TIEFE TRANSFORMATION BRAUCHT MEHR DEMOKRATIE - Hans-Böckler-Stiftung
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DOSSIER Nr. 5, Februar 2020 TIEFE TRANSFORMATION BRAUCHT MEHR DEMOKRATIE Hilmar Höhn AM VORABEND EINER NEUEN ZEIT die energetische Basis sich grundlegend ändern soll- te, wäre das ein revolutionärer Einschnitt.“ Die Tech- nik-Ethikerin Birgit Beck (TU Berlin) weist darauf hin, Erst wurde die Produktion digitalisiert. Dann be- dass der Begriff „künstliche Intelligenz“ etwas sug- schleunigte die Digitalisierung die Globalisierung, geriert, was er nicht bedeutet, nämlich Intelligenz im bis es die Welt in der Finanzkrise aus der Kurve trug. psychologischen Sinne. „Computer können uns im Seither wirkt die undemokratische Globalisierung, Schach oder im Go-Spiel besiegen [...]. Ihnen fehlt die weder das Soziale noch die Umwelt in ihre Rech- das Bewusstsein von sich selbst“. Insofern droht zu- nung einbezieht, grau und alt. Die neue Wirtschafts- nächst nicht die Herrschaft der Maschinen. unordnung ist eine Brutalisierung der alten. Die USA Kommt darauf an, sagt der Philosoph und Physi- und China, Brasilien und Russland handeln nach ker Armin Grunwald (KIT). Im Gespräch reflektiert er: dem Recht des Stärkeren und hebeln die Stärke des „Die Demokratie kommt nicht aus technischen Hilfs- bisschen Rechtes, das war, aus. mitteln.“ „Demokratie kommt von den Menschen, Der Drang, die Welt per Computer zu steuern, die technische Hilfsmittel entweder für die Demo- macht vor dem Alltag nicht halt. Die Macherinnen kratie oder eben gegen sie nutzen.“ Grunwald: „Wir und Macher des Fortschritts lassen Kühlschränke erleben einen Krieg der Worte, der ein Bürgerkrieg unseren Speiseplan entwerfen, befreien Leben von der Werte ist.“ der Last des Einkaufs, wie die Roboter verschlei- Wir leben in einer kostbaren historisch offenen Si- ßende oder wiederkehrende Arbeit überflüssig ma- tuation. Die Gewerkschaften haben sich entschie- chen. den, sie zu gestalten. Die IG Metall hat den Arbeitge- Der Technik-Historiker Uwe Fraunholz (TU Dres- bern in der Metall- und Elektroindustrie mit Blick auf den) erklärt im Gespräch für dieses Dossier, die Digi- die Tarifrunde 2020 ein „Moratorium für einen fairen talisierung allein bedeute keinen Epochenbruch. Wandel“ angeboten. Verzichten die Arbeitgeber auf Aber die Gleichzeitigkeit von Digitalisierung und Ver- Personalabbau, Ausgliederungen und Standort- bannung des fossilen Kohlenstoffs aus dem Kreis- schließungen, verpflichtet sich die Gewerkschaft lauf der Wirtschaft könnte unsere Zeit zum Beginn noch in der Friedenspflicht in „Tarifverhandlungen einer tiefen Transformation machen. „Wenn es tat- zu einem Zukunftspaket“ einzusteigen (IG Metall sächlich zur Dekarbonisierung kommen sollte, also 2020).
INHALT Am Vorabend einer neuen Zeit 1 Kapitel 1 Technologie und Transformationen 3 Uwe Fraunholz: „Nicht immer gleich Revolutionen ausrufen“ 9 Asimov‘sche Gesetze und ihre Nachfolger 13 Kapitel 2 Die tiefe Transformation wirft ihre dunklen Schatten voraus 14 „Auf dem Weg zur Sozialen Marktwirtschaft 4.0“ 17 Armin Grunwald: Wir brauchen eine starke Gesellschaft“ 18 Kapitel 3 Umkämpfter sozialer Fortschritt 33 3.1 Der Aufbruch der Gewerkschaften 33 3.2 Arbeitgeber legen sich auf Blockade des sozialen Fortschritts fest 37 Eine Sozialversicherung für die globale Crowd 38 Birgit Beck: „Ethikerinnen und Ethiker haben nicht eine Antwort auf die Frage, was ein gutes Leben ausmacht.“ 40 Schlussbemerkung 46 Höchste Zeit, die 2020er Jahre zu einem Jahrzehnt der tiefen Demokratisierung zu machen 46 Bibliographie 48 Autor 50 Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 2
„Der Streik“ Kapitel 1 Robert Koehler TECHNOLOGIE UND TRANSFORMATIONEN Als der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi Mitte des 20. Jahrhunderts auf den Beginn der Epoche, die ihren Zenit seiner Meinung nach schon überschritten hatte, zurückblickte, wählte er den Begriff der „Großen Transformation“. Er meinte damit jenen vielschichtigen Übergang im Laufe des 19. Jahrhunderts, der auf einen Begriff gebracht als „Industrialisie rung“ Eingang in unser Bewusstsein gefunden hat. Das Wort allein ruft sofort Assozia tionen über die Vergangenheit wach. Wir denken an rauchende Schornsteine, an lärmende, von Dampfmaschinen getriebene Webstühle und streikende Arbeiter, an Wohnungsnot und vielleicht auch Sozialistengesetze. Dem deutsch-US-amerikanischen Maler Robert Entwicklungspfad endete abrupt im 19. Jahrhun- Koehler haben wir es zu verdanken, dass wir mit dert. Das Ende des einen Weges bedeutete, dass seiner Arbeit „Streik in der Region von Charleroi“ ein anderer überhaupt erst beschritten werden durch ein Bild mit jener Zeit verbunden sind. Arbei- konnte. Ohne das Ende der Leibeigenschaft zu Be- ter sind vor die Fabrikantenvilla gezogen, sichtlich ginn des 19. Jahrhunderts, wäre die Bevölkerung aggressiv gestimmt. Einer trägt dem Fabrikbesitzer auf dem Land nicht frei gewesen, in die Städte zu die Forderungen des etwas losen Haufens vor. ziehen. So wären kaum genügend Arbeitskräfte Während der Fabrikant in einem schwarzen Anzug vorhanden gewesen, um in den Maschinensälen mit Zylinder auf der obersten Stufe der Haustreppe der Fabriken zu schuften. Technologische Entwick- auf „seine“ Arbeiter herunterblickt, hat sich im lungen waren notwendig, um industriell zu produ- Bildvordergrund einer der zornigen Männer ge zieren, aber auch die dafür notwendigen Rohstoffe bückt und greift nach einem Stein. Dahinter, als den Fabriken bereitzustellen. Die Eisenbahn etwa würde sie drohendes Unheil ahnen, fleht eine Frau ist eine dieser Voraussetzungen der Industrialisie- ihren Mann an, sich dem demonstrierenden Hau- rung. Sie brachte jedoch nicht nur Rohstoffe, son- fen nicht anzuschließen. Den Hintergrund bildet dern sorgte wie die nun dampfbetriebene Schiff- ein Wald rauchender Schornsteine, die Arbeiter fahrt für den Vertrieb von Massengütern. kommen von einer Fabrik im Mittelgrund zu der Vil- Der Handel organisierte sich neu, das Nachrich- la gelaufen. tenwesen auch. Damit Geld- und Nachrichtenver- Heute würden wir sagen: Die Veränderungen je- kehr funktionieren konnten, bedurfte es der Elek ner Jahre gingen disruptiv vonstatten. Mehr als ein trifizierung. Mit Leuchtfeuern, Flaggensignalen Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 3
oder Zeigertelegrafen wäre der Austausch von In- die Welt so weit sein, dass die Befeuerung der Kli- formationen als Grundlage der Wirtschaft des aus- maerhitzung durch den Ausstoß von Kohlendioxid gehenden 19. Jahrhunderts nicht denkbar gewe- Vergangenheit ist. Dazu wird in Deutschland 2038, sen. Die Erfindung eines brauchbaren elektrischen vielleicht aber schon drei Jahre früher, das letzte mit Telegrafen und des Morsealphabetes, bestehend Kohle betriebene Kraftwerk vom Netz genommen. aus drei Signalen (kurz, lang und Pause), ermöglich- Autos sollen künftig mit Strom, mit Wasserstoff ten den Nachrichtentransport in einer nie da gewe- oder vielleicht auf eine andere, gegenwärtig unbe- senen Geschwindigkeit. kannte Art und Weise angetrieben werden. Noch 1844 sandte der Buchhändler, Maler und Erfin- wird die Lithium-Ionen-Batterie schwer kritisiert, der Samuel Morse die Worte „Was hat Gott be- weil ihr Aufbau aus seltenen Erden beruht, die un- wirkt“ über die 60 Kilometer lange Strecke von Bal- ter massiven Verletzungen der Menschenrechte ge- timore nach Washington. Nur 14 Jahre später, im wonnen und ebenso fragwürdig entsorgt werden Jahr 1858, verband das erste Tiefseekabel Europa müssen. und die USA. In nur wenigen Jahrzehnten war die Vor einem Jahrzehnt noch gab niemand etwas Welt verdrahtet. Das Zeitalter der Industrialisierung auf die Batterietechnologie Made in Germany. Es war ein erstes Zeitalter der Globalisierung. gab von einer einstmals breit aufgestellten Batterie Die Industrialisierung wiederum beschleunigte industrie noch Varta und wenige Forschungsabtei- die Prozesse, die an ihrem Anfang standen. Ohne lungen in Automobilkonzernen, die ebenso wie ihre die Guttapercha-Presse von Siemens hätte es keine Kolleginnen und Kollegen von der Wasser- Möglichkeit gegeben, Kabel so zu isolieren, damit stoff-Brennstoffzellen-Technik ein Nischendasein in sie überhaupt durch das Meer verlegt werden konn- ihren Häusern führten. ten. Dem Telegrafen folgte das Telefon. Lebten 1996 weihte Daimler Benz seine erste Wasser- 1871 erst 36 Prozent der Einwohner des damaligen stofftankstelle auf einem Testgelände im Schwäbi- Deutschen Reiches in Städten, waren es 1910 schen ein. Opel immerhin war mit dem Ampera schon 60 Prozent. Am Vorabend des 1. Weltkrieges 2012 seiner Zeit voraus. Das Auto schaffte zwi- lebte jede und jeder fünfte Deutsche in einer Groß- schen 40 und 80 Kilometer Reichweite vollelekt- stadt (Häusermann, 2012). risch, danach übernahm ein Benzinmotor die Rolle Heute steht die Menschheit erneut an einem sol- eines Generators. Doch 2014 wurden keine 300 chen Übergang der Geschichte. Wieder brechen Wagen des Typs in Deutschland verkauft. Stattdes- alte Pfade ab, neue werden betreten, Facebook und sen begannen die Deutschen jene Auto-Kraftpake- Amazon, Apple und Google sowie ihre chinesi- te namens „Sport Utility Vehicles“, kurz SUV, zu schen und russischen Pendants haben mit ihren kaufen. 2019 wurden davon mehr als eine Million Plattformen, smarten Kommunikationsgeräten und Wagen dieses Typs in Deutschland neu angemel- ihrer rasanten Logistik den Alltag von Milliarden det. Ihr Marktanteil beträgt laut Kraftfahrzeugbun- Menschen verändert. Die Digitalisierung hat die desamt im November 22,1 Prozent – eine Steige- Globalisierung beschleunigt. Weil alles nahezu rung gegenüber dem Vorjahr von fast 29 Prozent. überall hergestellt und überall bereitgestellt wer- Höher waren nur die Wachstumsraten im Be- den kann (besonders wenn es sich um Dienstleis- reich elektrischer Antriebe. Die neuzugelassenen tungen handelt), ändert sich die Organisation der Autos mit Hybrid-Antrieb stiegen von 2018 auf Arbeit. Mit der Digitalisierung verbinden sich Käu- 2019 um 122 Prozent, die der auch über Stromkabel ferinnen und Käufer hochwertiger Wirtschaftsgüter aufladbaren PHEVS (plug-in-hybrid electric vehicle) wie Autos direkt mit der Produktion von Automobil- um 216 Prozent. konzernen. Anlagen der chemischen Industrie, frü- Aber die Basis war eben weitaus niedriger. So her für möglichst große Tonnagen ausgelegt, sind standen einer Million neu zugelassener SUVs per heute in der Lage, immer kleinere Mengen immer November 2019 ganze 26.000 Fahrzeuge mit Hyb- spezifischerer Stoffe für ihre Kundinnen und Kun- rid-Antrieb gegenüber sowie, 6.300 PHEVS und den bereitzustellen. 4.650 rein elektrisch betriebenen Automobile Wurden Dienstleistungen etwa im Finanzbereich (Kraftfahrzeugbundesamt, 2019). in den 1980er Jahren zu Produkten einer Finanzin- Ähnlich wie die Umstellung der Produktion auf dustrie erklärt, erscheinen heute Produkte der In- Dampfmaschinen ist heute die industrielle Produk- dustrie zunehmend wie eine Dienstleistung. Das tion weitgehend digitalisiert. Auch der Handel zwi- Auto der Zukunft besticht nicht mehr durch Höchst- schen Unternehmen und von Unternehmen mit ih- geschwindigkeit, Pferdestärken oder Beschleuni- ren Endkunden weicht zunehmend auf digitale gung von null auf hundert, sondern durch den Kom- Plattformen aus. Die nächste Welle der Digitalisie- fort beim Fahren, die Fähigkeit zur Selbststeuerung rung hat begonnen, die Verwaltungen zu erfassen. des Wagens und nicht zuletzt durch den Grad der Zum Teil wurden mithilfe einer digitalen Anbindung Elektrifizierung. Routinetätigkeiten in Länder oder Regionen ver- Hinzu kommt, dass das Auto wie die Industrien schoben, in denen Arbeit schlechter entlohnt ist als der Zukunft ohne die Verbrennung fossiler Rohstof- in den Industriestaaten. Als sogenannte „Shared fe auszukommen haben. 2050 soll Europa und soll Services“ verlagern große Unternehmen Buchhal- Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 4
tung, Personalverwaltung oder Reisekostenabrech- nung in entfernte Gegenden der Welt. Es ist eine Frage der Zeit, bis Sozialversicherungen, Rathäuser und Kreisverwaltungen Standarddienste wie Kfz-Zulassungen digital anbieten. Nadine Mül- ler, Leiterin des Bereichs Innovation und Gute Ar- beit in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di): „Seit den frühen Anfängen der Digitalisie- rung ist die Zahl der Beschäftigten im Dienstleis- tungsbereich ständig gewachsen, in der Industrie geschrumpft. Das heißt: Die neuen Technologien laufen nicht nur gegen Beschäftigung, sie schaffen auch neue Arbeitsplätze. Allein in der IT-Branche arbeiten heute mehr als eine Million Frauen und Männer. Viele Jobs, die es vor 50 Jahren noch nicht gab.“ Jetzt allerdings droht auch in diesem Wirt- schaftssektor ein Ende des Wachstums. Gewerk- schafterin Müller: „Natürlich steckt in dem jetzigen Technikschub ein erhebliches Rationalisierungspo- tenzial. Zum Teil spüren wir das, etwa im Energie- sektor oder der Finanzwirtschaft. Dort ändern sich die Arbeit, ihre Organisation und die angebotenen Dienstleistungen. Teils erfolgen die Kundenbezie- hungen nicht mehr über persönliche Ansprechpart- nerinnen und Ansprechpartner – so wie das früher im Prototypenbau beschäftigt war [...] klar, der war. Da hatte ein Bankkunde ‚seinen‘ Sachbearbei- muss sich auf Veränderung einstellen. Aber dann ter, es gab überwiegend eine Kasse.“ braucht es Softwareingenieure, die mit den neuen Was in den Bereichen begonnen hat, die im Systemen digitale Zwillinge bauen können. Das Wettbewerb stehen, wird auch vor öffentlichen macht sich ja nicht von alleine. Ich bin mir sicher, Dienstleistungen nicht Halt machen, erklärt Nadine dass im Übergang das Wissen, wie man einen ech- Müller. „Auch in der öffentlichen Verwaltung wird ten Prototyp baut, für die Programmierung des di- es in den kommenden Jahren wohl zu einem erheb- gitalen Zwillings oder Vorgänger hilfreich ist.“ lichen Rationalisierungsschub kommen. Vieles, Der große Umbau der deutschen Wirtschaft hat was heute noch persönlich auf einem Amt erledigt seinen Ausgangspunkt nicht nur in immer schnel- werden muss, wird digital zu machen sein. Das ist leren Rechnern, immer leistungsfähigeren Daten- ja auch einfacher für viele Bürgerinnen und Bürger. netzen und immer besseren Programmen. Mehr Nur: Es hat auch sicher zu sein. Zudem muss es als ein Jahrhundert basierte industrielle Produkti- weiter Angebote für Bürgerinnen und Bürger ge- on aus der Gewinnung von Roh-, Hilfs- und Be- ben, die nicht das Internet nutzen.“ triebsstoffen aus Kohle, Öl und Gas. Aus dem darin Klaus Abel, der seit dem Gewerkschaftskon- gebundenen Kohlenstoff lassen sich Schäume gress im November 2019 beim IG-Metall-Vorstand bauen, Kunststoffe formen, Energie gewinnen, Erz das Projekt „IG Metall vom Betrieb aus denken“ zu Stahl verarbeiten, Wohnungen beheizen oder aufbaut, fügt hinzu: „Wir haben lange die Verwal- Automobile, Schiffe und Flugzeuge antreiben. Nun tungsebenen nicht in den Blick genommen. Aber soll dieser aus der Produktion gebannt und sein der Einsatz künstlicher Intelligenz wird die Arbeits- Verbrauch als Energiequelle weitgehend überflüs- welt in den Büros massiv verändern. Routinearbei- sig gemacht werden. ten werden wegfallen, weil sie der Kollege Compu- Bei der Verbrennung fossiler Energieträger wird ter besser kann.“ im Grunde die Kraft der Sonne frei, die vor Jahrmil- Wer glaubt, es träfe nur die kaufmännischen An- lionen Pflanzen und Tiere wachsen ließ, deren gestellten in der Verwaltung, täuscht sich. „Selbst Überreste zunächst Moore entstehen ließen. Aus im Bereich Konstruktion, bei den Ingenieuren, den diesen wurden Öl-, Kohle- und Gasvorkommen. dort angestellten Facharbeiterinnen und Facharbei- Was Millionen Jahre brauchte, um zu entstehen, tern, Meistern und Technikern wird es massive Ver- wird heute in – erdgeschichtlich gesehen – Höchst- änderungen geben. Renault etwa hat das erste geschwindigkeit verbrannt. Künftig, so will es ver- Auto aufs Band gebracht, ohne einen realen Proto- einfacht gesagt das Pariser Klimaabkommen von typ gebaut zu haben. Das heißt, man hat schon ei- 2015, soll nur noch die Energie eingesetzt werden nen konstruiert, aber nur digital.“ können, die in der gleichen Periode von Sonne, Für die Beschäftigten heißt das: Sie müssen sich Wind, Erdwärme oder Gezeiten zur Verfügung ge- auf Veränderungen einstellen. Abel: „Wer bislang stellt wird. Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 5
Bis spätestens 2038 soll in Deutschland die letzte Volkswagen eines Tages weg“, zitiert der Fach- Braunkohle verstromt werden. Bis 2050 soll dienst „Automobil-Industrie“ VW-Einkaufsvor- Deutschland und die gesamte EU, nach den Vor- stand Stefan Sommer. Porsche-Produktionsvor- stellungen der neuen EU-Kommission, klimaneutral stand Albrecht Reimold wird in der gleichen Aus- werden. Das heißt: Deutschlands und Europas gabe des Newsletters mit den Worten zitiert, „die Wirtschaft und Verbraucherinnen und Verbraucher CO2-neutrale Fabrik ist ein Ausschreibekriterium sollen so wirtschaften und leben, dass 2050 unterm für Zulieferer (Automobil-Industrie (1), 2019). Strich der Emmissionsbilanz (netto) keine zusätzli- Die Erweiterung der Einkaufsstrategie könne chen Tonnen Kohlendioxid mehr in die Atmosphäre Vorteile für regionale Lieferanten haben. Da künf- abgegeben werden. Schon 2030 soll – verglichen tig der Kohnedioxidausstoß bis zur Lieferung ins mit dem Basisjahr 1990 – der Ausstoß der klima- Werk einzukalkulieren ist, sind lange Transportwe- schädlichen Gase um 55 Prozent reduziert werden, ge, möglicherweise aus Übersee, teurer. Außer- so der von der Europäischen Kommission im De- dem werde es mancherorts auf der Welt schwierig zember 2019 vorgestellte „Europe Green Deal“ (Eu- werden, überhaupt Grünstrom zu beziehen. ropäische Kommission, 2019). Die Liste der Unternehmen, die an ihrer Trans- Damit tritt neben die Digitalisierung ein zweiter, formation arbeiten, lässt sich verlängern. Sie liest noch mächtigerer Treiber der kommenden Moder- sich wie ein „Who is Who“ der deutschen Indus ne. Denn die Ziele werden nicht zu erreichen sein, trie. Der Spezialchemiekonzern Lanxess will bis wenn nur die Energie für die Industrie per saldo frei 2040 von den heutigen 3,2 Millionen Tonnen in die von Emissionen sein wird. Von der Industrie wer- Atmosphäre gepusteten Kohlendioxid auf null den Lösungen erwartet, damit Rohstoffkreisläufe kommen. Im November 2019 gab Manfred Bruder- geschlossen, Mobilität ohne Klimagase betrieben müller in einem Interview mit der „Rheinpfalz“ be- und Gebäude auf den Stand des ökologisch Mögli- kannt, auch die BASF werde fossile Energieträger chen gebracht werden können. Das Ökosystem in durch Ökostrom ersetzen (Brudermüller, 2019). Europa soll gestärkt werden, auch indem die Land- Überhaupt scheint es, als laufe die deutsche wirtschaft erhebliche Beiträge gegen den Klima- Forschungs- und Entwicklungskapazität allein auf wandel und für den Erhalt der Artenvielfalt leistet. Hochtouren für die kommende digitale, elektrisch In der chemischen Industrie bedeutete das für getriebene und ökologisch verantwortliche Moder- die Unterzeichnerstaaten rechtsverbindliche Kli- ne. Das Karlsruhe Institut für Technologie (KIT) maabkommen von 2015, nach dem Tagungsort etwa hat einen Weg, wie sich durch den Einsatz auch einfach Pariser Abkommen genannt, eine tie- neuer Materialien „die Speicherkapazität von Lithi- fe Zäsur. Denn in Paris verpflichten sich die Ver- um-Ionen-Akkus um bis zu 30 Prozent erhöhen“ tragsstaaten darauf, den Anstieg der Klimaerwär- lässt. mung bis 2050 auf 1,5 Grad Celsius gegenüber Noch ambitionierter ist ein vom Bundesministe- dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. rium für Bildung und Forschung gefördertes Kom- Nachdem die Industrie lange nicht von diesem petenzcluster für Batteriematerialien, gesteuert Entwicklungspfad überzeugt war und hinhaltend vom Fraunhofer Institut für Werkstoff- und Strahl- Widerstand leistete, folgen die Beschlüsse der Vor- technik in Dresden. Galt vor zehn Jahren die Batte- stände energie- und ressourcenintensiv wirtschaf- rieforschung in Deutschland als ausgestorben, ar- tender Konzerne neuerdings wie Perlen von einer beiten die Forscherinnen und Forscher in dem Pro- offenen Kette fallen: So hat etwa Bayer im Dezem- jekt „Kasili“ daran, durch neue Trennschichten ber 2019 beschlossen, bis 2030 „klimaneutral zu zwischen Anode und Kathode in Akkumulatoren sein“. Künftig werde das Unternehmen Umweltzie- die gegenwärtige Ladedichte von 240 Wattstun- le mit dem gleichen Nachdruck verfolgen wie die den pro Kilogramm, um den Faktor vier und mehr Finanzziele. Bis 2030 will der Konzern seinen Strom zu steigern. Damit wäre es möglich, die Reichwei- zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen ten, heute noch ein kritischer Punkt bei von Elekt- beziehen, die verbleibenden Emissionen aus dem romotoren angetriebenen Autos, erheblich auszu- Prozess sollten kompensiert werden. weiten. Das Ziel „absoluter Emissionsreduzierung“ will Die BASF will gemeinsam mit einem japani- der Konzern „entlang der gesamten Wertschöp- schen Unternehmen in die Produktion von Natri- fungskette“ durchsetzen. Dazu werde das Unter- um-Schwefel-Batterien einsteigen, welche eben- nehmen mit Lieferanten und Kunden zusammenar- falls die gegenwärtige Technologie ablösen soll. beiten (Process (1), 2019). VW steigt in die Batterieproduktion ein. Siemens Der VW-Konzern, der schon 2016 begonnen hat, denkt darüber nach. In einem anderen Kompetenz- seine Werke auf von Elektromotoren angetriebene cluster „Fest Batt“ wird ebenfalls an neuen Batteri- Automobile umzurüsten, will seine Zulieferer nicht en geforscht. Sogenannte „Redox-Flow-Batterien“ mehr allein entlang des Kriteriums des besten Prei- sollen nicht nur wesentlich leistungsfähiger sein, ses auswählen. Daher führen die Wolfsburger ein sondern vor allem viel länger einsetzbar als her- „Sustainability-Kriterium“ in ihr Lieferanten-Rating kömmliche Lithium-Ionen-Akkus. Eine weitere ein. „Ohne Umstellung ist das Auftragsvolumen für deutlich leistungsstärkere Batterie wird aus der Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 6
Volumetrische Energiedichten alternativer Energieträger (Abb. 1) 35 30 25 20 15 10 5 0 Lithium- Wasserstoff Flüssigwas- Leicht- Methan Flüssig Methanol Ethanol Flüssig– Inonen- 750 bar serstoff metall- 200 bar methan kohlenwas- Batterie -253 °C hydride -162 °C serstoffe Quelle: Fortschrittliche alternative flüssige Brenn- und Kraftstoffe: Für Klimaschutz im globalen Rohstoffwandel, Dechema/VDI, 2017 Schweiz angekündigt. Die Batterien sollen nicht rieproduktion einzusteigen. „Unser Modell geht nur Autos antreiben sondern großtechnisch ver- von einer Amortisationszeit von nur sechs bis acht schaltet auch ihren Beitrag zu einer verlässlichen Jahren für eine kombinierte EV + Solar + Batteri- Versorgung von Wirtschaft und Verbraucherinnen einvestition bis 2020 vor“, schrieb das Bankhaus. und Verbrauchern mit Strom leisten können (Inno- Und fügte an: „ohne Zuschüsse“. Und weiter: „Wir lith, 2019). Und Forschende des Karlsruhe Institut sehen Europa, insbesondere Deutschland, Italien für Technologie (KIT) berichten, es sei ihnen ge- und Spanien, an der Spitze dieses Paradigmen- lungen, dank eines neuen Elektrolyten in Batteri- wechsels aufgrund hoher Brennstoff- und End- en, das schwer zu gewinnende Lithium durch Cal- kundenstrompreise“ (UBS, 2014). cium zu ersetzen. Wenn die Innovation eines Ta- In ihrem Ende 2019 erschienenen Ausblick auf ges zur Marktreife kommt, würde das die Kosten das Jahr 2020 schreibt die Bank ihren Kundinnen für Stromspeicher erheblich reduzieren (Fichtner und Kunden: „Investoren bieten sich reichlich et al., 2019). Chancen, von einer ‚Dekade der Transformation‘ Auch in die europäische Forschungslandschaft zu profitieren, die unsere Welt neu definieren wird. ist Bewegung gekommen: Ein Netzwerk aus For- Von bahnbrechenden Technologien bis hin zu zu- schungsorganisationen und Universitäten von kunftsorientierten Unternehmen, die den Über- Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hat sich gang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft voran- auf der Basis eines Manifestes „battery2030.eu“ treiben, gibt es viele Möglichkeiten, in die Ideen zusammengeschlossen. Gemeinsam will man For- zu investieren, die die Zukunft gestalten“ (UBS, schung und Entwicklung auf dem Gebiet des 2019). Stromspeicherns beschleunigen. Das Ziel: Die Dabei ist noch gar nicht einmal sicher, ob die Materialien sollen verbessert, die Sicherheit ge- Autos und Energiespeicher der Zukunft auf der steigert und das Recycling vereinfacht werden. Basis von Batterien gebaut werden. Die Gesell- Ganz zentral: Es sollen Batterien entwickelt wer- schaft für Chemische Technik veröffentlichte 2017 den, die erheblich länger im Einsatz sein können, ein Positionspapier mit dem Titel „Fortschrittliche weil sie dank integrierter Sensoren in der Lage alternative flüssige Brenn- und Kraftstoffe: für Kli- sein sollen, „sich selbst zu heilen“ (Manifesto Bat- maschutz im globalen Rohstoffwandel“. Darin tery 2030, 2019). zeigten sie, dass die „extrem geringe Energiedich- Banken und Fonds, die sich seit einigen Jahren te von elektrischen Batteriesystemen nicht durch mehr und mehr auf die Finanzierung nachhaltiger höhere Wirkungsgrade im Antriebssystem ausge- Produktion ausrichten, haben das Thema für sich glichen werden kann. [...] Mit Wasserstoff betrie- entdeckt. Schon im Jahr 2014 empfahl die Schwei- bene elektrische Brennstoffzellenfahrzeuge zer Bank für Besserverdiener, UBS, ihren Investo- schneiden in dieser Hinsicht deutlich besser ab“ rinnen und Investoren, in Unternehmen der Batte- (Dechema/VDI, 2017). Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 7
Während die EU allein in Deutschland die Batterie- gar wirtschaftlich ermöglichen soll, Kohlendioxid produktion des Traditionsherstellers Varta, der Au- aus der Atmosphäre zu holen und zu Methan zu tokonzerne BMW sowie Opel und des Chemiekon- verarbeiten (Process (5), 2019). Methan – siehe Ab- zerns BASF fördert, bauen andere Unternehmen bildung 1 – hat den enormen Vorteil, dass seine parallel auf die Brennstoffzellentechnologie. Jörg Energiedichte um ein Vielfaches höher ist als etwa Strathmann, Vorstandsvorsitzender des Automobil- die einer Batterie oder etwa von Wasserstoff. zulieferer Mahle, erklärt: „Unsere duale Strategie – Ermahnungen an die Bundesregierung, nicht also die weitere Optimierung von Verbrennungs- nur auf die Förderung von Batterietechnologien zu motoren und parallel das Vorantreiben von Alterna- setzen, sind überflüssig. Im Sommer 2019 gab tiven wie der E-Mobilität – bleibt die Basis für Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) unsere Innovationen.“ Zu den Alternativen zählt er die Gewinnerinnen und Gewinner eines Ideenwett- die Brennstoffzellen. Sie werde „künftig eine grö- bewerbs „Reallabore der Energiewende“ bekannt. ßere Rolle spielen, weshalb wir uns sehr intensiv Die meisten der geförderten Vorhaben bauen dar- mit dieser Technologie beschäftigen“ (Automo- auf, Wasserstoff durch die elektrische Spaltung bil-Industrie (2), 2019). von Wasser zu gewinnen, wobei dazu in der Regel Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zitiert Oli- überschüssiger Ökostrom zum Einsatz kommen ver Zipse, Vorstandsvorsitzender von BMW, eben- soll. So sollen Treibstoffe oder Ausgangsprodukte falls skeptisch zur Batterietechnologie: „Wir wer- für die chemische Industrie gewonnen werden. den in der Lage sein, unseren Kunden alle relevan- Der Stahlkonzern ThyssenKrupp will die zur Gewin- ten Antriebsarten anzubieten“ (FAZ (1), 2019.) nung von Eisen aus Erz eingesetzte „Einblaskohle“ Darunter auch die Brennstoffzellen. Und im Inter- durch Wasserstoff ersetzen, um Tonnen von Koh- view mit der Süddeutschen Zeitung erklärt Bosch- lendioxid gar nicht erst entstehen zu lassen (BMWI, Chef Volkmar Denner: „Der Strom für Elektroautos 2019). muss nicht zwangsläufig aus der Batterie kommen. Was aus der Perspektive von Umwelt- und Kli- Er kann auch von der Brennstoffzelle erzeugt wer- maschutz zunächst hoffnungsvoll klingt, bedeutet den.“ Auch wenn VW derzeit die Werbetrommel in der Konsequenz, dass das stark auf den Auto- für Batterieautos rührt, der Konzern setzt auf die mobilbau ausgerichtete industrielle Netz in den Brennstoffzelle und lässt sie am Standort Salzgitter kommenden Jahren vollkommen umgebaut wer- in einer Kooperation mit Audi entwickeln (Betriebs- den muss. rat VW, 2016). Der Politik empfiehlt Bosch-Mann Denner, sie solle nicht alles auf eine Karte, also die Batterie- technologie setzen. Selbst die Brennstoffzelle ist womöglich nicht der Weisheit letzter Schluss. In den letzten Jahren gelingt es immer öfter, das klimaschädlichen Abgas Kohlendioxid wieder zu recyceln, also zum Rohstoff für neue Produkte zu machen. Ein entsprechendes Verfahren ist seit mehr als 100 Jahren bekannt. Kohlendioxid in Was- ser eingeleitet, kann durch Elektrolyse gespalten werden. Um den Prozess in Gang zu setzen und zu hal- ten, muss jedoch eine erhebliche Menge Energie zugeführt werden. Kohlendioxid ist ein äußerst trä- ges Molekül. Doch der Einsatz von Katalysatoren macht es möglich, die eingesetzte Energie drastisch zu redu- zieren. Das Unternehmen Covestro etwa holt schon seit einigen Jahren den Kohlenstoff zur Pro- duktion von Basischemikalien für die Herstellung des Vielzweckkunststoffs Polyurethan aus Kohlen- dioxid, welches aus Abgasen gewonnen wird. Am Standort Marl baut Evonik gemeinsam mit Sie- mens an einem biochemischen Verfahren (Han- delsblatt, 2019) zur Gewinnung von Methan aus Kohlendioxid. Bakterien aus der Tiefsee sollen dort in Reaktoren das klimaschädliche Gas aufschlie- ßen. Auch die ETH Zürich hat gemeinsam mit Total einen Katalysator entwickelt, dessen Einsatz es so- Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 8
„NICHT IMMER GLEICH REVOLUTIONEN AUSRUFEN“ Uwe Fraunholz ist Technikhistoriker. Er hat sich intensiv mit dem Thema Innovationskultur in Deutschland beschäftigt, dem Fortschrittsversprechen der Technik oder dem Selbstbild von Ingenieurinnen und Ingenieuren als vermeintlich uneigenützige Weltverbesserer. In seinem Gespräch für dieses Dossier plädiert Fraunholz dafür, nicht immer gleich „Revolution!“ zu rufen, wenn Arbeitswelt und Alltag von einem neuen technischen Schub erfasst werden. Er mahnt, meistens gebe es bei denen, die am lautesten rufen, einen Hintersinn. „Es soll die Tiefe des Einschnitts betont werden. Damit wird dann oft auch eine weitere, eine sozialpolitische Agenda verbunden.“ Eine Erneuerung der Energiebasis, also die Abkehr von der Verstromung fossiler Ressourcen wie Öl, Kohle und Gas und die Hinwendung zu Sonne, Wind, Gezeiten und Erdwärme wäre etwas anderes, meint der Wissenschaftler von der TU Dresden. Mit Blick auf die Geschichte tiefer Transformationen pädiert Uwe Fraunholz „für einen fortwährenden Diskurs über techni- sche Entwicklung.“ Dossier: Herr Fraunholz, es wird behauptet, waren. Die Städte wuchsen rasant und das Elend die Gleichzeitigkeit und die Tiefe der Verände- dort auch. Diese Phase in der Geschichte ist eine rungen, deren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen echte Epochenbegrenzung. wir sind, seien einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Mit der Folge, dass es aus der Dossier: Ist die Industrialisierung die einzige Vergangenheit kein Wissen darüber gebe, wie Epochenbegrenzung in unserer jüngeren Zeit? mit einer solchen Situation umzugehen wäre. Wie blicken Sie als Historiker auf unsere Zeit? Fraunholz: Es gibt freilich Binnendifferenzierun- gen. Gerade wir in Dresden haben sehr stark daran Uwe Fraunholz: Im Grunde ist alles schon mal da gearbeitet, den Begriff der technokratischen Hoch- gewesen. Wenn wir uns die Moderne angucken, moderne zu profilieren … also die letzten 200 Jahre, dann sehen wir, dass es immer Phasen eines beschleunigten, dynami- Dossier: Welchen Zeitraum beschreiben Sie da- schen Wandels gegeben hat. Das beginnt mit der mit? großen, industriellen Revolution, die nicht nur eine technische Umwälzung war. Die Menschen Fraunholz: Diese Phase beginnt grob gesprochen haben die Dörfer verlassen, an die ihre Familien mit dem zweiten tiefen Einschnitt, der sogenannten oft als Leibeigene über Jahrhunderte gebunden Hochindustrialisierung, von manchen auch als Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 9
zweite industrielle Revolution bezeichnet. Ihr Be- Agenda verbunden. Wenn es tatsächlich zur De- ginn fällt in Deutschland ungefähr in das letzte karbonisierung kommen sollte, also die energeti- Viertel des 19. Jahrhunderts. Damals bildeten sich sche Basis sich tatsächlich so grundlegend ändern mit der Elektrotechnik und der chemischen Indust- sollte, dann wäre das aus meiner Sicht tatsächlich rie neue Leitindustrien heraus, die der Industriali- ein revolutionärer Einschnitt. sierung neue Dynamik verliehen. Die Folgen der Entwicklung sind für die Menschen im Alltag spür- Dossier: Was wäre daran revolutionär? bar. Etwa durch die Straßenbeleuchtung, den öf- fentlichen Personenverkehr, die Ver- und Entsor- Fraunholz: Weil sich die Spielregeln von Wirt- gung in den Städten. Das war nicht nur anders, schaft und Arbeit und damit von Gesellschaft das war ein qualitativer Umbruch. grundlegend ändern werden. Das wäre dann keine Die Frühmoderne ist eher gekennzeichnet durch Binnendifferenzierung mehr. die Innovation der Produktionsverfahren, die es vorher schon gab. Der mechanische Webstuhl ist Dossier: Was können wir denn heute aus dem so ein Beispiel. letzten großen Epocheneinschnitt lernen? Deutschland war bei der Industrialisierung ähnlich wie heute nicht ganz vorne dabei, sondern hinter Fraunholz: Ich glaube, die Akzeptanz des Wandels England und den USA ein Nachzügler. ist ganz entscheidend. Wer sich verweigert, wird am Ende im Nachteil sein. Wir könnten aber auch Dossier: Wie haben die Menschen das erlebt? gelassener sein. Wandel ist immer. Die Welt geht Waren Sie in einer vergleichbaren Situation wie nicht unter, nur weil es im Umbruch Interessen- wir heute? konflikte gibt. Im 19. Jahrhundert wurden die neu- en sozialen Konflikte mit Gewalt und Unterdrü- Fraunholz: Das waren sie. Die Beschleunigung ckung ausgetragen. Wir sind kulturell weiter, weil wurde von den Zeitgenossinenn und -genossen wir nun gelernte Demokratinnen und Demokraten auch so empfunden. Sie haben die Veränderungen sind. Wir können Konflikte anders austragen. Mit teilweise als gut, als wohltuend empfunden, fühl- Worten. Wir können Vertrauen herstellen, müssen ten sich der Technisierung der Lebenswelt aber es vielleicht bisweilen erneuern. Wenn man sich auch ausgesetzt. dieser Mühe jedoch nicht unterzieht, kann es auch wieder rustikal werden. Dossier: Auffällig ist, dass Epochenbrüche mit einer neuen Energiebasis einhergehen. Ohne Dossier: Wenn wir in das Jahr 1880 gehen, den Kohlekraft ist die Industrialisierung gar nicht Beginn der Hochmoderne, wie haben die Men- denkbar. Ohne Atomkraft wäre Bayern wahr- schen den Umbruch verarbeitet? scheinlich immer noch ein Agrarstaat. Fraunholz: Ganz unterschiedlich. Die organisierte Fraunholz: Die vormoderne Welt war sozusagen Arbeiterbewegung, Parteien und Gewerkschaften, ein Holzzeitalter, die Moderne ist von der Energie- war sehr fortschrittsgewiss und hat immer eher seite durch fossile Energiequellen geprägt. Auch auf Teilhabe an den Segnungen der technischen wenn wir in Deutschland mit dem Ausstieg aus der Entwicklung abgehoben. Dabei konnte man sich Energiegewinnung aus fossilen Quellen begonnen natürlich auf den Marxismus als eine Art Fort- haben, sind wir noch lange nicht im Solarzeitalter schrittsideologie berufen. Wenn unterbürgerliche angekommen. Schichten von technischen Neuerungen negativ Im Übrigen ist es mir als Technikhistoriker wichtig, tangiert wurden, konnte es aber auch zu spontaner dass nicht immer gleich Revolutionen ausgerufen Gegenwehr kommen. In marxistischer Sichtweise werden. fehlte es dann noch am richtigen Bewusstsein. Das verweist auf eine gewisse Repräsentationslü- Dossier: Warum? cke, wenn es um die berechtigte Abwehr von tech- nisch bedingten Zumutungen ging. Fraunholz: Ich würde eher von Technisierungs- In bildungsbürgerlichen Nischen gab es Vorbehal- schüben sprechen. Es gibt eine gewisse Inflatio- te, wurde ein gewisser Konservatismus gepflegt, nierung des Revolutionsbegriffs … der sich gegen das Neue richtete. Auch die Angst war da, dass Bewährtes verloren geht. Dossier: Gibt es für diese Sehnsucht nach der Es gab auf einer ganz anderen Ebene des Alltags vierten industriellen Revolution ein Motiv? Gegenwehr gegen neue Technologien. Ich habe mich mit der Durchsetzung des Autos beschäftigt Fraunholz: Natürlich, solche Bezeichnungen wer- und frühe Verkehrskonflikte angesehen. Es gab den nicht ohne Hintersinn gebraucht. Es soll die tatsächlich Widerstand gegen diese Neuerung. Tiefe des Einschnitts betont werden. Damit wird Insbesondere in der Landbevölkerung. dann oft auch eine weitere, eine sozialpolitische Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 10
Dossier: Wie darf man sich das vorstellen? der, wie Nixon und Chruschtschow sich vor so ei- ner amerikanischen Einbauküche sozusagen über Fraunholz: Es gab eine intensive, publizistische die Segnung des Kapitalismus beziehungsweise Debatte über die Frage, ob man die Straßen für das Kommunismus streiten. Nixon konnte zeigen, wie Vergnügen einer begüterten Schicht sozusagen die amerikanische Frau von schwerer Küchenarbeit freigeben soll. entlastet wird. Chruschtschow hat wenig zu ent- gegnen. Dafür hatte er kurz zuvor einen Satelliten Dossier: Die aus den Städten kamen? auf eine Umlaufbahn um die Erde geschossen und wenig später den ersten Kosmonauten ins All ge- Fraunholz: Das war auch ein Stadt-Land-Konflikt. schickt. Und das war sicher eine Folge unterschiedlicher Technisierungsgeschwindigkeiten. Daraus folgte Dossier: Wann endet die Phase der Hochmoder- ganz handfeste Gegenwehr mit Anschlägen, Stein- ne, deren Anfangspunkt Sie im letzten Viertel würfen, Drahtseilattentaten und solche Dinge. Es des 19. Jahrhunderts verankern? gab für die neue Technik ein typisches Akzeptanz- problem. Fraunholz: Die 50er und 60er Jahre waren noch einmal eine Zeit des Optimismus. In den 70ern setzt Dossier: Steinwürfe wegen mangelnder Akzep- eine massive Gegenbewegung ein, die davon aus- tanz? geht, dass sich nicht für alle Probleme eine techni- sche Lösung findet. Dieser Übergang hat viele Ebe- Fraunholz: Es gab ein Unbehagen, das sich wirk- nen. Die Ölpreiskrisen mit den Bildern von leeren lich nicht nur auf einer intellektuellen Ebene ab- Autobahnen stehen sinnbildlich für diesen Wech- spielte. Es gab auch ganz handfeste Zumutungen: sel. Von den Staubwolken der Autos etwa wurden die Feldfrüchte verdorben. Man erkennt an diesen Dossier: Es erscheint das Buch des Club of Konflikten um das Auto, dass Technologien in der Rome über die Grenzen des Wachstums. Zeit, in der sie sich durchsetzen, Akzeptanzproble- me hervorrufen können. Oder Verträglichkeitspro- Fraunholz: Genau. Von den 60er zu den 70er Jah- bleme wie etwa bei den Konflikten um immer neue ren halbieren sich die Wachstumsraten, Deutsch- Windräder in der Landschaft. land hat eine erste kleine Wirtschaftskrise seit dem Wirtschaftswunder. Wir können es auch am Be- Dossier: Wenn wir über Technik reden, dann ist rufsprestige des Ingenieurs ablesen, das in den das oft ein Diskurs zwischen Euphorie und Sor- 70er Jahren einbricht. ge, was das Neue bringt. Schwingt bei der Sor- ge vielleicht mit, dass neue Technologien und Dossier: Wie nennen Sie die Zeit nach diesen Kriege historisch gesehen in einem Zusammen- 70er Jahren? hang stehen? Fraunholz: Ich würde mit dem Soziologen Ulrich Fraunholz: Natürlich spielen Kriege eine Rolle für Beck von einer reflexiven Moderne sprechen. Also die Entwicklung der Technik. Ich sehe den Krieg einer Moderne, die sich sozusagen über sich selbst aber nicht in der Rolle als „Vater aller Dinge“. Effizi- Gedanken macht. Mittlerweile habe ich meine enzsteigerung, Gewinnstreben, Arbeitserleichte- Zweifel, wie reflexiv die Moderne tatsächlich ge- rung, wenn man das mal weiter zurückführt, ist ei- worden ist. gentlich die menschliche Faulheit die eigentliche Treiberin von Technologie. Dossier: Weil wir nicht mehr nachdenken über Beim Kalten Krieg war es allerdings etwas anders. das, was wir tun, sondern nur noch tun? Dossier: Warum? „DIE 50ER UND 60ER JAHRE Fraunholz: Die Systemkonkurrenz hatte viele Ebe- nen. Die militärische Hochrüstung war das eine. WAREN NOCH EINMAL EINE Auf der anderen Seite standen das Konsumver- sprechen oder die Fähigkeit, in den Weltraum vor- ZEIT DES OPTIMISMUS. zudringen. Ganz berühmt ist ja diese Küchendebat- te zwischen Chruschtschow und Nixon. IN DEN 70ER JAHREN Dossier: Die müssen Sie erläutern. SETZT EINE MASSIVE Fraunholz: Es gab 1959 eine amerikanische Ge- GEGENBEWEGUNG EIN.“ werbeausstellung in Moskau. Von der gibt es Bil- Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 11
Fraunholz: Heutige Diskussionen zeigen, dass wie- den könnte, ein ständiger Begleiter am Beginn der Heilserwartungen an Technik geknüpft werden. aller technologischer Phasen? Neue Technologien bringen neue Probleme mit sich, mit der Digitalisierung ist das so, was Dekar- Fraunholz: Nein. Aber zu Beginn der Automatisie- bonisierung und künstliche Intelligenz mit sich brin- rungsdebatten in den 50 und 60er Jahren gibt es gen werden, wissen wir noch nicht. ganz berühmte Titelbilder des „Spiegel“, die das Ende der Arbeit schon ausrufen. Dossier: Ist der Erwartungshorizont falsch? Die Arbeit ist natürlich Segen und Fluch. Technologie Probleme der Menschheit sind ja drängend. ist eigentlich ein Instrument, um der Arbeit das Be- lastende zu nehmen. Ich habe ja eingangs gesagt, Fraunholz: Stimmt. Aber ich warne vor der Hoff- Motor ist vielleicht die Faulheit. Marx spricht vom nung auf die ultimative Erlösung. Technik löst Pro „Reich der Freiheit“ und meint damit die Welt jen- bleme und schafft welche. seits der entfremdeten Arbeit, die es mit dem ge- ringsten Kraftaufwand zu bewerkstelligen gilt. Ich Dossier: Wenn große Unternehmen wie die Te- kann dann eben Fischer sein und kann Philosoph lekom hinsichtlich des Einsatzes künstlicher In- sein und alles am gleichen Tag. Klar, das ist natür- telligenz sozusagen Vorratsbeschlüsse treffen, lich eine Grundrichtung, die den ganzen Prozess was sie nicht tun würden mit der Technik, dann begleitet. Aber ich denke, wir sind weit davon ent- zeigt sich doch, dass wir nicht mehr technikna- fernt. iv sind. Dossier: Wir sind eine ziemliche Arbeitsgesell- Fraunholz: Das ist im Grunde sehr sympathisch. schaft geblieben? Man könnte das auch eine prospektive Technikfol- genabschätzung nennen. Ich finde es generell gut, Fraunholz: Ja, weiter als wir manchmal denken. wenn über Technik nachgedacht wird, wenn ein of- Auch künstliche Intelligenz wird uns mit aller Wahr- fener Diskurs über Technik, über mögliche Ent- scheinlichkeit nicht so schnell davon erlösen. Wir wicklungswege und weiter geführt wird, vor allem haben uns übrigens in den vergangenen 200 Jah- natürlich mit betroffenen Gruppen. Die müssen ein- ren erheblich an immer neue Technologien ange- gebunden werden, das ist vielleicht so eine Frucht passt. dieses Einschnittes in den Siebzigerjahren. Dossier: Sie meinen Exoskelette und Dossier: Wir sind als Gesellschaft also doch Mensch-Maschinen-Verbindungen sind keine lernfähig. ganz neue Erfahrung, wir brauchen keine Angst zu haben? Fraunholz: Wenn wir uns das Thema Künstliche In- telligenz vornehmen, kann man sagen, dass es Fraunholz: Ich würde statt dem Begriff Angst eher Menschen gab, die sich ebenfalls sehr früh mit von Unbehagen, mit Freud, „Unbehagen in der Kul- dem Thema befasst haben. Isaac Asimov, Bioche- tur“ sprechen. Aber das hat nicht verhindert, dass miker, Sachbuchautor, vor allem Verfasser faszinie- wir im Großen und Ganzen nicht mehr die Men- render Science-Fiction-Literatur hat 1942 seine drei schen sind, die wir vor 200 Jahren waren. Robotergesetze (siehe Seite 13) formuliert, die Ro- boter in den Dienst des Menschen und im Grunde Dossier: Weil wir ohne unsere Technologien gar des Friedens stellen. Von daher glaube ich, dass nicht mehr handlungsfähig wären. uns Menschen die Künstliche Intelligenz nicht ganz so überrascht. Fraunholz: Ja, das kann man positiv oder negativ formulieren. Es gibt diese Abhängigkeit von unse- Dossier: Was wurde aus den Asimovschen Ge- ren technischen Habitaten. Ich sehe aber auch die setzen? Erweiterung der Möglichkeiten und der Fähigkei- ten. Fraunholz: Sie wurden weiterentwickelt. Die Scien- ce-Fiction-Literatur hat vieles von dem vorwegge- Dossier: Und wofür würden Sie sich entschei- nommen, was inzwischen technisch möglich ist. den, für die Erweiterung der Möglichkeiten oder Auch die Reflexion über die Risiken von Technolo- der Abhängigkeiten, oder kann man das eine gien und über das Verhältnis des Menschen zu Ma- ohne das andere nicht haben? schinen. Will sagen, die Gesellschaft diskutiert schon seit geraumer Zeit über die ethischen Regeln Fraunholz: Ich würde mich für einen fortwäh- im Umgang mit künstlicher Intelligenz. renden Diskurs über technische Entwicklung entscheiden. Dossier: Ist die Angst davor, dass durch den technischen Fortschritt die Arbeit verschwin- Dossier: Vielen Dank für das Gespräch. Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 12
ASIMOVSCHE GESETZE UND IHRE NACHFOLGER Isaac Asimov, geboren 1920 in der Sowjetunion, verließ im Alter von drei Jahren mit seinen El- tern die Sowjetunion. Mit fünf brachte er sich in seiner neuen Heimat das Lesen selbst bei. Er studierte Chemie und schloss sich an der Universität der Futurian Science Literary Society an, ei- nem Kreis junger Autorinnen und Autoren, die sich Science-Fiction (kurz Sci-Fi) widmeten. Asi- mov, der nach dem 2. Weltkrieg sich auf Biochemie spezialisierte, wurde einer der führenden Sci-Fi-Autoren seiner Zeit und gehört heute zu den Klassikern des Genres. Sein Interesse galt der künstlichen Intelligenz. Roboter spielten in seinem Werk eine zentrale Rolle. Als Naturwissenschaftler hat er seinen Geschich- die Menschheit nicht verletzen oder durch Passi- ten eine Regelhaftigkeit zugrunde gelegt. Die vität zulassen, dass die Menschheit zu Schaden „Gesetze der Robotik“. Sie lauten: kommt. Aus heutiger Sicht sind die vom Humanismus – Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen geprägten Robotergesetze von Asimov überholt. oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen Längst finden in der Militärtechnik Roboter Ver- lassen. wendung. Etwa beim Bau von Smart Bombs, die – Ein Roboter muss den Befehlen eines Men- ihre Ziele präzise ansteuern, in Drohnen oder Mi- schen gehorchen, es sei denn, solche Befehle litärrobotern. Sie widersprechen allen drei Robo- stehen im Widerspruch zum ersten Gesetz. tergesetzen von Issac Asimov. – Ein Roboter muss seine eigene Existenz Leitlinien, wie sie sich die Telekom etwa für schützen, solange dieser Schutz nicht dem den Einsatz von künstlicher Intelligenz gegeben ersten oder zweiten Gesetz widerspricht. hat, bauen nach wie vor auf der Grundidee des Mit seiner Roboterliteratur und dem Regel- Naturwissenschaftlers auf, dass Maschinen nicht werk nahm Asimov Diskussionen voraus, die Menschen ersetzen dürfen, schon gar nicht zu heute angesichts der Einführung von künstlicher deren Nachteil. Intelligenz in Alltag und Arbeitswelt geführt wer- Auch die Versuche der Gewerkschaften, der den. forcierten Digitalisierung sozialen Fortschritt ab- Seine Robotergesetze wurden immer weiter zuringen, stehen in der Tradition der Bemühun- entwickelt. Er selbst stellte noch seinen drei Ge- gen Asimovs, der Roboter für eine bessere Welt setzen ein nulltes Gesetz voran: Ein Roboter darf eingesetzt wissen wollte. Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 13
Kapitel 2 DIE TIEFE TRANSFORMATION WIRFT IHRE DUNKLEN SCHATTEN VORAUS Die Begeisterung über die vielfältigen, ineinandergreifenden technischen Modernisierungs prozesse wird überlagert durch die Sorge vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, was aus ihrer beruflichen Zukunft wird. Denn dass Roboter und Computer Arbeit übernehmen werden, die heute von Menschen geleistet wird, steht außer Frage. Welche neuen Möglich keiten, den Lebensunterhalt zu verdienen, hinzukommen werden, hingegen ist unbekannt. Allein in der Wertschöpfungskette der Automobilindustrie seien bis 2030 rund 410.000 Ar beitsplätze in Gefahr, sagte der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann im Vorfeld des Auto mobilgipfels der Bundesregierung im Januar 2020. Die tiefe Transformation wirft ihre dunklen Schat- Millionenbeitrag pro Jahr müssen die Mitarbeite- ten voraus. Neben den Meldungen frischer oder an- rinnen und Mitarbeiter bringen, um ihr Unterneh- gestrebter Innovationen häufen sich insbesondere men in die Zukunft zu bringen. Sparen will der Kon- aus der Automobilindustrie als Zentrum des indust- zern vor allem bei den Erfolgsbeteiligungen sowie riellen Netzes schlechte Nachrichten für Beschäf- beim Weihnachtsgeld derjenigen, die im Rahmen tigte und Standorte. Der Daimler-Konzern etwa des Tarifs 40 und nicht 35 Stunden in der Woche kündigte Ende November 2019 an, dass bis 2022 arbeiten (Automobil-Industrie (4), 2019). rund 10.000 Stellen abgebaut werden sollen. 1,4 Wenige Tage zuvor hatte erst Audi gemeldet, Milliarden Euro an Personalkosten soll das bringen. dass die Marke innerhalb des VW-Konzerns in den Gekürzt werden soll bei Daimler nicht nur in der kommenden Jahren 9.500 Stellen streichen werde. Produktion, auch jede zehnte Stelle im Manage- Vorruhestandsregelungen und Abfindungen sollen ment soll wegfallen. Abfindungen sollen es brin- es möglich machen. Denn auch bei Audi sichern gen, Altersteilzeitprogramme werden neu aufge- langfristige Verträge die Beschäftigten vor be- legt. Und mit den 40-Stunden-Arbeitsverträgen, triebsbedingten Kündigungen (FAZ (2), 2019). die in gewissem Rahmen im Tarifvertrag der Me- Wenn die bekannten Marken des Automobilge- tall- und Elektroindustrie möglich sind, wolle der schäftes umbauen, erfährt via Medien die Republik Konzern sparsam umgehen. Betriebsbedingte Kün- davon. Unternehmen aus der Wertschöpfungsket- digungen werde es nicht geben, heißt es in einer te stehen weniger im Fokus der Öffentlichkeit. Meldung des Branchendienstes Automobil-Indust- Während die bekannten Marken auch dank satter rie (Automobil-Industrie (3), 2019). Finanzpolster durchkommen wollen, sind Zuliefe- Gekürzt wird auch bei BMW. Einen dreistelligen rer, häufig auf bestimmte Bauteile oder Kompo- Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 14
nenten spezialisiert, empfindlicher. Der Fachdienst liegt unter anderem daran, dass sich Begeisterung Automobil-Industrie etwa berichtet, dass der Um- und Ernüchterung über den Inhalt des Container- gang der Einkäufer der Marken aber auch der gro- Begriffes in den vergangenen Jahrzehnten immer ßen (Tier-1 genannten) Zulieferer schärfer gewor- wieder abgewechselt haben, sodass eine gewisse den sein soll. In der noch nicht veröffentlichten Vorsicht vor übergroßen Erwartungen verbreitet Marktstudie der Unternehmensberatung Andreas ist. Eine gemeinsam herausgegebene Studie des Fein über „Die Preissenkungsforderungen der Au- Fraunhofer Instituts für angewandte Informations- tomobilhersteller“ heiße es: Forderungen würden technologie (FIT) und der Beratungsgesellschaft „von oben ohne Rücksicht durchgeprügelt“. Den Ernst&Young (EY) erinnert an eine Veröffentlichung Preishebel setzten „demnach am häufigsten BMW, eines britischen Wissenschaftlers, der 1973 der ei- Mercedes-Benz und Bosch an, gefolgt von VW, ner ersten Phase der KI-Euphorie ein Ende setzte, Conti und Brose. Insgesamt lag die Forderung der in dem er die darin investierten Ressourcen als Einkäufer für das Jahr 2019 mit durchschnittlich rausgeschmissenes Geld deklariert. 1980 bis 1987 minus 3,6 Prozent knapp unter dem Vorjahr“, sei das Interesse nochmals angestiegen, die Erfol- schreibt der Fachdienst weiter (Automobil-Indust- ge blieben aber bescheiden, sodass ein weiterer rie (5), 2019). „KI-Winter“ einzog (Alan/Urbach, 2019). Continental etwa hat ein eigenes Umbaupro- Die beiden Herausgeber der Studie, für das FIT gramm („Transformation 2019-2029“) gestartet. Im Nils Urbach von der Universität Bayreuth, Yilmaz dritten Quartal geriet der Konzern tief in die roten Alan für EY, haben ihre 2019 veröffentlichte Publi- Zahlen: fast zwei Milliarden Euro minus. Eine hohe kation dem Ziel gewidmet, den „intensiven Aus- Abschreibung, aber vor allem die lahmende Auto- tausch zwischen Mensch und KI“ zu rationalisie- konjunktur machen dem Unternehmen zu schaf- ren, in dem sie eine Antwort auf eine auf der Hand fen. Der Finanzvorstand von Continental, Wolf- liegende Frage suchten: „Wie werden wir mit Tech- gang Schäfer, sieht die Zukunft düster: „In den nologie interagieren, wenn diese nicht nur mit- kommenden fünf Jahren rechnen wir ähnlich wie denkt, sondern diese Gedanken (und Gefühle) auch andere Marktteilnehmer nicht damit, dass sich die mit uns teilt und wir unsere Erfahrungen wiederum weltweite Produktion wesentlich beleben wird“ mit der Technologie teilen? (Automobil-Industrie (6), 2019). Bis 2023 könnten Es gebe fünf Typen von KI, mit denen Menschen 15.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, 5.000 in Berührung kommen (oder eines Tages kommen davon in Deutschland. werden), schreiben die beiden Autoren: Die „KI als Die Liste lässt sich ohne Probleme mit Blick in Schutzengel“ wache etwa beim Autofahren darü- die jüngeren Archiveinträge verlängern. Der Auto- ber, dass der Abstand zu vorausfahrenden Autos mobilzulieferer Benteler will 600 Stellen streichen, eingehalten werde, unterstütze beim Bremsen die Gusswerke Saarbrücken bauen ebenfalls 600 oder warne vor Fahrzeugen im toten Winkel eines Beschäftigte ab und der Stellenabbau bei Conti- Autos. Dann gebe es „KI als ‚Heinzelmännchen’, nental ist konkret. Begründung unter anderem: Hy- ‚Informanten’ oder ‚Kollegen’“. Die „Heinzelmänn- draulische Komponenten für Diesel- und Benzin- chen“ etwa helfen Personalmanagern und -mana- motoren werden nicht mehr gebraucht. gerinnen, in dem sie eine Vorauswahl unter digita- Es gibt aber auch gute Nachrichten vom Ar- len Bewerbungen erstellen oder als Roboter im beitsmarkt. Der US-Konzern Tesla etwa will sich in Produktionsprozess eingesetzt werden. Der Infor- Brandenburg und Berlin sowohl mit einem Produk- mant könnte die Angestellten am Hotelempfang tionswerk als auch mit einem Design-Zentrum nie- ersetzen oder vorausschauend Anlagen auf Ver- derlassen. Ebenfalls in Brandenburg eröffnet der schleiß untersuchen und verhindern, dass eine us-amerikanische Hersteller leistungsstarker Bat- Leckage überhaupt erst auftritt und es zu einem terien, microvast, ein Werk mit 250 Beschäftigten. langen Maschinenstillstand kommt, weil eine Re- Und im Getriebebau hat der Zulieferer ZF früh- paratur notwendig wird. Der „Kollege KI“ sei in der zeitig auf Hybrid-Antrieb umgeschaltet. Der Elekt- Lage, automatisch Texte zu erstellen oder versorgt romotor wird in das Getriebe integriert. Auch diese Handwerkerinnen und Handwerker via Datenbrille Zukunftstechnologie wird in Brandenburg gebaut, mit den notwendigen Informationen, damit sie eine das plötzlich und unvermittelt zu einem Autoland aufwendige Reparatur bewerkstelligen können. wird. (ZF, 2019) Schließlich begegne KI dem Menschen auch als Es ist nicht nur der Umbau der deutschen Auto- „bester Freund“, etwa als Gegner bei einer Partie mobilindustrie und eines großen Teils ihres weit Schach oder als Kontakt beim Anruf einer Hotline. verzweigten Systems industrieller Vorleister, wel- Je mehr Wissen die Maschine mitbringt, entwi- che die Tiefe der Transformation ausmacht. Auf die ckelt und an Führung des Gespräches oder einer Digitalisierung von Produktion und Dienstleistun- Situation übernimmt, umso geringer ist die Hand- gen folgt nun die Integration Künstlicher Intelligenz lungsfreiheit des Menschen in einer solchen Kom- in die Organisation der Arbeit. munikation, schreiben die beiden Autoren. Die Erfahrungen mit ihr sind auf dem europäi- In Japan trauen die Menschen Robotern einiges schen Kontinent nicht besonders ausgeprägt. Das mehr zu, übertragen ihnen komplexere Aufgaben, Dossier Nr. 5, 01.2020 · Seite 15
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