Epidemiologisches Bulletin 39 2020 - GPK
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AKTUELLE DATEN UND INFORMATIONEN ZU INFEKTIONSKRANKHEITEN UND PUBLIC HEALTH 39 Epidemiologisches 2020 Bulletin 24. September 2020 Abwägung der Dauer von Quarantäne und Isolierung bei COVID-19; Toleranzen gegenüber bioziden Wirkstoffen
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 2 Inhalt Abwägung der Dauer von Quarantäne und Isolierung bei COVID-19 3 Angesichts weltweit zunehmender Fallzahlen mit SARS-CoV-2 ist die konsequente Einhaltung von Maßnah- men zur Verlangsamung der Ausbreitung erforderlich. Grundlage bildet die AHA+L-Regel. Falls es zu SARS-CoV-2-Infektionen kommt, stehen individuelle Maßnahmen im Vordergrund: eine mindestens 10-tä- gige (Selbst-)Isolierung von Erkrankten und Personen, bei denen eine Virusausscheidung festgestellt worden ist, und die 14-tägige Quarantäne derjenigen, bei denen nach Kontakt zu einer ansteckenden Person die Wahr- scheinlichkeit besteht, dass es zu einer Ansteckung gekommen ist. In der Publikation wird der Unterschied von Quarantäne und Isolierung basierend auf den Grundlagen des Infektionsverlaufs näher erläutert. Erste Ergebnisse aus internen Rechenmodellen des Robert Koch-Instituts verdeutlichen, wie sich das Restrisiko ei- ner Infektion Dritter in Abhängigkeit von der Quarantänedauer mit oder ohne abschließende Testung verhält. Bedeutung und Häufigkeit von Toleranzen gegenüber bioziden Wirkstoffen in Antiseptika und Desinfektionsmitteln 12 Infektionserreger, die nosokomiale Infektionen verursachen, können gegenüber bioziden Wirkstoffen in An- tiseptika und Desinfektionsmitteln unempfindlicher werden. In dieser Literaturstudie wird am Beispiel von Chlorhexidindigluconat gezeigt, dass bei 20 von 78 untersuchten Bakterien eine starke Erhöhung der Toleranz ausgelöst werden kann. Außerdem werden Empfehlungen für Wirkstoffe zur Hautantiseptik und Wundanti- septik, in alkoholischen Händedesinfektionsmitteln und zur Flächendesinfektion gegeben. Hinweis auf Veröffentlichung: Zoonotische Bedeutung von MRE (ZooM): FAQs an der Schnittstelle von Veterinär-/Humanmedizin 20 Aktuelle Statistik meldepflichtiger Infektionskrankheiten 21 Hinweis in eigener Sache: Stellenausschreibung 24 Impressum Herausgeber Allgmeine Hinweise/Nachdruck Robert Koch-Institut Die Ausgaben ab 1996 stehen im Internet zur Verfügung: Nordufer 20, 13353 Berlin www.rki.de/epidbull Telefon 030 18754 – 0 Inhalte externer Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise Redaktion die Meinung des Robert Koch-Instituts wider. Dr. med. Jamela Seedat Telefon: 030 18754 – 23 24 Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons E-Mail: SeedatJ@rki.de Namensnennung 4.0 International Lizenz. Nadja Harendt (Redaktionsassistenz) Telefon: 030 18754 – 24 55 Claudia Paape, Judith Petschelt (Vertretung) E-Mail: EpiBull@rki.de ISSN 2569-5266 Das Robert Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 3 Abwägung der Dauer von Quarantäne und Isolierung bei COVID-19 Einleitung Maßnahmenlockerungen können positive Effekte Angesichts weltweit zunehmender Fallzahlen und erzielen wie etwa Kosteneinsparungen und Akzep- wieder ansteigender Ansteckungszahlen mit SARS- tanzerhöhungen. Sie können aber auch mit einer CoV-2 auch in Deutschland ist die konsequente Ein- Erhöhung des Ansteckungsrisikos für Dritte einher- haltung von empfohlenen Maßnahmen zur Verlang- gehen, falls sich zum Beispiel in Folge einer Verkür- samung der Ausbreitung des Virus in der gesamten zung der Quarantäne- oder Isolierungsdauer ver- Bevölkerung weiterhin erforderlich. Grundlage hier- mehrt Personen im öffentlichen Raum bewegen, für bleiben das Abstandhalten, die Einhaltung der die eine mögliche Ansteckungsquelle darstellen. Hygienemaßnahmen, das Einhalten von Husten- und Niesregeln, das Tragen von Mund-Nasen- Im Folgenden wird der Unterschied von Quarantäne Bedeckung/Alltagsmaske in bestimmten Situatio- und Isolierung basierend auf den Grundlagen des nen sowie eine gute Belüftung beim Aufenthalt in Infektionsverlaufs näher erläutert. Erste Ergebnisse geschlossenen Räumen (AHA+L-Regel). aus internen Rechenmodellen des Robert Koch- Instituts (RKI) verdeutlichen, wie sich das Restrisi- Falls es zu einer SARS-CoV-2-Infektion gekommen ko einer Infektion Dritter in Abhängigkeit von der ist, stehen individuelle Maßnahmen im Vorder- Quarantänedauer mit oder ohne abschließende Tes- grund: Nach aktuellen Empfehlungen sind dies die tung verhält. rasche, mindestens 10-tägige (Selbst-)Isolierung von Erkrankten und Personen, bei denen eine Virusaus- Diese Erkenntnisse können als eine Entscheidungs- scheidung festgestellt worden ist, und die 14-tägige grundlage in den politischen Abwägungsprozess Quarantäne derjenigen, bei denen nach Kontakt zu von Infektionsschutzmaßnahmen gegenüber ande- einer ansteckenden Person die Wahrscheinlichkeit ren berechtigten sozialen, gesellschaftlichen und besteht, dass es zu einer Ansteckung gekommen ist wirtschaftlichen Aspekten in der Pandemiebekämp- (Kontaktpersonen Kategorie I). Isolierung und Qua- fung einbezogen werden. rantäne haben beide im Infektionsschutzgesetz (§ 30 IfSG) ihre gesetzliche Grundlage und werden dort unter dem gemeinsamen Überbegriff der „Ab- Unterscheidung von Quarantäne sonderung“ geführt. Sie unterscheiden sich jedoch und Isolierung grundlegend im Ansatz und in der Zielstellung. Der Begriff der Quarantäne bezieht sich auf die zeit- weilige Absonderung symptomfreier Personen, bei Empfehlungen zur Dauer der Quarantäne und Iso- denen eine Ansteckung wahrscheinlich ist, da sie in lierung erfolgen in Anpassung an den jeweils aktu- Kontakt mit einer ansteckenden Person(en) waren ellen Wissensstand, der sich angesichts der Neuar- (Exposition). tigkeit von SARS-CoV-2 und der Dynamik des welt- weiten Ausbruchsgeschehens kontinuierlich verän- Während der Quarantäne wird die Entwicklung von dert. Die Flexibilität, auf eine sich verändernde Krankheitszeichen mit dem Ziel der frühzeitigen Erkenntnislage mit Anpassungen zu reagieren, ist Erkennung einer Infektion von Kontaktpersonen unverzichtbar. Trotz noch nie dagewesener Fokussie- überwacht und das Risiko einer unbemerkten Über- rung der globalen Forschungsbemühungen auf ein tragung auf ein Minimum reduziert. Spätestens Ausbruchsgeschehen, bleiben jedoch viele Wissens- beim Auftreten von Krankheitszeichen erfolgt in der lücken und Unsicherheiten bestehen. Damit einher Regel eine Laboruntersuchung. Weist diese auf eine geht ein unvermeidbares Restrisiko, dessen akzepta- Ansteckung hin, schließt sich direkt eine Isolierung ble Höhe stets neu abgewogen werden muss. an die Quarantäne an (siehe Abb. 1).
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 4 Inkubationszeit Quarantäne von symptomfreien Exponierten 14 Tage Exposition Isolierung von Erkrankten/Infizierten 10 Tage Symptombeginn bzw. Erregernachweis Infektiöse Periode Abb. 1 | Die Quarantäne von Personen, die Kontakt mit einer infizierten Person hatten und selber keine Krankheitssymptome zeigen, und die Isolierung von Erkrankten/nachweisbar Infizierten, sind zwei unterschiedliche Formen der Absonderung. Die Dauer der Quarantäne richtet sich nach der Inkubationszeit, der Periode zwischen Aufnahme des Infektionserregers und dem Auftreten erster Krankheitssymptome. Die Dauer der Isolierung orientiert sich an der infektiösen Periode, d.h. der Phase der Ansteckungsfähigkeit. Die zeitliche Überlappung von Inkubationszeit und infektiöser Periode ist bedingt durch die bereits vor Auftreten der ersten Krankheitssymptome einsetzende Ansteckungsfähigkeit (Erläuterung siehe unter „Grundlagen des Infektionsverlaufs“). Inkubationszeit = Zeit zwischen der Ansteckung und den ersten Symptomen. Exponierte = Personen, die Kontakt mit einer infizierten Person hatten. Bei der Isolierung handelt es sich um die Absonde- Im Fall von SARS-CoV-2 überlappen sich beide In- rung von kranken oder nachweisbar infizierten Per- fektionsphasen durch die bereits vor Auftreten der sonen (siehe Abb. 1). Durch die Isolierung soll ver- ersten Krankheitssymptome einsetzende Anste- hindert werden, dass eine infizierte Person in der ckungsfähigkeit (siehe Abb. 1). Zeit, in der sie den Erreger ausscheidet und anste- ckend ist, Kontakt zu anderen Personen hat und die- Verlauf der Virusausscheidung se ansteckt. Nach Infektion eines neuen Wirts/Menschen ver- mehrt sich SARS-CoV-2 zunächst in den Epithelzel- Beide Formen der Absonderung, sowohl die Qua- len der oberen Atemwege (Deckschicht der Atem- rantäne als auch die Isolierung, haben das gemein- wegsschleimhaut), so dass es zu einem Anstieg der same Ziel, eine Weiterverbreitung des Infektionser- Viruslast und zur Ausscheidung infektiöser Viren in regers zu verhindern. den oberen Atemwegen kommt. Dies geschieht be- reits vor dem Auftreten erster Krankheitssymptome in der sogenannten präsymptomatischen Phase. Grundlagen des Infektionsverlaufs Zum besseren Verständnis der Konzepte von Qua- Sobald die Viruslast die Nachweisgrenze des einge- rantäne und Isolierung ist es hilfreich, sich den bis- setzten diagnostischen Untersuchungsverfahrens her bekannten Infektionsverlauf anhand von zwei überschritten hat, kann das Vorliegen der Infektion in diesem Zusammenhang entscheidenden Infek- labordiagnostisch festgestellt werden, auch wenn tionsphasen zu veranschaulichen: die/der Betroffene noch symptomfrei ist. Je emp- findlicher das eingesetzte diagnostische Untersu- ▶ Die Inkubationszeit als Periode zwischen der chungsverfahren ist, desto frühzeitiger lässt sich Aufnahme des Infektionserregers (Ansteckung) eine SARS-CoV-2-Infektion erkennen. und dem Auftreten der ersten Krankheitssymp- tome bildet die Grundlage für die Dauer der Die Viruslast in den oberen Atemwegen nimmt zu, Quarantäne. bis sie einen maximalen Wert erreicht. Die derzeiti- ▶ Die infektiöse Periode als Phase der Anste- ge Studienlage deutet darauf hin, dass dieser maxi- ckungsfähigkeit bildet die Grundlage für die male Wert zeitlich in etwa mit dem Auftreten erster Dauer der Isolierung. Krankheitssymptome zusammenfällt. 1– 4 Anschlie-
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 5 ßend erfolgt ein kontinuierlicher Abfall der Virus- schen Allgemeinsymptome zurückzuführen, die last in den Sekreten der oberen Atemwege. von den Probanden teilweise nicht als Krankheits- beginn erkannt und berichtet werden. Zudem ist Im Gegensatz dazu erreicht die Viruslast in den der Symptombeginn in verschiedenen Studien unteren Atemwegen ihren Spitzenwert mitunter nicht einheitlich – oder gar nicht – definiert. Im später und fällt generell langsamer ab. Dementspre- Hinblick auf symptomatisch Infizierte können die chend weist eine virologische Diagnostik unter Ver- ermittelten Übertragungsraten auch dadurch beein- wendung von Probenmaterialien der unteren Atem- flusst werden, dass beim Auftreten erster Sympto- wege, wie z. B. Sputum (Hustenauswurf), oftmals me Isolierungsmaßnahmen erfolgen und dement- länger positive Untersuchungsergebnisse auf als sprechend die Ansteckungsrate sinkt. beispielsweise Abstriche der oberen Atemwege. 2. Virologische Studien: Ob jemand ansteckend ist, Inkubationszeit kann näherungsweise im Anschluss an einen mole- Zur Bestimmung der Inkubationszeit einer Infek- kularbiologischen Virusnachweis untersucht wer- tionskrankheit müssen der Zeitpunkt der Aufnah- den, indem versucht wird, die Viren unter Laborbe- me des Erregers und der Zeitpunkt des Auftretens dingungen aus dem Probenmaterial des Patienten von ersten Krankheitssymptomen bekannt sein. anzuzüchten. Der Anzuchterfolg gilt als verläss- Diese Zeitpunkte definieren Beginn und Ende der lichster Hinweis auf eine Ansteckungsfähigkeit und Inkubationszeit. variiert u. a. in Abhängigkeit von der Viruslast und der Qualität der Probennahme (z. B. Abnahmesys- Für SARS-CoV-2 wurden entsprechende Daten in tem und Transportzeit). Bei präsymptomatischen mehreren Studien analysiert: Der Median der Inku- Personen wurde über eine erfolgreiche Virusan- bationszeit liegt zwischen 5 und 6 Tagen, d. h. nach zucht bis 6 bzw. seltener 10 Tage vor Symptombe- diesem Zeitraum haben 50 % der Infizierten Symp- ginn berichtet ,13,14 was auf die Möglichkeit auch tome entwickelt. 5 –11 In verschiedenen Studien wurde frühzeitiger präsymptomatischer Übertragungen berechnet, zu welchem Zeitpunkt 95 % der Infizier- hinweist (siehe aber auch Erläuterung zur unschar- ten Symptome entwickelt hatten. Das 95. Perzentil fen Definition des Symptombeginns unter obigem der Inkubationszeit lag bei 10 – 14 Tagen. Bei einem Punkt 1). Innerhalb der ersten Woche nach kleinen Teil der Infizierten tritt der Erkrankungsbe- Symptombeginn sinkt die Anzuchtwahrscheinlich- ginn erst nach Abschluss von 14 Tagen auf. 6 –12 keit deutlich ab. 4,14 Sofern eine milde bzw. moderate Erkrankung besteht, gilt die erfolgreiche Anzucht Infektiöse Periode später als 10 Tage nach Symptombeginn als unwahr- Die Erkenntnisse zum zeitlichen Verlauf der infek- scheinlich.4,13,15,16 Schwer erkrankte Patienten stellen tiösen Periode (Zeitdauer der Ansteckungsfähig- eine Ausnahme von dieser Regel dar mit erfolgrei- keit) von mit SARS-CoV-2 infizierten Personen ba- cher Virusanzucht bis maximal 20 Tage nach Sym- sieren auf zwei Arten von Untersuchungen: ptombeginn,17 ebenso wie immungeschwächte Per- sonen und wenige Einzelfälle.18,19 1. Epidemiologische (Kontaktnachverfolgungs-) Stu- dien: Durch Untersuchung von Übertragungsereig- Im Gegensatz zu replikationsfähigem Virus ist die nissen zwischen Kontaktpersonen wurde gezeigt, RNA von SARS-CoV-2 bei vielen Patienten noch dass viele SARS-CoV-2-Übertragungen präsympto- Wochen nach Symptombeginn mittels PCR-Unter- matisch erfolgen, also durch Personen, die noch kei- suchung nachweisbar.20 Dass diese positiven ne Symptome zeigen. Beispielsweise demonstrier- PCR-Ergebnisse bei genesenen Patienten nicht mit ten He et al., dass präsymptomatische Übertragun- Ansteckungsfähigkeit gleichzusetzen ist, wurde in gen für einen Großteil (44 %) von SARS-CoV-2-Über- mehreren Analysen gezeigt, bei denen parallel zur tragungen verantwortlich sind, wobei nur 9 % der PCR-Untersuchung eine Anzucht von SARS-CoV-2 Übertragungen mehr als 3 Tage vor Symptombe- in der Zellkultur durchgeführt wurde 4,13,15,16 (siehe ginn erfolgen.1,2 Unterschiedliche Studienergebnis- Abb. 2). se in diesem Kontext sind u. a. auf die unspezifi-
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 6 Infektion Symptombeginn Inkubation Erkrankung RT-PCR Virusanzucht –7 0 +7 Abb. 2 | Orientierende Veranschaulichung des Zeitverlaufs klinischer, virologischer und diagnostischer Parameter bei einer SARS-CoV-2-Infektion entsprechend derzeitigem Wissensstand. Die Infektionsverläufe können sich von Fall zu Fall, z. B. in Abhängigkeit von Vorerkrankungen, relevant unterscheiden. Der Median der Inkubationszeit liegt bei 5 – 6 Tagen, das 95. Perzentil bei 10 –14 Tagen. Angaben zur Virusanzucht beziehen sich auf Sekrete der oberen Atemwege von mild bzw. moderat erkrankten Menschen mit normalem Immunstatus.4,13,14,16 Unter anderen Bedingungen, wie z. B. bei schwerer Erkrankung, ist eine erfolgreiche Virusanzucht bis zu 20 Tage nach Symptombeginn beschrieben.17–19 RT-PCR = Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion. Abwägung der Dauer von Quarantäne zierten beträgt die Inkubationszeit, also die Zeit bis und Isolierung zum Auftreten erster Krankheitssymptome, weni- ger als 14 Tage (95. Perzentil: 10– 14 Tage). Quarantänedauer Die aktuelle Empfehlung des RKI sieht vor, dass Eine Übertragung durch infizierte Personen, die nie sich Personen, die engen Kontakt zu einer mit Symptome entwickeln und dennoch Viren ausschei- SARS-CoV-2 infizierten Person hatten, für 14 Tage den, spielt nach derzeitigem Kenntnisstand eine un- in Quarantäne begeben. Gerechnet wird ab dem tergeordnete Rolle. letzten Tag, an dem Kontakt zu einer ansteckenden Person bestand. Die aktuelle Empfehlung einer 14-tägigen Quarantä- ne steht im Einklang mit den gültigen Empfehlun- Hintergrund ist, dass ein relevanter Anteil der An- gen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), des steckungen schon vor dem Auftreten von Krank- Europäischen Zentrums für die Prävention und die heitssymptomen stattfindet. Die Quarantäne dient Kontrolle von Krankheiten (ECDC), des US Centers somit in erster Linie der Verhinderung einer unbe- for Disease Control and Prevention (US CDC) und merkten Übertragung von SARS-CoV-2 durch infi- der Mehrzahl europäischer und asiatischer Länder. zierte Kontaktpersonen in der präsymptomatischen Phase. Wenn es zu einer Erkrankung einer soge- Verkürzung der Quarantänedauer nannten „ansteckungsverdächtigen“ Person kommt, Eine zeitliche Verkürzung der Quarantänedauer wird durch die Einhaltung der Quarantäne der Kreis geht grundsätzlich mit einem größeren Risiko der möglicherweise exponierter Kontaktpersonen auf Ansteckung weiterer Personen einher. ein Minimum reduziert, wodurch eine effiziente Unterbrechung der Infektionskette möglich wird Bei Verkürzung der Quarantäne erhöht sich der An- (siehe Abb. 3). teil von Personen, die erst nach Abschluss der Qua- rantäne erkranken oder beginnen, Virus auszu- Die Dauer der Quarantäne richtet sich dabei nach scheiden, und somit zur Ansteckungsquelle für an- der Inkubationszeit: Bei einem Großteil der Infi- dere Personen werden können.
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 7 Ohne Quarantäne A C Ansteckungsfähige Person Kontaktpersonen Fall Generierung von mit Virusausscheidung vielen neuen Fällen kurz vor Symptombeginn Mit Quarantäne B D Ansteckungsfähige Person Kontaktpersonen Fall Generierung von wenigen mit Virusausscheidung kurz oder keinen neuen Fällen vor Symptombeginn Abb. 3 | Veranschaulichung des Grundprinzips der Quarantäne: Die Reduktion der Anzahl an Kontaktpersonen insbesondere in der präsymptomatischen Phase mit Virusausscheidung vor Symptombeginn (Vergleich A ohne Quarantäne und B mit Quaran- täne) führt zu einer Reduktion der Infektionsübertragungen (Vergleich C ohne Quarantäne und D mit Quarantäne). Rechenbasierte RKI-interne Modellierungen, wel- Würde keine abschließende PCR-Untersuchung che kontinuierlich auf Basis der dynamischen Da- nach 10-tägiger Quarantäne erfolgen, so wäre das tenlage weiterentwickelt werden, deuten auf Fol- Risiko des Auftretens von Fällen nach Quaran- gendes hin: Eine PCR-Untersuchung vor Qua- täneabschluss in etwa dreimal höher als bei 14-tägi- rantäneende könnte durch Erkennung prä- bzw. ger Quarantäne ohne Untersuchung. Bei einer Ver- asymptomatischer Virusausscheidung die derzeiti- kürzung auf 5 Tage mit abschließender PCR-Unter- ge Quarantänedauer von 14 Tagen verkürzen. Eine suchung ist das Risiko im Mittel mindestens drei- wesentliche Voraussetzung hierfür wären eine aus- mal höher als bei 14-tägiger Quarantäne ohne reichende Untersuchungskapazität und die zeitna- PCR-Untersuchung. he Verfügbarkeit des Untersuchungsergebnisses. Rechnerisch kommen bei einer kombinierten Stra- Unter den für die Modellierungen gemachten An- tegie aus Quarantäne und PCR-Untersuchung fol- nahmen ist der Anteil der Fälle, der nach Quarantä- gende beide Mechanismen erst ab Tag 10 hinrei- neabschluss ansteckungsfähig ist und somit zu chend zum Tragen: möglichen Neuansteckungen führen könnte, nach 10 Tagen mit abschließender PCR-Untersuchung in a) Infektionsverlauf: Je weiter die Quarantäne- etwa äquivalent zu dem Anteil nach 14 Tagen ohne dauer – und damit der mögliche Infektionsverlauf – Untersuchung. Das heißt, dass es unter den Perso- zeitlich voranschreitet, desto höher wird die Wahr- nen mit negativem PCR-Untersuchungsergebnis scheinlichkeit, dass die infizierten Personen bis nach 10 Tagen ebenso viele ansteckende Personen dahin Symptome entwickeln und einer Isolierung gibt wie nach 14 Tagen ohne PCR-Untersuchung. zugeführt werden.
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 8 b) Sensitivität der Laboruntersuchung: Je weiter die logischem Alter und Immunstatus, die sich alle – Quarantänedauer zeitlich voranschreitet, desto hö- ebenso wie die Ansteckungsfähigkeit selbst – schwer her ist die Wahrscheinlichkeit eines Virusnachwei- berechnen lassen. ses bei Infizierten und entsprechend aussagekräfti- ger ist ein negatives Untersuchungsergebnis (siehe Grundsätzlich hängt die Ansteckungsfähigkeit von Abb. 2, RT-PCR). Somit können infizierte, aber der Menge replikationsfähiger Viruspartikel in über- (noch) symptomfreie Personen mit positivem Un- tragungsrelevanten Ausscheidungen ab. tersuchungsergebnis einer Isolierung zugeführt werden, bis sie nicht mehr ansteckungsfähig sind, Aussagekraft unterschiedlicher während Personen mit negativem Untersuchungs- Virusnachweisverfahren ergebnis ggf. vor Ablauf der 14 Tage aus der Qua- Als Goldstandard der Virusdiagnostik kann die rantäne entlassen werden könnten. PCR-Untersuchung mit hoher Präzision und nie- drigen Nachweisgrenzen für genomische SARS- Zu beachten ist dabei, dass jede Verkürzung der CoV-2-RNA in klinischen Proben gelten. Der Nach- Quarantänedauer mit einer Zunahme der Unsicher- weis des SARS-CoV-2-Genoms stellt allerdings kei- heiten in der Daten- und Rechengrundlage einher- nen unmittelbaren Beleg der Ansteckungsfähigkeit geht. Diese beruhen auf Unterschieden im Infekti- eines Patienten dar, da nicht jedes Genom repräsen- onsverlauf zwischen Personen: Bei einer kürzeren tativ für ein infektiöses Viruspartikel ist. In-vitro- Quarantänedauer, beispielsweise von nur 5 Tagen, Daten weisen auf ein Verhältnis von 10 : 1 bis 100 : 1 ist die Unsicherheit darüber, bei wie vielen Perso- zwischen genomischer RNA und infektiösen Virus- nen durchschnittlich bereits Symptome erwartet partikeln hin. werden, maximal (siehe Punkt a). Bei kombinierten Quarantäne- und Teststrategien kommt zudem In klinischen Proben können infektiöse Virusparti- noch die Testsensitivität hinzu. Zum Beispiel ist die kel durch Virusvermehrung in der Zellkultur nach- Nachweisbarkeit des Virus bei stark verkürzter Qua- gewiesen werden. Der Erfolg einer Anzucht ist ab- rantäne schlecht (siehe Punkt b). Beide Unsicher- hängig von der Virusmenge. Die Anzüchtbarkeit heiten steigen also mit zunehmender Verkürzung des Virus aus Probenmaterial der Atemwege gilt als der Quarantänedauer und potenzieren sich gegen- gegenwärtig beste Näherung für die Einschätzung seitig. einer Ansteckungsfähigkeit. Der Nachweis von Viruswachstum in Zellkultur ist methodisch jedoch aufwendig, dauert mehrere Tage und erfordert für Isolierungsdauer SARS-CoV-2 in Deutschland ein Labor der biologi- Die aktuelle Empfehlung des RKI zur Isolierungs- schen Sicherheitsstufe 3. dauer sieht ein differenziertes Vorgehen je nach Krankheitsschwere vor. Bei leichten (bzw. asympto- Es konnte beobachtet werden, dass bei Patienten matischen) Verläufen werden mindestens 10 Tage ohne bekannte Immunsuppression noch Wochen ab Symptombeginn (bzw. Erreger-Erstnachweis) bei nach Symptombeginn geringe Mengen Virusge- mindestens 48 Stunden Symptomfreiheit empfoh- nom in Proben aus den Atemwegen nachweisbar len. Bei schweren Verläufen und geriatrischen Fäl- sind. Bisherige Studien deuten darauf hin, dass die- len in Altenpflegeeinrichtungen wird zusätzlich zu se in der Regel geringen Genomlasten (unter den genannten zeitlichen Kriterien eine PCR-Unter- Berücksichtigung von analytischen und präanaly- suchung inkl. möglicher Ct-Wertbestimmung gefor- tischen Details Ct-Werte > 30 entsprechend 250 Ge- dert (s. Text-Box); immungeschwächte Personen er- nomkopien/ml RNA-Eluat, siehe separate Text-Box) fordern eine Einzelfallbeurteilung. nicht mit einer Anzüchtbarkeit von SARS-CoV-2 in Zellkultur korrelieren. Die Ursache für diese vergleichsweise komplexe Re- gelung zur Isolierungsdauer liegt in der Abhängig- Darüber hinaus gibt es Überlegungen, bei Verfüg- keit der Dauer der Ansteckungsfähigkeit von unter- barkeit geeigneter Tests, Antigen-Nachweisverfah- schiedlichen Faktoren wie Krankheitsschwere, bio- ren zu verwenden, um die Ansteckungsfähigkeit auf
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 9 einfachem Wege abzuschätzen. Antigen-Nachweis- ist dies jedoch auch nicht unbedingt nötig. Bei be- verfahren weisen Virus-Proteine durch eine Anti- stätigter Korrelation zwischen einem negativen Er- gen-Antikörperreaktion nach, wobei ein eingesetz- gebnis im Antigen-Nachweis und fehlender Anste- ter Antikörper eine Farb- oder Fluoreszenzreaktion ckungsfähigkeit bzw. Anzüchtbarkeit des Virus auslöst. Dieses Verfahren umfasst in der Regel kei- könnte sich dieses Verfahren daher für bestimmte nen Vervielfältigungsschritt, wodurch es deutlich Einsatzgebiete zu einer einfachen, schnell durch- weniger empfindlich ist und für positive Reaktionen führbaren Untersuchung entwickeln. Dabei ist zu höhere Viruskonzentrationen erforderlich sind. berücksichtigen, dass die sachgerechte Bewertung Eine Quantifizierung ist bei vielen dieser Tests nicht der Ergebnisse Kenntnisse über die Möglichkeiten möglich (Ja-/Nein-Reaktion). Zielt die Untersu- und Grenzen des Verfahrens erfordert. chung auf den Nachweis höherer Virusmengen ab, Interpretation von Ct-Werten Die real-time PCR ist dazu geeignet, semi-quantita- RNA-Extraktion ausgeschüttelt wird. Die Beteili- tive Aussagen zu treffen. Je mehr SARS-CoV-2 gung an Ringversuchen ermöglicht die Kontrolle RNA in einer Probe enthalten ist, desto weniger der in einem Labor erzielten Ergebnisse und den PCR-Zyklen müssen erfolgen, damit das während Bezug auf Standards. der PCR erzeugte Fluoreszenzsignal die Schwelle Bei niedrigen Genomlasten (d. h. hohen Ct-Werten) der Detektierbarkeit überschreitet. Den Zyklus, bei ist es ohne weitere Kenntnisse zu den Umständen dem das Fluoreszenzsignal detektiert wird, nennt der Probennahme nicht möglich eine Aussage man Ct-Wert (Cycle threshold) oder Cq-Wert (Cycle darüber zu treffen, ob sich der Patient in der frühen quantification). Obwohl bei verschiedenen real-time Phase des Infektionsgeschehens befindet und an PCR-Untersuchungsverfahren eine definierte den folgenden Tagen höhere Virusmengen produ- Menge SARS-CoV-2-Genom sehr gut vergleichbare Ct-Werte ergeben sollte, können Schwankungen zieren könnte. Für die Beurteilung müssen folglich durch unterschiedliche Protokolle der Probenauf- weitere Kriterien, wie z. B. eine bekannte Exposition arbeitung und durch die Verwendung unterschied- bzw. die klinische Symptomatik, herangezogen und licher Reagenzien und PCR-Zykler entstehen. Auch ggf. wiederholte Verlaufsproben untersucht werden. die Qualität des Untersuchungsmaterials ist zu Da bei niedrigen Genomlasten die Varianz bei der berücksichtigen. real-time PCR zunehmen kann, sind exakte quantitative Aussagen schwierig zu treffen. Eine besondere Rolle spielt die sachgerechte Bewertung der Ct-Werte. Es ist zu beachten, dass Soll die quantitative PCR dazu verwendet werden, verschiedene Faktoren auf die Quantifizierung eine mögliche Ansteckungsfähigkeit eines mittels real-time PCR Einfluss nehmen. Dazu SARS-CoV-2-infizierten Patienten abzuschätzen, zählen bei der SARS-CoV-2-Diagnostik die Qualität erfordert es ferner die Korrelation der nachgewiese- der Probennahme (Ist ausreichend Material an den nen Genomanzahl mit der Anzahl replikations- Tupfer gelangt, um einen Virusnachweis zu kompetenter Viruspartikel, bzw. der Wahrschein- ermöglichen?), die Anwesenheit von PCR-Inhibito- lichkeit, mit der aus derselben Probe SARS-CoV-2 ren (Werden die Ct-Werte fälschlicherweise zu in der Zellkultur anzüchtbar ist. Dies kann durch höheren Werten verschoben?) und die Bezugsgrö- systematische Vergleiche der Genomlasten und der ße (Auf welche Menge klinischer Probe wird der Anzüchtbarkeit der Viren aus derselben klinischen Ct-Wert bezogen?). Die beiden ersten Fragen Probe in Zellkultur abgeschätzt werden. Die in der können durch die Verwendung geeigneter Kontrol- Literatur kursierenden Daten deuten auf eine len beantwortet werden. Als Bezugsgröße quantita- minimal erforderliche Genomlast von 106 bis 107 tiver Angaben wird häufig das Volumen an Genome/ml Probe hin, damit die Virusanzucht Flüssigkeit angegeben, in dem der Tupfer vor der gelingen kann.
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 10 Verkürzung der Isolierungsdauer Fazit Nach RKI-internen Modellierungen und im Ein- Die positiven Effekte einer Verkürzung der Qua- klang mit veröffentlichten Daten,14 ist bei leichten rantäne- oder Isolierungsdauer von derzeit 14 bzw. Verläufen die größte Abnahme der Ansteckungs- 10 Tagen gehen mit einem erhöhten Risiko auf indi- fähigkeit zwischen Tag 5 und 10 nach Symptombe- vidueller und Bevölkerungsebene einher. ginn zu beobachten. Eine Verkürzung der Isolie- rungsdauer auf weniger als 10 Tage würde daher im Unter der Zielstellung keiner Erhöhung des Rest- Umkehrschluss mit einer entsprechend großen Ri- risikos, ist eine Verkürzung der Quarantänedauer sikozunahme einhergehen. Nach Tag 10 besteht da- mit abschließender PCR-Untersuchung möglich, gegen nur in vereinzelten Fällen eine länger anhal- das Potenzial der Verkürzung allerdings auf wenige tende Ausscheidung infektiöser Viruspartikel. Tage begrenzt. Eine Quarantänedauer von unter 10 Tagen geht trotz abschließender PCR-Testung Bei schweren Verläufen und älteren Personen kön- mit einem höheren Restrisiko einher. Die Ergän- nen infektiöse Viruspartikel durchaus länger ausge- zung einer labordiagnostischen Verlaufsuntersu- schieden werden. Deshalb ist hier teils eine längere chung zum möglichen Ausgleich dieser Risikoerhö- Isolierungsdauer nötig und es empfiehlt sich eine hung erzeugt darüber hinaus zusätzliche Kosten, PCR-Untersuchung als zusätzliches diagnostisches benötigt Zeit und ist logistisch aufwendig. Kriterium vor Beendigung der Isolierung. Die Abwägung dieser Faktoren gegenüber den an- Die Hinzunahme von virologischen Parametern deren berechtigten sozialen, gesellschaftlichen und (z. B. PCR-Untersuchungen inkl. Ct-Wertbestim- wirtschaftlichen Aspekten einer Verkürzung von mung zur quantitativen Bewertung der Viruslast Quarantäne- und Isolierungsdauer ist Gegenstand oder alternativ Antigen-Nachweise bei hinreichender politischer Entscheidungsprozesse. Sensitivität, siehe oben) für die Verkürzung der Iso- lierungsdauer auf vereinzelt weniger als 10 Tage, wird als Option derzeit diskutiert, muss aber die genann- ten Grundlagen der Bewertung berücksichtigen. Literatur 1 He, X., et al., Author Correction: Temporal dyna- Wuhan, China, 20– 28 January 2020. Euro Surveill, mics in viral shedding and transmissibility of 2020. 25(5). COVID-19. Nat Med, 2020. 26(9): p. 1491 – 1493. 6 Lauer, S. A., et al., The Incubation Period of Corona- 2 He, X., et al., Temporal dynamics in viral shedding virus Disease 2019 (COVID-19) From Publicly and transmissibility of COVID-19. Nat Med, 2020. Reported Confirmed Cases: Estimation and Appli- 26(5): p. 672 –675. cation. Ann Intern Med, 2020. 172(9): p. 577 – 582. 3 Munster, V. J., et al., Respiratory disease in rhesus 7 Li, Q., et al., Early Transmission Dynamics in macaques inoculated with SARS-CoV-2. Nature, Wuhan, China, of Novel Coronavirus-Infected 2020. 585(7824): p. 268 – 272. Pneumonia. N Engl J Med, 2020. 382(13): p. 1199 – 1207. 4 Wolfel, R., et al., Virological assessment of hospi- talized patients with COVID-2019. Nature, 2020. 8 McAloon, C., et al., Incubation period of COVID-19: 581(7809): p. 465– 469. a rapid systematic review and meta-analysis of observational research. BMJ Open, 2020. 10(8): 5 Backer, J. A., D. Klinkenberg, and J. Wallinga, p. e039652. Incubation period of 2019 novel coronavirus (2019-nCoV) infections among travellers from
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 11 9 Qin, J., et al., Estimation of incubation period distri- Autorinnen und Autoren bution of COVID-19 using disease onset forward a) Dr. Max von Kleist | b) Dr. Bettina Ruehe | c) Dr. Djin-Ye time: A novel cross-sectional and forward follow-up Oh | b) Prof. Dr. Andreas Nitsche | d) Prof. Dr. Walter study. Sci Adv, 2020. 6(33): p. eabc1202. Haas | d) Dr. Anna Stoliaroff-Pépin | d) Dr. Tim Eckmanns | d) 10 Wei, X., et al., Transmission of corona virus disease Dr. Muna Abu Sin | a) Wiep van der Toorn | e) Dr. Mirjam 2019 during the incubation period may lead to a Jenny | c) Prof. Dr. Martin Mielke | b) Dr. Christian Herzog | quarantine loophole. medRxiv, 2020. Prof. Dr. Lothar H. Wieler 11 Yang, L., et al., Estimation of incubation period and Robert Koch-Institut: serial interval of COVID-19: analysis of 178 cases a) Methodenentwicklung und Forschungsinfrastruktur and 131 transmission chains in Hubei province, b) Zentrum für Biologische Gefahren und spezielle China. Epidemiol Infect, 2020. 148: p. e117. Pathogene 12 Linton, N. M., et al., Incubation Period and Other c) Abteilung für Infektionskrankheiten Epidemiological Characteristics of 2019 Novel d) Abteilung für Infektionsepidemiologie Coronavirus Infections with Right Truncation: e) Projektgruppe A Statistical Analysis of Publicly Available Case Data. J Clin Med, 2020. 9(2). Ansprechpartner: KleistM@rki.de 13 Arons, M. M., et al., Presymptomatic SARS-CoV-2 Infections and Transmission in a Skilled Nursing Empfohlene Zitierweise Facility. N Engl J Med, 2020. 382(22): p. 2081 – 2090. Kleist M, Ruehe B, Oh DY, Nitsche A, Haas W, Stoliaroff-Pépin A, Eckmanns T, Abu Sin M, van der 14 Singanayagam, A., et al., Duration of infectiousness Toorn W, Jenny M, Mielke M, Herzog C, Wieler LH: and correlation with RT-PCR cycle threshold values Abwägung der Dauer von Quarantäne und Isolierung in cases of COVID-19, England, January to May bei COVID-19 2020. Euro Surveill, 2020. 25(32). Epid Bull 2020;39:3 –11 | DOI 10.25646/7140 15 Bullard, J., et al., Predicting infectious SARS-CoV-2 from diagnostic samples. Clin Infect Dis, 2020. (Dieser Artikel ist online vorab am 23.9.2020 erschienen.) 16 Covid-Investigation Team, Clinical and virologic characteristics of the first 12 patients with corona- Interessenkonflikt virus disease 2019 (COVID-19) in the United States. Die Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Nat Med, 2020. 26(6): p. 861 – 868. Interessenkonflikt besteht. 17 van Kampen, J. J. A., et al., Shedding of infectious virus in hospitalized patients with coronavirus disease-2019 (COVID-19): duration and key deter- minants. medRxiv, 2020. 18 National Centre for Infectious Diseases and Chapter of Infectious Disease Physicians / Academy of Medicine in Singapore, Position State- ment: Period of Infectivity to Inform Strategies for De-isolation for COVID-19 Patients. 2020. 19 Liu, W. D., et al., Prolonged virus shedding even after seroconversion in a patient with COVID-19. J Infect, 2020. 81(2): p. 318 – 356. 20 Zheng, S., et al., Viral load dynamics and disease severity in patients infected with SARS-CoV-2 in Zhejiang province, China, January-March 2020: retro- spective cohort study. BMJ, 2020. 369: p. m1443.
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 12 Bedeutung und Häufigkeit von Toleranzen gegenüber bioziden Wirkstoffen in Antiseptika und Desinfektionsmitteln Zusammenfassung haushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) Infektionserreger, die nosokomiale Infektionen ver- sowie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für ursachen, können auch gegenüber ausgewählten die ambulante und stationäre Patientenversorgung bioziden Wirkstoffen in Antiseptika und Desinfek- ausdrücklich empfohlen.2 – 5 Zur Antiseptik der Haut, tionsmitteln unempfindlicher werden. In dieser Lite- Wunden oder Schleimhäute sowie zur Desinfektion raturstudie wird am Beispiel von Chlorhexidin- der Hände, Flächen bzw. Instrumente werden in der digluconat (CHG) gezeigt, dass bei 20 von bisher 78 Regel Produkte eingesetzt, die einen oder mehrere untersuchten Bakterienspezies (25,6 %) eine starke biozide Wirkstoffe sowie Hilfsstoffe enthalten, um Erhöhung der Toleranz ausgelöst werden kann die gewünschte antimikrobielle Wirkung unter An- (MHK-Anstieg: > 4-fach). Sie war am stärksten bei wendungsbedingungen zu erzielen. Escherichia coli (MHK-Anstieg: bis zu 500-fach er- höht) oder Serratia marcescens (MHK-Anstieg: bis zu Bei Produkten auf Basis mehrerer Wirkstoffe wird 128-fach erhöht). Gegenüber Ethanol, n-Propanol, in den letzten Jahren zunehmend darauf geachtet, Isopropanol, Povidon-Iod (PVP-Iod), Natriumhypo- ob für einen bestimmten Wirkstoff wie beispielswei- chlorit, Peressigsäure, Wasserstoffperoxid und Glu- se Chlorhexidindigluconat (CHG) ein Patienten- taraldehyd wurde bislang keine relevante und stabile nutzen tatsächlich wissenschaftlich belegt ist (z. B. Toleranzentwicklung beschrieben. Reduktion der Katheter-assoziierten Sepsis nach Haut- antiseptik oder Reduktion postoperativer Wundinfek- Um den Selektionsdruck zu reduzieren, sollten zur tionen nach chirurgischer Händedesinfektion) bzw. Hautantiseptik nur Produkte auf Basis von Alkohol welche Risiken mit seiner Anwendung verknüpft mit Zusatz eines nachweislich wirksamen zusätzli- sein können. Beispielhaft sei hier die 2016 in den chen Wirkstoffs verwendet werden, für den in der USA getroffene Entscheidung der Food and Drug verwendeten Konzentration ein Patientennutzen in Administration (FDA) zum Verbot von Triclosan der Literatur beschrieben ist, z. B. CHG (niedrigere und 18 weiteren bioziden Wirkstoffen für antimik- Raten an Wundinfektionen bzw. Sepsis). Zur Wund- robielle Waschlotionen im häuslichen Umfeld ge- antiseptik weisen Wasserstoffperoxid, Natriumhypo- nannt, die international große Beachtung fand.6 chlorit sowie PVP-Iod das niedrigste Potenzial zur Einerseits konnten die Hersteller keinen Beleg für Toleranzbildung auf. Bei alkoholischen Händedesin- die Wirksamkeit von Triclosan und den anderen fektionsmitteln sollte auf den Zusatz weiterer biozi- Wirkstoffen im Sinne eines Gesundheitsnutzens der Wirkstoffe bewusst verzichtet werden. Im Hin- vorweisen, der im Vergleich zu einfachen Wasch- blick auf eine mögliche Toleranzbildung sind Präpa- lotionen ohne antimikrobielle Zusätze zu einer Re- rate zur Flächendesinfektion auf Basis von Peroxiden duktion von Infektionen führt. Andererseits war bei bzw. Natriumhypochlorit (große Flächen) oder Alko- Triclosan bekannt, dass die Substanz Antibiotika- holen (kleine Flächen) vorteilhaft. resistenzen auslösen und hormonähnliche Effekte haben kann. Deshalb wurde für die Substanzen in antimikrobiellen Waschlotionen eine insgesamt Hintergrund negative Nutzen-Risiko-Bewertung ermittelt.7 Der Nutzen der indikationsgerechten Antiseptik und Desinfektion zur Prävention nosokomialer In- Bakterien können gegenüber bioziden Wirkstoffen fektionen ist unbestritten. In der Regel umfasst die- in Antiseptika oder Desinfektionsmitteln toleranter ser Nutzen auch die Prävention der Übertragung werden (z. B. CHG), aber parallel dazu auch gegen- multiresistenter Erreger (MRE).1 Die gezielte Hän- über anderen bioziden Wirkstoffen sowie Antibiotika de- bzw. Flächendesinfektion sowie Hautantiseptik (Kreuztoleranz bzw. -resistenz).8 Dabei wird unter wird deshalb von der Kommission für Kranken- „Toleranz“ eine allgemeine Abnahme der Empfind-
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 13 lichkeit gegenüber einem bioziden Wirkstoff ver- dieser bioziden Wirkstoffe zur Antiseptik bzw. Des- standen.9 Von einer epidemiologischen Resistenz infektion tatsächlich ein Nutzen für den Patienten wird gesprochen, wenn bei eingipfeliger Häufig- belegt ist. In der Folge wird bewertet, wie der Selek- keitsverteilung der minimalen Hemmkonzentratio- tionsdruck durch eine achtsamere Auswahl von nen (MHK) ein Isolat gegenüber dem bioziden Wirk- Antiseptika bzw. Desinfektionsmitteln reduziert stoff weniger empfindlich ist als 99,9 % der Isolate werden kann, ohne deren Wirksamkeit zu beein- der gleichen Spezies.10 Bei einer zweigipfeligen trächtigen. Häufigkeitsverteilung gelten diejenigen Isolate als resistent, die oberhalb der MHK zwischen beiden Gipfeln liegen.10 Von einer klinisch relevanten „Re- Methode sistenz“ spricht man, wenn die für diese Spezies Die Arbeit basiert auf einer selektiven Literaturre- erwartete Wirkung (z. B. Reduktion um mindestens cherche in den Datenbanken Pubmed und Science- 5 log10-Stufen) gegenüber dem Isolat nicht mehr er- Direct mit den Suchbegriffen „ethanol“, „n-propanol“, reicht wird, so dass in der Folge die zu Recht erwar- „iso-propanol“, „benzalkoniumchloride“, „DDAC“, tete Desinfektionswirkung ggf. nicht vollumfäng- „hydrogen peroxide“, „peracetic acid“, „polihexanid“, lich eintritt.11 „glutaraldehyde“, „octenidin“, „triclosan“, „sodium hypochlorite“, „silver“, „resistance“, tolerance“, „adap- Ein Beispiel für bakterielle Toleranzbildung sei hier tive response“, „efflux pump“ und „horizontal gene genannt. Vor 5 Jahren wurden in Deutschland zahl- transfer“ für relevante Originalarbeiten im Zeit- reiche Tuchspendersysteme für Flächendesinfekti- raum zwischen 1990 und 2018. Darüber hinaus onsmittel identifiziert, in denen eine bakterielle Kon- wurden einzelne ältere Veröffentlichungen, Lehr- tamination der Anwendungslösung (meist 0,5 %, bücher sowie Übersichtsarbeiten berücksichtigt. Einwirkzeit 1 h) nachgewiesen wurde. Von insge- samt 66 untersuchten Tuchspendern mit Produk- ten auf Basis oberflächenaktiver biozider Wirkstoffe Ergebnisse (z. B. Benzalkoniumchlorid bzw. Glucoprotamin) Insgesamt wurde die Literatur für 15 biozide Wirk- waren 28 (42,4 %) mit Achromobacter spp. oder stoffe ausgewertet: n-Propanol, Isopropanol, Etha- Serratia marcescens kontaminiert, meist hochgradig nol, Povidon-Iod (PVP-Iod), Natriumhypochlorit, mit 107 Bakterien pro ml. Anwendungslösungen auf Peressigsäure, Wasserstoffperoxid, Glutaraldehyd, Basis von Alkoholen bzw. Aldehyden wiesen keine Benzalkoniumchlorid, CHG, Silber, Octenidindi- bakterielle Kontamination auf. Die Isolate hatten hydrochlorid, Triclosan, Polihexanid und Didecyl- sich so gut an manche biozide Wirkstoffe angepasst, dimethylammoniumchlorid (DDAC). Beispielhaft dass sie kaum noch durch das Desinfektionsmittel werden hier die Ergebnisse für CHG dargestellt, da abgetötet wurden bzw. dass sie sogar in der Lage dieser Wirkstoff für verschiedene Produktarten ver- waren, sich in der Anwendungslösung bei Raumtem- wendet wird (z. B. Hautantiseptika, Händedesinfek- peratur zu vermehren.12 Es wurde sogar vermutet, tionsmittel bzw. antiseptische Mundspüllösungen). dass in der Neurochirurgie eine Infektion bei einem Schließlich wird ein Überblick über die Ergebnisse Patienten durch die kontaminierte Flächendesinfek- der 15 bioziden Wirkstoffe gegeben. tionslösung ausgelöst wurde, da das Tuchspender- und das Patientenisolat aus dem Liquor die gleiche Beispiel Chlorhexidindigluconat klonale Zugehörigkeit aufwiesen.13 CHG wird seit 1954 als antimikrobiell wirksame Substanz eingesetzt.14 In der Patientenversorgung An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Anpassungs- findet der Wirkstoff Anwendung in antimikrobiellen fähigkeit der Bakterien offenbar von der Art des bio- Waschlotionen (z. B. 4 % CHG zur Dekolonisation ziden Wirkstoffs abhängt. Deshalb stellt sich die der Haut bei MRE oder zur hygienischen Händewa- Frage, welche bioziden Wirkstoffe aus Desinfek- schung), in Hautantiseptika (z. B. 0,5 % oder 2 % tionsmitteln und Antiseptika vermehrt Toleranzen CHG in Kombination mit Alkohol), in Händedesin- einschließlich Antibiotikaresistenzen bei Bakterien fektionsmitteln (z. B. 0,5 % – 1 % in Kombination mit auslösen können und für welche Anwendungen Alkohol) oder auch in Schleimhaut- bzw. Wund-
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 14 antiseptika (z. B. 0,05 % – 0,2 % CHG).15 Für einige von 500 mg/l), S. marcescens (bis zu 128-fach toleran- klinisch relevante Spezies wurden bereits MHKs zur ter; MHK von 2.048 mg/l), Pseudomonas aeruginosa Feststellung einer epidemiologischen CHG-Resis- (bis zu 32-fach toleranter; MHK von 1.024 mg/l) und tenz vorgeschlagen (s. Tab. 1). K. pneumoniae gefunden (bis zu 16-fach toleranter; MHK von 512 mg/l). Insbesondere Gram-negative Spezies können ihre Empfindlichkeit gegenüber MHK zur Feststellung einer Spezies epidemiologischen CHG-Resistenz CHG stark anpassen. Kreuztoleranzen wurden nach Staphylococcus aureus 8 mg/l Exposition gegenüber CHG auch gegenüber ande- Candida albicans, ren Wirkstoffen aus Desinfektionsmitteln beschrie- Enterobacter spp. 16 mg/l ben: eine 6-fach – 100-fach erhöhte Toleranz gegen- Enterococcus faecium 32 mg/l über Triclosan bei insgesamt 12 Bakterienspezies Enterococcus faecalis, Escherichia coli, und eine 4-fach – 100-fach erhöhte Toleranz gegen- Klebsiella pneumoniae 64 mg/l über Benzalkoniumchlorid (u. a. bei Enterobacter cloacae und Klebsiella oxytoca).23 Tab. 1 | Vorgeschlagene minimale Hemmkonzentrationen (MHK) zur Bestimmung einer epidemiologischen Resistenz gegenüber Chlorhexidingluconat (CHG).10 Mechanismen der Wirkstofftoleranz Die erhöhte Toleranz gegenüber CHG wird teilwei- se durch Resistenzgene wie das qacA/B erklärt.24 Es Die Mehrzahl der klinischen Isolate ist auf Basis findet sich vor allem in Isolaten von Methicillin- dieser Cut-Off-Werte als CHG-empfindlich einzu- resistenten S. aureus (MRSA), seltener in Isolaten stufen,16 doch wurden in der Literatur Isolate oder von Methicillin-sensiblen S. aureus (MSSA).15 Diese Stämme auch mit deutlich erhöhter Toleranz be- Resistenzgene finden sich teilweise auf Plasmiden, schrieben: für Staphylococcus aureus mit einer MHK so dass ihre Weitergabe an andere Bakterienspezies bis zu 2.500 mg/l17, für Candida albicans bis zu vergleichsweise einfach ist.25 Verschiedene Efflux- 4.140 mg/l18, für Enterobacter spp. bis zu 1.000 mg/l19, pumpen wurden im Kontext mit einer Toleranz für Enterococcus faecium bis zu 10.000 mg/l 20, für gegenüber CHG in Spezies wie K. pneumoniae, Enterococcus faecalis bis zu 2.500 mg/l21, für Escherichia P. aeruginosa, S. marcescens bzw. Acinetobacter coli bis zu 312 mg/l 17 und für Klebsiella pneumoniae baumannii beschrieben.9 mit einer MHK bis zu 10.000 mg/l22. Antibiotikaresistenzen Mikrobielle Anpassungsfähigkeit an In Laborversuchen können durch CHG vereinzelt Chlorhexidindigluconat neue Antibiotikaresistenzen entstehen, z. B. bei Bis 2018 lagen für insgesamt 78 Bakterienspezies E. cloacae (Cefotaxime, Ceftazidime, Imipenem, Sulpha- Daten in der Literatur vor, aus denen abgeleitet methoxazol, Tetracyclin), K. pneumoniae (Colistin), werden kann, ob bzw. wie die Exposition gegenüber E. faecalis (Ceftazidime, Imipenem) sowie E. faecium CHG-Konzentrationen unterhalb der MHK eine phä- (Imipenem, Tetracyclin, Ampicillin, Cefotaxime, notypische zelluläre Veränderung der CHG-Tole- Ceftazidime).23, 26 Diese Antibiotikaresistenz wird ranz auslösen kann. Bei Isolaten bzw. Stämmen von unter anderem mit Resistenzgenen wie qacA/B bzw. 33 Spezies wurde keine Veränderung der Empfind- smr oder Multiresistenz-Plasmiden erklärt.27, 28 lichkeit festgestellt (42,3 %), bei 25 Spezies kam es zu einer geringen Erhöhung der CHG-Toleranz Ein weiterer Effekt von CHG unterhalb der MHK ist (MHK-Anstieg: maximal 4-fach; 32,1 %), und bei die mehr als 10-fach erhöhte Vancomycin-Resistenz- 20 Spezies zu einer starken Erhöhung der CHG- Genexpression (vanHAX) bei einem vanA E. faecium.29 Toleranz (MHK-Anstieg: > 4-fach; 25,6 %). Von die- Mit E. coli wurde unter Laborbedingungen nachge- sen wiesen 8 Spezies eine stabile Veränderung auf, wiesen, dass der horizontale Gentransfer (Sulfon- d. h. dass die Toleranz nach Beendigung des Selek- amidresistenz durch Konjugation) durch CHG sig- tionsdrucks durch CHG erhalten blieb. Die stärkste nifikant erhöht werden kann.30 Toleranzbildung wurde bei klinisch relevanten Iso- laten wie E. coli (bis zu 500-fach toleranter; MHK
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 15 Überblick zur mikrobiellen Anpassungs- deshalb besonders darauf zu achten, dass ein Patien- fähigkeit an biozide Wirkstoffe tennutzen (Reduktion von Infektionen) nachgewie- Die Anpassungsfähigkeit der verschiedenen Bakte- sen werden kann, wenn sie zusätzlich zu einem rienspezies gegenüber Wirkstoffkonzentrationen Hauptwirkstoff wie Alkoholen in Antiseptika bzw. unterhalb der MHK wurde gegenüber 15 häufig ein- Desinfektionsmitteln eingesetzt werden. Gegenüber gesetzten bioziden Wirkstoffen unterschiedlich aus- den meisten bioziden Wirkstoffen passen sich vor- sagekräftig in der gesichteten Literatur untersucht. wiegend Gram-negative Spezies stark und stabil an, Gegenüber Ethanol, n-Propanol, Isopropanol, PVP- lediglich bei Polihexanid fanden sich vorwiegend Iod, Natriumhypochlorit, Peressigsäure, Wasser- Gram-positive Spezies wie E. faecalis und S. aureus stoffperoxid und Glutaraldehyd wurde bislang ge- mit einer starken und stabilen Toleranzbildung. Die genüber keiner Bakterienspezies eine starke und Anpassungsfähigkeit gegenüber Silber hängt prak- stabile Toleranzentwicklung durch Exposition ge- tisch immer vom Vorhandensein der verschiedenen genüber dem jeweiligen Wirkstoff beschrieben. Bei Silberresistenzgene in einer Bakterienzelle ab (SilA, 7 weiteren Wirkstoffen jedoch konnte in unter- SilE, SilP oder SilS), die sich besonders häufig bei schiedlicher Häufigkeit eine starke und stabile Tole- E. cloacae, K. oxytoca sowie K. pneumoniae finden ranz gegenüber dem untersuchten bioziden Wirk- lassen.31 stoff ausgelöst werden (s. Tab. 2). Dabei liegen die meisten Daten für Triclosan (90 Spezies), Benzal- koniumchlorid und CHG vor (jeweils 78 Spezies). Diskussion Eine starke und stabile Erhöhung der Toleranz zeig- Die Antiseptik und Desinfektion sind wichtige Ele- te sich nach Exposition gegenüber dem Wirkstoff mente, auch um die Übertragung Antibiotika-resis- bei 17,9 % der Spezies mit Benzalkoniumchlorid, tenter Bakterien in der Patientenversorgung zu bei 14,4 % der Spezies mit Triclosan und bei 10,3 % verhindern. Deshalb ist die Wirksamkeit dieser Pro- der Spezies mit CHG. Besonders bedenklich ist da- dukte durch die Auswahl geeigneter Wirk- und Hilfs- bei, dass hier Spezies mit hoher klinischer Relevanz stoffe sicherzustellen. Da für einige biozide Wirk- zu finden sind (s. Tab. 2). Für diese Wirkstoffe ist stoffe, die in Antiseptika bzw. Desinfektionsmitteln Relativer Anteil der Isolate bzw. Stämme einer Spezies mit einer Beispiele von Spezies mit Wirkstoff Anzahl untersuchter Spezies starken und stabilen Toleranzbildung klinischer Relevanz Triclosan 90 14,4 % A. baumannii E. coli K. pneumoniae S. aureus Benzalkoniumchlorid 78 17,9 % A. baumannii E. coli P. aeruginosa S. aureus Chlorhexidindigluconat 78 10,3 % E. coli K. pneumoniae P. aeruginosa S. marcescens S. aureus S. maltophilia Polihexanid 55 3,6 % E. faecalis S. aureus DDAC 49 2 % P. aeruginosa Silber 20 20 % E. cloacae E. coli K. pneumoniae K. oxytoca Octenidindihydrochlorid 3 33 % P. aeruginosa Tab. 2 | Relative Häufigkeit von Isolaten bzw. Stämmen von Bakterienspezies, die mit einer starken und stabilen Toleranzbildung gegenüber dem bioziden Wirkstoff reagieren.9
Epidemiologisches Bulletin 39 | 2020 24. September 2020 16 verwendet werden, eine Toleranzbildung gegenüber für CHG in Alkohol zur Prävention Katheter-asso- dem Wirkstoff bzw. sogar eine Resistenzbildung ge- ziierter Septikämien belegt.36 Für Octenidindihydro- genüber Antibiotika beschrieben wurde, ist eine kri- chlorid (0,1 %) ist ein Patientennutzen zur Prävention tische Betrachtung von Wirkstoffkombinationen Katheter-assoziierter Septikämien wahrscheinlich.37, 38 sinnvoll. Denn ein biozider Wirkstoff, der bei Bak- Zur Prävention postoperativer Wundinfektionen lie- terienspezies mit großer klinischer Relevanz starke gen für Octenidindihydrochlorid bislang keine Er- und stabile Toleranzen auslösen kann, jedoch keinen kenntnisse vor. Ein alkoholisches Hautantiseptikum wesentlichen Beitrag zur Wirksamkeit leistet bzw. mit Benzalkoniumchlorid zeigt keine nennenswerte keinen Nutzen für den Patienten aufweist, ist ver- antimikrobielle Wirkung auf der Haut im Sinne ei- zichtbar. Deshalb ist es wünschenswert, dass das Po- ner remanenten Wirkung.38 Ein Patientennutzen ist tenzial der Toleranzentwicklung durch einzelne für das niedrig dosierte Benzalkoniumchlorid nicht Wirkstoffe bei der Zulassung von Antiseptika und nachgewiesen, die Nutzen-Risiko-Bewertung ist Desinfektionsmitteln zukünftig stärker berücksich- nach heutigem Erkenntnisstand für diesen bioziden tigt wird. Für die Zulassung neuer Produkte zur An- Wirkstoff in einem alkoholischen Hautantiseptikum tiseptik bzw. Desinfektion auf Basis mehrerer bio- somit negativ. zider Wirkstoffe kann das bedeuten, für jeden der Wirkstoffe eine eigene Wirksamkeit innerhalb der Die Empfehlungen der KRINKO lassen Interpreta- Formulierung zu belegen (vehicle control), d. h. die tionsspielraum bezüglich der Auswahl zusätzlicher Wirksamkeit des Produkts wird vergleichend mit Wirkstoffe in Hautantiseptika zu. So werden die zu- bzw. ohne diesen Wirkstoff untersucht. Auf diese sätzlichen Wirkstoffe Octenidindihydrochlorid und Weise kann für jeden einzelnen Wirkstoff ein we- CHG bei der Anlage eines peripheren Venenkathe- sentlicher Beitrag zur Wirksamkeit in einer Formu- ters (PVK) optional empfohlen, bei der Pflege des lierung nachgewiesen werden. Idealerweise sollte PVK jedoch definitiv empfohlen, allerdings ohne darüber hinaus ein Patientennutzen für einen zu- Konzentrationsangaben.5 Bei der Anlage eines zen- sätzlichen Wirkstoff zu erwarten sein (Literaturnach- tralen Venenkatheters (ZVK) werden alkoholische weis) bzw. in neuen Studien nachgewiesen sein. Produkte mit 2 % CHG oder 0,1 % Octenidindihy- drochlorid empfohlen, bei der ZVK-Pflege werden Antiseptic stewardship in der klinischen Praxis beide Substanzen empfohlen, jedoch ohne Konzen- Analog zu Antibiotic stewardship kann beim Anti- trationsangabe.5 Für die Hautantiseptik vor Opera- septic stewardship durch eine bewusste Auswahl bio- tionen findet sich keine klare Empfehlung für diese zider Wirkstoffe zur Antiseptik bzw. Desinfektion der zusätzlichen Wirkstoffe, lediglich die Feststellung, tägliche Selektionsdruck im patientennahen Um- dass ihr Zusatz eine Wirkung hat.4 Eine pragmati- feld ohne Einbußen bei der antimikrobiellen Wirk- sche Lösung könnte die Anwendung eines alkoho- samkeit gesenkt werden.8 Dazu einige Beispiele: lischen Hautantiseptikums mit 2 % CHG vor Ope- rationen sein, da hier ein Patientennutzen belegt ist Hautantiseptika und die Anwendung pro Patient nur selten wieder- Die folgenden bioziden Wirkstoffe können zusätz- holt wird (geringerer kumulativer Selektionsdruck). lich zum Alkohol in Hautantiseptika vorhanden Für die Anlage oder Pflege von Gefäßkathetern könn- sein: CHG, Octenidindihydrochlorid, PVP-Iod oder te alternativ die Anwendung eines alkoholischen Haut- Benzalkoniumchlorid. Das Risiko der starken und antiseptikums mit 0,1 % Octenidindihydrochlorid in stabilen Toleranzbildung ist besonders bei Benzalko- Betracht gezogen werden, da hier ein Patientennutzen niumchlorid und CHG hoch. Für Octenidindihy- tendenziell belegt ist und die Anwendung pro Patient drochlorid und PVP-Iod liegen bislang nur wenige durchaus öfter durchgeführt wird (höherer kumula- Daten vor. Ein Patientennutzen wurde für 2 % CHG tiver Selektionsdruck). Alkoholische Hautantiseptika, in 70 % Isopropanol zur Hautantiseptik vor Opera- die niedrig dosiertes Benzalkoniumchlorid enthal- tionen belegt (signifikant weniger postoperative ten, sollten wegen der möglichen Toleranzbildung Wundinfektionen), weshalb diese Kombination von gegenüber Benzalkoniumchlorid nicht routinemä- der WHO empfohlen wird.32 – 35 Ein Nutzen ist auch ßig verwendet werden.
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