Epidemiologisches Bulletin 34 2022 - RKI

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AKTUELLE DATEN UND INFORMATIONEN
                  ZU INFEKTIONSKRANKHEITEN UND PUBLIC HEALTH

  34 Epidemiologisches
2022 Bulletin
25. August 2022

                  Masern in Deutschland und weltweit
Epidemiologisches Bulletin          34 | 2022        25. August 2022                                                      2

  Inhalt

  Aktuelles zu Masern in Deutschland und weltweit                                                       3
  Nachdem es in den Jahren 2017 bis 2019 zu einem globalen Wiederanstieg der Maserninzidenz gekommen
  war, sind die Masernfallzahlen in Deutschland seit Beginn der COVID-19-Pandemie stärker als die Fallzah-
  len anderer impfpräventabler Erkrankungen zurückgegangen. Dieser drastische Rückgang führt möglicher-
  weise hierzulande zu einer sinkenden Aufmerksamkeit hinsichtlich des Auftretens der Masern und dazu,
  die Gefahr neuerlicher Masernausbrüche zu unterschätzen. Der Beitrag stellt die aktuellen epidemiologi-
  schen Daten sowie neue Erkenntnisse zu Masern, ihrer Surveillance und zu den für die Masernelimination
  notwendigen Impfungen zusammen.

  Ausschreibung von Nationalen Referenzzentren und Konsiliarlaboren                                                           19

  Aktuelle Statistik meldepflichtiger Infektionskrankheiten: 33. Woche 2022                                                   24

  Erste autochthone West-Nil-Virus-Infektion der Saison                                                                       27

  Impressum
  Herausgeber                                                      Allgemeine Hinweise/Nachdruck
  Robert Koch-Institut                                             Die Ausgaben ab 1996 stehen im Internet zur Verfügung:
  Nordufer 20, 13353 Berlin                                        www.rki.de/epidbull
  Telefon: 030 18754 – 0
  E-Mail: EpiBull@rki.de                                           Inhalte externer Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise
                                                                   die Meinung des Robert Koch-Instituts wider.
  Redaktion
  Dr. med. Maren Winkler                                           Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons
  Dr. med. Jamela Seedat (derzeit nicht im Dienst)                 Namensnennung 4.0 International Lizenz.
  Heide Monning (Vertretung)

  Redaktionsassistenz
  Nadja Harendt
  Claudia Paape, Judith Petschelt (Vertretung)                     ISSN 2569-5266

         Das Robert Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Epidemiologisches Bulletin                                                     34 | 2022                   25. August 2022                                                                                        3

                                       Aktuelles zu Masern in Deutschland und weltweit
                                       (Datenstand: 01.08.2022)

                                       Die Masernfallzahlen sind aufgrund der weltweiten                                                      76 Masernfälle übermittelt, die bis auf einen im No-
                                       und nationalen Eindämmungsmaßnahmen gegen                                                              vember impor­tierten Fall von Januar bis April auf­
                                       die Coronavirus Disease 2019-(COVID-19-)Pandemie                                                       getreten waren. Im Jahr 2021 waren es sogar nur
                                       in Deutschland erheblich zurückgegangen. Haben                                                         10 Fälle. Dies ist die niedrigste jährliche Fallzahl seit
                                       wir die Masern nachhaltig zurückdrängen können                                                         Einführung der Meldepflicht im Jahr 2001. Anhand
                                       und damit das Ziel der Elimination der Masern bald                                                     der Einsendungen von Proben an das Nationale Re-
                                       erreicht? Der folgende Artikel stellt aktuelle epide-                                                  ferenzzentrum Masern, Mumps, Röteln am RKI
                                       miologische Daten und neue Erkenntnisse aus wis-                                                       (NRZ MMR) zeigt sich ebenfalls ein historisches
                                       senschaftlichen Studien zusammen und zeigt auf,                                                        Tief: Einsendungen von 42 Patientinnen und Patien-
                                       dass die Masern in den kommenden Jahren wieder                                                         ten im Jahr 2021 führten zu 6 labordiagnostischen
                                       deutlich zunehmen könnten.                                                                             Bestätigungen. Bis zum 31.07.2022 gingen für das
                                                                                                                                              Jahr 2022 Daten von insgesamt 13 Masernfällen am
                                                                                                                                              RKI ein.
                                       Aktuelle Epidemiologie der Masern
                                                                                                                                              Die nicht-pharmakologischen Maßnahmen zur
                                       Masern in Deutschland                                                                                  ­Bewältigung der Pandemie, wie Abstand halten,
                                       Die COVID-19-Pandemie hat seit 2020 die Epide-                                                          Masken tragen, Schul- und Kitaschließungen sowie
                                       miologie der Masern in Deutschland deutlich verän-                                                      Grenzschließungen mit dem daraus resultierenden
                                       dert (s. Abb. 1). Die Masernfallzahlen sind seit Pande-                                                 Rückgang des Reiseverkehrs, haben in Deutschland
                                       miebeginn stärker als die Fallzahlen anderer impf-                                                      und darüber hinaus zu einem Rückgang der Ma-
                                       präventabler Erkrankungen zurückgegangen.1–3                                                            sernfälle geführt. Nicht relevant zum Rückgang der
                                       Dem Robert Koch-Institut (RKI) wurden im Jahr                                                           Fallzahlen beigetragen haben höchstwahrscheinlich
                                       2020 gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) nur                                                            hingegen andere Faktoren, wie zum Beispiel eine

                                       Anzahl der übermittelten Masernfälle                                                                                                                      Inzidenz pro 1 Million EW

                                       700                                                                                                                                                                                      32,5
                                                                                                                                                                            Übermittelte Masernfälle
                                                                                                                                        30,0                                                                                    30
                                                                                                                                                                            Inzidenz pro 1 Mio EW
                                       600                                                                                                                                                                                      27,5
Anzahl der übermittelten Masernfälle

                                                                                                                                                                                                                                25
                                       500
                                                                                                                                                                                                                                22,5
                                                                                                                21,9
                                                                                       19,7                                                                                                                                     20
                                       400
                                                                                                                                                                                                                                17,5

                                                                                                                                                                                                                                15
                                       300
                                                                                                                                                                                                                                12,5
                                                    11,2                                                                                                       11,2
                                                                                                                                                                                                                                10
                                       200                                 9,5
                                                                                                                                                                                                                                7,5
                                                                7                                                                                                          6,6        6,2
                                                                                                                            5,4                                                                                                 5
                                       100
                                                                                                                                                    4,0
                                                                                                   2,0                                                                                                                          2,5
                                                                                                                                                                                                 0,9
                                        0                                                                                                                                                                   0,1         0,2 0
                                             1 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 9111 3 5 7 911
                                                 2008        2009      2010        2011         2012       2013          2014       2015         2016       2017        2018       2019      2020       2021        2022
                                               (n=915)     (n=572)   (n=780)     (n=1.608)    (n=165)    (n=1.769)     (n=442)    (n=2.466)    (n=327)    (n=926)     (n=545)    (n=516)    (n=76)     (n=10)      (n=13)

                                                                                                                        Monat und Jahr
                                                                                                                                                                                                                Monat und Jahr

                                       Abb. 1 | Anzahl der übermittelten Masernfälle pro Monat und Jahr in Deutschland 2008-2022 und Inzidenzen pro Jahr
                                       pro 1 Mio. Einwohner (EW) (Stand: 01.08.2022)
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  Untererfassung aufgrund der Nicht-Inanspruchnah-         jahr bei 4,2 und bei den Einjährigen bei 3,4 Erkran-
  me medizinischer Hilfe aus Furcht vor einer Anste-       kungen/100.000 Einwohner. In den übrigen Alters-
  ckung mit dem Severe Acute Respiratory Syndrome          gruppen der Kinder und Jugendlichen bis 19 Jahre
  Coronavirus Type 2 (SARS-CoV-2) oder fehlende            lag die Inzidenz zwischen 1,0 bis 2,0 Erkrankun-
  Ressourcen in Gesundheitsämtern zur Übermitt-            gen/100.00 Einwohner. Für Erwachsene im Alter
  lung von Masernfällen (persönliche Korrespondenz         von 20 bis 59 Jahren wurden Inzidenzen zwischen
  mit den Landesgesundheitsämtern der Länder).             1,6 und 0,1 Erkrankungen/100.000 Einwohner er-
                                                           rechnet.5 Bedingt durch die größere Bevölkerungs-
  Die Anzahl der dem RKI gemäß IfSG übermittelten          gruppe treten weit über die Hälfte der Masernfälle
  Fälle ging seit Einführung der Meldepflicht der Ma-      jedoch seit einigen Jahren in der Altersgruppe der
  sern im Jahr 2001 aufgrund steigender Impfquoten         10- bis 49-Jährigen auf. Aufgrund der geringeren
  deutlich zurück. Von 2008 bis 2020 lagen die dem         Masernzirkulation durch die steigende Immunität
  RKI übermittelten monatlichen Fallzahlen meist           durch Impfungen in der Bevölkerung in den letzten
  zwischen 100 und 950 Fällen. Diese Fallzahl wurde        Jahrzehnten sinkt die Wahrscheinlichkeit, mit den
  allerdings in den Jahren 2011 (n = 1.608), 2013 (n =     MV in Kontakt zu kommen. Die Folge ist, dass im-
  1.769) und 2015 (n = 2.466) deutlich überschritten       mer mehr Jugendliche und Erwachsene bis etwa
  (s. Abb. 1). Die Ausbrüche beruhten überwiegend          50 Jahre erkranken. Der überwiegende Anteil der an
  auf Importen von Masernvirus-(MV-)Varianten              Masern Erkrankten war bei Erkrankungs­beginn gar
  nach Deutschland. Die Auswirkungen wurden von            nicht oder nicht ausreichend gegen Masern
  vielen Faktoren beeinflusst: Von Zeitpunkt und Ort       geimpft. Der Anteil der Ungeimpften lag in den
  des Virusimports, der Immunität der betroffenen          letzten 10 Jahren bei 83 % (bezogen auf 6.389 über-
  Bevölkerungsgruppe oder davon, ob durch zurück-          mittelte Fälle mit entsprechenden Informationen
  liegende Masernausbrüche in der betroffenen Re­          zum Impfstatus). Ungeimpft waren 94 % der im
  gion eine natürliche Durchseuchung stattgefunden         ersten Lebensjahr erkrankten Kinder, 83 % der Kin-
  hatte. Je nachdem gab es sporadische Masernfälle         der bis zum 10. Lebensjahr, 86 % der Jugend­lichen
  oder es kam zu kleineren bis ausgedehnteren Aus-         bis zum 19. Lebensjahr und 78 % der Erwachsenen
  brüchen. Das individuelle Risiko, an Masern zu er-       im Alter zwischen 20 und 49 Jahre (Daten des RKI).
  kranken, ist schwer einzuschätzen, da das Auftreten      Etwa zwei Drittel der geimpften Erkrankten hatte
  Zufällen unterliegt und eine flächendeckende Ma-         bisher nur eine Impfung erhalten. Neben der erhöh-
  sernausbreitung nicht mehr stattfindet. In einigen       ten Vulnerabilität ungeimpfter Erwachsener wird
  Bundesländern treten die Masern nur noch selten          ferner diskutiert, ob auch eine nachlassende Immu-
  in Erscheinung; besonders bevölkerungsreiche und         nität gegen Masern nach Impfungen in der Kind-
  dicht besiedelte Bundesländer sind häufiger betrof-      heit (waning immunity) aufgrund des selteneren
  fen. Das allgemein geschätzte Risiko für ungeimpf-       Kontaktes mit MV zu einem sekundären Impfversa-
  te Kinder, in den ersten 10 Lebensjahren an Masern       gen und damit zu erhöhten Erkrankungszahlen bei
  zu erkranken, lag nach Berechnungen des RKI aus          Erwachsenen führt (siehe unten im Abschnitt Impf-
  dem Jahr 2016 bei etwa 1,5 %. Das heißt, eines von       wirksamkeit).
  66 ungeimpften Kindern wird statistisch an den
  Masern erkranken. Die übrigen Kinder profitieren         Elimination der Masern
  von der Herdenimmunität, da um sie herum die             Weltweit besteht das Ziel der Elimination der ende-
  meisten Menschen geimpft sind. Für Geimpfte lag          mischen Masern. Der Status der Elimination ist in
  das Risiko einer Ansteckung etwa 300-fach niedri-        der Europäischen Region der Weltgesundheitsorga-
  ger bei 0,005 %. Für die gesamte Lebenszeit wurde        nisation (WHO) erreicht, wenn über 3 Jahre hinweg
  ein ­Risiko von etwa 3 % für Ungeimpfte berechnet.4      nachgewiesen werden kann, dass eine Virusvariante
                                                           der Masern nicht länger als 12 Monate in einer geo-
  Die höchste altersspezifische Inzidenz wird regel-       grafischen Region zirkuliert (Unterbrechung einer
  mäßig bei Kindern in den ersten beiden Lebensjah-        endemischen Transmission). Die Verifizierung der
  ren beobachtet. Sie lag im Jahr 2019, vor Beginn der     Elimination ist also nicht abhängig von der Anzahl
  COVID-19-Pandemie, bei Kindern im ersten Lebens-         der Fälle, sondern erfolgt, wenn Infektionsketten
Epidemiologisches Bulletin       34 | 2022       25. August 2022                                             5

  durch meist importierte MV jeweils schnell unter-           wertungen der RVC zu den Berichten vom Jahr
  brochen werden können. Es wird geschätzt, dass              2020 bekannt. Der Bericht der NAVKO für das Jahr
  eine Immunität gegen Masern in der Bevölkerung              2021 wurde im Juni 2022 an die RVC versendet.
  von circa 95 % benötigt wird, um eine endemische
  MV-Transmission nachhaltig zu unterbrechen und              Molekulare Surveillance: Neue Heraus­
  einen Bevölkerungsschutz (Herdenimmunität) auf-             forderungen in der Eliminationsphase
  zubauen.6–12 Die WHO gibt eine Impfquote von                Masernwildviren werden nach der WHO-Nomen­
  95 % bei den Routineimpfungen als eine von vier             klatur anhand der Nukleotidsequenz eines festgeleg-
  Schlüsselstrategien zum Erreichen des Elimina­              ten Genomabschnittes (450 Nukleotide des N-Gens)
  tionsziels vor.13,14                                        in 24 Genotypen unterteilt. Seit 2018 sind jedoch
                                                              weltweit nur noch 4 Genotypen beobachtet worden,
  Was bedeuten die sinkenden Fallzahlen für den               von denen lediglich B3 und D8 großräumig zirku-
  Stand der Elimination der Masern und Röteln in              lierten.15,16 Dies kann als Erfolg auf dem Weg zur
  Deutschland? Die Nationale Verifizierungskommis-            weltweiten Masernelimination gewertet werden.
  sion Masern/Röteln (NAVKO) kam bereits in ihrem
  Bericht an die WHO für das Jahr 2019 zu der Ein-            In der Eliminationsphase ist die molekulare Surveil-
  schätzung, dass die endemische Transmission der             lance auf die Analyse von Transmissionsketten ge-
  Masern sowie der Röteln in Deutschland unterbro-            richtet, da die zeitliche Länge auftretender Ketten
  chen war. Dies beruhte auf der Einschätzung, dass           das entscheidende Kriterium für die Bewertung des
  zwar relativ viele Fälle auftraten, diese aber unter-       Masern-Eliminationsstatus ist. Die Zuordnung von
  schiedlichen Importereignissen und Transmis­                Masernfällen zu einer durch einen importierten
  sionsketten zugeordnet werden konnten. Die Regio­           ­Indexfall ausgelösten Transmissionskette basiert
  nale Verifizierungskommission des Regionalbüros              auf der exakten Nukleotidsequenz eines Genombe-
  der Europäischen WHO-Region (RVC) bescheinigte               reichs, die mit Hilfe der WHO-Sequenzdatenbank
  Deutschland jedoch für das Jahr 2019 bezüglich der           als Distinct Sequence ID kodiert wird. Die geneti-
  Masern weiterhin den Status einer endemischen                schen Daten der nachgewiesenen MV werden dann
  Transmission. Im Gegensatz dazu erfolgte im De-              zur Abklärung der Transmissionswege mit den fall-
  zember 2020 die offizielle Anerkennung des Status            bezogenen epidemiologischen Daten verknüpft.
  der Elimination der Röteln durch die WHO für                 Zahlreiche Beispiele im In- und Ausland haben je-
  Deutschland. Dem war eine retrospektive Analyse              doch gezeigt, dass für die Abbildung von Transmis-
  der eingereichten Daten aus den Jahren 2017 bis              sionsketten im nationalen oder länderübergreifen-
  2019 durch die RVC vorausgegangen. Die Berichte              den Kontext aufgrund der Verarmung an Genotypen
  der NAVKO sind auf der Internetseite des RKI zu              höher auflösende genetische Virusdaten benötigt
  finden.                                                      werden. Diese Feintypisierung kann durch die Se-
                                                               quenzierung weiterer variabler Bereiche des Virus-
  Angesichts des anhaltenden Rückgangs der ende-               genoms oder des gesamten Genoms erreicht wer-
  mischen MV-Transmission in Deutschland seit                  den.17 Dafür werden gegenwärtig innerhalb des glo-
  ­April 2020 mit wenigen, hauptsächlich sporadi-              balen Masern- und Röteln-Labornetzwerks der WHO
   schen Masernfällen, ging die NAVKO auch für 2020            geeignete Methoden entwickelt, die sowohl das Se-
   und 2021 von einer Unterbrechung der endemi-                quenzierungsverfahren selbst als auch die ­Inter-
   schen MV-Transmission aus. Deutschland könnte               pretation gewonnener Sequenzdaten betreffen.18
   somit theoretisch 2023 den Status der Elimination           Das NRZ MMR, welches auch als regionales Refe-
   der Masern erhalten, wenn die Masernfallzahlen im           renzlabor der Europäischen WHO-Region fungiert,
   Jahr 2022 so gering bleiben und die NAVKO erneut            ist in diesbezügliche Projekte einbezogen.
   eine endemische Transmission für das Jahr 2022
   ausschließen kann. Es ist allerdings fraglich, ob die      In Deutschland wurde aufgrund der Daten des NRZ
   RVC während der Pandemie die gleichen K     ­ riterien     MMR deutlich, dass durch Erweiterung des sequen-
   und Maßstäbe hinsichtlich der Beurteilung der Da-          zierten Genombereichs um die nichtkodierende Re-
   ten ansetzen wird. Bisher sind dem RKI keine Be-           gion zwischen den MV-Genen M und F (MF-NCR)
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  Transmissionsketten besser abgebildet und vonei-         Eine Masernsurveillance wird in allen Staaten der
  nander abgegrenzt werden können. Unmittelbar             Erde durchgeführt, jedoch nicht immer mit der von
  vor der COVID-19-Pandemie wurde allerdings viel-         der WHO geforderten Qualität.15 Die Inzidenz der
  fach die identische MF-NCR-Variante importiert.          Masern sank in den Jahren von 2000 bis 2016 um
  Das zeigt, dass in Ländern, die sich der Eliminati-      88 % von 145 auf 18 Fälle/1 Million Einwohner und
  onsphase annähern, möglicherweise auf Dauer be-          stieg im Jahr 2019 wieder auf 120 Fälle/1 Million Ein-
  vorzugt das gesamte MV-Genom sequenziert wer-            wohner an. Mit Beginn der Pandemie ist es weltweit
  den sollte. Weiterhin wurden mit den MF-NCR-             zu einem drastischen Absinken der Masernfallzah-
  Sequenzdaten Transmissionsketten identifiziert,          len gekommen. Im Januar und Februar 2022 sind
  denen kein importierter Indexfall zugeordnet wer-        die Fallzahlen im Vergleich zum gleichen Zeitraum
  den konnte. Dies zeigt, dass im deutschen Surveil-       des Vorjahres allerdings wiederum um rund 80 %
  lance-System immer noch Fälle unerkannt bleiben          angestiegen.19
  und die Anzahl der an das NRZ MMR eingesende-
  ten Proben für eine lückenlose Nachverfolgung            Von 2000 bis 2010 stieg die globale Impfquote für
  nicht ausreicht. Die Verknüpfung der fallbezogenen       die erste Masernimpfung (MCV1) von 72 % auf 84 %
  epidemiologischen Daten mit den hochauflösenden          an, stagnierte dann und erreichte 2019 einen Höchst-
  molekularen Daten muss weiter intensiviert wer-          stand mit 86 %. Im Jahr 2020 betrug sie allerdings
  den, um die Unterbrechung der endemischen MV-            nur noch 84 %, im Jahr 2021 sank sie weiter auf 81 %
  Transmission dokumentieren zu können.                    und damit den niedrigsten Stand seit 2008. Im Jahr
                                                           2020 erhielten rund 22 Millionen und im Jahr 2021
  Das NRZ MMR unterstützt bei Auftreten von                rund 25 Millionen Kinder keine MCV1 im Rahmen
  ­Masern-typischen Symptomen im zeitlichen Zu-
   sammenhang mit der Impfung. Durch zeitnahes
                                                            Wie soll die Labordiagnostik der Masern erfolgen?
   Übersenden eines Rachenabstrichs und Durchfüh-
   rung einer spezifisch das Impfvirus nachweisen-          Der Verdacht auf Masern soll unbedingt durch eine
   den PCR ist es möglich zu differenzieren, ob die         Labordiagnose bestätigt werden, da Masern mit an-
   Impfung zu den Symptomen geführt hat (Impf­              deren fieberhaften und exanthematischen Erkran-
   masern) oder ob eine Infektion vorliegt. Damit ist       kungen verwechselt werden können. Die Labor­
   eine schnelle Abklärung und ggf. das Aufheben von        diagnostik der akuten Masernvirus-Infektion soll
   unnötigen Quarantänemaßnahmen möglich.                   durch den Nachweis des Masernvirus-Genoms
                                                            mittels RT-PCR aus Rachenabstrich oder Urin in
                                                            den ersten sieben Tagen nach Symptombeginn er-
  Internationale Lage
                                                            folgen. Dabei ist ein Blick auf die Zeitkinetik hilf-
  Alle Regionen der WHO haben sich dem Ziel der
                                                            reich: Rachenabstrich ist ab Symptombeginn für
  Masernelimination verpflichtet. Ende des Jahres
                                                            ca. 7 Tage positiv, im Urin lässt sich das Virus von
  2020 hatte jedoch keine WHO-Region den Elimina-
                                                            Tag 3 bis ca. Tag 10 nachweisen.
  tionsstatus erreicht oder beibehalten. Die Paname-
  rikanische Region hatte im Jahr 2016 den Status der       Der alleinige Nachweis einer Masernerkrankung
  Elimina­tion der Masern zugesprochen bekommen,            durch Masern-IgM Serologie wird nicht mehr emp-
  ihn jedoch aufgrund ausgedehnter Ausbrüche in             fohlen, da Masern-IgM in den ersten drei Erkran-
  Brasi­lien und Venezuela wieder verloren. Mit Aus-        kungstagen nur in knapp 70 % der Fälle nachweis-
  nahme der Westpazifik Region wurde in keiner              bar ist. Weiterhin nimmt der positive prädiktive
  WHO-Region eine Impfquote der Bevölkerung von             Wert des Masern-IgM-Nachweises in Zeiten sin-
                                                            kender Erkrankungszahlen ab; damit steigt die
  95 % erreicht.7 In der Europäischen WHO-Region
                                                            Wahrscheinlichkeit für falsch-positive Ergebnisse.
  hatten im Jahr 2017 37 von 53 Staaten den Status der
                                                            Deswegen sollte der Nachweis von Masern vorran-
  Elimination erhalten, im Jahr 2018 waren es noch 35
                                                            gig über die PCR geführt werden; die Serologie
  und im Jahr 2019 nur noch 29 Staaten (Daten der
                                                            kann zusätzlich zur Bestätigung einer Masernvirus-
  Regio­nalen Verifizierungskommission der europä­
                                                            Infektion sowie zur Aufklärung eines Impfversa-
  ischen WHO-Region).
                                                            gens herangezogen.
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                                                              von Routineimpfungen. Das bedeutet ein Anstieg
   Wie soll die Masern-Diagnostik bei Geimpften
                                                              von rund 3 bzw. rund 5 Millionen ungeimpften Kin-
   durchgeführt werden?
                                                              dern gegenüber 2019. Dies war insbesondere in Ni-
   Der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung            geria, Indien, der Demokratischen Republik Kongo,
   ist nach Masernimpfung oder früherer Erkrankung            Äthiopien, Indonesien, Pakistan, Angola, auf den
   seropositiv. Masern treten bei Geimpften bislang           Philippinen, in Brasilien und Afghanistan der Fall.
   selten auf. Es sind aber Fälle beschrieben, bei de-        Fünf von 6 WHO-Regionen verzeichneten einen
   nen Menschen nach einer zurückliegenden zwei­              Rückgang der MCV1 zwischen 2019 und 2020.16
   fachen Impfung erkrankten und die Infektion an             92 % aller Länder hatten im Jahr 2019 die zweite Ma-
   Dritte weitergegeben haben. Insofern soll auch der         sernimpfung (MCV2) in ihre nationalen Impfpro-
   Verdacht auf Masern bei Geimpften labordiagnos-            gramme aufgenommen. Die geschätzte globale
   tisch abgeklärt werden.                                    Impfquote für MCV2 hat sich von 18 % im Jahr 2000
   Hier ist eine komplexere Diagnostik angeraten.             auf 71 % im Jahr 2019 fast vervierfacht und sank
   Eine Maserninfektion bei Geimpften ist nur dann            2020 wieder auf 70 %.16
   nachgewiesen, wenn der Virusnachweis in der PCR
   positiv ausfällt. Die PCR ist also bei Verdacht auf        Der globale Rückgang der Impfungen ist auf viele
   Masern bei Geimpften unabdingbar. Da die Virus-            Faktoren zurückzuführen. Die COVID-19-Pandemie
   last bei Geimpften meist niedriger ist, sollte ein         hat zu Einschränkungen des Zugangs zu oder der
   ­Rachenabstrich bis Tag 5 und ein Urin nicht später        Inanspruchnahme von Impfungen geführt. Darüber
    als Tag 7 abgenommen werden. Als Ergänzung                hinaus steigt die Anzahl von Kindern, die in Konflikt­
    sollte die Art des Impfversagens durch serologi-          gebieten leben, in denen der Zugang zu Impfungen
    sche Tests charakterisiert werden. Es werden zwei         erschwert ist oder völlig fehlt. Ein zusätzliches Pro-
    Arten von Impfversagen unterschieden: Von einem           blem stellen die weltweit zunehmenden Fehlinfor-
    primären Impfversagen geht man aus, wenn eine             mationen über die Masernimpfungen dar, die das
    primäre Immunreaktion mit hohem IgM, anstei-              Vertrauen in die Impfungen schwächen. Es wird ver-
    gender IgG-Produktion bei niedriger Bindekraft der        sucht, durch regelmäßige zusätzliche nationale
    Antikörper an das Antigen (Aviditätsindex niedrig,
                                                              Impfkampagnen bestehende Impflücken bei Kin-
    als negativ bewertet) nachgewiesen werden. Diese
                                                              dern und besonderen Risikogruppen, insbesondere
    Konstellation wird beobachtet, wenn Fehler bei La-
                                                              in Ländern mit einem niedrigen oder mittleren Ein-
    gerung oder Applikation des Impfstoffs auftraten
                                                              kommen, zu schließen. In vielen Ländern mussten
    und die Impfung keine Immunreaktion auslöste.
                                                              allerdings Impfkampagnen aufgrund der Pandemie
    Eine sekundäres Impfversagen liegt vor, wenn die
                                                              im Jahr 2020 ausgesetzt werden.16 Die Zahl der
    Konzentration der schützenden IgG-Antikörper im
                                                              Menschen ohne einen Schutz gegen Masern wächst
    Lauf der Zeit absinken und die Exposition aufgrund
                                                              damit weiter.20,21 Die Pandemie könnte jedoch auch
    dessen nicht abgefangen werden kann. In diesem
    Fall kommt es zu einer sekundären Immunreak­              einen positiven Einfluss auf die Impfprogramme ha-
    tion: Die Produktion von IgM-Antikörpern unter-           ben, weil vielen Menschen bewusst wurde, wie wich-
    bleibt oft, sodass der IgM-Befund negativ, grenz­         tig Impfungen sind, um eine sich schnell ausbrei-
    wertig oder positiv ausfallen kann und somit wenig        tende und gefährliche Infektionskrankheit nachhal-
    aussagekräftig ist. Die IgG-Antikörper sind bei ehe-      tig einzudämmen und wie schnell Impfstoffe zu ei-
    mals geschützten Personen bereits angelegt und            nem knappen Gut werden können.20
    in der Bindekraft (Avidität) ausgereift. Bei einem
    neuerlichen Kontakt ist die IgG-Synthese oft sehr         Fazit zur aktuellen Epidemiologie der Masern
    stark, somit sind ein (hoch)positives IgG mit ei-         Im Zeitraum 2000 – 2016 kam es weltweit zu einem
    nem hohen Aviditätsindex typisch für eine erneute         erheblichen Rückgang der Maserninzidenz und der
    Infektion.                                                damit verbundenen Sterblichkeit, gefolgt von einem
                                                              globalen Wiederanstieg der Masernfallzahlen in den
   Das NRZ MMR berät gerne bei Fragen zur Ma-
                                                              Jahren 2017 – 2019 und einem erneuten Rückgang
   serndiagnostik, wir sind per Mail unter NRZ-
                                                              im Jahr 2020 während der COVID-19-Pandemie.
   MMR@rki.de erreichbar.
                                                              Der weltweit pandemiebedingte drastische Rück-
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  gang von Impfungen während der letzten Jahre            halten hatten wie eine an Masern erkrankte Person,
  folgt einem Zeitraum, in dem Fortschritte der Ma-       ohne dass ein direkter Kontakt stattgefunden hatte,
  sernimpfungen ohnehin ins Stocken geraten waren.        wurden beschrieben. Ein direkter Kontakt ist für die
  Wegen dieses Defizits sind weltweit mehr Men-           Masernübertragung also nicht erforderlich.23 – 28 Die
  schen ungeschützt gegen Masern als in den Jahren        Masern gehören mit einem R0-Wert von 12 – 18 zu
  davor. Diese Impflücken bieten das Potenzial für        den ansteckendsten Infektionen des Menschen.
  neue Masernausbrüche.22 Nachdem weltweit die            Eine besonders hohe Ansteckungsgefahr besteht
  Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie gelo-             bereits in der Prodromalphase der Erkrankung mit
  ckert wurden, steigen gegenwärtig die Masernfall-       unspezifischen Symptomen wie Fieber, Schnupfen,
  zahlen wieder an. Damit sind auch erneute MV-           Tracheobronchitis und Konjunktivitis. Das charak-
  Importe nach Deutschland zu erwarten.                   teristische makulopapulöse Masernexanthem ent-
                                                          steht 2 – 4 Tage nach Auftreten der initialen Symp-
  Auch in Deutschland bestehen weiterhin erhebliche       tome.28
  Reservoire ungeschützter Bevölkerungsgruppen in
  allen Altersgruppen. Trotz Pandemie konnte im           Bei bereits geimpften Personen kann die Sympto-
  Vergleich zu vorpandemischen Zeiten in den letzten      matik, zum Beispiel durch ein sekundäres Impfver-
  Jahren eine leichte Verbesserung der Impfquoten         sagen, deutlich abgeschwächt auftreten. Eine abge-
  bei den Kindern verzeichnet werden (siehe unten         schwächte (mitigierte) Symptomatik wird mögli-
  im Abschnitt Impfquoten). Die immer noch zu             cherweise zukünftig aufgrund hoher Impfquoten
  hohe Anfälligkeit der Bevölkerung, insbesondere         zunehmend relevant werden. Besonders bei spora-
  bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, bedeu-         dischen Fällen besteht die Gefahr, dass die Masern
  tet allerdings weiterhin ein Risiko für Masernüber-     nach sekundärem Impfversagen nicht oder zu spät
  tragungen. Die Masernfallzahlen werden mit hoher        erkannt werden. Die aktuelle WHO-Falldefinition,
  Wahrscheinlichkeit nicht auf dem derzeitig niedri-      die auch in Deutschland genutzt wird, fordert die
  gen Niveau bleiben.                                     Symptome des klassischen Krankheitsbildes der
                                                          Masern mit Fieber, einem Exanthem und katarrha-
  Der drastische Rückgang der Masernfallzahlen seit       lischen Symptomen. Ein Verlauf mit abgeschwäch-
  Pandemiebeginn im Jahr 2020 führt möglicherwei-         ten Symptomen nach Impfdurchbruch kann somit
  se hierzulande zu einer sinkenden Aufmerksamkeit        möglicherweise nicht der Falldefinition entspre-
  hinsichtlich des Auftretens der Masern und dazu,        chen. Das führt dazu, dass diese Erkrankungen,
  die Gefahr neuerlicher Masernausbrüche zu unter-        wenn sie als Masern erkannt und gemeldet werden,
  schätzen. Mit dem folgenden Kapitel möchten wir         vom RKI nicht gezählt und damit das Auftreten von
  über aktuelle Erkenntnisse zu den Masern und zur        Masern nach sekundärem Impfversagen unter-
  Surveillance dieses hochansteckenden Erregers in-       schätzt wird. Hier wird es notwendig sein, eine sen-
  formieren.                                              sitivere Falldefinition zu entwickeln,28–30 ein entspre-
                                                          chender Vorschlag wird bereits vom RKI erarbeitet.

  Überblick über weitere Erkenntnisse                     In Ausbruchsuntersuchungen wurde belegt, dass
  zu den Masern und Masernimpfungen                       eine Übertragung der Viren von Personen mit abge-
                                                          schwächter Symptomatik seltener stattfindet und
  Übertragung, Krankheitsbild und Falldefinition          dass diese Fälle epidemiologisch eine untergeord­
  MV werden durch das Einatmen infektiöser Tröpf-         nete Rolle spielen.31–41 Allerdings wurden wiederholt
  chen oder aerogen über Tröpfchenkerne beim Spre-        Transmissionen und nachfolgende Ausbrüche mit
  chen, Husten oder Niesen sowie durch Kontakt mit        Fällen mit einem sekundären Impfversagen insbe-
  infektiösen Nasen- oder Rachensekreten übertra-         sondere in medizinischen Einrichtungen oder Schu­
  gen. MV wurden noch nach 2 Stunden in der Raum-         len beschrieben. Eine Übertragung auf Suszeptible
  luft nachgewiesen, in dem sich eine an Masern er-       ist damit nicht ausgeschlossen, wenn auch auf-
  krankte Person aufgehalten hatte. Ansteckungen          grund der geringeren Viruslast und einer kürzeren
  von Personen, die sich in denselben Räumen aufge-       infektiösen Periode weniger wahrscheinlich. Schwe-
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  re Verläufe der Masern wurden durch die zweifache           gankomplikationen, wie zum Beispiel eine progre-
  Impfung allerdings verhindert.34,37,39,42–44 Hauptsäch-     diente Riesenzellpneumonie oder die Masern-Ein-
  lich gefährden daher Ungeimpfte das Masernelima-            schlusskörper-Enzephalitis (MIBE), zu entwickeln
  tionsziel deutlich mehr als Geimpfte.                       und/oder an den Masern zu versterben.28

  Folgen der MV-Infektion                                     Trotz der sehr erfolgreichen Impfungen stellen die
  MV infizieren Immunzellen und schränken somit               Masern weltweit weiterhin eine häufige Todesursa-
  die Funktion des Immunsystems ein. Die MV-Infek-            che von kleinen Kindern dar. In einkommensstar-
  tion führt zu einer Verminderung des Pools naiver           ken Ländern liegt die Letalität der Masern zwischen
  B-Zellen wie auch zur Elimination vorhandener Ge-           0,01 % und 0,1 %. In einkommensschwachen Län-
  dächtniszellen. Damit kommt es zu einer (erneu-             dern liegt sie durchschnittlich bei etwa 2 %, teilwei-
  ten) Prädisposition für andere Infektionskrankhei-          se jedoch deutlich höher.14,63–65 Im Jahr 2019 starben
  ten, die über Monate bis Jahre anhalten kann und            aufgrund von Masern weltweit rund 207.000 Kin-
  zum Beispiel das Auftreten von Pneumonien,                  der, zumeist im Alter von unter 5 Jahren.66 Nach Ge-
  Durchfällen oder Mittelohrentzündungen begüns-              nesung hinterlässt die Infektion in der Regel eine
  tigt sowie zu einer erhöhten Kindersterblichkeit            lebenslange Immunität.
  führen kann.45 – 49 Diese Immunschwäche erklärt
  möglicherweise, warum bei gegen Masern Geimpf-              Impfstoffe und Impfempfehlung
  ten weltweit auch unspezifische Wirkungen der               Ein Lebendimpfstoff gegen Masern mit abge-
  Impfungen, zum Beispiel eine niedrigere Morbidi-            schwächten (attenuierten) Viren ist seit über 50 Jah-
  tät und Mortalität durch andere Erkrankungen,               ren verfügbar. Bis Mitte der 1970er-Jahre standen in
  ­beobachtet werden.50–53                                    der damaligen Bundesrepublik Deutschland zudem
                                                              Totimpfstoffe gegen Masern zur Verfügung (Fracti-
  In einem von etwa 1.000 Fällen tritt im weiteren            vac [monovalent] oder Quintovirelon [DPT-IPV-M]).
  Verlauf der Infektion eine akute oder eine postinfek-       Diese Impfstoffe induzierten jedoch eine unzurei-
  tiöse Enzephalitis auf.28,54,55 Erstere wird durch eine     chende Immunität, die nicht mit der Wirksamkeit
  direkte Invasion der MV in das zentrale Nervensys-          der heutzutage verwendeten Lebendimpfstoffe ver-
  tem (ZNS) ausgelöst und beginnt etwa 7 Tage nach            gleichbar ist. Zudem führten sie im Falle einer MV-
  Beginn des Masernexanthems.54 Die Postinfektiöse            Infektion zu schweren Verläufen und Pneumonien.
  Enzephalitis oder Akute Disseminierte Enzepha-              Auch eine dreifache Impfung mit einem Masern-
  lomyelitis (ADEM) wird durch Autoimmunprozesse              Totimpfstoff bietet keinen lebenslangen Schutz.
  verursacht und löst eine Demyelinisierung des ZNS           Personen, die ausschließlich mit Masern-Totimpf-
  aus.54,56 – 58 Eine tödlich verlaufende Spätfolge der       stoffen geimpft wurden, gelten als gegen Masern
  Masern ist die Subakute Sklerosierende Panen-               ungeimpft und sollten alle von der Ständigen Impf-
  zephalitits (SSPE). Diese tödliche Erkrankung wird          kommission (STIKO) empfohlenen Impfungen ge-
  nach WHO-Angaben bei 4 – 11/100.000 Masern­                 gen Masern erhalten.
  fällen beobachtet59 und tritt durchschnittlich etwa
  10 Jahre nach einer akuten MV-Infektion auf.59 Jün-         Aktuell empfiehlt die STIKO eine zweimalige Imp-
  gere Kinder und Personen männlichen Geschlechts             fung mit einem Masern-Mumps-Röteln-(MMR-)
  haben ein höheres Risiko, an der SSPE zu erkran-            bzw. MMR-Varizellen-(MMRV-) Kombinationsimpf-
  ken.60,61 Die SSPE ist durch eine persistierende In-        stoff im Alter von 11 bzw. 15 Monaten. Erwachsene,
  fektion mutierter MV gekennzeichnet, die zu einer           die nach 1970 geboren wurden und bisher un-
  Zerstörung der Nervenzellen führt.59 Neuere in vitro-       geimpft sind oder nur eine Impfung in der Kindheit
  Studien legen nahe, dass Mutationen im Fusions-             erhielten oder bei denen der Impfstatus unbekannt
  protein den MV neuroinvasivere Eigenschaften ver-           ist, sollten eine einmalige Impfung mit einem MMR-
  leihen und ihnen erlauben, sich im Hirngewebe               Kombinationsimpfstoff erhalten. Für Erwachsene
  leichter auszubreiten.62 Personen mit einer primä-          mit einem besonders hohen Risiko, mit den Masern
  ren oder sekundären Immundefizienz oder Immun­              in Kontakt zu kommen, gilt die Empfehlung einer
  suppression haben ein hohes Risiko, schwere Or-             zweimaligen Impfung (Indikationsimpfung).
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  Impfstoffsicherheit                                         ­beschrieben.63,69 Die MMR-Impfung ist für Perso-
  Kombinationsimpfstoffe gegen MMR bzw. MMRV                   nen mit bestimmten Erkrankungen des Immunsys-
  wurden seit ihrer Zulassung millionenfach ver-               tems kontraindiziert.
  impft. Häufig werden als Ausdruck einer Auseinan-
  dersetzung des Organismus mit dem Impfstoff                 Der Cochrane Review kam zu der Erkenntnis, dass
  ­Lokalreaktionen an der Injektionsstelle wie Rötung,        das Sicherheits- und Wirksamkeitsprofil der Impf-
   Schwellung und Schmerzen für 1 – 3 Tage beobach-           stoffe die bestehenden bevölkerungsweiten Impf-
   tet.67 Ferner können Allgemeinsymptome wie Kopf-           programme gegen Masern, Mumps und Röteln
   schmerzen, Mattigkeit und Fieber auftreten. Etwa           rechtfertigen.74 Berechnungen mit Daten der Post-
   5 – 15 % der Geimpften zeigen ein 1 – 2 Tage anhalten-     Marketing-Surveillance unter allen Altersgruppen
   des mäßiges bis hohes Fieber zwischen dem 7. und           ergaben, dass unerwünschte Wirkungen der MMR-
   12. Tag nach Impfung. Ein Exanthem kann bei etwa           Impfstoffe (einschließlich der häufig auftretenden
   5 % der Geimpften in der 2. Woche nach der Imp-            Lokal- und Allgemeinreaktionen) bei 31 von 1 Mil­
   fung auftreten. Hierbei handelt es sich um eine            lion Geimpften zu erwarten sind.75 Dies bestätigt
   nicht ansteckende, milde, selbstlimitierende Symp-         eine konstante Analyse der Post-Marketingdaten in
   tomatik, die 1 – 3 Tage andauert. Das Auftreten von        Deutsch­land, die am Paul-Ehrlich-Institut (PEI) ge-
   Fieber und einem Exanthem kann zur Verwechs-               sammelt und analysiert werden. Alle Masernimpf-
   lung mit einer Wildviruserkrankung führen, insbe-          stoffe werden als sicher eingeschätzt.76
   sondere nach Riegelungsimpfungen. Ein früher als
   6 Tage nach Impfung aufgetretenes Exanthem deu-            Impfstoffwirksamkeit
   tet eher auf eine parallel stattgefundene Infektion        Die Masernimpfung induziert eine humorale wie
   mit dem Wildvirus hin. Die oben beschriebenen              auch zelluläre Immunantwort, vergleichbar mit der-
   Symptome treten nach der 2. Impfung seltener               jenigen nach einer natürlichen Infektion.69 Die
   auf.68,69 Eine labordiagnostische Abgrenzung zwi-          Serokonversionsrate nach MCV1 wie auch nach
   schen akuten Masern und einer Impfreaktion kann            MCV2 wurde in einer aktuellen Metaanalyse mit
   durch eine Differenzierungs-PCR erreicht werden,           96 % (95 % Konfidenzintervall [KI] 94,5 – 97,4 %)
   die im NRZ MMR durchgeführt wird.                          angegeben.77 Der Cochrane Review berechnete eine
                                                              klinische Wirksamkeit (effectiveness) der MCV1 von
  Schwere unerwünschte Wirkungen der Impfung                  95 % (95 % KI 89,7 – 98 %). Für MCV2 lag sie bei
  (Thrombozytopenie oder idiopathische thrombo­               96 % (95 % KI 72 – 99 %).74
  zytopenische Purpura oder Fieberkrämpfe) sind sel-
  ten. Es wird kontrovers diskutiert, ob die Masern­          Die Immunantwort nach MCV2 ist abhängig von
  impfung eine Enzephalitis mit einer Inzidenz von            der Immunantwort nach MCV1. Personen, die auf
  etwa 1/1 Million Geimpften auslösen kann.70 – 73 Die        MCV1 nicht angesprochen haben, erzeugen eine
  Autorinnen und Autoren des aktuellen Cochrane               primäre Immunantwort nach MCV2. Bei Personen
  Reviews zur Untersuchung der Wirksamkeit und                mit präexistierenden IgG-Antikörpern wird nach
  ­Sicherheit der MMR-Impfstoffe bei Kindern bis zu           der zweiten Impfung ein kurzfristiger Anstieg der
   einem Alter von 15 Jahren kamen zu dem Schluss,            IgG-Antikörper, seltener jedoch der IgM-Antikörper
   dass die vorliegenden Daten keine Assoziation zwi-         beobachtet.69 Die zweite Impfung stellt somit keine
   schen der MMR-Impfung und einer Enzephalitis               Boosterimpfung dar, sondern dient dem Schluss
   zuließen.74 Es besteht ferner keine Assoziation zwi-       ­einer möglichen Impflücke und sollte möglichst
   schen der Impfung und dem Auftreten von Morbus              zeitnah im Mindestabstand von 4 Wochen nach der
   Crohn, Colitis ulcerosa, Autismus oder aseptischer          ersten Impfung gegeben werden. Während IgM-
   Meningitis. Letzteres bezieht sich auf den vornehm-         und IgA-Antikörper nur vorübergehend im Körper
   lich in Deutschland angewandten Jeryl-Lynn-Stamm            zirkulieren, werden IgG-Antikörper noch Jahre
   der Mumps-Komponente des Kombinationsimpf-                  nach der Impfung nachgewiesen; sie können im
   stoffs.74 Bei Personen mit einer Immunsuppression           Verlauf jedoch unter die Nachweisgrenze sinken.78–82
   wurden nach einer Impfung progressive Verläufe              Die MV-Antikörper sinken um etwa 9 % in 10 Jah-
   mit schweren Komplikationen, wie einer MIBE                 ren,77 die zelluläre Immunität bleibt jedoch beste-
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  hen. Die Auswirkungen dieses Absinkens auf die            hen Anteil bis zum Eintritt in die Schule nachgeholt:
  Immunität gegen Masern (waning immunity) sind             97,2 % der Kinder (Spannweite auf Bundesland­
  unklar.81,82 Ein relevanter Anstieg von geimpften         ebene: 95,3–98,6 %) hatten in den Schuleingangs-
  ­Masernfällen ist in Deutschland bisher nicht aufge-      untersuchungen die 1. Impfdosis und 92,7 % (Spann-
   treten. Es wird weiterhin ein lebenslanger Schutz        weite auf Bundeslandebene: 85,0–95,8 %) auch die
   gegen Masern nach erfolgreicher Impfung mit dem          2. Impfdosis erhalten. In allen untersuchten Bundes-
   Lebendimpfstoff angenommen, auch wenn die                ländern waren jeweils über 95 % der Kinder bis zur
   ­Antikörper gegen MV absinken.69                         Einschulung wenigstens einmal gegen Masern
                                                            geimpft. Für die zweite Impfung werden diese Quo-
  Es gibt keinen Anhalt dafür, dass bestimmte Geno-         ten nach wie vor nur in Brandenburg und Mecklen-
  typen des MV weniger gut von den durch die Imp-           burg-Vorpommern erreicht. Die Impfquote der
  fung induzierten Antikörpern neutralisiert werden         zweiten Impfung stagniert seit Jahren bei einem
  können (Immunevasion).83 – 85 Weltweit erkranken          Wert von etwa 93 % und es bestehen weiterhin er-
  unabhängig vom lokal zirkulierenden Genotyp wei-          hebliche Unterschiede auf Kreis- und Landesebene
  terhin überwiegend Ungeimpfte.86 Es wird ange-            (Spannweite auf Landesebene: 89,9 – 95,8 %).89 Die
  nommen, dass die antigenen Eigenschaften des MV           im Nationalen Aktionsplan 2015 – 2020 zur Elimina-
  nur begrenzt variieren können, da die Fähigkeit, an       tion der Masern/Röteln in Deutschland festgelegten
  den Rezeptor der Wirtszelle zu binden, erhalten           Ziele zu Erreichung einer Impfquote für die alters­
  bleiben muss. Die Masernimpfstoffe sind gegen die         entsprechenden Impfempfehlungen von 95 % bei
  derzeit zirkulierenden Wildviren weiterhin hoch-          15 Monate alten Kindern und Kindern in den Schul­
  wirksam.87,88 Ausbrüche werden verursacht durch           eingangsuntersuchungen wurden nicht erreicht.
  Impflücken, die in Deutschland vor allem bei Ju-
  gendlichen und Erwachsenen bestehen, aber auch in         Impfakzeptanz
  den älteren Bevölkerungsgruppen vorhanden sind.77         Über 90 % der befragten Eltern eines Surveys der
                                                            Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
  Impfquoten                                                (BZgA) aus dem Jahr 2020 schätzten die Masern­
  Aktuelle Daten der Impfsurveillance der Kassenärzt-       impfung für ihre Kinder als besonders wichtig ein.90
  lichen Vereinigungen (KV) am RKI zeigen, dass             Die Gründe, warum sich Eltern fast immer für eine
  deutschlandweit 85,8 % der 15 Monate alten Kinder         erste, weniger jedoch für eine (rechtzeitige) zweite
  des Geburtsjahrgangs 2018 einmalig mit einem              Impfung entscheiden, sind vielfältig. Daten der be-
  MMR-Impfstoff geimpft worden sind (Geburtsjahr-           völkerungsbezogenen Surveys der BZgA zeigen,
  gang 2017: 83,5 %; Spannweite auf Landesebene:            dass diese Gründe weniger in einer grundsätzlich
  77,1 – 90,5 %). 24 Monate alte Kinder des Geburts-        impfkritischen Haltung zu suchen sind; dagegen
  jahrgangs 2018 hatten zu 92,5 % eine erste und zu         spricht auch die hohe Impfquote für die erste MMR-
  75,6 % eine zweite MMR-Impfung zeitgerecht nach           Impfung. Vielmehr werden Impfungen z. B. wegen
  STIKO-Empfehlung erhalten (Geburtsjahrgang                einer Erkrankung des Kindes verschoben und da-
  2017: 89,8 % bzw. 69,9 %; Spannweite auf Landes­          nach vergessen.90 Ferner entscheiden sich anschei-
  ebene: 65,4 – 82,1 % für die MCV2). Eine leichte Ver-     nend Eltern für eine serologische Untersuchung der
  besserung im Vergleich zum Vorjahr konnte höchst-         Maserntiter ihrer Kinder nach der ersten MMR-Imp-
  wahrscheinlich durch das Masernschutzgesetz er-           fung. Dabei berücksichtigen sie jedoch nicht die an-
  zielt werden.89 Dieses trat im März 2020 in Kraft         deren Komponenten der Kombinationsimpfung.
  und sieht eine Nachweispflicht der Masernimpfung          Insbesondere die Mumpskomponente bedarf einer
  oder -immunität unter anderem von Kindern in Ge-          zweifachen Impfung, um eine sichere und mög-
  meinschaftseinrichtungen vor. Die Daten zeigen            lichst langanhaltende Immunität aufzubauen.
  aber auch, dass die Masernimpfung in Deutschland
  weiterhin in vielen Fällen nicht zeitgerecht nach den     Niedrige Impfquoten bei Kleinkindern führen lang-
  Empfehlungen der STIKO erfolgt und die Kinder zu          fristig zu erheblichen Immunitätslücken bei älteren
  lange einen ungenügenden Impfschutz haben. Feh-           Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Auch
  lende Impfungen werden allerdings zu einem ho-            wenn hohe Impfquoten bis 95 % für die zweifache
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  Impfung bei den Kindern erreicht werden, finden           Die diversen Gründe, eine Impfung zu verschieben
  sich weiterhin zu viele Menschen mit einer fehlen-        oder darauf zu verzichten, erfordern vielfältige und
  den Immunität in den höheren Altersgruppen,7,91           zugeschnittene Kommunikations- und Informa­
  bei denen in der Vergangenheit die Impfung verges-        tionsstrategien zur Unterstützung der impfenden
  sen oder nur eine einmalige Impfung in der Kind-          Ärztinnen und Ärzte sowie lokal zugeschnittene Lö-
  heit durchgeführt wurde. Daher werden die Masern          sungen,100,101 wie sie auch in der aktuellen European
  seit einigen Jahren häufiger bei Jugendlichen und         Immunization Agenda 2030 (EIA2030) der Europä-
  jungen Erwachsenen beobachtet. Das könnte dazu            ischen WHO-Region als wichtiger Baustein zur Ver-
  führen, dass im Jahr 2050 auch in der älteren und         besserung der Impfquoten angesehen werden.102
  alten Bevölkerung eine hohe Empfänglichkeit für           Ziel der EIA2030 ist der globale Aufbau stärkerer
  MV-Infektionen vorhanden sein und die Krankheit           und widerstandsfähigerer Impfstrukturen auf den
  auch bei Hochbetagten regelmäßig auftreten könn-          drei Grundpfeilern Impfgerechtigkeit, lebenslange
  te.92 Die Empfehlungen der STIKO, insbesondere            Immunisierung und maßgeschneiderte lokale Lö-
  zur Impfung der nach 1970 geborenen Erwachse-             sungen. Mit den Aktivitäten sollen die Morbidität
  nen, sollten konsequent vermittelt und umgesetzt          und Mortalität impfpräventabler Erkrankungen wei-
  werden. 60 % der nach 1970 geborenen Befragten            ter gesenkt, ein gerechter Zugang aller Menschen
  des im Jahr 2020 durchgeführten Bevölkerungssur-          zu etablierten wie auch neu entwickelten Impfstof-
  veys der BZgA war diese Empfehlung allerdings             fen unabhängig vom Alter, Identität und der geogra-
  nicht bekannt.90                                          fischen Region, in der sie leben, geschaffen sowie
                                                            eine Verbesserung der globalen Gesundheit und
  Importe der Masern                                        eine nachhaltige Entwicklung erreicht werden. Das
  In einer Welt, in der viele Menschen aufgrund von         Erfüllen spezifischer krankheitsbezogener Impfzie-
  humanitären Krisen wie Krieg, politischen Unru-           le spielt eine nachrangige Rolle, wenngleich festge-
  hen, Naturkatastrophen, Hungersnöten oder aus             legt wurde, dass alle Staaten im Jahr 2030 ihre aus-
  wirtschaftlichen Überlegungen ihre Heimat verlas-         gesprochenen Ziele zur Elimination- oder Eradika-
  sen und nach Deutschland kommen, muss Unge­               tion bestimmter impfpräventabler Erkrankungen
  impften oder Personen ohne Impfdokumente sofort           erreicht haben sollen. Darunter fällt auch die Erlan-
  bei ihrer Ankunft u. a. eine Masernimpfung angebo-        gung des Status der Elimination der Masern.102 Die
  ten werden, um sicherzustellen, dass sie eine ausrei-     WHO legt damit die Zielerreichung in die Hände
  chende Immunität entwickeln und geschützt sind.93         der einzelnen Staaten, unabhängig von der Zugehö-
  Masernfälle werden aktuell vereinzelt bei Kindern         rigkeit zu einer Region.
  beobachtet, die aus Afghanistan oder Pakistan nach
  Deutschland kamen. Es konnte jedoch gezeigt wer-
  den, dass weder die hohe Zahl an Asyl­suchenden           Fazit zu den weiteren Erkenntnissen
  und Geflüchteten, die insbesondere 2015/2016 nach         Eine MV-Infektion kann das Immunsystem über
  Europa kamen, noch Touristen für die wieder ange-         viele Monate schwächen und damit, neben den be-
  stiegenen Masernfallzahlen in Europa verantwort-          kannten Komplikationen, zu weiteren Folgeinfek­
  lich waren, sondern die im Land erreichten Impf-          tionen führen, die nicht unbedingt mit den Masern
  quoten die entscheidende Rolle spielen.28,94–96 Sero-     in Verbindung gebracht werden. Aus diesem Grund
  prävalenzdaten aus Italien und Schweden zeigen fer-       werden unspezifische Effekte der sicheren und
  ner, dass Erwachsene, die aus afrikanischen Staaten       wirksamen Impfungen beobachtet.
  oder dem Mittleren Osten einreisten, einen, wenn
  auch immer noch nicht optimalen, aber besseren            Um Fälle und Ausbrüche schnell erkennen, Trans-
  Schutz gegen Masern aufwiesen (rund 88 – 95 %),           missionsketten verfolgen und Immunitätslücken
  als aus Europa Eingereiste (insbesondere Baltikum,        dokumentieren zu können, braucht es weiterhin ein
  Balkan, neue unabhängige Staaten, Russland, weite-        sensitives Surveillance-System. Mit der bestehen-
  re osteuropäische Staaten; 44 – 72 %).97–99               den Falldefinition besteht die Gefahr, dass insbeson-
                                                            dere asymptomatische oder symptomarme Masern
                                                            bei Geimpften nicht sicher erfasst werden und da-
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  mit die Gelegenheit verpasst wird, eine MV-Übertra-           ist die Beobachtung von Impfversagen. Epidemiolo-
  gung durch diese Erkrankten untersuchen zu kön-               gische und NRZ MMR-Daten zeigen bislang keinen
  nen. Ein entsprechender Vorschlag wird bereits                zunehmenden Trend von Impfversagen; dies erfor-
  vom RKI erarbeitet.                                           dert aber weitere Beobachtung.

  Die Anzahl der eingesendeten Proben an das NRZ                Der Nutzen und die Sicherheit von Impfstoffen
  MMR am RKI sollte weiter erhöht werden, um mög-               wurden und werden seit Einführung von Impfun-
  lichst jeden Fall molekulargenetisch charakterisie-           gen in der Bevölkerung breit diskutiert. Eine aktuel-
  ren zu können. Die Verarmung an MV-Genotypen                  le Berichterstattung zu Impfungen, die den Nutzen,
  zieht einen Verlust an Stratifizierungsmöglichkei-            die Sicherheit und die (auch unspezifische) Wirk-
  ten nach sich. Deswegen muss zukünftig zumin-                 samkeit der Impfstoffe gegen Masern hervorhebt,
  dest ein größeres Sequenzfenster, wenn nicht eine             soll das Vertrauen in die Masernimpfungen verbes-
  Ganzgenomsequenz betrachtet werden. Eine Ver-                 sern. Es sollten weiterhin verstärkt Erinnerungssys-
  linkung der molekularen und epidemiologischen                 teme zur Durchführung fälliger Impfungen einge-
  Daten mit Berücksichtigung der Masernexposition               setzt werden, um zu vermeiden, dass Kinder, Ju-
  trägt dazu bei, Transmissionsketten sicherer ein-             gendliche und Erwachsene trotz bestehender Impf­
  schätzen zu können. Ein weiterer wichtiger Punkt              angebote an Masern erkranken.

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  18 Penedos AR, Fernández-García A, Lazar M, Ralh K,
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  19 World Health Organization. UNICEF and WHO
                                                                     measles outbreak, Luxembourg, 2019. Euro surveil-
      warn of perfect storm of conditions for measles
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      int/news/item/27-04-2022-unicef-and-who-warn-of-
                                                                     bulletin. 2021;26(22).
      -perfect-storm--of-conditions-for-measles-outbre-
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                                                                     from an index case with immunologically
Epidemiologisches Bulletin         34 | 2022         25. August 2022                                                  15

      confirmed secondary vaccine failure. Vaccine.               40 Kurata T, Yamamoto SP, Nishimura H, Yumisashi
      2020;38(6):1467-75.                                              T, Motomura K, Kinoshita M. A measles outbreak
                                                                       in Kansai International Airport, Japan, 2016:
  32 Mizumoto K, Kobayashi T, Chowell G. Transmis­
                                                                       Analysis of the quantitative difference and infec­
      sion potential of modified measles during an out-
                                                                       tivity of measles virus between patients who are
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                                                                       immunologically naive versus those with
      bulletin Europeen sur les maladies transmissibles  =
                                                                       secondary vaccine failure. Journal of medical
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  33 Rosen JB, Rota JS, Hickman CJ, Sowers SB, Merca-
                                                                       break of measles among persons with secondary
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      Among Previously Immunized Healthcare
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                                                                       Nosocomial Clustered Cases in a Teenage Psychia-
      in a Highly Vaccinated Population – Israel,
                                                                       tric Unit. The Pediatric infectious disease journal.
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  36 Sanders R, Dabbagh A, Featherstone D. Risk
                                                                       Measles in Previously Vaccinated and Unvaccinated
      analysis for measles reintroduction after global
                                                                       Patients in California. Clinical infectious diseases:
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                                                                  46 Petrova VN, Sawatsky B, Han AX, Laksono BM,
      McGrew M, Williams NJ, et al. Laboratory
                                                                       Walz L, Parker E, et al. Incomplete genetic
      characterization of measles virus infection in
                                                                       reconstitution of B cell pools contributes to
      previously vaccinated and unvaccinated indivi­
                                                                       prolonged immunosuppression after measles.
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  39 Rota JS, Hickman CJ, Sowers SB, Rota PA,
                                                                       MAJ, Weibel D, Mina MJ, et al. Impact and
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                                                                       longevity of measles-associated immune suppres-
      fied measles in vaccinated physicians exposed to
                                                                       sion: a matched cohort study using data from the
      primary measles cases: high risk of infection but
                                                                       THIN general practice database in the UK. BMJ
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                                                                       Girschick H, Stephan V, et al. Specifically Increased
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