Eine Gesprächsreihe des Landtags in der 16. Wahlperiode - Landtag Baden ...
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05 15 49 10. JULI 2017 | ARTIKEL 3 24. JANUAR 2017 | ARTIKEL 1 91 23. MAI 2018 | 69 JAHRE GG 117 23. MAI 2019 | 70. GEBURTSTAG GG 109 20. NOVEMBER 2019 | ARTIKEL 20 1. OKTOBER 2020 | ARTIKEL 8 23 77 18. OKTOBER 2017 | ARTIKEL 5 27. MÄRZ 2019 | ARTIKEL 79 61 17. OKTOBER 2018 | ARTIKEL 11 6. FEBRUAR 2018 | ARTIKEL 4 37
LIEBE Ich bin stolz, den Landtag von Baden-Württemberg und meine Heimat in diesem hohen Staatsamt repräsentieren zu können. Ich bin dankbar, dass ich hier aus meinen Talenten und Interessen etwas machen kann. Und zwar ohne Restriktionen, wie ich sie in meinem Herkunftsland als Kind erlebt hatte. LESERIN, Mit den Jahren ist mir immer deutlicher bewusst geworden, wie viel das Grundgesetz mit meinem Leben zu tun hat – dass diese Verfassung aus dem Jahr 1949 der eigentliche Garant meines freien Lebens ist. Sie garantiert grundlegende Rechte, ja selbst die Würde eines jeden Individuums schreibt sie fest. Ich bezeichne mich seit langem als Verfassungspatriotin. Mich be- LIEBER geistert die Mischung aus Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsgarantie, aus Offenheit und Ordnung, aus Humanität und Wertekatalog. Daraus entsprang die Idee für eine Debattenreihe, um die Werte des LESER, Grundgesetzes stärker ins gesellschaftliche Gespräch zu bringen: wech- selnde Orte, wechselnde Grundrechtsartikel, wechselnde Adressaten. Was mir wichtig ist und worum es gehen soll in der Veranstaltungsreihe: Jenem wunderbaren Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland den Platz geben, den es verdient; es in all seinen Teilen und mit all seiner Intention hochhalten, für seine zeitlose Klugheit werben, die Festlegungen aus seinen Artikeln analysieren, diskutieren – und manchmal auch einem Wirklichkeits check unterziehen. Die Gesprächsreihe sollte einen Titel bekommen, der meine Überzeugungen, ja meine Wertschätzung auf den Punkt bringt. Deshalb: „WERTSACHEN – Was uns zusammenhält.“ Viel Freude bei der Lektüre der Bilanz unserer Gesprächsreihe. „WERTSACHEN – Was uns zusammenhält.“ Am Titel für diese Gesprächsreihe haben wir eine Zeit lang getüftelt. Das war Mitte 2016, kurz nach meiner Wahl zur ersten Landtags- Muhterem Aras MdL präsidentin in Baden-Württemberg. Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg 02 EDITORIAL EDITORIAL 03
BEGRIFFLICH GESEHEN WERTSACHEN Der Begriff Wertsachen wird im gängigen Sprachgebrauch zumeist verwendet im Zusammenhang mit materiellen Gegenständen: Geld, Schmuck, eine teure Uhr. Wertsachen versichert man gegen Diebstahl, man schließt sie in einen Tresor, um sie vor Zugriff zu schützen. Wertsachen sollen die Zukunft absichern und möglichst wertig bleiben. Einige Schülerinnen und Schüler aus Singen am Hohentwiel, nach ihrem Verständnis von Wertsachen befragt, antworteten zunächst das Naheliegende: Smartphone, Ketten, Armbänder. Andere sahen Familie, Freundschaften oder Schule als Wertsachen an. Eine Jugendliche definierte umfassend: „Dinge, die mir am Herzen liegen und von denen man will, dass sie nicht verloren gehen.“ Bildung als Wertsache bejahten einige nach längerem Nachdenken. Was eine Sache von Wert ist, kann also höchst unterschiedlich sein. Sicher ist nur: In diesem Begriff scheint die Ursprungs- bedeutung mächtig durch, man assoziiert Diamanten und Gold. Grundrechte, also etwas trockene Materie wie die Rechtsnormen aus der Verfassung, als Wertsachen zu bezeichnen, erhöht deren gefühlte Wertigkeit. Die Artikel des Grundgesetzes als „Wertsachen“ zu bezeichnen, beinhaltet folgerichtig, ihnen auch größtmöglichen Schutz angedeihen zu lassen, weil sonst – zumindest denkbar – der Verlust von Grundwerten und Grundrechten droht. Die Wertsachen Meinungsfreiheit, Religions- freiheit oder Diskriminierungsfreiheit sind die Mosaiksteine, aus denen sich unsere offene, freiheitliche Demokratie zusammensetzt. Eine aktive Demokratie ist in der Lage, drohende Angriffe abzuwehren. Aber, wie der Schriftsteller Günter Grass 1964 in einem Essay schrieb, „man muss auf sie aufpassen“. 04 BEGRIFFLICH GESEHEN
ZU ART. 4 (1) GG ZU ART. 1 GG RELIGIONS- UND GLAUBENSFREIHEIT „Menschenwürde bedeutet für mich den letzten Schimmer Hoffnung für „Religionsfreiheit gehört die Menschen heutzutage …“ für mich einfach dazu …“ ZU ART. 1 GG „Menschenwürde ist letztlich nicht ZU ART. 5 (1) GG greifbar und das ist MEINUNGS- UND INFORMATIONSFREIHEIT es, was das Mensch- „Wenn man sich rassistisch äußert sein letztlich auch und das dann als Meinung darstellt, ausmacht …“ das finde ich falsch.“ ZU ART. 5 (1) GG ZU ART. 4 (1) GG RELIGIONS- UND GLAUBENSFREIHEIT MEINUNGS- UND „Religion ist Privatsache.“ INFORMATIONSFREIHEIT „… dass ich die Meinung, die ich habe, sagen darf, ohne dass ich dafür bestraft werde.“ Ein (filmischer) Beitrag von Alexandra Krämer, Elelta Tzegai, David Büttner und Angelina Beresowski (Hochschule der Medien) 06 1. WERTSACHEN-DIALOG STUTTGART, 24.01.2017 07
DUNJA HAYALI, JOURNALISTIN UND MODERATORIN „Es ist keine Selbstverständ lichkeit, in einer Demokratie zu leben. Wir müssen sie verteidigen.“ „Die Würde des Menschen ist unantastbar? Hassbotschaften im Internet, Verunglimpfungen von Zeitungen als ‚Lügenpresse‘: Die Würde von zu vielen Menschen wird ganz offensichtlich schon lange nicht mehr geachtet.“ GRUSSWORT MUHTEREM ARAS, PRÄSIDENTIN DES LANDTAGS Werte wie: Würde, Gleichberechtigung, Pluralität, Solida- öffentliche Debattenkultur verroht, im Internet grassieren Ich bin froh und dankbar, in diesem wunderbaren Land zu VON BADEN-WÜRTTEMBERG rität, Freiheit und streitbare Demokratie. Hassbotschaften, die Medienlandschaft wird als „Lügen- leben. Und ich bin der Überzeugung, dass die Mehrheit presse“ bezeichnet. Betroffen sind das Grundgesetz und der Bevölkerung, dass Sie diese Werte genau so schätzen Liebe Gäste, Seit einiger Zeit werden unsere Werte und unsere demo- die Landesverfassung, denn sie bilden die Basis unseres und bewahren wollen. kratischen Institutionen teilweise angezweifelt. Von politi- Zusammenlebens. Sie zu beleuchten, lebendig werden zu bereits in meiner Antrittsrede habe ich angekündigt, mich schen Bewegungen im In- und Ausland, aber auch von lassen und damit eine Wertediskussion anzustoßen – das Deshalb werde ich alles dafür tun, die demokratischen als Landtagspräsidentin mit aller Kraft und Leidenschaft Bürgerinnen und Bürgern. Was bis vor wenigen Jahren ist Ziel unserer Gesprächsreihe „WERTSACHEN.“ Kräfte in unserem Land zu stärken. für den Erhalt unserer Grundwerte und den Zusammenhalt noch als unangefochten gegolten hat, steht plötzlich im unserer Gesellschaft einzusetzen. Wir haben mit unserem Zentrum der öffentlichen Diskussion: Grundrechte werden Denn genau diese Werte sind es, die dieses Land in vielen Mit dieser Gesprächsreihe möchte ich eine Rückbesinnung Grundgesetz eine der besten, vielleicht sogar die beste angezweifelt, Grundwerte unserer Demokratie skeptisch Jahrzehnten zu dem gemacht haben, was seine Stärke auf unsere Verfassung, auf unsere Werte leisten und mit Verfassung der Welt. Hier sind unsere Werte verankert. hinterfragt, demokratische Institutionen angezweifelt. Die ausmacht. Darauf bin ich stolz. Ihnen darüber ins Gespräch kommen. 08 1. WERTSACHEN-DIALOG STUTTGART, 24.01.2017 09
ALBRECHT SCHERR, PROFESSOR FÜR SOZIOLOGIE, FREIBURG GRUNDGESETZ FÜR DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND „Wir müssen nicht nur die politische Debatte, sondern die Menschen mit einem Mehr an Bildung über, durch und für Menschenrechte stärken.“ (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und un- veräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollzie- hende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. 10 1. WERTSACHEN-DIALOG STUTTGART, 24.01.2017 11
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So steht es nicht nur im ersten Artikel des Grundgesetzes, sondern auch im Landtag von Baden- Württemberg über einem Gedenkbuch. Es erinnert an Parlamentarier aus dem Südwesten, die aus politi- schen oder rassistischen Gründen vom NS-Regime schikaniert wurden, deren Würde durch die Verfassung eben nicht unantastbar war. Der 1961 eingeweihte, denkmalgeschützte Landtag in Stuttgart ist in doppelter Hinsicht ein symbolträchtiger Ort: Als erster Parlaments- neubau nach dem Zweiten Weltkrieg stand der impo- sante Kubus für „Demokratie als Bauherr“ – ein passender Auftakt für die Gesprächs NIKITA GORBUNOV, reihe „WERTSACHEN“. Dieser POETRY-SLAMMER wird moderiert von Silke „Nicht provozieren lassen. Gmeiner. Antworten Sie in sozialen Medien mit Katzenbildern.“ 12 1. WERTSACHEN-DIALOG STUTTGART, 24.01.2017 13
LINK AUF DIE VERANSTALTUNG PUBLIKUMSFRAGEN https://bit.ly/2FxuEvg https://bit.ly/2UXgev8 IMPRESSIONEN AUS STUTTGART VIDEOZUSAMMENSCHNITT https://bit.ly/2OsEu5V https://bit.ly/2JQn70m https://bit.ly/2TYxBiH 14 1. WERTSACHEN-DIALOG
BEGRIFFLICH GESEHEN WERTEWANDEL Der Begriff Wertewandel meint zunächst, ganz neutral, eine Veränderung gesell- schaftlicher und individueller Normen und Wertvorstellungen. Das heißt, er bietet sich als rhetorische Allzweckwaffe an – je nach Intention: Wertewandel kann will- kommene Modernisierungsprozesse beschreiben, aber auch den Verlust „alter Werte“, die meist weniger im Grundrechtekatalog zu finden sind, sondern eher (Se- kundär-)Tugenden darstellen wie Verlässlichkeit oder Pünktlichkeit. Wertewandel gestaltet sich entlang von Konjunkturen, Moden oder moralischen Standards. Die um die Jahrtausendwende volljährig gewordene Generation Y, so die Demoskopie, gewichte Selbstverwirklichung und Work-Life-Balance höher als Vermögen und Besitz, auch sei eine Auffächerung der sozialen Milieus und Lebensstile festzustellen und Entfremdung von Politik. Doch Menschen gewichten so individuell, wie es Ge- sellschaften insgesamt tun. Es gibt Grundrechte auf freie Entfaltung, auf Gleichheit vor dem Gesetz, auf Glaubens- und Meinungsfreiheit, auf eine Demo oder häusli- che Privatheit. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hält Grundrechte und Grundwerte zusammengenommen für „eine Fiktion“ des bestmöglichen Zusam- menlebens. Nur: Es ist keinesfalls gesichert, dass jede und jeder die Grundrechte und die daraus abgeleiteten Werte für unser Leben als wichtig oder gar hand- GRUSSWORT Sie suchen eine neue Wohnung. Sie lesen die Inserate in lungsleitend empfinden, dass Bürgerinnen und Bürger den Zusammenhalt des Ge- MUHTEREM ARAS, PRÄSIDENTIN DES LANDTAGS der Zeitung, recherchieren im Internet, nutzen Portale. Es meinwesens im Auge haben. Ein Vorurteil im Zusammenhang mit Wertewandel hält VON BADEN-WÜRTTEMBERG gibt viele Angebote in Mannheim und anderswo, aber sich indes hartnäckig, und zwar in jeder Generation: die These, dass die Jugend auch viel Konkurrenz. Stellen Sie sich die Geschichte in politisch desinteressiert sei und sich, in der aktuellen Variante, nur mehr in medialen Liebe Gäste, zwei Varianten vor: Bubbles aufhalte. Greta Thunbergs Bewegung „Fridays for Future“ beweist das Gegenteil, nämlich ein sehr reges, aktives, werte- und verantwortungsbetontes mit unserer Reihe „WERTSACHEN – Was uns zusammen- Sie haben einen ausländischen Namen: zum Beispiel Ma- Staatsbürgerverständnis. Die Schülerdemos halten uns den Spiegel vor: Grund- hält.“ wollen wir keine akademischen Diskurse über unsere ryam Abedini oder Ismail Hamed. Oder Sie haben einen rechte wirken nicht durch pures Vorhandensein. Sie müssen immer wieder neu Grundrechte führen. Vielmehr wollen wir zeigen, was die deutschen Namen wie Hanna Berg oder Stephan Braun. belebt werden. Werte des Grundgesetzes ganz konkret mit unserem All- Ansonsten ist alles gleich: Alter, Anschreiben, Lebenslauf, tag zu tun haben. Heute geht es um Artikel 3 des Grund- Abschlüsse, finanzielle Verhältnisse. Wird Maryam genauso gesetzes. Artikel 3 GG verbietet pauschale Benachteiligung oft zur Besichtigung eingeladen wie Hanna? Ismail genauso oder Bevorzugung. Wird die Realität dem immer gerecht? oft wie Stephan? Gibt es Unterschiede? Wenn ja, wie groß Dazu habe ich folgende Bitte an Sie: Stellen Sie sich vor, sind diese? Was meinen Sie? 16 BEGRIFFLICH GESEHEN MANNHEIM, 10.07.2017 17
„No place for sexism, antisemitism, racism, CACAU, INTEGRATIONS fascism, hate, homophobia BEAUFTRAGTER DES DFB and any kind of discrimina- „Migranten müssen viele Ent tion“ – so steht es auf der täuschungen ertragen, aber Startseite der Website des Jugendkulturzentrums es ist wichtig, seine eigenen FORUM in Mannheim. Talente herauszustellen und selbstbewusst mit der Mannheim, die bunte Stadt. Gesellschaft umzugehen.“ Mannheim, die Stadt, in der 180 Nationalitäten leben und Heimat finden. Mannheim „Wer gut spielt, ist akzeptiert – als Ort also, prädestiniert für egal, welche Hautfarbe er hat.“ einen Abend zu Artikel 3 des Grundgesetzes und einen Realitätscheck im Jugend- kulturzentrum. Die WERT SACHEN-Diskussion an diesem Abend moderiert Silke Gmeiner. Der Stadt jugendring Mannheim, der ben sind. Das ist eine notwendige Voraussetzung, aber wieder gemeinsam unseres Wertefundaments versichern. hinter dem FORUM steht, noch keine ausreichende. Zum Beispiel in einem Rahmen wie im Jugendkulturzen beschreibt dieses als eine Eine entsprechende aktuelle Studie kam zu folgendem trum FORUM in Mannheim. Einrichtung für Kinder, Ergebnis: Maryam und Ismail werden in einem von vier Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben Jugendliche und Erwachsene Fällen aussortiert – allein aufgrund ihres Namens. Auch ervorragende Ausgangsbedingungen geschaffen. Das h Darum soll es an diesem Abend gehen: Was kann die Politik, mit unterschiedlichen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt gibt es – bewusst Grundgesetz legt die Basis für unser Zusammenleben. Der die Gesellschaft, was können wir tun? Für Chancengleich- sozialen wie ethnischen oder unbewusst – teils erhebliche Ungleichbehandlung Staat schützt unsere Grundwerte. Die Verantwortung, die heit und gegen Diskriminierung. Bezügen. Dort ist es ganz und damit Diskriminierung. Werte der Verfassung zu leben, liegt jedoch bei uns. Bei egal, wo ein Mensch Ihnen, bei euch, bei mir, bei uns allen. Ich halte es für wichtig, dass wir dabei auch Erfolgs herkommt. Artikel 3 unseres Grundgesetzes verbietet Diskriminierung geschichten betrachten und daraus lernen. Ich freue mich aufgrund des Geschlechts, der Herkunft, der Religion. Diese Verantwortung wächst. In den nächsten Jahren daher auf die Gäste unserer WERTSACHEN-Veranstaltung Aber ich bin sicher, allen in diesem Raum fallen Beispiele wird es eine große Herausforderung sein, eine hohe Zahl zu Artikel 3 Grundgesetz: Cacau, Jagoda Marinić und aus dem persönlichen Umfeld ein, dass Diskriminierung im von Neuankömmlingen zu integrieren. Wir können unsere Fatih Çevikkollu. Alltag de facto durchaus stattfindet. Werte entfalten ihre Werte aber nur dann vermitteln und andere für sie be- Kraft nicht allein dadurch, dass sie offiziell niedergeschrie- geistern, wenn wir sie selbst leben. Und wenn wir uns immer Herzlichen Dank! 18 2. WERTSACHEN-DIALOG MANNHEIM, 10.07.2017 19
GRUNDGESETZ FÜR DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. JAGODA MARINIĆ, AUTORIN „Obwohl immer mehr Menschen (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, nach Deutschland passen, ist es seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines noch ein weiter Weg, um die Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen be- Gesellschaft für Integration zu nachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner sensibilisieren.“ Behinderung benachteiligt werden. 20 2. WERTSACHEN-DIALOG MANNHEIM, 10.07.2017 21
FATIH ÇEVIKKOLLU, KABARETTIST „Der größte Irrtum ist die Arroganz der Helfenden. Nichts ist schlimmer, als wenn man vor allem von Ämtern nicht ernst- genommen wird.“ „Du lebst Normalität, aber dein Umfeld spiegelt dir ständig Anderssein.“ LINK AUF DIE VERANSTALTUNG LINK ZUR PRESSEMITTEILUNG https://bit.ly/2JKfVTp https://bit.ly/2U8LFWh IMPRESSIONEN AUS MANNHEIM https://bit.ly/2ut5CIK 22 2. WERTSACHEN-DIALOG
Was ist uns wichtig? Was macht uns aus? In der Gesellschaft, der Familie oder bei der Arbeit? Materielle Werte Moralische Werte Menschen achten auf Werte. Ein wichtiger Wert für mich ist … … Gerechtigkeit … Meinungsfreiheit … Frieden … Disziplin … Toleranz … Respekt … Unabhängigkeit … Verständnis … Gleichberechtigung WERTSACHEN – EIN FILM ÜBER WERTE Eine Jugendgruppe aus Waldkirch, die sich politischen Themen, aber auch kreativen Projekten widmet, konzipierte eigens für die „WERTSACHEN“ in Offenburg einen Film – über Politik in Schulen, Mitbestimmung und Wertvorstellungen. Selbst gefragt, selbst gedreht, selbst zu einem Video geschnitten und bearbeitet. „Forest Pictures“ nennt sich das engagierte Team, das das Miteinander hochhält. Für sich genommen selbst eine „WERTSACHE“. 24 3. WERTSACHEN-DIALOG OFFENBURG, 18.10.2017 25
GRUSSWORT Welch katastrophale Auswirkungen es auf Gesellschaften Das Grundgesetz stellt an die Bürgerinnen und Bürger be- MUHTEREM ARAS, PRÄSIDENTIN DES LANDTAGS hat, wenn diese Bedingungen fehlen, thematisiert der wusst keine Ansprüche. Aber seine Werte zu leben, sie im VON BADEN-WÜRTTEMBERG langjährige SWR-Korrespondent Jörg Armbruster in seinem permanenten gesellschaftlichen Gespräch auszuhandeln Vortrag. Leider muss man nicht einmal den Blick auf Länder und zu festigen – diese Verantwortung liegt bei uns allen. Liebe Gäste, außerhalb Europas richten, um auf existentielle Bedrohun- Zu dieser Verfassungskultur gehört ganz elementar, dass die Gesprächsreihe des Landtags „WERTSACHEN – Was gen der Pressefreiheit zu stoßen. Am Montag wurde die der eigenen Freiheit auch Pflichten gegenüberstehen. uns zusammenhält.“ will fragen und zeigen, was die Werte Journalistin Daphne Caruana auf Malta ermordet. Zuvor des Grundgesetzes mit unserem Alltag zu tun haben. hatte sie einen Skandal um Briefkastenfirmen und Steuer- An erster Stelle: der Respekt vor den anderen. Das klingt betrug auf der Insel aufgedeckt. Ich hoffe inständig, dass simpel, ist aber im Alltag hochanspruchsvoll. Gerade das Kaum ein Artikel bietet sich für eine Diskussion mit Bürgerin- wir solche Anschläge auf das Leben von Journalistinnen Beispiel Meinungsfreiheit zeigt das. Durch die technische nen und Bürgern so an wie Artikel 5 des GG. Er garantiert und Journalisten und die Pressefreiheit in Deutschland Entwicklung haben wir heute weitaus mehr Möglichkeiten, die Freiheit, die eigene Meinung zu äußern und zu verbrei- nicht erleben. Doch auch wir müssen wachsam sein, wach- uns zu informieren, uns zu vernetzen, unser Glück wie auch ten. Und auf den Austausch von Meinungen setzen unsere sam gegenüber schleichenden Erosionsprozessen. Eine unseren Ärger zu äußern. Soziale Medien bieten die Mög- Veranstaltungen. wichtige Voraussetzung für eine funktionierende Meinungs- lichkeit, virtuell andere Lebenswelten zu erkunden. Wir freiheit sind Sie, sehr geehrte Damen und Herren. können uns mit deutlich mehr Menschen austauschen. Hier im Salmen proklamierten Demokraten 1847 – kurz vor Debatten können dadurch breiter und dynamischer ge- der Revolution – 13 Forderungen des Volkes. führt werden. Nummer zwei lautete: „Wir verlangen Pressefreiheit; das Die Kehrseite aber ist die Möglichkeit, sich in Echokammern unveräußerliche Recht des menschlichen Geistes, seine zurückzuziehen. Räume, in denen nur die eigene Meinung Gedanken unverstümmelt mitzuteilen, darf uns nicht länger gespiegelt und auch nur diese geduldet wird. Das Schmoren vorenth alten werden.“ Dieses historische Pfund, diese im eigenen Saft birgt die Gefahr, jeder anderen Meinungs- Tradition hat die Stadt gut bewahrt. äußerung nur noch verächtlich gegenüberzutreten. Das Meinungsfreiheit braucht weitere Voraussetzungen – Artikel Netz fühlt sich anonym an. Das senkt leider die Hürde, eine Der Aufschrei der unterdrückten Bürger von 1847 trifft den 5 schreibt sie fest. Er gewährleistet die Pressefreiheit und die Sprache zu verwenden, die die Würde des Gegenübers Kern unserer heutigen Verfassung: Meinungsfreiheit ist in Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film. verletzt – und damit auch seine elementaren Grundrechte. erster Linie ein Abwehrrecht gegen den Staat. Sie ist die Und nicht zuletzt: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Voraussetzung, dass die Gewalt im Staat von einem Volk Lehre sind frei. Mit anderen Worten: Wir müssen nicht nur Durch diese Entwicklung geraten auch die klassischen ausgeht, dessen Meinungsbildung nicht vom Staat ma- gewährleisten, dass Menschen ihre Meinung frei sagen Medien unter Druck. Denn ausgewogene Nachrichten und nipuliert wird. Nur wer sich angstfrei äußern kann, wird dürfen. Wir müssen auch gewährleisten, dass sie sich ihre Einordnungen sind das Gegenteil von Echokammern. sich in Debatten einbringen und sich an der politischen Meinung frei bilden können. Wir brauchen unabhängige Gerade deshalb werden sie – aus diesen heraus – be- Willensbildung beteiligen. Das wiederum ist eine wesent Medien, die Missstände schonungslos benennen. Wir brau- kämpft. Bis hin zum Vorwurf der „Lügenpresse“. liche Voraussetzung, um sich für ein Gemeinwesen zu en- chen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren gagieren. Demokratie lebt von Auseinandersetzung, vom Lehre und Forschung auch lieb gewonnene Gewohnheiten Wettstreit der Argumente. Die Freiheit der Meinungsäuße- in Frage stellen. Wir brauchen Künstlerinnen und Künstler, rung bringt ihr Herz erst zum Schlagen. Dazu gehört mehr, die die gesellschaftlichen Verhältnisse auch durch Pro- als nur etwas sagen, schreiben oder abbilden zu dürfen. vokationen zum Tanzen bringen. 26 3. WERTSACHEN-DIALOG OFFENBURG, 18.10.2017 27
Umso dringender brauchen wir Qualitätsmedien. Als Ga- garantieren. Das können nur mündige Bürgerinnen und ranten, dass ein gesellschaftliches Gespräch auf einer Bürger, die sie leben. Menschen, die unter Meinungsfrei- gemeinsamen Informationsbasis überhaupt möglich ist. heit gerade auch die Meinungsfreiheit der anderen ver- Denn eine Gesellschaft, die in Milieus zerfällt, eine solche stehen. Und Menschen, die die Auseinandersetzung mit Gesellschaft ist als Ganzes schwach. Eine vielfältige Ge- anderen Standpunkten als Bereicherung schätzen. Diese sellschaft, die Unterschiede auf der Basis gemeinsamer Werte zu leben, dazu soll auch unsere heutige Veran- GRUNDGESETZ FÜR DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Werte akzeptiert und respektiert, braucht eine offene, staltung einen Beitrag leisten. tolerante Debattenkultur. Diese können Institutionen nicht LENA GORELIK, SCHRIFTSTELLERIN (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei „Es gibt kein Recht auf Meinungs- zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen freiheit ohne Verantwortung.“ Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Frei- heit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewähr- „Das wichtigste Schulfach sollte der leistet. Eine Zensur findet nicht statt. Umgang mit sozialen Medien sein.“ (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allge- meinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Frei- heit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. 28 3. WERTSACHEN-DIALOG OFFENBURG, 18.10.2017 29
JÖRG ARMBRUSTER, ARD-KORRESPONDENT Dieser Artikel schafft, wie der ägyptische Kollege es formu- Das Kulturdenkmal „Meinungsfreiheit muss liert hatte, die notwendige Luft zum Atmen, die jeder Bürger Salmen in Offenburg ist immer wieder neu verteidigt braucht, um in einer Gemeinschaft nicht nur zu überleben, ein geschichtsträchtiger Ort und ausgehandelt werden.“ sondern auch sich aktiv an ihr zu beteiligen. Mit Kritik, mit für die Meinungsfreiheit. Debatten, mit eigener Meinung. Das kann nur funktionieren, Wenige Zeilen im Offenburger wenn die Bürger sicher sein können, unabhängige, unver- Wochenblatt kündigten im stellte Informationen zu bekommen. Meinungs- und Presse- Jahr 1847 für Sonntag, den freiheit sind Geschwister, die aufeinander angewiesen sind. 12. September, dort eine Veranstaltung an: eine Das Letzte, was ich von diesem Kollegen gehört habe, war, Versammlung von Verfas- dass er von der Polizei verhaftet worden ist, offensichtlich sungsfreunden aus dem hatte er sich kritisch über den ägyptischen Präsidenten ge- ganzen Land Baden „zum äußert. Ob er wieder freigelassen ist, kann ich nicht sagen. Zwecke gegenseitiger VORTRAG Bleiben wir in Syrien. Das Assad-Regime versuchte schon Im Land herrscht Angst besonders unter jenen Menschen, Besprechung und Verständi- JÖRG ARMBRUSTER, ARD-KORRESPONDENT zu Friedenszeiten jede unabhängige Berichterstattung zu die zwischen 2011 und 2013 auf so etwas wie Pressefreiheit gung“. Es war der Beginn verhindern – mit Zensur, Überwachung und willkürlichen gehofft und sich dafür eingesetzt hatten. der demokratischen Bewe- Stellen Sie sich einmal vor, Sie leben in einem Land, in dem Festnahmen. Unliebsame Beobachter werden gefoltert gung in Baden. Rund 900 es nur zwei oder drei Tageszeitungen gibt. Und jeden Mor- oder ermordet. Fernsehen und Radio werden genauso vom Aber blicken wir doch nach Deutschland. An welcher Stelle, Menschen kamen und hörten gen beim Frühstück müssen Sie feststellen, in jeder dieser Staat kontrolliert wie die Zeitungen. Aber auch auf der glauben Sie, liegt unser Land auf dieser Rankingliste von die Verkündung der Zeitungen steht genau das Gleiche. Gleiche Formulierun- anderen Seite sieht es heute nicht besser aus. Dschihadis- Reporter ohne Grenzen? 1., 2. oder 3. Platz? Jedenfalls unter „13 Forderungen des Volkes gen, gleiche Nachrichten, gleiche Kommentare. Gleich ist tische Gruppen überfallen oder bedrohen kritische Journa den ersten zehn? Falsch. Deutschland erreicht nur Platz 16. in Baden“ – des ersten auch: An der Regierung wird grundsätzlich keine Kritik ge- listen und verbreiten mit Entführungen und Exekutionen Hinter anderen europäischen Ländern wie Norwegen, Finn- Grundrechte-Katalogs in übt, im Gegenteil. Der Herrscher wird als der größte Poli- ein Klima der Angst. Auf der Rangskala der Pressefreiheit land, aber auch zu meiner Überraschung hinter Costa Deutschland. Eines der tiker des Landes gefeiert. In allen Zeitungen. Seine Geg- liegt Syrien auf dem 177. von 180 Plätzen. Rica und Jamaika. Der 16. Platz ist eigentlich kein gutes geforderten Grundrechte: ner als Verräter und Terroristen gebrandmarkt. Jeden Tag. Ergebnis. Woran liegt das? die Meinungs- und Aber auch Ägypten, wo ich das Glück hatte, für wenige Pressefreiheit. Den Abend Wenn Sie sich das einmal auszumalen und sich dieses Land Jahre Pressfreiheit zu erleben, ist heute wieder auf den 161. Die Probleme, die hier die Pressefreiheit einengen, sind ganz im Salmen moderiert vorzustellen versuchen, dann sind Sie nicht in Nordkorea, Platz dieser 180 abgerutscht. Diese Entwicklung schmerzt entschieden andere als die in den Ländern, die ich eben Silke Gmeiner. so weit müssen Sie gar nicht reisen, es reicht in eines der mich besonders, weil ich die Sehnsucht der Menschen nach beschrieben habe. Zwar versuchen auch hier Verfassungs- Länder des Nahen Ostens. Besonders Syrien zeichnet sich Meinungsfreiheit und einer freien, nicht gegängelten Be- schutz oder Polizei immer wieder Journalisten bei ihrer Ar- durch Unterdrückung einer unabhängigen Berichterstattung richterstattung erlebt hatte. „Endlich haben wir Luft zu at- beit zu beobachten, um so Informationen zu gewinnen. Von aus. Genauso aber auch Länder wie die Türkei, wo über 170 men“, sagte mir damals – das war in der Zeit zwischen 2011 2006 bis 2012 observierte zum Beispiel der Niedersächsische Journalisten eingesperrt sind, Ägypten, Saudi-Arabien, Iran und Mitte 2013 – ein ägyptischer Journalistenkollege. Er Verfassungsschutz sechs Journalisten, unter anderem eine und nicht zu vergessen der Ausrichter der übernächsten strahlte dabei. Und Leser in den Kaffeehäusern äußerten: Rechtsextremismus-Expertin. Doch als das 2013 aufflog, Fußball-WM, Katar. Auch der Veranstalter der nächsten, „Endlich können wir den Zeitungen vertrauen, wenigstens beschloss drei Jahre später der Landtag in Hannover ein Russland, ist nicht unbedingt für ein Übermaß an Presse- ein bisschen.“ Und ich hatte weder vorher noch nachher so Gesetz, nach dem die niedersächsischen Verfassungshüter freiheit bekannt. überdeutlich erlebt, wie wichtig dieser Artikel 5 des GG ist. besser kontrolliert werden können. 30 3. WERTSACHEN-DIALOG OFFENBURG, 18.10.2017 31
Klage eingereicht, unterstützt von der argumentieren, ihn herabzusetzen statt mit ihm auf Augen- Man sollte diesen Begriff „Lügenpresse“ als dummen Deutschen Journalistinnen- und Journa- höhe zu streiten. Das gilt nebenbei auch für die Auseinan- Kampfbegriff scharf zurückweisen, den Vorwurf aber den- listen-Union. Wir können zum Bundesver- dersetzung mit AfDlern. Harte Bandagen im politischen noch ernst nehmen und genau hinschauen. fassungsgericht gehen, das sich in der Diskurs können notwendig sein, auch mal deftige Worte, Vergangenheit immer wieder als ein Hüter nicht aber Hasstiraden oder gar Gewaltandrohung. Mei- Denn Untersuchungen beklagen einen zunehmenden Verlust der Presse- und Meinungsfreiheit bewiesen nungsstreit setzt die Bereitschaft voraus, dem anderen zu- des Vertrauens in die Medien, das gilt für die die Öffent- hat. Wir können auch in der Öffentlichkeit zuhören. Wer die Meinungskeule schwingt und versucht, lich-Rechtlichen wie auch Private. Auch ein solcher Ver- demonstrieren und gegen vermeintliche mit ihr zuzuschlagen, trifft am Ende den Artikel 5 des GG, trauensverlust bedroht Presse- und Meinungsfreiheit. Das oder echte Willkür protestieren, ohne Angst trifft also die Meinungsfreiheit selber. hat – ich beziehe mich auf diese Untersuchungen – auch haben zu müssen. damit zu tun, dass es in den letzten Jahren in einigen Be- Bleiben wir aber noch einen Augenblick bei AfD, Pegida reichen so etwas wie einen zunehmenden, gleichwohl un- Es gibt aber noch andere Gründe, warum und Co. Sie prägten das Wort „Lügenpresse“, vielleicht gewollten Gleichklang zwischen offizieller Politik und der Deutschland auf dieser Rangskala ab- ohne anfangs zu wissen, dass dieser Begriff aus dem Berichterstattung darüber gegeben hat. Nicht angeordnet gerutscht ist. So lassen sich in unserem Wörterbuch der Unmenschen des Dritten Reichs stammt. von oben, die Berichterstatter schwammen eher im Main- Land zunehmend Einschüchterungen, Gemeint damit ist eine gesteuerte Meinungsmache, die stream mit, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen. Auch der Fall des Journalisten und Dokumentaristen Daniel Drohungen und tätliche Angriffe gegen Journalisten be- nur wiedergibt, was Regierungen denken und nicht das Harrich ging glimpflich aus, zeigt aber auch, dass Presse- obachten. Besonders dann, wenn sie versuchen, in der aufnehmen, was Zuschauer, Hörer oder Leser interessiert. Zum Beispiel die Berichterstattung über den Ukrainekonflikt. freiheit hier nicht immer ein selbstverständliches Gut ist, rechtsradikalen Szene zu recherchieren oder über Pegida- Es fehle also nicht nur an kritischer Distanz zu den Regie- Kaum ein Medium hatte anfangs über die Angst Russlands sondern immer wieder neu verteidigt werden muss. Harrich Demonstrationen zu berichten. In NRW, aber auch in renden, Journalisten seien schlicht ihre Erfüllungsgehilfen. berichtet, EU und NATO könnten bis dicht an die russische hatte illegale Waffenexporte der Waffenfabrik Heckler & Dresden konnten Journalisten teilweise nur unter Polizei- Koch nach Mexiko recherchiert. Statt sofort gegen den schutz über rechtsradikale und neonazistische Umtriebe Waffenproduzenten zu ermitteln, warf die Staatsanwalt- berichten. Selbst vor Morddrohungen schrecken solche schaft Stuttgart dem Grimme-Preisträger Harrich Geheim- Neonazis nicht zurück. Auch die AfD mit ihrer aggressiven nisverrat und Verstoß gegen das Presserecht vor. Vielleicht Sprache hat da ihren Anteil. sollte er dadurch mundtot gemacht werden. Das war im Frühjahr des vergangenen Jahres. Im Dezember 2016 wies Umgekehrt haben aber auch Mitglieder linksautonomer dann das Amtsgericht München die Klage der Staatsan- Gruppen, die gegen den Parteitag der AfD in Köln in diesem MATTHIAS DEUTSCHMANN, waltschaft als unbegründet ab. Jahr protestierten, Journalisten, die über den Parteitag KABARETTIST berichten wollten, bedroht und behindert. Auch das „Zeigen, dass das Parlament Nur zwei von ähnlich gelagerten Fälle. Sie zeigen: Auch in gehört zum ganzen Bild. einem Rechtsstaat wie dem unseren ist Pressefreiheit nicht wieder zu alter Stärke zu- immer eine Selbstverständlichkeit. Doch die Mittel, sie zu Mit anderen Worten: Nicht nur ich beobachte in Deutsch- rückfindet, und mit der Macht verteidigen, sind ganz andere als in autoritär regierten land eine zunehmende Verrohung der Debattenkultur. Statt des Wortes die Standpunkte Staaten. Wir können klagen, wir können Gerichte anrufen. pointiert formulierte Meinungen auszutauschen, sich mit aushandeln.“ So haben neun Journalisten, denen während des G20-Gip- Argumenten und Gegenargumenten zu streiten, wird immer fels in Hamburg die Akkreditierung entzogen worden war, vor häufiger versucht, den anderen mit Meinungskeulen zum dem Verwaltungsgericht Berlin gegen das Bundespresseamt Schweigen zu bringen, ihn also zu beschimpfen, statt zu 32 3. WERTSACHEN-DIALOG OFFENBURG, 18.10.2017 33
Grenze vorrücken, wenn sich die Ukraine nach Westen Franziska Augstein, Redakteurin bei der Süddeutschen Das Eingeständnis von Fehlern schafft wendet. Das war aber damals ein starker Motor für die Zeitung, spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer also Vertrauen in die Presse und stärkt russische Ukrainepolitik. Erwähnte damals ein Kommen- Selbstgleichschaltung der deutschen Presse. damit die Pressefreiheit. tator diese Sorge der Russen, wurde er als „Putinverste- her“ verspottet, obwohl den anderen zu verstehen eine Oder mein Gebiet. Syrien. Viel zu spät haben die Medien Lassen Sie mich zum Schluss noch auf eine wichtige Grundlage für umfassenden Journalismus, aber meiner Meinung nach begonnen, auch die Rebellen kritisch nicht mehr ganz neue, aber umso wichti- auch für gute Politik ist. Eine Meinung zu haben setzt auch zu hinterfragen. Lange galt die simple Gleichung: Assad ist gere Entwicklung zu sprechen kommen. voraus, den anderen ein Stück begriffen zu haben. Verste- der Täter, daher böse, die Rebellen sind die Opfer, daher Ich meine die Auswirkungen des Internets hen heißt ja nicht billigen. die Guten. Von diesem einfach gestrickten Erklärungsmuster auf Pressevielfalt, auf Presse- und Mei- war ich auch nicht ganz frei. Das hat dann zunehmend nungsfreiheit. auch zu dem Vorwurf der Einseitigkeit geführt. Zweifellos: Nichts ist gut auf der Assad-Seite, das meiste aber schon Die digitale Revolution hat die Bedeutung nicht nur der Das kostet natürlich Zeit und Geld. Kenntnisreiche und seit einigen Jahren auf der anderen auch nicht mehr. großen Zeitungen und Rundfunkanstalten, sondern der fundierte Berichterstattung ist also teuer, muss aber Massenmedien insgesamt erodiert, schreibt der Medien dennoch die Antwort sein auf diese Herausforderungen. Zweifellos ist auch die fehlende, verspätete und dann kritiker Stefan Niggemeier. Vor zehn, fünfzehn Jahren gab es auch noch anfangs unzureichende Berichterstattung über als Leitmedien die FAZ, die SZ, den SPIEGEL, die Tages- Aber – ich gebe es gerne zu – das ist von einem solchen die sexuellen Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht schau, heute vom ZDF, um nur einige zu nennen, und die Podium aus leichter gesagt als getan. Denn diese digitale 2015/2016 eines der krassesten Beispiele dafür, wie Jour- meisten Konsumenten fühlten sich von diesem Angebot Revolution hat den klassischen Medien, besonders den nalismus Vertrauen verspielen kann. Meines Erachtens auch ordentlich informiert. privatwirtschaftlich organisierten, nicht nur so etwas wie spielten damals Nachlässigkeit, schlampige Recherche Exklusivität genommen, sie haben durch Verluste bei An- und vielleicht auch eine Art Beißhemmung den Flücht- Heute hat jede dieser Zeitungen und Zeitschriften ernst zeigen und Werbeeinnahmen auch erheblich finanzielle lingen gegenüber eine wesentliche Rolle, nicht aber von zunehmende Konkurrenz durch das Internet bekommen. Einbußen hinnehmen müssen, können dadurch immer schwe- oben gesteuerter Vorsatz. Politiker und Parteien gehen mit Facebook und Twitter an rer teuren, weil hochwertigen Journalismus finanzieren. die Öffentlichkeit und verbreiten das, was sie verbreiten Das unterstellen die, die die Medien mit dem Kampfbegriff wollen. Informationen fliegen durch das Internet fast in Das Zeitungssterben und die Pressekonzentration durch „Lügenpresse“ attackieren. Dieser Vorwurf ist zwar Unfug, Echtzeit. Social-Media-Nutzer informieren sich zunehmend Einnahmeverluste der vergangenen Jahrzehnte hat also aber ein bisschen mehr öffentliche Selbstkritik fördert die im Internet, es ist billig und berichtet schnell und knapp. auch mit dem Internet zu tun. In Baden-Württemberg er- KATHARINA GREVE, KÜNSTLERIN Glaubwürdigkeit; denn niemand erwartet von Journalisten Allerdings, wer sich den Algorithmen des Internets ausliefert, scheinen heute nur noch zwei unabhängige Zeitungen, UND COMIC-ZEICHNERIN Unfehlbarkeit. Daher war es auch klug, dass Tagesschau- bekommt nur das zu lesen, was er lesen will. Das Internet die Esslinger Zeitung und der Reutlinger General-Anzeiger, „Es sollte ein Porto für jeden Face- Chefredakteur Kai Gniffke später Fehler bei der Ukraine- ist nicht, wie viele meinen, eine neutrale Recherchenma- alle anderen gehören zu monopolartigen Dachgesell- book-Post geben, analog zu den Berichterstattung eingestanden hat. „Nichts wirkt wahr- schine, es versorgt Sie in erster Linie mit Informationen, die schaften wie der Neuen Pressegesellschaft mit Sitz in Ulm haftiger als das Bekenntnis, trotz des großen Bemühens, zu Ihrem Weltbild passen. Häufig genug können Sie auch oder der Südwestdeutschen Medienholding in Stuttgart, zu Leserbriefen von früher. Damit könnte alles richtig zu machen, versagt zu haben.“, schrieb zum nicht die Frage beantworten, wie zuverlässig diese dort der u. a. die beiden Stuttgarter Zeitungen, die Süddeut- man die Hemmschwelle erhöhen.“ Beispiel der Chefredakteur der ZEIT Giovanni di Lorenzo angebotenen Informationen eigentlich sind. Fake oder sche Zeitung, aber auch der Schwarzwälder Bote gehören. auf ZEIT ONLINE vor gut eineinhalb Jahren in seinem Artikel wahr? Zu den Aufgaben der klassischen Medien dagegen Beide Gesellschaften sind wiederum über einen kompli- „Unser Ruf steht auf dem Spiel“. gehört es, jede Information auf ihre Richtigkeit zu über zierten Schlüssel miteinander verflochten. Solche Presse- prüfen, sie einzuordnen und Fakenews auszusortieren. konzentration tut weder der Breite der Berichterstattung 34 3. WERTSACHEN-DIALOG OFFENBURG, 18.10.2017 35
und der Informationsvielfalt besonders gut, noch fördert sie die Glaubwürdigkeit der Presse als Meinungsmacher. Es wäre aber ein schlechter Schluss, würde ich mit dieser Botschaft enden. Es ist zwar richtig, dass eine zunehmende Pressekonzentration die vierte Gewalt der Demokratie auf Dauer schwächt. Doch es gibt auch Anlass zur Hoffnung. Sie kommt aus einem ehemaligen Schweizer Bordell. Dort hat sich nämlich in Zürich eine Mannschaft von Zeitungs- machern eingemietet, die ab Januar 2018 mit dem werbe- freien Online-Magazin „Republik“ einen besseren Journalismus mit ungetrübtem Blick auf die Dinge anzubieten verspricht. Rund 14.000 zahlende Abonnenten hat das Magazin heute schon, obwohl noch keine einzige Zeile erschienen ist. Ähn- Der Wunsch nach verlässlicher und unabhängiger Informa- liche Projekte gibt es auch in den Niederlanden und in tion ist also da, weil Bürger wissen: Nur so kann ich mir eine Deutschland unter anderem mit der in Stuttgart produzierten Meinung bilden, nur so kann dieser wichtige 5. Artikel des Online-Wochenzeitung „kontext“. Grundgesetzes erfolgreich verteidigt werden. LINK AUF DIE VERANSTALTUNG VIDEOAUFZEICHNUNG, TEIL 1 https://bit.ly/2VGXYWH https://bit.ly/2H4AYxK IMPRESSIONEN AUS OFFENBURG VIDEOAUFZEICHNUNG, TEIL 2 https://bit.ly/2C9kpwy https://bit.ly/2Hjlkho 36 3. WERTSACHEN-DIALOG
So wie mir geht es vielen Menschen mit Migrationshinter- Meine Kinder habe ich bewusst in den evangelischen grund. Die Gesellschaft stellt oft automatisch eine starke Religionsunterricht geschickt, bevor sie in Ethik wechseln Verbindung zwischen ihnen und der Religion ihrer Eltern her. konnten. Der Verlust einer Hohlstunde hat sie zwar geär- gert. Aber die Auseinandersetzung mit Werten, Glauben, Das führt natürlich zur Frage, ob wir im Alltag alle Religio- Menschenwürde war ein Gewinn. nen so wertneutral und gleichberechtigt betrachten, wie es das Grundgesetz tut. Und welche Rolle wir Religion in Je früher diese Auseinandersetzung beginnt, umso eher unserer Gesellschaft grundsätzlich beimessen. erkennen junge Menschen, wenn Religion für menschen- feindliche Ziele missbraucht wird – und umso souveräner Koexistenz zweier Konfessionen in Ravensburg, das hieß bewegen sie sich im Spannungsfeld zwischen religiösen zunächst, dass man sich gegenseitig ertragen hat. Was Freiheiten und den Grenzen religiöser Freiheit. für eine Leistung in einer Zeit, in der die Auseinanderset- zung um den rechten Glauben in einen europäischen 30-jährigen Krieg mündete. Von diesem Mut, Unterschiede auszuhalten, führt ein Pfad zu unserer heutigen Verfassung. Das Grundgesetz ist auf Vielfalt angelegt. Im Kern vermittelt es Toleranz in der ur- sprünglichen Definition: den Mut zu haben, Unterschiede zu akzeptieren. Das kommt in Artikel 4 besonders deutlich zum Ausdruck, nämlich in der Pflicht des Staates, religiöse Vielfalt zu ermöglichen und zu schützen. GRUSSWORT MUHTEREM ARAS, PRÄSIDENTIN DES LANDTAGS Für mich persönlich hat Religion keine prägende Rolle ge- Daran erkennt man: Die Werte unseres Grundgesetzes VON BADEN-WÜRTTEMBERG spielt. Den Koran habe ich das erste Mal während meines sind nicht vom Himmel gefallen. Sie stehen in vielerlei Tra- Wirtschaftsstudiums in die Hand genommen. ditionen, darunter vor allem auch religiösen. Staat und Liebe Gäste, Religion sind keine voneinander getrennten Sphären. Bei- Aus fachlichem Interesse habe ich die Suren nach de – Staat und Religion – formen unsere Gesellschaft. mit der Gesprächsreihe des Landtags „WERTSACHEN – geschlagen, die sich mit Zinsen und Erbrecht befassen. Was uns zusammenhält.“ wollen wir fragen und zeigen, Ich definiere mich nicht über den alevitischen Glauben Religionen können die Grundwerte einer vielfältigen, of- was die Werte des Grundgesetzes mit unserem Alltag zu meiner Eltern. fenen Gesellschaft weitertragen und vertiefen: über die tun haben. friedensstiftende Kraft des Glaubens, über ökumenische Aber andere tun es. Oft lese ich, ich sei die erste Muslima Verständigung, und den interreligiösen Dialog. Hat Artikel 4 für Sie persönlich eine Bedeutung? Wer nicht im Amt einer Parlamentspräsidentin. Ich selbst halte den gläubig ist, wird die Frage wahrscheinlich mit „Nein“ be- Aspekt, dass ich die erste Frau in diesem Amt bin – und Daher halte ich es auch für so wichtig, dass man sich mit antworten – zunächst! dann noch die erste Frau mit Migrationsgeschichte – für diesen Werten bereits in der Schule auseinandersetzt. viel bedeutsamer. 38 4. WERTSACHEN-DIALOG RAVENSBURG, 06.02.2018 39
BEGRIFFLICH GESEHEN WERTE-RAHMEN „Framing“ ist in aller Munde: Die US-Linguistin Elisabeth Wehling hat den aus der Sprachwissenschaft stammenden Begriff bekannt gemacht. Er umschreibt den Vorgang, Wörtern einen ganz bestimmten, gewünschten gedanklichen Rahmen zu geben, der nicht dem ursprünglichen entspricht. Ein Wort wird in einen anderen GRUNDGESETZ FÜR DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Kontext gestellt, damit verändert und umgedeutet. Framing kann Sprache berei- chern wie in der Literatur, aber auch zur Waffe machen. Wer dies beherrscht – in der Politik oder in der Werbung – hat ein wirkmächtiges Instrument in der Hand. Beispiele finden sich viele: Der Begriff Flüchtlingsströme etwa ruft andere Assozia- tionen hervor als zum Beispiel das Wort Flüchtlingsbewegung. Innere, längst gefestigte Bilder werden abgerufen: „Ströme“ verbindet man mit kraftvoll dahin- fließendem Wasser, gegen das der Mensch, wenn überhaupt, nur mit großer Kraft- anstrengung ankommt. Dagegen hat das Wort „Bewegung“ einen eher neutralen, daher auch weniger bedrohlichen Charakter. Wer also Flüchtlingsströme statt Flüchtlingsbewegung oder gar Migration sagt, aktiviert ein Bild der Ohnmacht im Kopf des Hörers. Ein Flüchtlings-STROM, der zwangsläufig als etwas bedrohlich (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des empfunden wird, erhöht damit geradezu automatisch die Akzeptanz für politische religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Gegenmaßnahmen oder Ablehnung. Oder der Begriff Volk: Den „Frame“ als Erst- deutung lieferten die Bürgerinnen und Bürger der DDR, die mit „Wir sind das Volk“ (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. gegen die Einparteienherrschaft der SED aufbegehrten. Wer den Satz skandiert, zitiert diese Bedingungen der Unfreiheit und stellt sie mit denen in der heutigen Bundesrepublik gleich. Gleichzeitig kann ein solcher Satz sehr persönliches Erleben (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der zitieren und wiederbeleben, etwa bei jenen, die tatsächlich an den „Montagsdemos“ Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. teilnahmen. Wortrahmungen können also einerseits universell, sie können aber auch von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich sein. Nicht variabel ist dage- gen der Werte-Rahmen des Grundgesetzes – Freiheit, Gleichheit, Würde. Die Linguistin Wehling empfiehlt, einem rechtsautoritären, demokratiefeindlichen Framing eine Sprache entgegenzusetzen, die unsere offene, vielfältige Demokratie wert- schätzend abbildet – beispielsweise „WERTSACHEN“-Dialoge. 40 BEGRIFFLICH GESEHEN RAVENSBURG, 06.02.2018 41
Religiöse Toleranz ist keine EBERHARD STILZ, EHEM. PRÄSIDENT Selbstverständlichkeit. In IMPULSVORTRAG VERFASSUNGSGERICHTSHOF Ravensburg jedoch hat diese EBERHARD STILZ, EHEM. PRÄSIDENT VERFASSUNGS- Tradition. In einer Zeit, in der GERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG BADEN-WÜRTTEMBERG/PRÄSIDENT die Auseinandersetzung um STIFTUNG WELTETHOS den rechten Glauben in einen Liebe Frau Aras, Sie haben mit dieser Veranstaltungsreihe „Freiheit und Toleranz gehören untrennbar 30-jährigen Krieg mündete, ein Schatzkästlein geöffnet. Nicht ein beliebiges, sondern zusammen, doch Religionsfreiheit kann die lebten dort zwei Konfessio- eines mit den wertvollsten Juwelen, die wir besitzen können. Toleranz auf die Probe stellen.“ nen friedlich neben- und Und Sie haben vor der Öffentlichkeit einiges aus seinem miteinander: Ravensburg Inhalt ausgebreitet. Angefangen hat es mit dem größten gehörte im Deutschen Reich Juwel, das wir in Deutschland und in der Welt unser Eigen zu den vier paritätischen nennen: der Menschenwürde. Und darauf folgt nun der Reichsstädten, in denen Edelstein, dem wir uns heute widmen wollen: die Reli Katholiken und Protestanten gionsfreiheit. gleichberechtigt waren. Dieses Erbe wirkt bis heute: Das ist folgerichtig, denn die Religionsfreiheit ist eine der Vor zwei Jahren wurde dort zentralen Ausprägungen der Menschenwürde und sie die „Ravensburger Erklärung gehört zum Grundbestand aller moderner Grundrechts- für das Zusammenleben der kataloge. Viele können sich heute kaum mehr vorstellen, in welch kanntes Missverständnis. Denn Freiheit ist in der Realität Religionen und den interreli- existentieller Notlage sich Menschen befinden, die um nie grenzenlos und sie ist es auch von Rechts wegen nicht. giösen Dialog“ unterzeichnet. Ist eine solche Aussage überzogen, wo doch in Deutsch- ihres Glaubens willen verfolgt werden oder sich gezwungen Darauf komme ich sogleich zurück, möchte aber zuvor Der Schwörsaal des Waag- land und jedenfalls, was den christlichen Glauben betrifft, sehen, gegen ihre eigene religiöse Überzeugung zu leben. festhalten: Gemeinsame Werte sind der entscheidende hauses bietet die ideale Religiosität immer mehr zu schwinden scheint? Ob das so Doch auch wir erleben, wie weit die Kluft geworden ist Kitt einer Gesellschaft. Kulisse für ein Wertsachen- ist, brauchen wir heute nicht zu untersuchen. Denn unab- zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen und Gespräch zu Artikel 4 hängig davon gilt: Religionsfreiheit ist heute wichtiger besonders zwischen jenen, die ihre Religion offen und öf- Das hat schon Alexis de Tocqueville in seiner Untersu- Grundgesetz, moderiert denn je. fentlich leben und anderen, für die das Religiöse zur Privat chung über den erstaunlichen Zusammenhalt der zusam von Ursula Nusser. s p häre gehört. Solche Gegensätze kennzeichnen eine mengewürfelten Demokratie in den Vereinigten Staaten Sie ist wichtig für jeden Einzelnen und für unser Zusammen pluralistische Gesellschaft und eine globalisierte Welt. des 18. und 19. Jahrhunderts festgestellt; er hat als deren leben in der Gemeinde, im Land und in der Welt. Dabei Auch daher rührt die heutige Bedeutung der Religions- Kitt insbesondere gemeinsame Grundüberzeugungen von geht es mir gar nicht um die Frage, ob Religionen eher freiheit für ein friedliches, gedeihliches Zusammenleben. Werten und die Einübung einer freiheitlichen Denk- und friedensstiftenden Charakter haben oder eher Konflikt- Verhaltensweise gefunden. potenziale. Vielmehr soll heute die Frage nach dem „guten Ist das aber nicht paradox? Wie können Freiheiten beim Leben“ eines jeden Einzelnen und nach den Voraussetz Zusammenhalt helfen? Freiheiten, so scheint es, haben Allerdings, und davon war schon Tocqueville überzeugt: ungen eines friedlichen Zusammenlebens dieser Einzelnen doch grundsätzlich eine eher zentrifugale Wirkung, sind Noch so wertvolle Werte wirken nicht, wenn man sie nur als im Mittelpunkt stehen. Fliehkräfte, nicht Kitt des Zusammenhalts. Das ist ein be- pauschale Begriffe im Mund führt. Ich habe eine Allergie 42 4. WERTSACHEN-DIALOG RAVENSBURG, 06.02.2018 43
gegen die pauschale Rede von unseren Werten oder den Dieser Satz ist letztlich eine Frucht der Aufklärung, er war Doch die Religionsfreiheit unseres Grundgesetzes geht (1) Die Freiheitsrechte des einen finden eine Grenze an Werten des Abendlands. Allzu leicht werden damit Werte schon in der Paulskirchenverfassung enthalten, die dann in ihrem Anspruch weit über das Gebot der neutralen den Freiheitsrechten der anderen. Wer die Anerkennung nur als Kampfbegriffe zur Abgrenzung und Ausgrenzung aber leider nie in Kraft getreten ist. Mit diesem Satz ging S äkularität des Staates hinaus. Dem Staat wird nicht nur der eigenen Freiheit einfordert, muss auch die Frei- missbraucht. Das heißt, eigentlich nicht die Werte selbst, bei uns das Zeitalter der Einheit von Kirche und Staat end- Neutralität auferlegt, er muss vielmehr aktiv einen Be- heitsrechte aller anderen anerkennen. Kein Freiheits- sondern nur der undifferenzierte Begriff davon. Aus Wer- gültig zu Ende. Er verlangt die Bekenntnisneutralität des tätigungsraum sichern, in dem sich Persönlichkeiten auf recht kann absolut gesetzt werden, auch nicht das der ten, die verstanden und gelebt werden müssen, um wirken Staates; Fragen der Religion und der Weltanschauung weltanschaulichem oder religiösem Gebiet entfalten kön- Religionsfreiheit. Und es kann nicht nur durch die Reli- zu können, werden so unausgegorene Worthülsen, die ihr hat der Staat nicht zu bewerten, er darf sie sich nicht zu nen. Zur Glaubensfreiheit tritt die Religionsausübungs gionsfreiheit der anderen begrenzt werden, sondern Gegenteil bewirken. eigen machen. Zwar ist damit eine Zusammenarbeit von freiheit hinzu. Das wird rechtlich ergänzt durch ein Ver- auch durch andere Grundrechte und Werte von Ver- Staat und Religionsgemeinschaften keineswegs verboten ständnis freiheitlicher Demokratie als Staatsform auch fassungsrang. Die Kunst besteht dann darin, den an- Wollen wir uns hier nicht demselben Vorwurf aussetzen, (Bsp.: Religionsunterricht an Schulen); dieses Konzept ist des Minderheitenschutzes und durch das Grundrecht auf gemessenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden müssen wir zunächst in der gebotenen Kürze konkretisieren, deshalb als religionsoffene neutrale Säkularität bezeich- Meinungsfreiheit. Geschützt ist damit auch das öffentliche Rechten zu finden. was Religionsfreiheit eigentlich meint. Grundlegend ist für net worden. Doch darf der Staat in dieser Offenheit nicht Auftreten von Religionen und sogar die Werbung für sie. mich dabei ein Satz aus der Weimarer Reichsverfassung, eine Religion zulasten anderer bevorzugen, er darf sich Das betrifft das Glockengeläut wie den Muezzinruf, das (2) Mindestens genauso bedeutend ist aber die zweite der im Grundgesetz fortgilt: Es besteht keine Staatskirche mit ihr insbesondere nicht identifizieren. Das ist übrigens kostenlose Verteilen von Bibeln wie von Korantexten. verfassungsrechtliche Schranke, die ich erwähnen möch- (Art. 137 Abs. 1). ein grundlegender Unterschied zum verbreiteten islami- te: Es ist nicht nur zwischen den Rechten Einzelner zu schen Verständnis vom Verhältnis Staat/Kirche. Heißt das dann, dass auch der IS werben darf, auch für vermitteln, sondern auch zwischen dem Einzelnen und den Djihad? Oder dass Lehrer in der Schule missionieren der Gemeinschaft, die vom Staat repräsentiert wird. dürfen? Das natürlich nicht. Aber: Wie verhält es sich mit Auch der Staat kann von sich aus der Ausübung eines dem Kopftuch einer islamischen Lehrerin? Und wie mit Freiheitsrechts Grenzen setzen, wenn dies zum Schutz einem Gebet für den Sieg im Krieg? gleicher oder ranghöherer Rechtsgüter geboten ist. Man hat kein Freiheitsrecht verstanden, wenn man nicht Die Einschränkung muss aber auch im Lichte der Bedeu- auch seine Schranken verstanden hat. Ich erinnere mich tung des Grundrechts geboten sein. Nehmen wir den Fall gut an meine Enttäuschung, als ich als junger Student lesen des Kopftuchverbots für Lehrerinnen. Das Bundesverfas- musste, dass die meisten Grundrechte sogar durch einfa- sungsgericht hat darin einen Eingriff in deren Grundrecht ches Gesetz eingeschränkt werden können. Was waren auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gesehen. Es führt sie dann wert? Dabei hatte ich noch nicht verstanden, zwar die Gefahren auf, die dadurch für den staatlichen dass sich die Freiheitlichkeit gerade an den Schranken – Erziehungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht und die und, ganz wichtig, an den Schranken der Schranken! – negative Glaubensfreiheit der Schüler entstehen können. entscheidet. Grundrechte sind für den Einzelnen da, aber Allerdings könne nicht bereits eine abstrakte Gefahr ein nicht für Robinson, sondern für den Menschen, der in einer Verbot rechtfertigen, wenn auf der anderen Seite das Gemeinschaft lebt. Tragen religiös konnotierter Bekleidung nachvollziehbar auf ein als verbindlich verstandenes religiöses Gebot zu- Sie kennen den Aphorismus von Stanislaw Jerzy Lec: „Die rückzuführen ist. Grenzen der Freiheit bestimmen die Anrainer.“ Ins Verfas- sungsrecht übersetzt bedeutet das zweierlei: Freiheit und Toleranz gehören untrennbar zusammen. Re- ligionsfreiheit kann aber Toleranz sehr grundlegend auf die Probe stellen: Ich gehe davon aus, dass die meisten religiösen Menschen unter uns Christen sind. Und Christen 44 4. WERTSACHEN-DIALOG RAVENSBURG, 06.02.2018 45
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