wie auch schon in den Präsentationen aus den Verbänden ging es nicht nur um Inhaltliches und die BiSS-Produkte im Themenfeld der sprachlichen Bildung, sondern in gleicher In- tensität auch um Formate und Strukturen. Letzteres betrifft insbesondere die Koope- ration. Dabei wurde auf der Ebene der Ver- Wissenschaft als eigenes Merkmal für den Genau diese Grundstimmung des komple- bünde das zuvor thematisierte spezifische Erfolg des BiSS-Programms hat hervortreten xen Beziehungsgeflechts im Bildungswe- Merkmal von BiSS-NRW sichtbar: die enge lassen. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass sen war bei den Regionalveranstaltungen in Kooperation mit den regionalen Hochschu- Menschen, die in Schulen und Kitas arbei- NRW gerade nicht zu spüren. Die Koopera- len. An dieser Stelle wurde erkennbar, dass ten, auch Kontakte zur Ebene der überge- tion der verschiedenen Ebenen hat im Rah- ein relativ enges Netz an Hochschulen in ei- ordneten Administration und gegebenenfalls men von BiSS eine Selbstverständlichkeit ge- nem Bundesland für Programme wie BiSS auch zu Wissenschaftler*innen haben. Aller- wonnen, die tatsächlich bemerkenswert ist: eine wichtige strukturelle Grundlage bieten dings sind solche Beziehungen nach wie vor Man ist miteinander im Gespräch, ohne die kann. häufig von Berührungsängsten oder auch unterschiedlichen fachlichen und strukturel- Mit diesen Kooperationen lassen sich die Vermeidungsbewegungen durchzogen; das len Zwänge und Bedingungen auszublen- Anforderungen von Innovationen im Bil- gilt insbesondere dann, wenn Hierarchien den. Der durchaus unterschiedliche Blick auf dungssystem ganz anders bewältigen. Die im Raum sind und die Bildungsadministra- dieselbe Bildungswirklichkeit wird weniger seit einigen Jahren bekannte Einsicht aus tion auch Aufsichtsaufgaben wahrnimmt so- als Trennlinie erfahren, sondern als multiper- der Schulentwicklungsforschung, dass sich wie immer mal wieder Entscheidungen trifft, spektivischer Blick wahrgenommen, der für die komplexen Herausforderungen an gelin- die vor Ort durchaus nicht immer nachvoll- den Bereich der sprachlichen Bildung einen gende Bildungsprozesse nicht mehr über das zogen werden oder Zustimmung auslösen. reicheren Zugang ermöglicht und die prä- Engagement einzelner Lehrkräfte und auch Das Verhältnis zur Wissenschaft ist ebenfalls zisere Einordnung von Beobachtungen, Er- nur einzelner Schulen bewältigen lassen, häufig ambivalent, wenn diese als weit ent- gebnissen und Erfahrungen ermöglicht. An- führte auch bei BiSS zu einer Grundstruk- fernt und über der Wirklichkeit schwebend erkennung und Wertschätzung der unter- tur der Arbeit in Verbünden. Gerade eine wahrgenommen wird („Elfenbeinturm“) schiedlichen fachlichen Expertisen sind so- sprachliche Bildung, die zwar vornehmlich oder ihre Akteure als nervige Datenräuber mit die wesentliche Grundlage für diesen im die Verbesserung der Kompetenzen der 25 und Zeitdiebe wahrgenommen werden; sie Laufe der letzten sieben Jahre aufgebauten Prozent von Schüler*innen ohne hinreichen- fliegen ab und an in Schulen oder Kitas ein, Beziehungstypus der Kooperation, die sich de sprachliche Kompetenz als Aufgabe hat, führen Tests und Interviews durch und rü- um die Gemeinsamkeit eines Gegenstan- kann es sich nicht leisten, mit einem isolier- cken dann zwei Jahre später mit irgendwel- des herum gruppiert: dem der sprachlichen ten Einsatz von Fördertools für die Zielgrup- chen Ergebnissen an, wenn die betroffenen Bildung. pe der sogenannten „schwachen Leser“ zu Kinder und Jugendlichen schon längst nicht Wie sind die Regionalveranstaltungen ab- arbeiten, sondern muss auf größere Arran- mehr da sind. gelaufen? Nach einer Begrüßung durch die gements sprachlicher Bildung setzen. Denn zmi-Magazin | 2019
Aus Wissenschaft und Forschung 11 es geht weder darum, eine neue Förderpoli- tik zu installieren, noch darum, den bekann- ten Schereneffekt zu bedienen (die „Guten“ werden immer besser, wohingegen sich bei den „Schwachen“ wenig tut). Maßnahmen der sprachlichen Bildung brauchen eine ei- gene Situierung im einzelnen System – sei es eine Schule oder eine Kita. Und diese be- ziehen sie aus Kooperationen, die die einzel- nen Institutionen überschreiten. Eine solche Situierung ergibt sich nicht von allein, sondern sie will begleitet sein, da es nicht allein ausreicht, sich für eine Maßnah- me zu entscheiden und diese dann nach Plan umzusetzen. Sie muss tatsächlich ihren eige- nen Platz im System finden, d. h. es braucht eine Passung zum jeweiligen Bildungsalltag, die die Anforderungen an die Durchführung solcher Maßnahmen aus Gründen der Wirk- nur erfolgreich sein und die Komplexität des in BiSS die Landeskoordination angesiedelt samkeit genauso erfüllen (Stichwort Kon- Arbeitens in Verbünden gelingen lassen, ist, wurde das lebendig gehalten und für die zepttreue) wie die der Bedingungen vor Ort. wenn der Kitt an den Schnittstellen mit be- Sprachbildungsarbeit in NRW weitergeführt. Das meint der Ausdruck Situierung. Genau dacht wird, sprich wenn die für das Gelin- 2013 konnte BiSS daran anknüpfen und hat dafür ist Kooperation von hoher Bedeu- gen bedeutsame Prozesskomponente per- inzwischen durch das neu aufgesetzte Kon- tung, ebenso eine wissenschaftliche Be- sonell abgesichert ist. Denn Kooperation in zept der Verbundkoordinator*innen, die gleitung, die zum einen Evaluationsschritte komplexen Strukturen benötigt Kommuni- zum Teil auch direkt an den kooperieren- durchführt und Daten zur Entwicklung von kation. Deren Aufwand ist oft nicht direkt den Hochschulen angesiedelt sind, eine ei- Schülerkompetenzen bereitstellt, zum ande- sichtbar, sondern taucht – als typisches Ele- gene stabile Netzwerkstruktur aufgebaut, ren aber auch Prozesse auf dem Weg der Si- ment immaterieller Arbeit – in den üblichen die für den Transfer bereitsteht und ein ko- tuierung in den Blick nimmt, die den Erfolg Kosten-Nutzen-Rechnungen gar nicht auf. operatives Arbeiten in Verbünden sicher- der Implementierung von Maßnahmen ähn- Im Hinblick auf den Transfer wurden die Ver- stellt sowie eine gemeinsame thematische lich stark beeinflussen wie die Genauigkeit anstaltungen nicht nur zur Information inte- Linie in die Sprachbildungsarbeit in NRW ihres Einsatzes. ressierter Kolleg*innen und Einrichtungen hineinbringt. Das Geheimnis solcher erfolgreichen Koope- genutzt, sondern auch für die Transfervorbe- rationen liegt also nicht etwa darin, dass al- reitung und -planung. Die Teilnehmer*innen le dasselbe machen, sondern alle Beteilig- hatten die Möglichkeit, konkrete Interes- ten ihre jeweilige Expertise in den gemein- sensbekundungen dazu abzugeben, was sie samen Prozess einbringen und aus ihren je- in einer möglichen Transferphase bearbeiten info weils unterschiedlichen Blickwinkeln durch- wollen. Die Planungen für BiSS-Transfer in aus auch kritisch betrachten und gemeinsam NRW beruhen somit auf einer breiten Basis Kontakt reflektieren. In NRW hat sich im Feld der von Informationen auf der einen und auf der Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek Mercator-Institut sprachlichen Bildung erkennbar eine solche Berücksichtigung von Wünschen und Erwar- Universität zu Köln Gronewaldstr. 2 | 50931 Köln Kooperationskultur entwickelt, die die Be- tungen auf der anderen Seite. Eine genaue Email: wältigung komplexer Aufgaben durch kom- Umsetzungsplanung wird im Land noch michael.becker-mrotzek@uni-koeln.de plexe Prozesse gelingen lässt. erarbeitet. Strukturell wichtiges Element dabei waren In NRW zeigt sich die Bedeutung einer vor- und sind die Verbundkoordinator*innen. Für handenen Struktur. Wie zu Beginn von BiSS Prof. Dr. Hans-Joachim Roth deren Arbeit hatte das Land – im Übrigen immer auch auf noch bestehende Erfahrun- Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät als einziges Bundesland in diesem Umfang gen, Strukturen und Kompetenzen zurückge- Interkulturelle Bildungsforschung Gronewaldstr. 2 | 50931 Köln – die weise Entscheidung getroffen, erheb- griffen werden konnte, die im Rahmen des Email: hans-joachim.roth@uni-koeln.de liche Stellenanteile zur Verfügung zu stellen. letzten BLK-Programms Förderung von Kin- Gerade in einem bevölkerungsreichen wie dern und Jugendlichen mit Migrationshin- geographisch ausgedehnten Land wie Nord- tergrund (FörMig) entstanden waren (2004- rhein-Westfalen kann ein solches Programm 2012). Insbesondere in der LaKI, bei der auch zmi-Magazin | 2019
12 Aus Wissenschaft und Forschung h af t u n d Pr ax is im B iS S- Pro g ramm Wissensc konsortium BiSS-Träger Wei nric h, Dr. Chr isto ph Gan tefo rt und Prof. Dr. Alexandra L. Zepter, Interview mit Dr. Lotte ati und Petr Frantik. Das Gespräch führten Rosella Ben Was waren Ihre Beweggründe, sich als sondern auch Bilderbuchtexte für die Gene- und überprüft werden, und dies in einem wissenschaftliche Begleitung des Ver- rative Textproduktion zu nutzen. Dadurch Kontext der Zusammenarbeit von Universi- bundes zu beteiligen? sollten die sprachschöpferischen Anteile tät, Schule und der Bezirksregierung. Die- Weinrich: Viele Jahre habe ich mit der (ab- des Konzeptes erhöht und das „Generative ser Austausch ist ein sehr erkenntnisgewin- geordneten) Lehrerin Monika Lüth zusam- Erzählen“ als neues DemeK-Element einge- nender Prozess für alle, von dem ich auch men Ferienschulen mit Studierenden ge- führt werden. persönlich viel lerne. plant und durchgeführt. In diesem Kontext habe ich überhaupt erst das große Poten- Gantefort: Nun, nach meiner Promotion Welche Aspekte umfasst Ihre Be- tial entdeckt, das in der Zusammenarbeit im Jahr 2013 war das Engagement im BiSS- gleitung an der Schnittstelle von von Schule und Universität liegt. Ein gutes Verbund eine hervorragende Gelegenheit, Wissenschaft und Praxis? Beispiel dafür ist die Genese von DemeK sowohl konzeptionell als auch forschungs- Weinrich: Die Zusammenarbeit zwischen (Deutschlernen in mehrsprachigen Klassen) bezogen arbeiten zu können. In konzeptio- Lehrkräften an Schule und Hochschule kos- selbst: Gerlind Belke hatte als Forscherin neller Hinsicht war ich sehr daran interes- tet Zeit und verlangt Geduld, da anfangs und Gedichtsammlerin die inspirierende siert, gemeinsam mit Praktiker*innen neu- Zweifel bestehen, ob überhaupt wechsel- Idee, literarische Mustertexte für gramma- ere Ansätze mehrsprachiger institutioneller seitig voneinander gelernt werden kann. tisches Lernen zu nutzen. Aber erst DaF- Bildung zu entwickeln und zu erproben. Zu- Ich habe auch erfahren, dass meine sprach- erfahrenen Grundschullehrerinnen wie Mo- gleich und nicht zuletzt hat sich ein relevan- didaktischen Ideen, für die Studierende nika Lüth, Rosella Benati und anderen ist es tes Forschungsfeld geöffnet: Einerseits mit leicht zu begeistern sind, bei routinierten gelungen, diesen Gedanken nach und nach Blick auf die Effekte der von uns entwickel- Lehrkräften erst einmal auf Zurückhaltung zu einem umfassenden Sprachbildungskon- ten Intervention „mehrsprachiges rezipro- stoßen. Hilfreich für die Vertrauensbildung zept zu modellieren. Mit der maßgeblichen kes Lesen“ und zum anderen in Bezug auf ist auf jeden Fall der kollegiale Austausch Unterstützung von Silvia Beu entstand ein Aspekte der Grundlagenforschung, so zum am runden Tisch. Noch wirkungsvoller wa- Fortbildungsangebot für interessierte Schu- Beispiel zum Zusammenhang zwischen ei- ren in unserem Verbund aber die gemein- len, mit dem das DemeK-Handwerkszeug ner mehrsprachigen familiären Lernumwelt samen Hospitationen an den BiSS-Schulen in der Bezirksregierung Köln verbreitet und der Entwicklung des Leseverstehens während unserer Literaturwochen. Dort ha- und verankert werden konnte. Ein großer im Grundschulalter. An dieser Stelle möch- ben wir als Gruppe in den unterschiedlichen Vorteil der Verwurzelung des Konzeptes in te ich die produktive Zusammenarbeit zwi- Lernsettings hospitiert und uns anschlie- der Schulpraxis ist, dass die Lehrkräfte den schen der Bezirksregierung Köln, den betei- ßend über unsere Beobachtungen ausge- Sprachförderbedarf ihrer Kinder gut ken- ligten Schulen und unserem Institut beto- tauscht. Das war ungemein lehrreich und nen. Sie können ihnen daher passgenaue nen, mit welcher die Datenerhebungen erst hat uns daran erinnert, eine gemeinsame Lernangebote machen, die erfahrungs- möglich geworden sind. Passion zu haben: guten Deutschunterricht. gemäß auch funktionieren. Als Nachteil kann sich bei dieser nie „fertig“ vorgege- Zepter: Ich wurde von Lotte Weinrich an- Gantefort: Im Rahmen der wissenschaftli- benen Konzeption erweisen, dass in den gesprochen, die schon lange das Projekt in chen Begleitung des Verbundes haben wir über 160 DemeK-Schulen parallel so viele der Grundschule begleitete. Als die Frage über die gesamte Grundschulzeit zweier Ko- unterschiedliche Unterrichtspraktiken exis- entstand, inwiefern Methoden von DemeK horten von Schülerinnen und Schülern die tieren, dass der Leitgedanke von DemeK für die Sekundarstufe weitergedacht wer- Lesefähigkeiten in Deutsch und Türkisch so- verwischt oder sogar unkenntlich wird. Ein den können, hat sie den Kontakt zwischen wie die kognitiven Fähigkeiten der Lernen- Ziel der BiSS-Verbundarbeit von Schule und mir und Petra Heinrichs hergestellt und den erheben können. Im Vordergrund stan- Universität bestand daher darin, aus der nach einem gemeinsamen Gespräch war den dabei die Effekte des Konzeptes, die Fülle an DemeK-Handlungsroutinen jene für mich schnell klar, dass ich gerne an dem wir jährlich im Rahmen einer gemeinsamen herauszufiltern, die sprachtheoretisch und Projekt teilnehmen werde. Ich finde an die- Klausurtagung mit allen Beteiligten bespro- schulpraktisch sinnvoll erscheinen. Außer- sem Verbund insbesondere die Verschrän- chen haben. Im Sinne einer formativen Eva- dem wollte ich meine Verbundpartnerinnen kung interessant, bei der didaktische Kon- luation wurde es so möglich, das Konzept davon überzeugen, nicht nur Gedichte, zepte sowohl entwickelt als auch erprobt laufend anzupassen. zmi-Magazin | 2019
Aus Wissenschaft und Forschung 13 Zepter: Wir haben uns auf bestimmte unserer Untersuchungen, die wir durch die Zepter: Wir haben bisher insgesamt vier sprachliche Handlungen fokussiert und di- Kooperation mit der Praxis erreichen konn- Themenhefte entwickelt, die dann direkt zur daktische Konzepte entwickelt, um Opera- ten, hat demnach eine hohe Bedeutung. Erprobung ins Feld gegangen sind. Das ers- toren wie Beschreiben, Erzählen oder Ar- te Themenheft fokussierte auf die Sprach- gumentieren zu fördern. In diesem Rahmen Zepter: Die Bedeutung ist zweierlei. In der handlung Beschreiben. Darauf aufbauend sind entsprechende Themenhefte entstan- Wissenschaft geht es sowohl um Theorie- sind Themenhefte zu „Begründen und Ar- den, in denen für die Sprachförderung ins- bildung als auch um empirische Forschung gumentieren“ sowie „Erzählen“ entstan- besondere DemeK-Methoden genutzt wer- und beides ist notwendig miteinander ver- den. Ein weiteres Themenheft zum „Darstel- den. Aus wissenschaftlicher Perspektive war zahnt. Die Praxis ist letztlich auch ein Feld, len und Präsentieren“ wird bald erscheinen. für mich hierbei interessant, zu der theore- um theoretische Konzepte in Erfahrung ba- Es gab dabei immer eine Phase der Erpro- tischen Fundierung der Konzepte beizutra- sieren zu können. Man könnte sagen: „Pra- bung und der Überarbeitung. Ein Gelingen gen. Dies im Rahmen einer Zusammenar- xis ist die Schwester der Empirie“. In diesem dieser Kooperation sehe ich darin, dass sich beit, in dem ich Wissen über den wissen- Sinne sind die Erfahrungen, die in der Pra- diese Themenhefte in der Praxis bewähren schaftlichen Fachdiskurs und empirische xis gemacht werden, aus meiner Perspektive und wir Rückmeldungen erhalten, dass mit Forschungsdaten beisteuere und von der hochrelevant für die Entwicklung von Theo- ihnen gearbeitet werden und interessante anderen Seite Praxiserfahrungen zum Ein- rie und von Forschungsfragen, die wieder- Entwicklungsprozesse angebahnt werden satz der DemeK-Methoden eingebracht um die empirische Forschung leiten können. können. werden. Eine solche Verschränkung der Per- Hierbei interessiert mich einerseits die Wirk- spektiven ist sehr produktiv für die konzep- samkeit der Methoden, aber auch aus einer Vielen Dank für das Gespräch. tionelle Arbeit. eher qualitativen Forschungsperspektive, wie sich bestimmte sprachliche Lernprozesse Welche Bedeutung hat die Koopera- gestalten. Der Gewinn des Austausches ist tion mit der Praxis für die Wissen- also beiderseitig: Die wissenschaftliche For- schaft? schung, die sich mit Formen des Lehrens und Weinrich: Für meine Vorstellung von Leh- Lernens beschäftigt, braucht diesen Aus- rerInnenbildung ist die enge Kopplung von tausch mit der Praxis und umgekehrt sind Forschung, Lehre und Schulpraxis unver- für die Praxis Impulse aus der Wissenschaft zichtbar. Die PISA-Krise hat gezeigt: Unsere und neueste Erkenntnisse, welche Metho- info Lehramtsabsolventinnen und -absolventen den sich empirisch bewährt haben, hilfreich. waren auch deshalb so unzureichend auf Kontakt ihre zukünftigen Sprachbildungsaufgaben Können Sie ein exemplarisches Bei- vorbereitet, weil die Uni die „Pädagogische spiel für gelingenden Transfer zwi- Dr. Lotte Weinrich Hochschule“ hinter sich lassen wollte und schen Theorie und Praxis nennen? Universität zu Köln Institut für deutsche daher gar nicht mehr wusste, was in Schule Weinrich: Ja, ein gutes Beispiel ist das Kon- Sprache und Literatur II los war. zept der Literaturwoche, das wir in unse- Classen-Kappelmannstr. 24 rem BiSS-Verbund entwickelt haben. Aus 50931 Köln Lotte.Weinrich@uni-koeln.de Gantefort: Im vorliegenden Fall hat es sich einer Idee haben die Lehrerinnen und Leh- weniger um eine „Einbahnstraße“ im Sin- rer mit ihrem ganzen Professionswissen zu ne eines ausschließlichen Transfers von der den ausgewählten Bilderbüchern DemeK- Dr. Christoph Gantefort Wissenschaft in die Praxis gehandelt. Viel- Sprachbildungsangebote entwickelt, die je- Universität zu Köln Mercator-Institut für Sprachförderung und mehr konnten aus meiner Sicht alle Betei- de der Erprobungsschulen bisher in positive Deutsch als Zweitsprache ligten voneinander profitieren. Gemeinsame Schwingungen versetzen konnte. Innere Kanalstraße 15 Hospitationen im Unterricht und die Ver- 50823 Köln bundtreffen haben z. B. die Möglichkeiten Gantefort: Ja, vielleicht stellt die in Kürze Christoph.Gantefort@mercator.uni-koeln.de und Grenzen der Implementierung des Kon- über das BiSS-Programm erscheinende Bro- zeptes immer wieder deutlich gemacht. Un- schüre zur Implementierung des mehrspra- Prof. Dr. Alexandra L. Zepter terrichtspraxis entspricht ja oft gerade nicht chigen reziproken Lesens ein gelungenes Universität zu Köln Philosophische Fakultät den Laborbedingungen, die aus wissen- Beispiel dar. Unter der Autor*innenschaft Institut für Deutsche Sprache und Literatur II schaftlicher Perspektive zwar wünschens- aller Beteiligten erhalten Praktiker*innen Classen-Kappelmann-Str. 24 wert sind, um eindeutige Resultate zu er- Impulse dazu, wie Leseverstehen auf der 50931 Köln zielen, die aber in der Realität selten an- Basis der Gesamtsprachigkeit gefördert Email: azepter@uni-koeln.de zutreffen sind. Die „ökologische Validität“ werden kann. zmi-Magazin | 2019
14 Aus Wissenschaft und Forschung ehrs p rachiges rezip rokes Lesen M von Dr. Christoph Gantefort Leseverstehen auf der Basis des gesamten sprachlichen Repertoires von mehrsprachig aufwachsenden Grund- schülerinnen und Grundschülern entwickeln – mit dieser Zielsetzung haben wir im Jahr 2014 mit dem Start des Programms „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS) unsere Arbeit in einem Verbund aus vier Grundschulen aufgenommen. Der Verbund wurde von Seiten der Bezirksregierung Köln koordiniert. Das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache hat dabei als externer Kooperationspartner für die wissenschaft- liche Begleitung fungiert. Unsere Arbeit wurde stark durch die Werke von Ofelia García Wir sind von theoretischen Überlegungen ausgegangen, wo- beeinflusst. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, den Begriff nach Strategien, die das verstehende Lesen unterstützen, sich Translanguaging zu prägen (vgl. García 2009; Otheguy, Gar- als unabhängig von Fähigkeiten in Wortschatz oder Gramma- cía & Reid 2015). Im Kontext des Translanguaging-Ansatzes tik erweisen (vgl. Gantefort & Sanchez-Oroquieta 2015). Die wird die Auffassung vertreten, dass die natürliche Art und leitende Idee: Je mehr Schülerinnen und Schüler im Austausch Weise der Kommunikation mehrsprachiger Menschen mehr- zu deutsch- oder türkischsprachigen Texten beide Sprachen sprachig ist. Der Wahl sprachlicher Mittel liegt demnach kein integriert verwenden, desto effektiver ist die Aneignung soge- „entweder oder“ (etwa Deutsch oder Türkisch) sondern ein nannter hierarchiehoher Kompetenzen im Leseverstehen. Auf „und“ im Sinne einer situationsadäquaten Mischung der Spra- der Basis dieses Grundgedankens wurde das schon seit länge- chen zu Grunde. rem etablierte Konzept des reziproken Lesens (vgl. Palinczar & Diese Art der Verständigung, so Garcia, wird jedoch in Bil- Brown 1984) weiterentwickelt, welches im Rahmen der BiSS- dungskontexten durch oftmals willkürliche einsprachige Nor- Expertise (vgl. Schneider et al. 2012) empfohlen, aber bislang men sanktioniert. Dadurch entsteht eine Benachteiligung mehr- vor allem einsprachig realisiert wurde. sprachig aufwachsender Schülerinnen und Schüler. Während einsprachig Deutsch aufgewachsene Kinder ihr gesamtes Das Konzept sprachliches Repertoire für das Lernen in der Schule nutzen können, können mehrsprachige Kinder und Jugendliche nur Im reziproken Lesen erarbeiten sich Schülerinnen und Schüler einen Ausschnitt ihres Repertoires einbringen. Translangua- gemeinsam abschnittsweise einen Text und tauschen sich auf ging meint also nicht nur die wissenschaftliche Beschreibung gelenkte und ritualisierte Weise dazu aus. Sie übernehmen komplexer mehrsprachiger Sprachverwendungsweisen, son- dabei bestimmte Rollen. Die Interaktion der Lernenden unter- dern auch deren didaktische Nutzung in Schule und Unterricht stützt dabei eine effektive Aneignung von Leseverstehen (vgl. (vgl. García & Wei 2014). Rosenshine & Meister 1994). Dieses Verfahren wurde von In den vier an dem Programm beteiligten Schulen bot sich uns uns modifiziert: Die Kinder werden ermuntert, im Austausch ein hervorragendes Setting, ein auf dem Translanguaging- zum Text neben Deutsch auch alle weiteren ihnen verfügba- Ansatz beruhendes Konzept zur Förderung des Leseverste- ren Sprachen zu nutzen. Konkret klären sie schwierige Wörter hens zu entwickeln und zu erproben. In diesen Schulen war und Textstellen, stellen Fragen an den Text und beantwor- es bereits gelebte Praxis, die Mehrsprachigkeit der Lernenden ten diese. Sie fassen den Textabschnitt zusammen und stellen zu fördern und einzubinden: Zunächst durch eine Alphabeti- Überlegungen dazu an, wie der Text weitergehen könnte. Die sierung in Deutsch und Türkisch und im Verlauf der Grund- Lernenden arbeiten in Gruppen zusammen, innerhalb derer schulzeit durch koordiniertes Lernen in beiden Sprachen (vgl. sie neben dem Deutschen mindestens eine weitere Sprache Bezirksregierung Köln 2014). teilen. In dieser Konstellation ist es sinnvoll bzw. pragmatisch zmi-Magazin | 2019
Aus Wissenschaft und Forschung 15 angemessen, die Sprachen zu mischen und sich nicht auf die deutlich zeigen sich diese Effekte, wenn das mehrsprachige re- sprachlichen Mittel des Deutschen oder Türkischen zu be- ziproke Lesen in Lerngruppen durchgeführt wurde, deren Lehr- schränken. kräfte nicht direkt in die Verbundarbeit eingebunden waren. Im Anschluss an diese Interaktionen auf Gruppenebene bear- Aus der bisherigen Forschung ist bekannt, dass sich vorschuli- beiten die Lernenden Aufgaben, die die Wahl standard- und sche Aktivitäten in der Familie, die sich auf die Schriftsprache bildungssprachlicher Mittel in Deutsch oder Türkisch erfordern. beziehen, positiv auf die Entwicklung der Lesekompetenz im Wenn die Kinder etwa die Ergebnisse der Lesearbeit im Ple- Schulalter auswirken (vgl. z. B. Scarborough & Dobrich 1994). num präsentieren oder einen schriftlichen Text verfassen, er- Praktiken wie das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern höht sich die kommunikative Reichweite des sprachlichen Han- oder das Vorlesen von Geschichten werden unter dem Begriff delns und der Grad der Kontexteinbettung sinkt (vgl. Cummins „familiäre Lernumwelt“ zusammengefasst (vgl. Sénéchal & 2000). Es müssen also sprachliche Mittel gewählt werden, LeFevre 2002). Im Rahmen der Begleitforschung haben wir die von den Adressatinnen und Adressaten des sprachlichen uns der Frage gewidmet, inwiefern sich eine mehrsprachige Handelns geteilt werden und ein Verstehen auch in kontextre- familiäre Lernumwelt auf die Entwicklung des Leseverstehens duziertem Zusammenhang ermöglichen. Dies sind dann eher auswirkt - zum Beispiel, wenn die Geschichten nicht nur in standardsprachliche Mittel des Deutschen. Aber auch für die Deutsch, sondern auch in anderen Sprachen vorgelesen oder bildungssprachliche Verwendung des Türkischen lassen sich wenn die Sprachen im Gespräch mit dem Kind gemischt wer- durch die Einbindung des Herkunftssprachlichen Unterrichts den. authentische Situationen schaffen. Mehrsprachiges reziprokes Zu diesem Zweck füllten die Eltern einen Fragebogen aus, in Lesen vereint demnach zwei Prinzipien: Lernen auf Basis der dem sie neben der Häufigkeit solcher Aktivitäten auch anga- Gesamtsprachigkeit und die Förderung bildungssprachlicher ben, welche ihrer Sprachen zu welchem Anteil genutzt wurden. sowie metasprachlicher Fähigkeiten. Wir sind auf der Grundlage theoretischer Überlegungen davon Eine in Kürze erscheinende Broschüre des BiSS-Programms lei- ausgegangen, dass auch Aktivitäten in anderen Sprachen sich tet die Lehrkräfte darin an, das mehrsprachige reziproke Lesen positiv auf das Leseverstehen im Deutschen auswirken. Die Er- ein- und durchzuführen. Sie wird ergänzt werden durch spezi- gebnisse zeigen tatsächlich, dass die Effekte der Nutzung von fische Sprachhilfen in der BiSS-Tooldatenbank. Deutsch und anderen Sprachen in etwa gleich stark ausfallen und auch bis zum dritten Schuljahr bestehen bleiben. Durch Forschungsergebnisse diese (vergleichsweise kleine) Studie wird deutlich, dass litera- litätsnahe Aktivitäten in der Familie auch dann einen positiven In der wissenschaftlichen Begleitung des Projektes wurden die Einfluss auf das Leseverstehen im Deutschen haben, wenn sie Lesefähigkeiten der Lernenden in Deutsch und Türkisch im Ver- in anderen Sprachen durchgeführt werden. lauf der gesamten Grundschulzeit erhoben. Ergänzend erfasst wurden die kognitiven Grundfähigkeiten der Kinder sowie ihre Fazit familiäre Lernumwelt im Vorschulalter. Durch den Vergleich mit einer Kontrollgruppe sollten die Effekte des mehrsprachigen Mehrsprachige Bildung hat Potenzial, sowohl in der Familie reziproken Lesens auf die Entwicklung des Leseverstehens er- als auch in der Schule. So kann man die bislang vorliegenden forscht werden. Zudem war von Interesse, wie sich Leseverste- Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung des mehrspra- hen im Deutschen und Türkischen während der Grundschulzeit chigen reziproken Lesen zusammenfassen. Es zeigt sich da- gegenseitig beeinflussen und welche Wirkung eine mehrspra- mit, dass Praktiken der Sprachmischung („Translanguaging“) chige familiäre Lernumwelt auf die Entwicklung des Lesever- sowohl im Rahmen der schulischen Bildung als auch in der stehens im Deutschen hat. Familie zur Entwicklung konventioneller schriftsprachlicher Fä- Der Vergleich mit der Kontrollgruppe zeigt durchaus positive higkeiten beitragen können. Effekte: In den Lerngruppen, deren Lehrkräfte direkt in die Verbundarbeit eingebunden waren, ergeben sich deutlichere Zuwächse des Leseverstehens im Deutschen als in der Kontroll- Literatur gruppe. Insbesondere im dritten Schuljahr fallen diese Effekte Bezirksregierung Köln (2014). Koordinierte Alphabetisierung im Anfangsunter- richt. Das KOALA-Konzept an Kölner Schulen (vorläufiges Exemplar). Unveröffent- recht markant und statistisch signifikant aus. Das belegt, dass lichtes Manuskript. eine mehrsprachige Interaktion der Lernenden sich positiv auf Cummins, J. (2000). Language, power, and pedagogy: Bilingual children in the das Leseverstehen auswirken kann (vgl. dazu auch Schüler- crossfire. Bilingual education and bilingualism. Clevedon: Multilingual Matters. Meyer et al. 2019 als eine interessante Studie zur mehrspra- Gantefort, C. & Sánchez Oroquieta, M. J. (2015). Translanguaging-Strategien im Sachunterricht der Primarstufe: Förderung des Leseverstehens auf Basis der chigen Förderung mathematischer Kompetenzen). Weniger Gesamtsprachigkeit. Transfer Forschung ↔ Schule, 1 (1), 24–37. zmi-Magazin | 2019
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