Resiliente Mobilität Ansätze für ein krisenfestes und soziales Verkehrssystem - Stephan Rammler, Dirk Thomas, André Uhl, Felix Beer
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Stephan Rammler, Dirk Thomas, André Uhl, Felix Beer FES diskurs Resiliente Mobilität Ansätze für ein krisenfestes und soziales Verkehrssystem
FES diskurs Oktober 2021 Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichste politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften verbunden. Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch: – politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft; – Politikberatung; – internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern; – Begabtenförderung; – das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek. Die Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung versteht sich als Zu- kunftsradar und Ideenschmiede der Sozialen Demokratie. Sie verknüpft Analyse und Diskussion. Die Abteilung bringt Expertise aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Politik zusammen. Ihr Ziel ist es, politische und gewerkschaftliche Entscheidungsträger_innen zu aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu beraten und progressive Impulse in die gesell- schaftspolitische Debatte einzubringen. FES diskurs FES diskurse sind umfangreiche Analysen zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Auf Grund- lage von empirischen Erkenntnissen sprechen sie wissenschaftlich fundierte Handlungsempfeh- lungen für die Politik aus. Über die Autoren Felix Beer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des IZT – Instituts für Zukunftsstudien und Technolo- giebewertung gemeinnützige GmbH und Fellow im Urban Ideation Lab in Berlin mit den Ar- beitsschwerpunkten Digitalisierung und Nachhaltigkeit, Transformative Resilienz & Zukunft der Städte. Prof. Dr. Stephan Rammler ist wissenschaftlicher Direktor des IZT – Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung gemeinnützige GmbH in Berlin und Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule Bildende Künste Braunschweig mit den Arbeits- schwerpunkten Transformative Resilienz, Digitalisierung und Nachhaltigkeit, Neue Mobilität. Dr. Dirk Thomas ist Forschungsleiter für Mobilität und Urbanität am IZT – Institut für Zukunfts- studien und Technologiebewertung gemeinnützige GmbH in Berlin mit den Arbeitsschwer- punkten Mobilität, sozialwissenschaftliche Erhebungen und Analysen, Szenarioprozesse und -studien, Zukunftsstudien und Foresight-Projekte. André Uhl ist Zukunftsforscher (MA) und wissenschaftlicher Mitarbeiter am IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin mit dem Arbeitsschwerpunkt der Anwen- dung und Weiterentwicklung von Methoden der Zukunftsforschung. Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Mareike Le Pelley, Referentin im Lateinamerika-Referat, war vorher in der Abteilung Analyse, Planung und Beratung für die Arbeitsbereiche Mobilität, Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen zuständig.
FES diskurs Stephan Rammler, Dirk Thomas, André Uhl, Felix Beer Resiliente Mobilität Ansätze für ein krisenfestes und soziales Verkehrssystem 2 VORWORT 4 1 EINLEITUNG 6 2 RESILIENTE MOBILITÄT Problemaufriss zur Vulnerabilität und Resilienz des Verkehrssystems: Systematik von mobilitätsrelevanten Stressereignissen und Resilienzstrategien 6 2.1 Das Verkehrssystem als sozio-technischer Verflechtungszusammenhang 7 2.2 Stressereignisse der Zukunft 9 2.3 Direkte Vulnerabilität: Die Verletzlichkeit des Verkehrssystems als technisch-organisatorischer Zusammenhang 11 2.4 Indirekte Vulnerabilität: Die Folgen e iner eingeschränkten Funktionalität des Verkehrssystems für die Gesellschaft 14 2.5 Das Konzept der Resilienz – Problemaufriss und Stand der wissenschaftlichen Diskussion 15 2.6 Die transformative Resilienz von Transportsystemen 20 3 ERSTES ZWISCHENFAZIT 22 4 RESILIENZ-CHECK DER MOBILITÄTSWIRTSCHAFT Identifikation und Bewertung von Resilienzstrategien für das Mobilitätssystem am Fallbeispiel der Corona-Pandemie 22 4.1 Methodisches Vorgehen der Real-Time-Delphi-Befragung 22 4.2 Delphi-Verfahren 22 4.3 Allgemeine Entwicklungstrends der Mobilität seit Beginn der Pandemie 23 4.4 Mit dem Auto durch die Krise – die Restabilisierung der Automobilkultur durch Corona 25 4.5 Der öffentliche Nahverkehr in der Krise – die Destabilisierung des Kollektivverkehrs durch Corona 26 4.6 Resilienz durch rechtssichere und alltagstaugliche Regulierung neuer Mobilitätsanbieter und digitaler Mobilitätsplattformen 30 4.7 Mikromobilität nach demShutdown 31 4.8 Corona schafft Platz für Fuß- und Radverkehr 34 4.9 Homeoffice verändert die Arbeitsmobilität 34 4.10 Güterverkehr und Logistik während der Corona-Pandemie 36 4.11 Den städtischen Güterverkehr r esilient und nachhaltig gestalten 39 5 ZWEITES ZWISCHENFAZIT 42 6 GESAMTFAZIT Zusammenfassung und politische Ableitungen 48 Abbildungsverzeichnis 49 Literaturverzeichnis
Friedrich-Ebert-Stiftung 2 VORWORT Am 23.3.2021 kam das 400 Meter lange Containerschiff reiche direkte und indirekte negative Auswirkungen auf die „Ever Given“ auf seinem Weg durch den Suez-Kanal von seinem Versorgung mit Lebensmitteln, medizinischen Gütern wie in Kurs ab, stieß letztendlich mit dem Bug in das östliche Ufer der Corona-Pandemie, auf Arbeitsplätze und Einkommen, des Kanals, schwenkte mit dem Heck in die Nähe des west physische und psychische Gesundheit und unser soziales Ge- lichen Ufers und saß fest. Ob nun starke Winde und ein Sand- füge nach sich ziehen. sturm oder menschliches Versagen schuld waren, sechs Tage Die Blockade des Suez-Kanals durch die quer liegende lang blockierte die „Ever Given“ den Suez-Kanal und legte die „Ever Given“ und die Corona-Pandemie haben uns auf sehr kürzeste Seeroute zwischen Europa und Asien still. Die „Ever unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Tragweite Given“ behinderte zuletzt mehr als 420 Schiffe an ihrer Durch- mindestens zwei Dinge deutlich vor Augen geführt: Sie haben fahrt und damit den Transport von u. a. Erdöl, Gas, Elektronik, uns nicht nur gezeigt, in welch hohem Maß unser arbeitstei- Möbeln, Textilien, Haushaltsgeräten und Getreide im Wert liges Wirtschaftssystem vom globalen Handel abhängig ist, von etwa 10 Milliarden Dollar. Allein im Jahr 2020 bewegten sondern auch wie extrem störungsanfällig die dafür nötigen sich ca. zwölf Prozent des Welthandels, d arunter acht bis globalen Transportwege und dadurch auch die globale Wirt- neun Prozent der deutschen Im- und Exporte, durch den Suez- schaft und wie verletzlich unsere Gesellschaften sind. Kanal, der dadurch eine der viel befahrensten Handelsrou- Vor diesem Hintergrund greift die vorliegende Publikation ten ist. eine höchst aktuelle Frage auf: Wie können wir Mobilität resili- Die Stilllegung des Suez-Kanals durch die „Ever Given“ ent und nachhaltig gestalten und die negativen Auswirkungen ereignete sich ein Jahr nach der Stilllegung des gesellschaft von Krisen nicht nur dauerhaft, sondern auch auf sozial- und lichen Lebens in weiten Teilen der Welt aufgrund der Corona- umweltgerechte Weise minimieren? Die vorliegende Publika- Pandemie. Im Frühjahr 2020 war Deutschland in den ersten tion liefert dafür Ansätze und entwickelt Strategien, wie ein Corona-Shutdown gegangen. Weltweite Grenzschließungen solches krisenfestes und soziales Mobilitätskonzept und Ver- führten zu Unterbrechungen und Verzögerungen in den kehrssystem aussehen müsste. L ieferketten. Der weltweite Gütertransport, der auf rasche, Auf dem Weg dorthin gibt der erste Teil der Publikation verlässliche Wegstrecken baut, war ernsthaft gestört und eine Übersicht über die potenziellen Störereignisse, denen brachte Logistik und Märkte durcheinander. Im Zeitalter der Verkehrssysteme ausgesetzt sind, betrachtet die direkten Just-in-time-Produktion führten Verzögerungen in der Zu Auswirkungen solcher Ereignisse auf den Verkehr sowie die lieferung von Rohstoffen und Vorprodukten einerseits zu möglichen indirekten sozialen, ökologischen und politischen e inem Rückgang in der Produktion in Europa. Stark anstei- Effekte auf unsere Gesellschaft und Wirtschaft. Es folgt eine gende Nachfragen in manchen Sektoren trugen andererseits Bestandsaufnahme des Konzepts der Resilienz. Hier werden dazu bei, dass z. B. Atemschutzmasken und Medikamente, Indikatoren von Resilienz wie Robustheit, Redundanz, Einfalls- die vorrangig in Asien hergestellt werden, knapp wurden. reichtum, Schnelligkeit vorgestellt und zwischen dem statischen Auch Monate später noch waren die Auswirkungen dieser Leitbild eines Bounce-Back-Ansatzes und dem transformativen Verwerfungen des Marktes in der Verknappung von Leer- Leitbild eines Bounce-Forward-Ansatzes von Resilienz unter- containern in der Seefracht und langen Wartezeiten in den schieden. Es wird deutlich, dass im Kontext aktueller Trends Häfen zu spüren. und globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel, an- Aber nicht nur Pandemien und starke Winde über dem gesichts der Digitalisierung unserer Gesellschaften und demo- Suez-Kanal gefährden unser Verkehrssystem, auch mensch grafischen Entwicklungen auf die Verwirklichung transformati- liche Fehler, Naturkatastrophen, Terroranschläge, technisches ver Resilienz gesetzt werden muss, um Systeme nachhaltig Versagen sowie soziale Verwerfungen und Katastrophen in und zukunftsfähig zu gestalten. Neben der Widerstands- und verschiedenen Teilen der Welt können schwerwiegende Stö- Anpassungsfähigkeit von Systemen ist auch ihre Entwicklungs- rungen zur Folge haben, (Teil)Systeme lahmlegen und zahl- fähigkeit von entscheidender Bedeutung. Mit der Anwendung
FES diskurs – Resiliente Mobilität FES diskurs 3 des Konzepts transformativer Resilienz auf das Transportsystem wurde während der Corona-Shutdowns anschaulich, als man- schließt der erste Teil der Publikation ab. Dabei wird deutlich, che Familien in engen Wohnverhältnissen nicht nur den dass transformative Ansätze weit über die Organisation des n ormalen Haushalt, sondern auch Homeoffice und Home- Verkehrs als technisch-funktionales System hinausgehen schooling an einem Rechner zu bewältigen hatten, während müssen und resiliente Mobilität ebenfalls in den breiteren ge- anderen Rückzugsräume, ein Garten und womöglich eine sellschaftlichen Zusammenhängen organisiert werden muss. Vielzahl elektronischer Geräte und anderer Ressourcen zur Der zweite Teil dieser Publikation untersucht die spezifisch Verfügung standen. durch die Corona-Pandemie verursachten Veränderungen Eine Störung der Durchfahrt des Suez-Kanals mit dramati- des Personen- und Güterverkehrs. Dafür wurden auf Grund- schen Auswirkungen auf den Welthandel hat Stephan Rammler, lage aktueller Studien zehn Thesen erarbeitet, die im Rahmen einer der Autoren der vorliegenden Publikation, in seinem einer Real-Time-Delphi-Befragung „Resiliente Mobilität – Buch „Schubumkehr“ bereits 2014 vorweggenommen. In der Ansätze für ein krisenfestes und soziales Mobilitätssystem“ dort beschriebenen Version und Vision der Zukunft stößt einem Pool von Fachleuten vorgestellt und mithilfe ihrer In- das Unglück am Suez-Kanal eine Reihe positiver Entwicklungen puts und Kommentare bewertet wurden. In den Thesen geht an, die vom Ausbau regenerativer Energien bis hin zu einer es um Nachfrageverschiebungen in der Nutzung von Ver- friedlichen Neuordnung des Nahen Ostens reichen. kehrsmitteln, um Homeoffice und Social Distancing im Verkehr Bei all ihren tragischen Auswirkungen auf individuelle sowie die zukünftige Rolle unterschiedlicher Verkehrsträger Schicksale und gravierenden Folgen für die Wirtschaft, die und digitalisierter Multimodalität, die verkehrspolitischen Auf- Gesellschaft und unseren sozialen Zusammenhalt bietet gaben von Kommunen sowie die Digitalisierung und Resilienz nun die Corona-Pandemie der Gegenwart einen ähnlich des Güterverkehrs, die Bedeutung öffentlicher und privater günstigen Moment, Nachhaltigkeit, Resilienz und Transforma- Kooperation und die Zukunft der städtischen KEP-Verkehre tion für die gesellschaftlichen Entscheidungsfindungsprozesse (Kurier-, Express-, Paketkurierfahrten). der Zukunft produktiv miteinander zu verbinden. Die vorliegen- Auf Basis der theoretischen Überlegungen aus dem ersten de Publikation will dazu beitragen, dass diese Transformations- Teil und der mithilfe des Real-Time-Delphi-Verfahrens unter- chance erfolgreich genutzt wird. suchten Fallstudie der Corona-Pandemie aus dem zweiten Teil schlägt die Publikation im Gesamtfazit gangbare Resilienz- strategien vor. Mit Blick auf das Verkehrssystem zielen diese MAREIKE LE PELLEY Strategien auf die Steigerung seiner Robustheit sowie den Abteilung Analyse, Planung und Beratung Aufbau redundanter Systemarchitekturen, auf multimodale der Friedrich-Ebert-Stiftung Vielfalt, dezentrale Steuerungsarchitekturen und neue Orga- nisationskonzepte sowie den Umstieg auf weniger vulnerable Verkehrsträger. Zu den Strategien, die die Resilienz der Ge- sellschaft gegenüber Störungen des Verkehrssystems stärken, gehören die Förderung der Nahversorgung in einer Stadt der kurzen Wege, der Ausbau der digitalen Infrastruktur, um virtuelle Mobilität, z. B. durch Homeoffice, zu ermöglichen. Ebenfalls zählen dazu die Diversifizierung regionaler Wirt- schaftsstrukturen, das Reshoring von Wertschöpfung zurück nach Deutschland sowie eine Erhöhung der Branchenvielfalt der nationalen Wirtschaft. Auch eine hohe soziale Inklusion und Gerechtigkeit machen Gesellschaften resilienter. Das
Friedrich-Ebert-Stiftung 4 1 EINLEITUNG Mit den Shutdown-Maßnahmen als Reaktion auf die Corona- Pandemie erleben wir einen „Rasenden Stillstand“, so die tref- fende Formulierung des französischen Technologiephilosophen und „Dromologen“ Paul Virilio (Virilio 1992). Weil wir – kollektiv wie individuell – „still gestellt“ sind, lassen wir Güter und Infor- mationen zu uns reisen, während wir uns selbst dem Erforder- nis der sozialen Distanzierung unterwerfen müssen und wollen. Distanzaufbau und soziale Entkopplung – ja, das Erfordernis einer temporären Kultur sozialer Distanzierung ist allerdings das Gegenteil der Essenz der Mobilität, wie wir sie kennen, nämlich die Erreichbarkeit von Menschen, Orten und Aktivitäten und den Zugang zu Informationen zu gewährleisten. Mobilität – so verstanden als „Accessibility“, also Zugang zu den Orten und Institutionen in freiheitlich offenen Gesellschaften – ist selbst wiederum die Essenz der Moderne, insbesondere in ihrer hoch- individualisierten und globalisierten Ausprägung. Mobilität ist zudem ein tradierter Kern staatlicher Daseinsvor- sorge in modernen Sozialstaaten und ein wichtiges Handlungs- feld zur Realisierung von Inklusion und sozialer Gerechtigkeit. Wir erleben in der persönlichen wie der sozialen Stillstellung und Entschleunigung also gleichsam den doppelten Moment einer gefühlten Entmodernisierung, dessen subjektive wie s ozialpsychologische Überwältigungs- und Verunsicherungs- effekte nicht gering sein dürften – zeigt sich hier doch in einem der zentralen Lebensbereiche und Funktionssysteme der Moderne besonders eindrücklich auch die prinzipielle „Unver- fügbarkeit“ und Unbeherrschbarkeit der Welt (Rosa 2018). Allerdings könnte mit dem zeitweisen, durch den Virus erzwungenen Routinebruch auch ein neuer gesellschaftlicher Möglichkeitsraum für Nachdenklichkeit, Experimentierbereit- schaft und schließlich die Entdeckung von entschleunigten und solidarischen Lebensweisen entstehen, die uns für die kommende „Nach-Corona-Zeit“ wichtige Hinweise für die Ge- staltung einer insgesamt nachhaltigeren und zugleich resili- enteren Mobilitätskultur als heute liefern. AUFBAU UND FRAGESTELLUNGEN DER UNTERSUCHUNG Mobilität ist eine Basisfunktion moderner, arbeitsteiliger und damit hochinterdependenter Gesellschaften. Wenn die Vulne-
FES diskurs – Resiliente Mobilität FES diskurs 5 rabilität dieses Basissystems hoch ist, gilt das folglich auch für schiedlichen Gestaltungsebenen ansetzen. Abschließend wird die auf ihr fußende Gesellschaft. Insofern steht Mobilitätspolitik der Stand der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion im 21. Jahrhundert nicht nur vor der enormen Herausforderung zum Konzept der Resilienz pointiert beschrieben. Ausgehend der sozial-ökologischen Transformation des fossilen Verkehrs- von der zuvor erarbeiteten Systematik mobilitätsspezifischer systems. Sie ist gleichzeitig herausgefordert, dessen funktionale Vulnerabilitätsfaktoren werden auf dieser Grundlage dann drei Resilienz massiv zu erhöhen, um auf zukünftige und dabei Ordnungsebenen von Resilienz steigernder Mobilitätspolitik durchaus unterschiedliche Stressereignisse vorbereitet zu sein. identifiziert und hinsichtlich ihrer generellen Strategien und Insofern hilft uns die Corona-Pandemie analytisch: Am Bei- Handlungskonzepte ausdifferenziert. Ein erstes Zwischenfazit spiel ihrer spezifischen Implikationen für die Mobilität können in Kapitel 3 fasst die Ergebnisse der theoretischen Betrach- wir brennglasartig auf die generelle Vulnerabilität und Volati- tung zusammen und leitet zur empirischen Untersuchung über. lität unserer modernen Welt schauen und daraus Ableitungen Im empirischen Kapitel 4 werden in einem „Resilienz-Check“ für wissenschaftliche Interpretationen und politische Hand- der Mobilitätswirtschaft die allgemeinen Hebelpunkte und lungsempfehlungen für eine zukunftsfeste Mobilitätspolitik die Strategie des Mobilitätssystems am Beispiel eines spezifi- treffen, die nicht nur direkt die spezifische Resilienz des Mo- schen Stressereignisses identifiziert: der Corona-Pandemie bilitätssystems erhöhen, sondern dadurch indirekt auch die und dem damit verbundenen sozialen Distanzierungsgebot. Widerstandsfähigkeit und Stabilität unserer Gesellschaft ins- Auf Basis erster Beobachtungen und Lernerfahrungen sowie gesamt. Die daraus abgeleitete Fragestellung nach den allge- aktueller einschlägiger Studien zu den Veränderungen des meinen und spezifischen Implikationen und Lerneffekten der Personen- und Güterverkehrs während der Corona-Pandemie Pandemie wurde in der vorliegenden Studie in einem theore- wurden zehn Thesen erarbeitet, die im Rahmen der Real-Time- tisch-systematischen und einem empirischen Analyseschritt Delphi-Befragung „Resiliente Mobilität: Ansätze für ein krisen bearbeitet. festes und soziales Mobilitätssystem“ überprüft wurden.1 Im theoretischen Kapitel 2 wird die Fragestellung zunächst Die methodisch getrennten Schritte der Herleitung der Thesen vertieft, systematisiert und auf den Stand der wissenschaft und der darauf aufbauenden Erhebung und Ausarbeitung lichen Diskussion zum Konzept der Resilienz im Allgemeinen der Ergebnisse der Delphi-Befragung sind in einem Kapitel und im Besonderen zur Mobilität fokussiert. Dabei werden zusammengeführt worden. zunächst unterschiedliche Typen von mobilitätsspezifischen Nach einem zweiten Zwischenfazit in Kapitel 5, in dem Vulnerabilitäten des Verkehrssystems identifiziert und in ihrer die Ergebnisse der Delphi-Analyse zusammengefasst werden, jeweiligen Kombinatorik mit spezifischen Stressereignissen dokumentiert das abschließende Kapitel 6 darauf aufbauend dargestellt. Anders gesagt: Wie und warum ein Verkehrssys- die Herleitung von Kriterien und Ansätzen für ein krisenfestes tem oder ein bestimmtes seiner Teilsysteme verletzlich ist, und sozial gerechtes Mobilitätssystem sowie die Ableitung kann nur mit Blick auf die jeweils eingetretenen bzw. zu anti- von politischen Handlungsempfehlungen für vorsorgendes zipierenden Stressfaktoren bestimmt werden. Ein pandemisches Regieren im Verkehrssektor und liefert ein Gesamtfazit der Stressereignis, wie wir es seit Anfang 2020 erleben, führt Studie. eben zu anderen Dysfunktionen und daran anknüpfende An- passungsstrategien als beispielsweise ein flächendeckender Stromausfall, die massive Verteuerung von Rohöl auf den Welt- märkten oder ein digitaler Virus in den Serverfarmen von Navigationsanbietern. Dementsprechend müssen auch die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Konzepte zur Steigerung der Resilienz des Mobilitätssystems womöglich an jeweils unterschiedlichen Hebelpunkten bzw. auf unter- 1 Zur Methode der Real-Time-Delphi Befragung s. Abschnitt 4.2.
Friedrich-Ebert-Stiftung 6 2 RESILIENTE MOBILITÄT Problemaufriss zur Vulnerabilität und Resilienz des V erkehrssystems: Systematik von mobilitäts relevanten Stressereignissen und Resilienzstrategien Basierend auf einer knappen Definition von Mobilität und schiedensten Verkehrsinfrastrukturen verbinden sich heute zu Verkehr werden in diesem Kapitel die soziotechnischen Ver- einem globalen, hochvernetzten Metasystem der Mobilität. netzungsprozesse der Entstehung eines globalinterdepen- Man kann diese Aufwärtstransformation des Verkehrs denten Verkehrssystems zugespitzt beschrieben (Abschnitt wesens als das stete Verweben von systemischen Optimie- 2.1). Danach werden mögliche zukünftige Stressereignisse rungs- und Innovationsprozessen beschreiben, die mit Eintritt identifiziert und hinsichtlich ihrer Folgen für die Mobilität typo- ins 19. Jahrhundert wissenschaftlich fundiert, methodisch logisiert (Abschnitt 2.2). Darauf aufbauend wird einerseits angeleitet und systematisch vorangetrieben wurden. Mindes- die Verletzlichkeit des Verkehrssystems als technisch-organi- tens drei solcher Innovationskomplexe der Mobilität über satorischer Zusammenhang in seinen einzelnen Komponen- lagerten sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts und brachten ten und Schnittstellen betrachtet (Abschnitt 2.3), und werden eine gigantische Mobilitätsmaschinerie hervor, die bis heute andererseits die Folgen einer so eingeschränkten Funktio einen stetig wachsenden Output an Bewegung von Menschen nalität des Verkehrssystems für die Gesellschaft thematisiert und Materie ermöglicht, der zur Grundlage der Expansion un- (Abschnitt 2.4). Danach wird der Stand der wissenschaftli- serer modernen Lebensweisen geworden ist. In diesen drei chen und öffentlichen Diskussion zum Konzept der Resilienz Innovationskomplexen – Orientierungsinnovationen, Beschleu- pointiert referiert (Abschnitt 2.5). Ausgehend von der zuvor nigungsinnovationen und Vernetzungsinnovationen – bündeln erarbeiteten Systematik mobilitätsspezifischer Vulnerabilitäts und verweben sich produkttechnologische Erfindungen mit faktoren werden auf dieser Grundlage dann drei Ordnungs systemischen Infrastrukturinnovationen. Historisch betrachtet ebenen von Resilienz steigernder Mobilitätspolitik identifiziert wird das Wachstum der Verkehrsnachfrage durch Expansion, und hinsichtlich ihrer generellen Strategien und Handlungs- Vergrößerung der internen Verknüpfungsmöglichkeiten (Inter- konzepte ausdifferenziert (Abschnitt 2.6). Ein erstes Zwischen- dependenz) und technische Verbesserung der Einzelsysteme fazit schließt den theoretisch-konzeptionellen Hauptteil der (z. B. Beschleunigung, Sicherheit) aufgefangen. Studie ab (Kapitel 3). Das Verkehrssystem konnte den Prozess der Ausdifferen- zierung gesellschaftlicher Subsysteme (Arbeitsteilung, funk- tionale Differenzierung) und sozialer Differenzierung (Indivi- 2.1 DAS VERKEHRSSYSTEM ALS dualisierung) ermöglichen, indem es sich selbst immer weiter SOZIO-TECHNISCHER VERFLECHTUNGS- ausdifferenzierte. In dem Maße, wie die einzelnen Verkehrs ZUSAMMENHANG trägersysteme bzw. das Gesamtverkehrssystem an die Grenzen der Belastbarkeit gelangen, gleichzeitig aber auch die bishe- Ein kurzer Blick in die Verkehrsgeschichte zeigt bereits für die rigen Strategien der Expansion, Verdichtung und technischen vormodern-organischen Zeiten massive Eingriffe in natürliche Optimierung an die Grenzen des Raumes als knappe Res- Lebensräume mit dem Ziel, immer bessere und schnellere source stoßen, erlangt die Strategie der Intermodalität heute Raumüberwindung und Raumbeherrschung zu ermöglichen. an Bedeutung. Sie bezieht sich auf die letzten noch verblei- Als die der Nahrung folgenden wandernden Menschengruppen benden und bislang noch wenig ausgeschöpfte Optimierungs- Tier und Pflanze domestizierten und bei ihnen sesshaft wur- möglichkeiten: die Schnittstellen zwischen den Systemen. In den, entstanden Siedlungen, Völker und Kulturen. Diese schufen dem Maße, in dem der von der Erde zur Verfügung gestellte sich mit der Zeit ein immer dichteres Netz von Wegen und Raum knapp wird, muss der bisherige Modus einer extensiven Kommunikationsmitteln und erschlossen stetig neue geogra- Nutzung und Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur nach fische Räume, bis schließlich der ganze Planet ihre Heimat ge- außen (Expansion) und innen (Verdichtung) dem Modus einer worden war. Häfen, Straßen, Parkplätze, Schienen, Bahnhöfe, intensiven Nutzung (Intermodalität) weichen. schließlich Flughäfen und Raumbahnhöfe markieren diese Tech- Ein Verkehrssystem kann vor diesem allgemeinen Hinter- nisierung der Mobilität. Die großtechnischen Systeme der ver- grund verstanden werden als die „Gesamtheit der in einem
FES diskurs – Resiliente Mobilität FES diskurs 7 bestimmten Raum zur Verfügung stehenden Verkehrswege tersuchung, die die Resilienz eines Systems einschätzt und und Verkehrsträger, die im Regelfalle an einer Reihe von bewertet, müssen daher klar definierte Stressereignisse iden- Knotenpunkten miteinander verflochten sind“ (Linden 1966: tifiziert werden. Stressszenarien sind nicht als harte Prognosen 1.659). Fritz Voigt (1965: 1.067) betont, dass die Entwicklung zu verstehen, sondern skizzieren, welche zukünftigen Ent- eines Verkehrssystems nicht nur die Geschichte seiner einzel- wicklungen möglich sind. Möglich bedeutet, dass die Szenarien nen Teile umfasst, sondern mehr darstellt: „nämlich die Art in sich schlüssig sind und mit dem heute verfügbaren Wissen des Zusammenwirkens“ in ihrer jeweils besonderen Art der übereinstimmen. Was heute fehlt, sind Stressszenarien im Kon- Relationierung. Dadurch wird die besondere Perspektive auf text von Resilienzanalysen (siehe Umweltbundesamt 2020). den dynamischen und interdependenten Charakter des Ver- Die Entwicklung von Stressszenarien dieser Art könnte hier den kehrssystems gelegt. Dementsprechend definiert er auch das Vorsorgehorizont der Politik enorm erweitern, indem sie Hin- Weltverkehrssystem als „die Summe aller Verkehrsverbindun- weise auf mögliche unerwartete Bedrohungen liefern und gen zwischen allen denkbaren Orten der Welt. Die Qualität dabei helfen, Handlungsbedarfe und -spielräume hinsichtlich der tatsächlichen und potentiellen Verkehrsverbindungen ist vorsorgender politischer Gestaltungskonzepte zu identifizieren. bei den einzelnen Relationen sehr unterschiedlich“ (Voigt Im Rahmen dieser knapp angelegten explorativen Untersu- 1965: 1.067). Und er fährt fort: „Wenn wir folglich von einem chung kann nun keine umfassende und wissenschaftlich voll Weltverkehrssystem sprechen, so verstehen wir unter dem umfänglich systematisch hergeleitete Analyse von Störereignis- Begriff System (...) auf der Seite des Angebots von Verkehrs- sen geleistet werden. Eine solche Heuristik von potenziellen leistungen das Zusammenwirken von angebotenen Beförde- Störereignissen wird für eine zukünftige resilienzsteigernde ver- rungsmöglichkeiten und möglichem Eigenverkehr (zu Fuß, kehrspolitische Strategieentwicklung aber unerlässlich sein und mit eigenem Schiff, eigenem Kraftfahrzeug usw.) in der Viel- stellt ein wichtiges verallgemeinerbares Forschungsdesiderat zahl der möglichen Relationen mit ihren Substitutionsmög- nachhaltigkeitsorientierter Transformationspolitik dar: Ein Stress lichkeiten und -lücken, auf der Seite der Nachfrage nach Ver- radar zur Krisenfrüherkennung von Krisen und Störereignissen kehrsleistungen in gleichem Maß den Zusammenhang der in relevanten Transformationsfeldern nachhaltiger Entwicklung kaufkräftigen Nachfrage und des Eigenverkehrs mit ihren (Energie-, Mobilitäts-, Ressourcen-, Ernährungs-, Konsumwende Substitutionslücken“ (Voigt 1965: 1.068). usw.) 2 scheint insbesondere im ökonomisch wie alltagsstruk- Stellt man die beiden Definitionen von Linden und Voigt turell hoch mobilitätsaffinen Deutschland für das sozial-öko- gegenüber, so lassen sich damit zwei unterschiedliche Pers- logische Transformationsfeld Mobilität dringend angeraten. pektiven gewinnen. Die erste betont das Verkehrssystem als Für die Zwecke unserer explorativen Untersuchung erscheint rein technisch-organisatorischen Zusammenhang, die andere – mit Hinweis auf den in der Fußnote 2 beschriebenen Ansatz als einen noch umfassenderen Gesamtkomplex aus sozialen einer Stressradar-Methodologie – die folgende grobe Syste- und technischen Komponenten, in dessen Analyse über die matik zielführend. Sie thematisiert und illustriert Typen, Dauer Begriffe von Angebot und Nachfrage nach Verkehrsleistungen (akut vs. andauernd), Reichweite bzw. Impact (einmalig vs. auch die psychologischen, soziologischen, ökonomischen und kumulativ), Erwartbarkeit, Historizität, Kopplungen und Konver- schließlich auch politischen Determinanten und Dynamiken genzen von Stressereignissen: des Verkehrs – anders gesagt: die menschlichen und sozialen — Starkwetterereignisse; Grundlagen und Ausgangspunkte des Verkehrs – mit in den — Naturkatastrophen; Blick genommen werden können. — technisch-industrielle Katastrophen; Aufbauend auf diese beiden Perspektiven wird im Folgen- — Terrorismus, kriegerische Konflikte und Kriege, Cyber den einerseits die Verletzlichkeit des Verkehrssystems als attacken; technisch-organisatorischer Zusammenhang in seinen Kompo- — Epidemien und Pandemien; nenten und Schnittstellen untersucht (direkte Vulnerabilität). — Systemrisiken kapitalistischer Marktdynamiken; Andererseits werden die Folgen einer so eingeschränkten Funk- — Entwicklungsrisiken politischer Systeme; tionalität des Subsystems Verkehr für die gesamte Gesellschaft — soziale Katastrophen, z. B. massenhafte Migration. thematisiert (indirekte Vulnerabilität). Das Maß der direkten Betroffenheit eines Verkehrssystems 2 In einem ersten Arbeitsschritt könnten bereits bestehende Foresight- durch ein Stressereignis wird wiederum einerseits durch die Analysen systemrelevanter Störereignisse verglichen und miteinander inte- innere Verfasstheit und Strukturierung des Systems bestimmt, griert werden, um eine zweckmäßige Heuristik für die Identifikation poten- andererseits durch den Stressorentypus. Vor der vertiefenden zieller Störereignisse in der Mobilität zu erarbeiten. Diese könnte Kategorien Betrachtung der Vulnerabilität des Verkehrssystems steht im für Störereignisse aus fünf Bereichen der Wirtschaft, Politik, Umwelt, Ge- sellschaft und Technologie erfassen. Mithilfe dieser Heuristik könnten dann nächsten Abschnitt deswegen die Betrachtung generell mög- im zweiten Arbeitsschritt mittels eines Horizon Scanning mögliche bislang licher Stressereignisse, um eine Grundlage für die Reflexion nicht im Fokus des Erwartungshorizonts stehende Störereignisse identifiziert über die daraus resultierenden Formen der Verletzlichkeit des werden. In dieser Analyse läge der Schwerpunkt auf eher unwahrschein Verkehrssystems zu schaffen. lichen, nicht einkalkulierten und überraschenden Bedrohungen. Damit gehen die Bedrohungsfaktoren über Stressoren hinaus, die heute als offenkundige Risikofaktoren für die sozial-ökologische Transformation gelten. In einem dritten Arbeitsschritt könnten die identifizierten potenziellen Bedrohungen 2.2 STRESSEREIGNISSE DER ZUKUNFT in Form von Stressdeskriptoren analysiert werden, um die ihnen zugrunde liegenden Ursachen zu erkennen, die zu kaskadenartigen Schocks führen können. Damit könnte der Eigenschaft von systemrelevanten Störereignissen Vulnerabilität und Resilienz sind relative Konzepte. Sie können Rechnung getragen werden, dass sie ihre Wurzeln häufig in einer komple- nur in Bezug auf einen konkreten Typ einer Krise oder eines xen Kette von Ereignissen haben, die im Laufe der Zeit aus sozioökonomi- Störereignisses ermittelt und bewertet werden. Für eine Un- schen Faktoren, Umweltbedingungen und individuellem Verhalten entstehen.
Friedrich-Ebert-Stiftung 8 2.2.1 STARKWETTEREREIGNISSE halten oder Irrtümer und Fehlinterpretationen, Materialermü- dung, Baumängel, Fehlprogrammierungen und schließlich Ereignisse dieser Art können zum Beispiel Hitzewellen und endogene Systemrisiken und Organisationsmängel, die aus Trockenheit bzw. Wasserknappheit, Kältewellen, Kältespitzen dem spezifischen Aufbau der Interdependenz, der Komplexi- und Eisregen, Starkwind und Stürme sein. Im Zuge des Klima- tät und engen internen Kopplung der Systemkomponenten wandels werden Stressereignisse dieser Art immer wahrschein- resultieren. Systemische Großrisiken dieser Art sind in der R isiko- licher. Ihre Erwartbarkeit steigt. Starkwetterereignisse haben und Katastrophensoziologie und Technikfolgenforschung tendenziell eher einen akuten Charakter, können allerdings in gut untersucht worden. Resilienz steigernde Gestaltungsprin- der Folge weitere Ereignisse bzw. Stressereignisse auslösen, zipien wie Vielfalt, Redundanz und systematisches Monitoring z. B. die Überlastung des Gesundheitssystems und Übersterb- resultieren aus dieser Forschung und werden im Systemdesign lichkeit in älteren Bevölkerungsgruppen bei urbanen Hitze- dieser Anlagen bereits eingesetzt. Allerdings zeigen die Er- Peaks oder aber Katastrophen wie Erdrutsche bei Dauerregen gebnisse dieser Forschungen auch, dass das Eintreten von oder Lawinenabgänge bei Vielschnee. Katastrophen ab einem bestimmten Komplexitätsniveau als ➔ Folgen für Verkehrssysteme: temporäre Betriebsstörungen „normal“ (Perrow: 1992) angesehen werden muss. des rollenden Materials, dauerhafte Zerstörung von Infra ➔ Folgen für Verkehrssysteme: temporäre Betriebsstörungen strukturen; betriebswirtschaftliche Probleme der Betreiber des rollenden Materials, dauerhafte Zerstörung von Infra firmen. strukturen; betriebswirtschaftliche Probleme der Betreiber firmen. 2.2.2 NATURKATASTROPHEN 2.2.4 TERRORISMUS, KRIEGERISCHE KONFLIKTE Ereignisse dieser Art haben ebenfalls vorwiegend akuten UND KRIEGE, CYBERATTACKEN Charakter. Es können zum Beispiel Vulkanausbrüche, Erdbeben, Tsunamis, Überflutungen, Muren- und Geröllabgänge, Aste- Um die Manipulierbarkeit und Angreifbarkeit der sogenannten roideneinschläge, Kometen und Sonnenstürme sein. Voran- kritischen Infrastrukturen wissend, sind Szenarien terroristi- gehend wurde argumentiert, dass die Bewertung der Vulne- scher oder staatlicher Interventionen entweder bereits Reali- rabilität einer betroffenen Entität nur relativ zum Typus des tät geworden oder Gegenstand von potenziellen Angriffs- eingetretenen bzw. antizipierten Stressereignisses vorgenom- plänen und Militärstrategien. Als Resultat der rasanten digitalen men werden kann. Das Beispiel der Sonnenstürme veranschau- Transformation werden digitale Attacken auf digitale hoch- licht diese Aussage insofern, als dass Sonnenstürme, die auch technisierte Systeme (Krankenhäuser, Banken, Börsen, Ver- als magnetische Stürme bezeichnet werden, in einer vormo- kehrssysteme, Verwaltungsstrukturen etc.) zukünftig sicher dernen, sehr wenig technisierten und deswegen durch Strah- ein Hauptschauplatz dieser Art von Stressereignissen sein. lung und Teilchen kaum irritierbaren Welt eher nicht oder gar ➔ Folgen für Verkehrssysteme: temporäre Betriebsstörungen nicht als Eintritt einer Katastrophe wahrgenommen werden des rollenden Materials, dauerhafte Zerstörung von Infra konnten. Hier zeigt sich auch die Historizität von Stresser- strukturen; kommt es zu geopolitischen Unterbrechungen eignissen: Erst mit der Weiterentwicklung der Welt zu einer der Versorgung mit Erdöl bzw. zu drastischen Preissteige hochtechnisierten Zivilisation mit komplexen Großtechnologi- rungen sind Nachfrageverschiebungen insbesondere dort en wurden Sonnenstürme zu einem Ereignis mit enormen zu erwarten, wo Verhaltensalternativen existieren; betriebs zivilisatorischen Stresspotenzial. Naturkatastrophen sind eben- wirtschaftliche Probleme der Betreiberfirmen. so erwartbar, aber bislang etwas weniger vorhersagbar als Starkwetterereignisse. Allerdings arbeiten Geowissenschaften 2.2.5 EPIDEMIEN UND PANDEMIEN und Astrophysik intensiv an Instrumenten der Fern- und Frühaufklärung beispielsweise in Bezug auf Vulkanausbrüche Epidemische bzw. pandemische Stressereignisse wie die ak- oder Kometenbesuche. Letzterer wäre – im Falle eines Ein- tuelle Covid-19-Pandemie sind Teil der menschlichen Zivilisa- schlags – ein akutes Ereignis mit sehr wahrscheinlich einem tionsgeschichte. Angefangen bei der Pest, den Pocken, der globalen katastrophischen Impact. Spanischen Grippe über Ebola bis zum aktuellen Coronavirus ➔ Folgen für Verkehrssysteme: temporäre Betriebsstörungen zeigt sich diese „historische Normalität“. Zwei Dinge haben des rollenden Materials, dauerhafte Zerstörung von Infra sich allerdings heute stark verändert: Die Wahrscheinlichkeit strukturen; betriebswirtschaftliche Probleme der Betreiber ihres Eintretens – also etwa durch das Überspringen aus dem firmen. Tierreich in menschliche Ökosysteme – ist aufgrund eines Ur- sachengeflechts von sehr dynamischem Bevölkerungswachs- 2.2.3 TECHNISCH-INDUSTRIELLE tum und rasantem Biodiversitätsverlust, zunehmender Dichte KATASTROPHEN sozialer Lebenssituationen, Ernährungsstilen und der eng damit verbundenen Massenproduktion von (tierischen) Nah- Ereignisse dieser Art können zum Beispiel Unfälle in Atom rungsmitteln (Tiermastanlagen) einerseits stark erhöht. An- anlagen, Staudämmen, Raffinerien, Chemieanlagen und an- dererseits ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Viren und deren groß-industriellen Anlagen sein, in denen mit riskanten Bakterien aufgrund unserer global ausgreifenden Verkehrs- Materialien und Verfahrensweisen operiert wird. Auslöser wege und hohen Transportgeschwindigkeiten massiv be- können gezielte Manipulationen sein – in diesem Falle wäre schleunigt, was die politische und soziale Reaktionsfähigkeit es im Ursprung ein terroristisches Stressereignis –, menschli- deutlich schmälert. Anders formuliert: Die Pest hat ungefähr ches Versagen durch nicht regel- und systemkonformes Ver- 500 Jahre benötigt, um von Zentralchina an die Küsten des
FES diskurs – Resiliente Mobilität FES diskurs 9 Landes zu kommen. Einmal dort angelangt, dauerte es kaum sich in der Folge politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten zwei Monate, bis sie mit der Genuesischen Handelsflotte in und eine soziale Manipulationsmacht der großen Digitalunter- Europa landete – mit den bekannten Folgen. Das Coronavirus nehmen, die potenziell sehr schnell in ein akutes und unmittel- hat demgegenüber nur wenige Wochen gebraucht, um von bares Stressereignis politischen Kontrollverlustes an sich und China aus in die gesamte Welt zu migrieren. über diese Industrie münden könnten. Insbesondere die Ma- Epidemien haben – in Abhängigkeit von der Übertragbar- nipulationsgefahren der sogenannten schwachen kritischen keit und Gefährlichkeit des betrachteten Keims – unterschied- Infrastruktur lassen für die Zukunft der Legitimität und Funk- liche potenzielle Entwicklungsszenarien und Implikationen. tionalität demokratischer Macht- und Herrschaftsverfahren Im Kern werden sie aber in den meisten Fällen zur Notwen- große Befürchtungen aufkommen. digkeit deutlicher sozialer Kontaktreduktion führen. Dieser ➔ Folgen für Verkehrssysteme: geringe funktionale Folgen; notwendige temporäre Bruch gesellschaftlicher Interdepen- Verlagerungseffekte und Verdrängungseffekte; anwachsende denzketten ist es, aus der die spezifische pandemische Vulne- Marktdominanz der Digitalfirmen im Verkehrs- und Logistik rabilität beispielsweise des Wirtschafts- und Verkehrssystems markt (z. B. Amazon, was wiederum weitreichende Konse hauptsächlich resultiert. Pandemien haben per Definition quenzen für Beschäftigte im Verkehrssektor und für Mobi eine globale Reichweite und eine gewisse Dauerhaftigkeit. litätsteilhabe mit sich bringen könnte). An der aktuellen Pandemie lässt sich zudem – bereits im Vorgriff auf die spätere Betrachtung politischer Interventions- 2.2.7 SOZIALE KATASTROPHEN möglichkeiten – die eigentlich triviale, aber höchst folgen reiche Tatsache ablesen, dass der Charakter eines Keims (Ge- Der Begriff „soziale Katastrophen“ wird für die Zwecke dieser fährlichkeit, Übertragbarkeit) auch über seine politische Untersuchung als Residualkategorie für Ereignisse verwendet, „Regulierbarkeit“ mitentscheidet. Angenommen Covid-19 die im weitesten Sinne aus gesellschaftlichen, ethnischen, kul- wäre hoch virulent, mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich und turell-religiösen Konfliktlinien und Asymmetrien entstehen überdies auch für jüngere Generationen, dann würde dieses können. Ethnische Kriege, Bürgerkriege, der Islamische Staat, sicher eine deutlich andere sozial-psychologische Ausgangs die Instabilität des Nahen und Mittleren Ostens sind beispiels- lage öffentlich-kommunikativer und politisch-regulativer Be- weise immer wieder Nährboden für massenhafte Migration wältigungsstrategien konstituieren. Insbesondere an den und überregionale kriegerische Konflikte, die auf mannigfalti- pandemischen Stressereignissen zeigt sich also klar, dass die ge Weisen die massive Destabilisierung ganzer Weltregionen soziale Risikoperzeption immer auch auf einem Prozess ge- und ihrer Gesellschaften mit sich bringen können. Die Ursprün- sellschaftlicher Risikokonstruktion aufbaut, den es für die Ge- ge dieser sozialen Katastrophen sind historisch vielfältig 3 und samtbetrachtung politischer Resilienzkonzepte im Hinterkopf werden durch aktuelle Megatrends wie beispielsweise den zu behalten gilt. massiven demografischen Druck in Afrika, die Folgen des Klima- ➔ Folgen für Verkehrssysteme: Verlagerungs- und Vermei wandels oder die nach wie vor ausbeuterischen Wirtschafts- dungseffekte in der Verkehrsnachfrage durch das soziale verbindungen etwa in der Ressourcenbeschaffung der Digital- D istanzierungsgebot; betriebswirtschaftliche Probleme der ökonomie immer wieder dynamisiert und überschrieben. Betreiberfirmen. ➔ Folgen für Verkehrssysteme: geringe Folgen, gegebenen falls temporäre Überlastungen; Betriebseinschränkungen 2.2.6 SYSTEMRISIKEN KAPITALISTISCHER durch hoheitliche Kontrollverfahren (Grenzsicherung, Grenz MARKTDYNAMIKEN UND ENTWICKLUNGS kontrollen etc.). RISIKEN POLITISCHER SYSTEME Der kapitalistischen Wirtschaftsweise sind zyklische Krisen 2.3 DIREKTE VULNERABILITÄT: immanent. Diese können im Rahmen staatlicher Regulierungs- DIE VERLETZLICHKEIT DES VERKEHRS bemühungen gezähmt werden (soziale Marktwirtschaft) SYSTEMS ALS TECHNISCH- oder eben nicht. In den wirtschaftspolitisch sehr liberalen und ORGANISATORISCHER ZUSAMMENHANG wenig regulierten Gesellschaften wie beispielsweise den USA zeigen sich diese systemischen Dysfunktionalitäten des- Alle vorangehend beschriebenen Stressereignisse haben das wegen sehr deutlich und schwerwiegend. Insbesondere in Potenzial, auch die Funktionalität von Verkehrssystemen im den schlecht regulierten Finanzmärkten sind dadurch große Ganzen oder in ihren Teilen mehr oder minder empfindlich Volatilitäten entstanden, die sich aufgrund der globalen fi- zu beeinträchtigen. Im Vordergrund der diesbezüglich rele- nanzwirtschaftlichen Vernetzung und der KI-basierten, also vanten Bedrohungsszenarien stehen dabei sicherlich Gesche- extrem schnellen Handelsformen heute sehr zügig global hen mit starken physischen Komponenten und stark wirken- ausbreiten können. So war die Finanzkrise 2008 im Kern ein den Kräften wie Starkwetterereignisse, Naturkatastrophen, in den US-Immobilienmärkten hausgemachtes Problem, was technisch-industrielle Katastrophen, Terrorismus, kriegerische am Ende allerdings fast zum Scheitern Europas und vor allem Konflikte und Kriege, schließlich Epidemien und Pandemien, Griechenlands geführt hatte. Komplexer ist die Analyse von ökonomischen Stressereig- nissen, die ihre Wirkung langfristig und mittelbarer entfalten. 3 Bspw. der historische Kolonialismus und Imperialismus und die spätere oft erzwungene Strategie des Nation-Building, in dessen Verlauf z. B. höchst So ist beispielsweise die Kapital- und Machtkonzentration in diverse ethnische Mosaike in die Zwangsjacke einer Nation gezwungen der Digitalwirtschaft der USA auch ein Ergebnis bislang ge- wurden, was immer wieder zu neuen Spannungen führt, insbesondere wenn ringer staatlicher Regulierungsbemühungen. Heute zeigen die Lebensumstände prekär sind oder werden.
Friedrich-Ebert-Stiftung 10 die aufgrund der nötigen Kultur sozialer Distanzierung drasti- steigerung nun auf der Einbettung digitaler Basistechno- sche Einschränkungen des „Verkehrens“ miteinander über- logien in die vorhandenen Systeme aufbaut, steigt die haupt erfordern. Die Vielfalt und Dynamik dieser potenziellen Vulnerabilität noch zusätzlich, was im Folgenden als Digi- Störfaktoren nehmen – wie oben beschrieben – beständig talisierungsparadox beschrieben wird. zu. Klimabedingte Starkwetterereignisse, technisches wie menschliches Versagen in den hochkomplexen Abläufen der — Das Digitalisierungsparadox: Mit rasender Geschwin- modernen Systemarchitekturen sowie Manipulationen und digkeit und in vielfacher Gestalt halten Informations- und Hackerangriffe jeglicher Provenienz sind Stand heute erwart- Kommunikationstechnologien mit dem Ziel der Steigerung bar und werden eintreten. von Produkt- und Nutzungseffizienz in alle Lebensbereiche In der Zusammenschau der obigen Stressorenheuristik und Einzug. Diese Optimierung bringt zunächst einmal eine der Performanz, dem Systemdesign und der massiven Digi- Menge Vorteile mit sich. Welche Erleichterungen und Ver- talisierungsdynamik heutiger Verkehrssysteme lassen sich vor besserungen wir durch sie noch erleben werden, ist kaum diesem Hintergrund mindestens drei Gestaltungsparadoxien abzusehen. Die Digitalisierung der Mobilität ist dabei ge- benennen, die es mit Blick auf die spätere Ableitung von ver- genwärtig eines der besonders dynamischen und facetten- kehrsbezogenen Resilienzstrategien zu berücksichtigen gilt: reichen Anwendungsfelder digitaler Technologien und Medien. Je digitaler und vernetzter die Welt sich bis in die — Das Interdependenzparadox: Interdependenzsteige- kleinsten Nischen des alltäglichen Lebens darstellt, desto rung ist eine Strategie zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit größer werden auch die Angreifbarkeit und Verletzbarkeit des Verkehrswesens. Das Interdependenzparadox meint, aller kritischen Infrastrukturen und aller täglichen Abläufe dass in dem Maße, in dem mit dem Ziel weiterer Leistungs- und Prozesse. Das Digitalisierungsparadox meint, dass die steigerung die Interdependenz wächst, zugleich die Vul- systematische Einbettung digitaler Technologien zu Opti- nerabilität steigt. Denn je feingliedriger, komplexer und mierungszwecken in die Systeme unserer alltäglichen Le- interdependenter ein Verkehrssystem aufgebaut ist, desto bensführung die Vulnerabilität dieser Systeme steigert. größer ist das Risiko, dass sich externe oder interne Stör- Auch ein Verkehrssystem ist umso verletzbarer, je größer fälle an einer Stelle schnell im gesamten System fortsetzen das Ausmaß an digitaler Technologie ist, das zu seiner und sich die Schadenswirkungen daher akkumulieren. Auf Betriebsführung eingesetzt wird. „Alle Räder stehen still, diese Weise können sich heute beispielsweise Bahnbetriebs- wenn der Hacker es so will!“ Diese digitale Variante der störungen in Süddeutschland mit ein wenig Pech schnell alten Arbeiterkampfparole könnte sich zu einem düsteren zu massiven und weit ausgreifenden Verspätungen in Leitmotiv unserer digitalen Zukunft entwickeln. Nehmen Norddeutschland aufschaukeln oder ein Kälteeinbruch in wir einmal an, es gelänge einem IT-Spezialisten oder einer Chicago oder ein Vulkanausbruch in Indonesien den Flug- IT-Spezialistin, sich mit einer Schadsoftware einen Weg in verkehr in Europa tangieren. Vorangehend war gezeigt die Ferndiagnoseserver der großen Autofirmen zu bahnen, worden, dass man die Aufwärtstransformation des Ver- dann könnte er oder sie mit einem einzigen Knopfdruck kehrswesens als das stete Verweben von Orientierungs-, ganze Fahrzeugflotten manipulieren, stillstehen lassen oder Beschleunigungs- und Vernetzungsinnovationen beschrei- sonst wie die Kontrolle übernehmen. Da die Zukunft der ben kann, wobei den Vernetzungsinnovationen die bis Automobiltechnologie in der Elektrifizierung, Digitalisierung heute größte Bedeutung zukommt. Das Verkehrssystem und Automatisierung von Funktionen liegt, die bislang konnte den rasanten Prozess der Ausdifferenzierung ge- mechanisch dargestellt wurden, wird dieses Risiko mit jeder sellschaftlicher Subsysteme (Arbeitsteilung, funktionale neuen Fahrzeuggeneration größer. Gleiches gilt für die Differenzierung) und sozialer Differenzierung (Individuali- Navigationsarchitekturen des modernen Weltverkehrs, sei sierung) nur auf einem so hohen Leistungsniveau ermög es auf See, in der Luft oder auf den Straßen, wo millionen- lichen, indem es sich selbst immer weiter ausdifferenzierte, fach verbreitete Navigationsgeräte an Bord von Pkws und was nur durch stetigen Interdependenzzuwachs möglich Lkws Störungen kommunikationstechnischer Art möglich war. Dieses gilt erst recht heute, wo angesichts natürlicher machen. Und es gilt auch für die Steuerungszentralen der Grenzen weiterer Expansion und Beschleunigung von Ver- öffentlichen Verkehrsanbieter, für intermodale Mobilitäts- kehrssystemen und Verkehrsinfrastrukturen die Strategie der plattformen, für die komplexen Steuerungs- und Sicher- Intermodalität einen enormen Bedeutungszuwachs erfährt. heitsstrukturen der Bahnen und die Leitsysteme des Stra- Im Kern erweitert sie die Strategie intramodaler Interde- ßenverkehrs in den urbanen Zentren. pendenzsteigerung (z. B. die systemische Verflechtung der einzelnen Komponenten des Systems der Eisenbahnen) — Das Adaptionsparadox: Das Adaptionsparadox besagt, auf das gesamte und eben intermodale Zusammenspiel dass es bei der Bewältigung und Anpassung an die aku- unterschiedlicher Verkehrssysteme. Diese Verflechtungs- ten bzw. chronischen Anforderungen eines spezifischen innovation wird heute insbesondere in den urbanen Ver- Stressereignisses durch eine spezifische Strategie von Poli- kehrsmärkten gezielt im Rahmen sozial-ökologischer Trans- tik, Unternehmen und Verbraucher_innen zur Vulnerabili- formationskonzepte für das Verkehrssystem gefordert und tätssteigerung in Bezug auf ein anderes Stressereignis gefördert. Für die Gestaltung der informatorischen, be- kommen kann. Ein aktuelles Beispiel für diesen Fall ist der triebswirtschaftlichen und operativ-logistischen Schnitt- Trend zum Homeoffice bzw. „Telependeln“, der sich im stellen und Übergänge zwischen den Verkehrsmodi gelten Zuge der Pandemie als eine zentrale Adaptionsstrategie an digitale Technologien und Medien heute als Mittel der die Erfordernisse des coronabedingten Social Distancing Wahl. In dem Maße, wie die intermodale Interdependenz- erfolgreich etablieren konnte. In der Folge können digitale
FES diskurs – Resiliente Mobilität FES diskurs 11 Virtualisierungskonzepte nunmehr völlig neue Formen des man zwar, dass so manche Geschäftsreise bereits damals schon Distant Socialising im Arbeits-, Gesundheits-, Bildungs- durch Videokonferenzen ersetzbar war, es zeigte sich aber und Freizeitmarkt ermöglichen. Der Preis dafür ist die da- eben auch, dass die Just-in-Time-Logistik wichtiger Teile so durch steigende Vulnerabilität gegenüber Stressereignis- störungsempfindlich ist, dass die europäische Industrie an den sen digitaler Manipulation oder Cyberkriegsführung wie Rand einer größeren Produktionskrise geriet. vorangehend beschrieben. Gleiches gilt für eine weitere Deutlich wird dabei, dass die Störfallproblematik durch erfolgreiche coronainduzierte Adaptionsstrategie: die rasan- außerhalb von Aufbau und Betrieb der Verkehrssysteme te Expansion von E-Commerce und Lieferlogistik. In dem selbst liegende ökonomische Anforderungen und unterneh- Maße, wie wir in unserer Alltagsversorgung von digitalen merische Handlungsweisen und Gestaltungsphilosophien Plattformen, Bestellverfahren und Lieferdiensten abhängig noch verschärft wird – beispielsweise durch eine engmaschige werden und möglicherweise durch den Niedergang des und global operierende Just-in-Time-Logistik, mit der eigent- Einzelhandels auch bleiben werden, steigt die Vulnerabili- lich privatwirtschaftlich zu erbringende Lagerhaltungskosten tät gegenüber digitalen Stressereignissen, die diese Ver- in die kollektiven Infrastrukturen verlagert und damit auf die sorgungssysteme gegebenenfalls lahmlegen können. Gemeinschaft externalisiert werden. Solcherart transportinten- sive Produktionsmodelle mögen die einzelwirtschaftlichen Erschwerend kommt abschließend hinzu, dass ein großer Teil Kosten minimieren, erhöhen aber die externen Kosten, die der Energie-, Kommunikations- und vor allem der Verkehrs von der gesamten Gesellschaft getragen werden, und sie infrastrukturen in den westlichen Industrienationen heute ohne- e rhöhen die Vulnerabilität nicht nur der eigenen Branche, hin in einem gefährlichen Maße marode ist. Die Verkehrsin sondern der Gesellschaft insgesamt. frastrukturen werden also mit jedem weiteren Jahr weniger Allgemein lässt sich also formulieren, dass die Art und die leistungsfähig und zunehmend dysfunktional. Zudem sind sie Ausmaße der indirekten Betroffenheit einer Gesellschaft durch durch diese endogene Dysfunktionalität auch tendenziell die direkte Beeinträchtigung der Funktionalität ihres Verkehrs- weniger widerstandsfähig gegenüber exogenen Stressereig- systems bzw. seiner Teilsysteme deutlich variiert und zwar mit nissen. dem Maß der Struktur und der sozialen Stratifizierung ihrer sozialen und ökonomischen Strukturen einerseits und ihrer politischen, kulturellen und wirtschaftlichen globalen Einbet- 2.4 INDIREKTE VULNERABILITÄT: tung andererseits. Das wird in den nächsten Abschnitten DIE FOLGEN E INER EINGESCHRÄNKTEN genauer untersucht. Dabei werden wirtschaftliche, soziale, FUNKTIONALITÄT DES VERKEHRSSYSTEMS ökologische und politische Folgen differenziert betrachtet. FÜR DIE GESELLSCHAFT 2.4.1 WIRTSCHAFTLICHE EFFEKTE EINER Mobilität hat eine zentrale Funktion in allen Gesellschaften. EINGESCHRÄNKTEN FUNKTIONALITÄT DES Man kann sie definieren als Beweglichkeit im Sinne der Mög- VERKEHRSSYSTEMS FÜR DIE GESELLSCHAFT lichkeit und Fähigkeit von Menschen, an Orte zu gelangen, an denen sie die für sie wichtigen Tätigkeiten verrichten. Mobi- Bei der Betrachtung der Stressereignisse wurde argumentiert, lität ist also eine Basisfunktion menschlicher Zivilisation insge- dass die Art des Störereignisses über die Qualität und das samt, insbesondere aber der modernen arbeitsteiligen und Ausmaß der Betroffenheit entscheidet. Sicherlich ist eine lang hochinterdependenten Gesellschaften. Allgemein gilt die tri- andauernde globale Pandemie ein besonders schwerwiegen- viale aber folgenreiche Formel: Je abhängiger Gesellschaften der Stressfaktor für das Verkehrssystem und die daraus resul- von einem hohen Niveau an Mobilität und sicher planbaren tierenden gesellschaftlichen Effekte, da sie flächendeckend Transportdienstleistungen sind, desto größer ist das Schadens und andauernd wirkt, während beispielsweise ein akutes und potenzial von Störfällen und Verzögerungen. In einer Zeit, in regional begrenztes Starkwetterereignis, eine Naturkatast- der der überwiegende Teil der Bevölkerung in der industriali- rophe oder ein technischer Unfall sich zwar über die beschrie- sierten Welt sich mit Nahrungsmitteln und Gütern des tägli- benen Interdependenzen des Verkehrssystems überregional chen Bedarfs über den Einzelhandel versorgt, statt sie selbst ausweiten kann, insgesamt allerdings in seiner Regionalität zu produzieren, können größere Versorgungskrisen schon wohl eher beherrschbar bleibt. Anders liegen die Dinge bei innerhalb weniger Tage entstehen. lm Vergleich dazu war es gezielten Cyberangriffen auf digitalisierte kritische Infrastruk- zu früheren Zeiten vielleicht ärgerlich, aber in keiner Weise turen, die gegebenenfalls sehr viel weniger regional und akut systemrelevant, wenn in einer bäuerlich-dörflichen Kultur von beherrschbar bleiben, oder bei global generalisierten Stress Selbstversorger_innen die Lieferung von besonderen Gütern ereignissen wie Preissteigerungen, Versorgungsengpässen wie Salzheringen, Zucker oder Kaffee mit einer Woche Ver- oder -unterbrechungen bei der Bereitstellung verkehrssystem- spätung eintraf. relevanter Treibstoffe etwa durch wirtschafts- oder geopoliti- Ein Beispiel und eine frühe Warnung für die moderne Ver- sche Konflikte. Die folgenden Betrachtungen der indirekten letzbarkeit der engmaschigen globalen Transport- und Logistik- Vulnerabilität erfolgen durch das Brennglas und am Beispiel maschinerie durch Naturereignisse war der Ausbruch eines der aktuellen pandemischen Krise. kleinen isländischen Vulkans im Jahr 2010, den zuvor kaum je- mand auf der Welt zur Kenntnis genommen hatte. Für ein paar 2.4.2 MOBILITÄTSWIRTSCHAFTLICHE EFFEKTE Tage brachte er mit seinen scharfkantigen und deswegen für Flugzeugturbinen äußerst gefährlichen Aschepartikeln fast den Der Shutdown der globalen Mobilitätsmaschinerie bringt un- gesamten Flugverkehr Europas zum Stillstand. In der Folge sah mittelbar massive betriebswirtschaftliche Schwierigkeiten aller
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