Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
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U1_U2_U3_U4_EK_03_2011:EZK Cover 11.02.2011 15:00 Uhr Seite 1 03 | 2011 März | 4,90 € erziehungskunst Waldorfpädagogik heute Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife Das Paradies in der Krise Das Kind im Blick
U1_U2_U3_U4_EK_03_2011:EZK Cover 11.02.2011 14:21 Uhr Seite 2 2 INHALT 4 C. Wiechert: Die Kunst, Kinder zu betrachten 5 Was ist eine Kinderbesprechung? Im Gespräch mit Anna Seydel 8 K. Hadamovsky: Was braucht eine gute Kinderbesprechung? 12 C. Buschmann: Der Blick des Schularztes auf das Kind 15 D. Heidtmann u. R. Schmitt: Entwicklung im Dialog 17 K. Heinz: Handwerkzeug im Hortalltag 21 C. Lehmann: Ich sehe was, was du nicht siehst … 23 24 27 28 B. Kahn: Körperdominanz und Schulreife 28 32 A. Heinz: Mit Krummen und Geraden auf der Überholspur 32 36 U. Hallaschka: Polyglott und voll geerdet – Bruno Sandkühler 36 40 A. Zuleger: Das Paradies in der Krise 40 P. Leise: Aus Nichtstuern werden Umgestalter 43 B. Schiller: Kasperle macht Mut zum Leben 44 R. Zbinden: »The armed Man« – eine Messe für den Frieden 47 49 Stockholmsyndrom und Nächstenliebe. Mit dem Rapper Edgar Wasser im Gespräch 49 52 L. Grünewald, E. Riesterer u. T. Singer-Carpenter: Bologna statt Waldorf 52 54 L. Ravagli: Kräutergeist und Ideenflug 54 56 58 60 63 Titelfoto: Charlotte Fischer 66 90 erziehungskunst März | 2011
03_04_05_06_07_08_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:23 Uhr Seite 3 EDITORIAL 3 Schafft PISA ab Liebe Leserin, lieber Leser, wer hätte das gedacht: Wir sind wieder wer! Zumindest im oberen Mittelfeld liegt Deutschland nach den neuesten PISA-Ergebnissen in Sachen Lesekompetenz und Rechnen. Natürlich müssen die Schulen noch ordentlich nachlegen. Denn nach wie vor werden wir von den asiatischen Tigermama-Staaten zu Ent- wicklungsländern degradiert, was regelmäßige bildungspolitische Depressionen auslöst. Was machen wir nur falsch? Auch hierzulande trimmen wir doch schon die Dreijährigen in den Kindergärten, der Nach- hilfemarkt boomt durch alle Klassenstufen – das Abitur ist bei den meisten ohne nicht mehr denkbar – und Punktsysteme prägen die studentische Lernmotivation an den Hochschulen. Ist es, weil wir in unserem Bildungssystem Druck und Drill öffentlich ablehnen, aber dennoch durch subtilere Formen anwenden? Sind wir nicht genauso weit entfernt von einer kindgerechten Lernkultur wie die PISA- Gewinner? Sollte man dann nicht lieber Farbe bekennen und sagen: Ja, auf die Noten, auf die Credit Points kommt es an, und die entscheiden über deine Berufs- und Lebenschancen. Oder stimmt an PISA etwas nicht, weil es genauso schief hängt wie der Turm? Nicht nur, dass man den Zahlen-Päpsten blinden Glauben schenkt: Die Auftraggeber sind nicht die vereinigten europäischen Kinderschutzvereine, sondern Wirtschaftsunternehmen, und die verfolgen ihre eigenen Interessen: Wie lässt sich Bildung rechnen? Was springt am Ende einer langen – aus ihrer Sicht viel zu langen – Bildungszeit heraus? Und springt ihnen nicht der Staat zur Seite, der an möglichst vielen, möglichst jungen Rentenzahlern interessiert ist? Es scheint, dass die PISA-Empirie an einem wesentlichen Punkt vorbei geht: Dass es zwar Bildungssysteme gibt, die exzellente Ergebnisse aus den Schülern heraustreiben, aber gleichzeitig die angeborene Lernfreude der Kinder, je höher sie auf der Stufenleiter der Auslese steigen, korrumpieren und in humankapitalistische Portfolios pressen. Die Konsequenz wäre, sich nicht PISA, sondern PISA an ein Bildungswesen anzu- passen, das ein menschliches Antlitz besitzt – oder PISA gänzlich abzuschaffen. ‹› Aus der Redaktion grüßt Mathias Maurer 2011 | März erziehungskunst
03_04_05_06_07_08_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:23 Uhr Seite 4 »Deine Kinder sind nicht deine Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst ... Du kannst versuchen, ihnen gleich zu sein, aber suche nicht, sie dir gleich zu machen.« Kahlil Gibran (1883–1931), syrisch-amerikanischer Dichter und Maler Foto: Wolfgang Schmidt
03_04_05_06_07_08_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:23 Uhr Seite 5 THEMA KINDERBETRACHTUNG 5 Die Kunst, Kinder zu betrachten von Christof Wiechert Kann man die Kunst der Kinder- oder Schülerbetrachtung lernen? Darauf gibt es zwei Antworten: Ja und Nein. Ja, denn der Mensch kann alles lernen. Nein, denn man hat nie ausgelernt. Sobald man meint, man kann es, ist man in einer riskanten Situation, vergleichbar der eines Künstlers, der vor dem Konzert ganz entspannt meint, er werde es schon können. Entweder es gelingt oder es wird nichts. – So ist es auch bei der Kinderbesprechung. Man weiß nie, ob es gelingt, man kommt in eine Art Spannung wie beim Lampenfieber. Werden wir dieses Kind wirklich in seinem Wesen erkennen und ihm dadurch helfen können? Bedingungen für die Kinderbesprechung zuhört. Die wahre Aktivität liegt nicht in der Darstellung des Kollegen, sondern in der Qualität des Zuhörens. Wo Ein wesentliches Merkmal dieser Kunst ist, dass sie sich in vernimmt man das, was Licht bringt in das Dunkel der einer Gemeinschaft vollzieht. Ein Kollege hat eine Frage zu Erscheinung? Wann fangen die geschilderten Situationen einem Schüler. Der Schüler reagiert nicht so, wie erwartet an zu sprechen, erhellend für das Verständnis des Kindes oder leistet nicht, was der Lehrer von ihm erhofft. Der Lehrer zu werden? will den Schüler aber verstehen, denn er spürt, ohne dieses 3. Eine wichtige Bedingung ist ein Zustand sozialen Frie- Verständnis wird er den Schüler nicht erreichen und wird das dens. Nun sind das alles erhabene Worte, die man eigent- Lernen schwierig. Er weiß: Erziehung setzt Beziehung voraus. lich so nicht mehr gebraucht oder hören mag. Sie sind aber Also wendet er sich an seine Kollegen und bittet um Bera- leider wahr. Ein Kollegium, das sich an Strukturdebatten tung. Die pädagogische Konferenz hat eigentlich nichts oder Ähnlichem zerrieben hat, wird sich zu Kinderbespre- Wichtigeres zu tun, als diese gegenseitige Beratung in päd- chungen nicht leicht bereit finden – man braucht dazu eine agogischen Angelegenheiten zu ermöglichen. Was ist gewisse Stimmung. Eine Konferenz, die nur aus Berichten nötig, damit eine solche Beratung gelingt? und Mitteilungen besteht, wird eine solche Stimmung 1. Es muss eine Gemeinschaft vorhanden sein, ein Kreis nicht aufbringen können. ohne Löcher. Wer sich für diese Arbeit nicht interessiert, 4. Man sollte danach streben, am Schluss eine oder meh- bleibt ihr besser fern. Wer dem Schüler keine Sympathie rere Hilfestellungen zu vereinbaren. Wenn man nach un- entgegenbringen kann, bleibe draußen. Denn die Beratung gefähr acht Wochen kurz auf die Kinderbetrachtung setzt das aktive Interesse aller Beteiligten voraus, sie ist die zurückblickt, und die Frage stellt, haben wir getan, was ver- hohe Schule des Interesses. Da können Eltern genau so gut abredet war und hat es geholfen? dann wird die Kinder- teilnehmen wie Kollegen, die den Schüler nicht kennen. besprechung zu einem der stärksten Instrumente zur Gerade durch ihr neutrales Interesse können sie wichtige Sicherung wirklicher Schulqualität. Denn das Kollegium Fragen aufwerfen. Es ist hilfreich, wenn der Kollege, der hat nicht nur dem Schüler geholfen, sondern selbst un- den Schüler darstellt, nicht auch die Gesprächsführung in- endlich viel gelernt. Viele klagen darüber, die »Allgemeine nehat. Menschenkunde« sei doch bloß Theorie. In der Kinder- 2. Eine Kinder- oder Schülerbetrachtung braucht einen oder Schülerbetrachtung wird die Menschenkunde prak- Atem. Wenn man es ein wenig geübt hat, braucht man tisch. Wer an ihr teilnimmt, kann sie als Glückserlebnis sicher eine Stunde. Viel hängt davon ab, wie der Kreis empfinden. › 2011 | März erziehungskunst
03_04_05_06_07_08_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:23 Uhr Seite 6 6 THEMA KINDERBETRACHTUNG Anamnese Diagnose Therapie › Grundsätzlich gibt es für die Kinderbetrachtung kein festes Modell, kein Protokoll. Bei dieser Arbeit setzt das Kind selber, wenn es denn erkannt wird, die Akzente. Den- noch kann man drei Stufen unterscheiden. Es gibt sie schon seit Hippokrates: die Anamnese, die Diagnose und die Therapie. Wir können stattdessen auch von Schilderung, von Verstehen und von Hilfe sprechen, die durch Intuition gefunden wird. Reden und Hören – inklusiv Der Klassenlehrer oder -betreuer (Mentor) schildert den Schüler so wie er ihn erfährt, wie er sich darlebt. Er ver- sucht seine Gestalt, sein Benehmen zu beschreiben, zeigt seine Arbeiten: kurz, man verschafft sich ein Bild. Dieses Foto: Charlotte Fischer Bild beinhaltet auch die Zeitgestalt des Schülers. Das Bild wird von anderen Kollegen ergänzt. Der Schularzt trägt möglicherweise aus der Vorgeschichte des Schülers Rele- vantes bei. Derjenige, der den Schüler schildert, übt sich in der Kunst der inklusiven Rede, die Übrigen in der Kunst eigen gemacht hat. Denn die Interpretation, das Verständ- des inklusiven Zuhörens: sie sollten nicht nur mit den nis kommt aus der Menschenkunde. Wer bloß etwas Ohren, sondern mit dem Herzen hören. Der Darstellende Angelesenes zum Besten gibt, wirkt anders, als wer die liefert Bausteine für die Wahrheitsfindung, er soll sich Menschenkunde verinnerlicht hat. Hier braucht man ein nicht einen lang angestauten Frust von der Seele reden. kollegiales Empfinden, das imstande ist, das Können des Naturgemäß dauert dieser Teil oft zu lang. Jeder hat ja anderen Kollegen zu würdigen. Hinhören und Zurückhal- etwas zu sagen, auch wenn man dasselbe sagt, wie der Vor- tung sind gefordert. Ein feines Gefühl für Evidenz wird sich redner. Es ist die einzige Gelegenheit, wo man aus Erfah- einstellen: Was ist stimmig, was nicht? Rudolf Steiner hat rung sprechen kann, aber man muss nicht alles wissen. viele Hinweise für eine solche Interpretation gegeben, ein Kollegium sollte sich diese in den Konferenzen erarbeiten. Ein Gefühl für Evidenz stellt sich ein Meiner Auffassung nach liegt in Steiners Menschenkunde alles, was man braucht, um auch die heutigen Phänomene Nun wird es auffällig still. Wer kann denn etwas sagen? zu verstehen. Wer kann sachgemäß interpretieren? Hier wird sich zei- Hier ist auch der richtige Moment, um sich mit Empathie gen, wie weit ein Kollegium sich die Menschenkunde zu zu fragen, wie würde ich mich fühlen, wenn ich so ge- erziehungskunst März | 2011
03_04_05_06_07_08_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:23 Uhr Seite 7 THEMA KINDERBETRACHTUNG 7 Schildern Verstehen Helfen am Kind? Was eine stärkere intellektuelle Förderung oder eine mehr bildliche Ansprache des Kindes? Was eine mu- sikalische oder plastische Betätigung? Kann dem Kind geholfen werden mit Aufgaben der Erin- nerungsbildung oder durch Sprachübungen? Der Mög- lichkeiten sind viele. Erziehen, Unterrichten ist ein leises Heilen (Rudolf Steiner). Hier hilft der Wille zu helfen, we- niger der richtige Gesichtspunkt. Im Wesentlichen sind wir ja alle hilflos und können uns nur um Hilfsbereitschaft bemühen. Die Besprechung endet damit, dass festgehalten wird, wer was für den Schüler tut. Nach acht oder zehn Wochen blickt man zurück: Haben wir getan, was verabredet war und hat es gewirkt? Elternbeteiligung – eine Taktfrage Einem elementaren ethischen Empfinden folgend wird man so weit wie möglich immer die Eltern um Zustim- mung für eine solche Besprechung bitten und man wird strickt wäre? Wie fühlt sich der Drang nach ungestümer sagen, warum man meint, sie sei angebracht. Prinzipiell ist Bewegung von innen her an, wie das Stottern, wie die nichts dagegen einzuwenden, wenn Eltern (wenn sie das Legasthenie? Solche Fragen können über Unzulänglich- wünschen) an der Besprechung teilnehmen. Ein Lehrer- keiten in der Erkenntnis der Menschenkunde hinweg kollegium sollte sich aber fragen, ob das Verhältnis helfen, sollten aber nicht zum Selbstzweck werden. zwischen Schule und Eltern deren Teilnahme zulässt. Das Wer gut zugehört hat, wird bemerken, dass das Kind, der ist eine Takt- und keine Grundsatzfrage. Und Takt ist ja Schüler sich offenbart. bekanntlich gesunder Menschenverstand mit Gefühl. Entscheidend ist der Wille zu helfen Die Kinder- oder Schülerbetrachtung ist ein Qualitätsinstru- ment das, vernünftig angewandt, seinesgleichen sucht. ‹› Und wie helfen wir jetzt? Zuerst suchen wir die Hilfe bei den Lehrern und der Pädagogik. Danach entscheidet sich, ob spezialisierte Hilfe nötig ist. Welcher Lehrstoff hilft bei Zum Autor: Christof Wiechert ist ehemaliger Leiter der pädago- welchem Problem? Was bewirkt Rechnen? Was Zeichnen gischen Sektion am Goetheanum. Zuletzt ist sein Buch Lust aufs oder gar Formenzeichnen? Was bewirkt eine Fremdsprache Lehrersein im Verlag am Goetheanum erschienen. 2011 | März erziehungskunst
08_09_10_11_12_13_14_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:26 Uhr Seite 8 8 THEMA KINDERBETRACHTUNG Was ist eine Kinderbesprechung? mit Anna Seydel im Gespräch Erziehungskunst | Frau Seydel, den wenigsten Lesern der AS | Zunächst deshalb, weil Entwicklung fast generell nicht Erziehungskunst wird wahrscheinlich bekannt sein, dass die mehr problemlos verläuft. Die äußeren Bedingungen des Praxis der Kinderbesprechungen schon seit langem an Heranwachsens sind teilweise dramatisch komplizierter ge- Waldorfschulen existiert. Was ist eigentlich eine Kinderbe- worden. Komplizierter sind auch die Familienverhältnisse sprechung? von Heranwachsenden, die Beziehung des Lehrers zu sich Anna Seydel | Eine Gruppe von Menschen möchte sich dem selbst, zu den Kindern und die Zusammenarbeit mit Eltern Wesen eines Kindes erkennend zuwenden. Man geht dabei und Kollegen geworden. Das kann dahin führen, dass ein von den Eindrücken aus, die man von diesem Kind hat, und Klassenlehrer zu der Überzeugung kommt, ein Kind in reflektiert sie. Man wendet sich in der Regel Kindern zu, die seiner Klasse nicht mehr tragen zu können, auch wenn es Entwicklungshemmungen oder -störungen haben, oder die unter Umständen von anderen Lehrern oder den Eltern die Arbeit in der Klasse beeinträchtigen. Das sind zunächst ganz anders gesehen wird. Eine Kinderbesprechung bietet äußere Anlässe. Man kann aber auch Kinder besprechen, die Chance, die Betrachtung des Kindes auf eine neue Ebene die keine solchen Auffälligkeiten aufweisen. Durch das zu heben und die Einstellung zu ihm zu beleben, aufzuhel- gemeinsame Anschauen gleichen sich persönliche Sicht- len und zu klären. weisen, Animositäten und Vorbehalte bei den Erziehenden aus. Alle möglichen Gesichtspunkte kommen zusammen EK | Wie hat man sich eine Kinderbesprechung vorzu- und ergeben im Gespräch ein Gesamtbild. stellen? AS | Es gibt viele Formen. Ein Kind kann beispielsweise vom EK | Im Grunde bemüht sich doch jeder Lehrer um eine Klassenlehrer der Konferenz geschildert werden. Besser ist solche Kindererkenntnis und versucht, sein pädagogisches es aber, man nimmt das Kind selber wahr. Das kann in der Handeln danach auszurichten. Wozu benötigt man dann Klasse sein: Man hospitiert zum Beispiel im Unterricht noch eine Kinderbesprechung? eines anderen Lehrers oder man beobachtet das Kind auf dem Schulhof. Als besonders fruchtbar hat sich erwiesen, eine Gruppe von Kindern in die Besprechungsrunde einzu- Anna Seydel war lange Zeit laden und etwas berichten oder vorführen zu lassen. Da hat Klassen- und Seminarlehrerin in jeder Gelegenheit, das Kind, das besprochen werden soll, München und hat vor kurzem wahrzunehmen und es mit Gleichaltrigen zusammen das Buch »Ich bin Du – Kinder- zu sehen. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher erkenntnis in pädagogischer Lebendigkeit, Treffsicherheit und Vielfalt danach Wahrneh- mungen zusammengetragen werden, die auch einen Verantwortung« veröffentlicht. Klassenlehrer überraschen. www.waldorfbuch.de EK | Also am Anfang steht die Beobachtung? AS | Ja. Dann folgt der Versuch, sich in das Kind zu versetzen, erziehungskunst März | 2011
08_09_10_11_12_13_14_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:26 Uhr Seite 9 THEMA KINDERBETRACHTUNG 9 Durch das gemeinsame Anschauen gleichen sich persönliche Sichtweisen, Animositäten und Vorbehalte bei den Erziehenden aus. sich in das, was man bei ihm wahrnimmt, einzufühlen. EK | Es geht also nicht nur darum, das zu beschreiben, was Also nicht sofort zu Interpretationen oder Urteilen zu man am Kind wahrnimmt, sondern auch andere Kenntnisse kommen, sondern sich mit dem Kind in Einklang zu mit einzubeziehen? versetzen. AS | Ja. Da können einem die Berichte der Eltern eine große Hilfe sein. Aber immer geht es um Tatsächliches, nicht um EK | Noch einmal zur Beobachtung: Was wird da genau be- Annahmen, Vermutungen, Interpretationen oder Theorien, obachtet? sondern um Beobachtungen, um Wahrnehmungen. › AS | Die einen sehen mehr das Äußere des Kindes: das Ge- sicht, den Kopf, die Hände, die Arme, die Gestalt und seine Körperhaltung, alles, worin sich ein Kind leiblich aus- drückt. Dann gibt es das mehr Habituelle, das Gewohn- heitsmäßige, wie ein Kind reagiert, ob es sich an etwas beteiligt, welche Neigungen es hat, welches Temperament. Ein weiteres Feld ist das Seelische: wie es sich denkend, fühlend und wollend in der Welt verhält, wie es sich in Kontakt zu anderen Menschen bringt, auch zu anderen Le- bewesen. Das drückt sich auch in seinen Bewegungen, in seinem ganzen Verhalten aus. Schließlich gibt es den in- tentionalen, den Willensbereich. Wie geht ein Kind zum Beispiel bestimmte Aufgaben an? Wie werden Denk- schritte vollzogen oder Arbeitsschritte individuell geplant und ausgeführt? Ein weiterer Aspekt ist das Schicksal eines Kindes. Es gibt signifikante, das ganze weitere Leben eines Fotos: Charlotte Fscher Menschen bestimmende biographische Ereignisse, Un- fälle, Krankheiten, Todesfälle, Verlust der Heimat oder eines Elternteiles. Auch Einzelheiten des Geburtsvorgan- ges gehören dazu. 2011 | März erziehungskunst
08_09_10_11_12_13_14_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:26 Uhr Seite 10 10 THEMA KINDERBETRACHTUNG › EK | Worauf zielt dieses Sammeln von Tatsachen ab? AS | Dass man in ihnen und durch sie das Zusammen- hängliche erfasst: Das Wesen eines Kindes. Denn das Geis- tig-Seelische des Kindes selbst ist es, das die äußeren Tatsachen hervorbringt. Jede Einzelheit eines Äußeren ist Ausdruck des Wesens. Goethe spricht von dem »Auffinden eines prägnanten Punktes«, von dem aus sich einem das Wesen einer Erscheinung entgegenträgt, die Idee innerhalb eines sinnlich gegebenen Zusammenhangs. EK | Nun hat man diese Einfühlung, man empfindet sich EK | Wenn man diesen Punkt gefunden hat, versucht man wie das Kind. Geht man dann weiter zu einer Maßnahme, dann die Eigenschaften des Kindes, sein Verhalten daraus zu einer Entscheidung, wie man handeln soll? zu erklären? AS | Nicht gleich. Erst geht der Strom des Interesses zum AS | Nein, es ist eher so, dass man etwas findet, durch das Kind, dann beginnt das Kind sich in mir auszusprechen. man sich gefühlsmäßig in das Kind hineinversetzen kann. Jetzt antworte ich wieder, und diese Antwort ist eine Man versucht, mitzuerleben, wie es sich anfühlt, wenn man Seelenantwort, in der ich den Ausgleich aufbringe zu dem, immer mit offenem Mund dasitzt und in die Gegend was ich beim Kind als seine Schwäche erfahren habe. träumt. Dann bemerkt man, da sinkt einem immer etwas Diese Antwort zielt darauf ab, ein Gleichgewicht herbei- weg. Das ist es, was einen mit dem Kind in Zusammenhang zuführen, etwas zu heilen. Man fühlt, ein Kind braucht bringt. Man muss es nicht gleich verstehen. Der Lehrer oder stärkere Struktur, ein anderes Ermutigung. Das ist zu- Therapeut muss die Verfassung des Kindes in sich erleben, nächst nur eine gefühlte Antwort. Im kollegialen Gespräch das ist das Entscheidende. kann man dann nach und nach versuchen, herauszufin- den, was eigentlich vorliegt. Was drückt sich darin aus, dass EK | Es geht also um Einfühlung, Empathie? sich ein Kind gegen die Umwelt abschottet? Die Maß- AS | Ja! Es geht darum, zu erleben: Das Kind kann ich in nahme ist gar nicht das Ausschlaggebende, sondern dass mir fühlen, weil ich etwas in mir habe, das mir bei mir die Erwachsenen sich dem Kind zuwenden und durch ihre selbst bekannt ist, und das ich deshalb bei ihm wieder- Aufmerksamkeit, ihr Interesse, ihre Wärme für das Kind erkenne. Ich kann mir sagen: »Ich erkenne Dich, denn ich erwachen. Wer nach einer Kinderbesprechung dem Kind bin Du!« Dadurch sagt mir das Kind, wer es ist. Indem ich begegnet, tritt ihm instinktiv mit einer anderen inneren es erkenne, bringt es sich selbst in meinem Erkennen, in Haltung gegenüber: Wenn ein Kind in seiner Haltung meinem Blick hervor. Es »wird« derjenige, den ich in ihm schlaff ist und mutlos, vielleicht gar hoffnungslos er- sehe. Und in meinem Blick schließlich erkennt sich jetzt scheint, wird der Erwachsene ihm vielleicht mit einer das Kind, empfindet sich wahrgenommen, kommt zu sich inneren Gebärde der Ermutigung, des Sich-Aufrichtens selbst. entgegentreten. Er sagt nicht: »Nun sei doch etwas mut- erziehungskunst März | 2011
08_09_10_11_12_13_14_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:26 Uhr Seite 11 THEMA KINDERBETRACHTUNG 11 Das Kind kann ich in mir fühlen, weil ich etwas in mir habe, das mir bei mir selbst bekannt ist, und das ich deshalb bei ihm wiedererkenne. Ich kann mir sagen: »Ich erkenne Dich, denn ich bin Du!« voller«, sondern er trägt ihm in seiner Haltung das Mut- sprechungen verbunden sind? Immerhin geht man auf sehr volle, Hoffnungsvolle entgegen. persönliche und intime Weise mit dem Kind um. AS | Das Problematische liegt darin, dass man oft nicht so EK | Unabhängig von therapeutischen Maßnahmen ist also spricht, als wäre das Kind dabei. Man müsste sich stets be- schon allein die Tatsache, dass man das Bewußtsein auf das wusst sein, dass jedes Negativurteil eine Kränkung des Kin- Kind lenkt, von Bedeutung? des darstellt. Es geht nicht um positive oder negative Urteile, AS | Ja. Das wirksamste therapeutische Mittel, das wir haben, sondern darum, dass das Kind sich in den Anwesenden aus- ist die Kinderbesprechung selbst. Was man dann konkret zusprechen beginnt. Manche haben ein Problem mit dem unternimmt, das geschieht automatisch, man überlegt nicht Sich-in-Einklang-Versetzen. Sie sagen: »Ich trete dem Kind lange. Man rutscht gleichsam von selbst in eine thera- dadurch zu nahe«. Eigentlich fürchten sie sich davor, sich peutisch wirkende Gegenbewegung zu einer wahrgenom- selbst ein Stück weit zu verlassen und in etwas einzu- menen Schwäche. Man entdeckt viele Möglichkeiten, durch tauchen, was ihnen nicht so ganz geheuer ist. Wenn jemand den Unterrichtsstoff therapeutisch zu wirken. Einem Asth- das Wachstum einer Pflanze mitmacht, dann sagt er ja auch matiker zum Beispiel habe ich damit geholfen, dass ich mit nicht, ich trete der Pflanze zu nahe. Und so versuchen ihm täglich geflötet und ihm damit sein Ausatmen erleich- wir, in der Individualgebärde des Kindes sein Wesen zu tert habe. Nach ein paar Jahren hatte er sein Asthma über- erkunden. wunden. EK | Nehmen an Kinderbesprechungen auch Eltern teil? EK | Wie wird das Kind weiter begleitet? Gibt es bestimmte AS | Wenn es geht. Ich befürworte, dass die Eltern beim Zeiträume, nach denen man sich wieder bespricht und das Sammeln der Wahrnehmungen dabei sind. Ich habe viele Kind erneut anschaut? Besprechungen im kleineren Rahmen mit Eltern gemacht. AS | Es ist natürlich sinnvoll, einem Kreis, in dem das Kind In eine Konferenz mit 50 Lehrern würde ich die Eltern nicht besprochen wurde, nach einer gewissen Zeit zu erzählen, so gerne einladen, das würde die meisten überfordern, denn was sich verändert hat. Und dann vielleicht nach einem Jahr das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern ist tiefgründiger, erneut. Aber man kann auch erleben, wenn man ein Kind in vielschichtiger und sehr intimer Natur. Aus diesen Gründen der zweiten Klasse bespricht, dass man es in den folgenden ist es leicht störbar. Das würde ich nicht wollen. Ich würde Jahren nicht mehr zu besprechen braucht. Durch die Be- das Kind immer mit den Eltern allein besprechen. sprechung und die Art, wie die Lehrer danach mit ihm um- gehen, stellt sich ein einigermaßen harmonisches Verhältnis EK | Sollten die Eltern informiert werden, wenn eine Kinder- des Kindes zu sich selbst ein. Und darum geht es eigentlich, besprechung stattfindet? dass das Individuelle des Kindes, das Geistig-Seelische, mit AS | Unbedingt! Keine Schülerbesprechung, ohne den sich selbst ins Reine kommt. Eltern zu sagen, was wir versuchen wollen und in welcher Form. Und keine Schülerbesprechung, ohne danach den EK | Gibt es Bedenken oder Probleme, die mit Kinderbe- Eltern eingehend davon zu berichten. ‹› 2011 | März erziehungskunst
08_09_10_11_12_13_14_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:26 Uhr Seite 12 12 THEMA KINDERBETRACHTUNG Was braucht eine gute Kinderbesprechung? von Klaus Hadamovsky Ohne Zeit, Ruhe und ungeteilte Aufmerksamkeit kann die Individualität eines Kindes in einer Besprechung nicht aufleuchten. Auch der Schularzt muss dabei über seinen professionellen Schatten springen. Empfinde ich eine Kinderbesprechung als gelungen, dann sind zwei Aspekte der Subjektivität, die jeden gemeinsa- gehe ich daraus mit zwei Erlebnissen hervor: men Prozess sprengen können Erstens mit einer aktuellen Geist-Erfahrung. Unbeweisbar, aber so konkret, dass sich jede Diskussion erübrigt, ist Wirklich mitmachen oder den Raum verlassen etwas geschehen zwischen mir und der geistigen Indivi- dualität des Kindes, die in der Besprechung aufleuchtete. Vielleicht die unangenehmste Störwirkung geht von der Eine Berührung hat stattgefunden, die mich freudig erhebt subjektiv erlebten Zeitnot aus. Die meisten Pädagogen bei- und aufrichtet. derlei Geschlechts vermitteln den Eindruck, sie hätten ei- Zweitens mit überraschend neuen Einfällen zur Förderung, gentlich keine Zeit: Es gibt noch so unendlich viel zu tun Behandlung und gegebenenfalls weiteren Diagnostik an jeder Schule! Dabei gibt es doch nichts Wichtigeres als dieses Kindes. das, was man jetzt tut, in eben diesem Augenblick. Damit etwas Neues entstehen kann, müssen solcherlei Meines Erachtens hängt es von diesen beiden Erfahrungen Subjektivitäten überwunden werden. Meinungen sind alte, ab, ob ein Kollegium gedeiht. Teilt es solche Erlebnisse, dann subjektive Urteile, die man mitbringt. Mögen sie auch erst wächst es zusammen, kann sich seelisch-geistig ernähren vor wenigen Minuten entstanden sein – dem wirklich und widersteht dem burn-out. Wenn der Mathelehrer, ein er- Neuen stehen sie im Wege. Sie werden am leichtesten klärter Agnostiker und gefürchteter Zyniker, nach der Kon- überwunden, wenn man sich ein umfassendes Bild macht. ferenz mit blitzenden Augen verkündet, er habe da gerade In dieser Vollständigkeit kann das nur von einem Kolle- so eine Idee, wie er den besprochenen Jungen jetzt anpacken gium geleistet werden, weil dem Einzelnen die Wahrneh- könne, – dann hatte der gute Mann soeben einen Geistes- mungen und Blickwinkel der anderen fehlen. Wenn dabei blitz, sprich eine Intuition, egal, wie er das in seinem Voka- wirklich alle Betroffenen zu Wort kommen sollen, braucht bular nennt, und er nimmt teil an dem Prozess. das seine Zeit – mindestens eine dreiviertel Stunde. Vor einer sinnvollen Teilhabe an einer Kinderbesprechung sind allerdings Hindernisse zu überwinden. Die schwersten Wer nicht betroffen ist, sollte sich betroffen machen, das errichten die Teilnehmer selbst. Man kommt mit Meinun- heißt, interessieren und konzentrieren oder den Raum ver- gen in die Konferenz, mit subjektiven Urteilen, die man lassen. Eine Predigt in der Kirche hält es ja vielleicht aus, gerne austauschen, bestenfalls bestätigt finden möchte. Statt- wenn in der ersten Bank jemand schnarcht – eine Kinder- dessen geht es um etwas vollständig Neues. besprechung verträgt es nicht, wenn jemand döst, tuschelt Manche Gesprächsteilnehmer verhalten sich desinteres- oder auch nur still Hefte korrigiert. Es ist wie mit zahlrei- siert und disziplinlos, weil sie das Kind, das besprochen chen anderen Errungenschaften der Kultur: Ein Einzelner wird, nicht betrifft. Desinteresse und Disziplinlosigkeit kann sie nicht herstellen, wohl aber zerstören. erziehungskunst März | 2011
08_09_10_11_12_13_14_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:26 Uhr Seite 13 Foto: Charlotte Fischer Ob das Bild des Kindes so deutlich wird, dass es Leuchtkraft fähigkeiten und Elternmacken. Die Wahrnehmungen der gewinnt und die geistige Individualität ahnen lässt, hängt von Bedächtigeren kommen nicht zu Wort. Man geht mit In- der Mitarbeit sämtlicher Anwesenden ab. Ich frage mich formationen nach Hause statt mit einer Intuition. nach mehreren Jahrzehnten der Teilnahme an solchen Klassen- und Fachkonferenzen, in denen nur die kleine Veranstaltungen, ob sich das in Kollegien von 30, 40, 60 Zahl unmittelbar beteiligter Lehrkräfte zusammensitzt, Lehrern überhaupt methodisch herbeiführen lässt; ob es finden offensichtlich leichter zu diesem Ziel, wenn sie sich nicht vielmehr ein Glücksfall ist, wenn es einmal gelingt. denn die Zeit lassen, methodisch zu arbeiten und nicht nur Meinungen auszutauschen. Bei Zeitdruck setzen sich die großen Redner durch Die Verknüpfung medizinisch-therapeutischer mit päda- Nur angesichts eines gemeinsam völlig neu erstellten gogischen Gesichtspunkten in der Kinderbesprechung ist Wahrnehmungsbildes kann man überhaupt zu einer Ur- nach meiner Einschätzung nur fruchtbar, wenn diese bei- teilsbildung über ein Kind kommen und in eine Be- den Erfahrungen gemacht werden: die innerste Berührung schlussphase eintreten, die für alle Beteiligten Neues mit der Individualität des Kindes und die Intuition völlig erwarten lässt. Auch dies braucht Zeit und Ruhe. Bei Zeit- neuer Einfälle. Wenn nicht, verbleibt man im Erfahrungs- druck setzen sich sofort die brillantesten Redner durch, die wissen, gibt ärztliche Tipps und Informationen weiter – genialsten Charakterisierer und Glossierer von Kinder- nichts, was das Leben wirklich ändern könnte. › 2011 | März erziehungskunst
08_09_10_11_12_13_14_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:26 Uhr Seite 14 . . . 14 THEMA KINDERBETRACHTUNG Disziplin Kinderbesprechungen leben von der methodischen Disziplin und Kompetenz Kompetenz ihrer Teilnehmer . . .. und brauchen Intimität. Intimität › Auch die Eltern brauchen eine Intuition Selbsthilfegruppen. Da die Teilnehmer miteinander unge- übt sind, brauchen sie mehr Zeit für die Bildgestaltung, Aber auch eine gelungene Kinderbesprechung mündet etwa zehn Minuten pro Person. Für Bildaufbau, Urteils- nicht selten in eine herbe Enttäuschung. Man möchte als bildung, Beschluss-Phase und Rückschau über das soeben Pädagoge oder Arzt die Resultate mit den Eltern erörtern – Erlebte braucht man also mindestens neunzig Minuten. und diese ziehen nicht richtig mit! Sie können nicht, denn Bei sämtlichen Schritten sollten die erprobten Grundregeln man teilt ihnen die neuen Erkenntnisse mit, statt dass man aller Selbsthilfegruppen eingehalten werden. Erstens: ihnen dazu verhilft, sie selbst zu gewinnen. Man bringt sie keine Fragen, zweitens: keine Ratschläge. Schließlich sind dabei um den Prozess, der sie in der Stunde der Not – die Eltern betroffener als alle übrigen Teilnehmer und rea- wann sonst werden Kinderbesprechungen gehalten? – von gieren zu Recht empfindlich auf Grenzverletzungen durch ihrer eigenen Subjektivität erlösen und selbst intuitionsfä- lenkende oder bohrende Fragen und pädagogische Rat- hig machen könnte, reif für unerhörte neue Einsichten schläge. über ihr Kind und vor allem: für Handlungsimpulse. Wenn man sie nicht mit unverständlichem Vokabular Soll man also die betroffenen Eltern in die Kinderbespre- zutextet, sind eigentlich alle Eltern spirituell viel offener chungen einbeziehen? Unsinn! Alle Beteiligten wären und belastbarer, als man erwartet. Wenn mir hinterher ein überfordert. Diese Gespräche leben von der methodischen Vater, Hardcore-Autoverkäufer einer Nobelmarke, mit Disziplin und Kompetenz ihrer Teilnehmer und brauchen etwas feuchtem Blick erklärt, er habe die ganze Zeit sich Intimität; das habe ich hoffentlich deutlich ausgedrückt. selber gesehen als kleinen Jungen: Nun ja, dann hatte er halt seine Intuition … Wie immer er das benennt, es wird Das Dilemma lässt sich jedoch lösen, indem man Helfer- segensreiche Folgen haben. Runden einrichtet, Rundgespräche, an denen sich alle be- Gewiss sind solche Rundgespräche sehr aufwändig und teiligen, die sich unmittelbar für dieses Kind verantwortlich keineswegs für jedes Kind erforderlich. Aber in vielen Pro- fühlen: Eltern, Klassenlehrer, der Schularzt, vielleicht be- blemfällen bewähren sie sich und es spielt dabei keine stimmte Fachlehrer, gegebenfalls weitere Familienangehö- Rolle, ob die Betroffenen das Problem mehr beim Kind rige und Therapeuten von inner- wie außerhalb der Schule. oder bei den beteiligten Erwachsenen lokalisieren. ‹› Die Eltern stehen im Mittelpunkt dieser Gespräche und entscheiden, wen sie dabei haben möchten, gemeinsam mit Klassenlehrer oder Schularzt. Ein Vater sieht sich selbst Zum Autor: Klaus Hadamovsky ist Schularzt an der Flensburger Meist entstehen dabei Gesprächskreise von fünf bis sieben Waldorfschule. Als Arzt für Allgemeinmedizin betreibt er Teilnehmern, die verblüffend effizient arbeiten. Im Grunde gemeinsam mit seiner Frau die medizinisch-pädagogische Praxis handelt es sich um spontan gebildete spirituell-pädagogische für Entwicklungs-Hilfe und Therapie in Flensburg. erziehungskunst März | 2011
15_16_17_18_19_20_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:27 Uhr Seite 15 THEMA KINDERBETRACHTUNG 15 Der Blick des Schularztes auf das Kind von Christoph Buschmann Xaver aus der zweiten Klasse kann nicht an seinem Platz sitzen bleiben. Er spaziert im Klassenzimmer herum, redet hier mit einem Freund, dort mit einem anderen. Dieses Verhalten war schon am Anfang der ersten Klasse zu beobachten, es ist nicht untypisch für eben eingeschulte Kinder. Bei Xaver aber legte sich dieses Verhalten nicht allmählich, sondern verstärkte sich in der zweiten Klasse. Da die Bemühungen der Lehrkräfte wenig fruchteten, schlug die Lehrerin eine Kinderbesprechung vor. Wenn Lehrer vor solchen Rätseln stehen und in ihren Be- ten, dass zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr mühungen nicht weiterkommen, kann eine Kinderbe- das Zentrum der Entwicklungsdynamik im rhythmischen sprechung weiterhelfen. Neben den beteiligten Lehrern System, das heißt in den Bewegungen des Kreislauf- und und meist den Eltern sind auch der Schularzt und Thera- Atemsystems liegt. Es besteht ein enges Verhältnis zwi- peuten anwesend. schen der Muskulatur und dem Rhythmus dieser beiden Was können medizinische Gesichtspunkte den pädagogi- Organsysteme. Das Kind lebt nur von dem, was ihm im schen hinzufügen? Es ist die Aufgabe des Schularztes, die künstlerischen Gewand aus der Welt und aus der Pädago- seelisch-soziale Sicht des Pädagogen durch die körperlich- gik entgegenkommt. Alles, was nicht Rhythmus und Takt individuelle des Arztes zu ergänzen. Selbstverständlich hat, kann das Kind nicht aufnehmen. Gut zu beobachten schaut der Pädagoge jedes Kind individuell an, aber er geht ist, wie jüngere Kinder Geschichten, Lieder, kleine Spiele doch primär von der Klasse, der Gruppensituation und immer wiederholen wollen. Das einmal Erlebte geht an dem damit verbundenen Verhalten aus. Er sieht das Kind ihnen vorbei. vor diesem Hintergrund. Wenn das Kind das zwölfte Lebensjahr überschritten hat, Die Sichtweise des Arztes ist schon durch die äußeren Um- ändern sich seine Bewegungen. Vorher waren sie zentriert, stände anders: Er sieht das Kind meist im Schularztzimmer rhythmisch, wie eine Gesamtgestalt von innen heraus ge- ohne die Klassenkameraden und auch bei einer Hospitation führt. Jetzt, wenn die Extremitäten zu wachsen beginnen, ist seine Aufmerksamkeit vor allem einzelnen Kindern ge- werden die Bewegungen ungelenk, schwer, mechanisch. widmet. Nun ist das Ziel der Kinderbesprechung, das Kind Sie gehen nicht mehr von der Muskulatur aus, sondern von in seiner Ganzheit zu erkennen. Dazu muss neben dem see- dem Skelettsystem, das nun dominiert. lisch-sozialen der physisch-leibliche Anteil betrachtet wer- Jetzt hat sich der geistig-seelische den. Das ist der Beitrag des Schularztes. Mensch, das vorgeburtliche Die Waldorfschule macht die Entwicklung des Kindes, Ich, in das Skelett hinein nicht nur die intellektuelle und seelische, sondern auch die begeben. Diese Aus- physiologische, zur Grundlage einer altersgemäßen Päda- einandersetzung des gogik mit einem altersspezifischen Lehrplan. Durch die Jugendlichen mit der »Menschenkunde« komme ich zu einem ganzheitlichen Schwere in seinem Betrachten des Kindes, zu einer wirklichen Psychosoma- Skelett bringt sei- tik. Betrachte ich die Bewegung des Kindes im Verhältnis nen Organismus in zu seiner logischen Denkfähigkeit, so kann ich beobach- die Lage, Mecha- › 2011 | März erziehungskunst
15_16_17_18_19_20_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:27 Uhr Seite 16 16 THEMA KINDERBETRACHTUNG r e Fische arlott Ch os: Fot In der Betrachtung von Xaver kam aus medizinischer Sicht Folgendes zum Vorschein: In der Bewegung zeigt er einen Duktus wie ein Kleinkind. Das Kind im ersten Jahrsiebt bewegt sich vom › nisches, Dynamisches und Logisches denken zu können. Kopf aus, ähnlich wie eine Marionette, deren Extremitäten Dieses Denken findet erstaunlicherweise eben im Leib, das wie unverbunden mit dem Körper ihre Bewegungen aus- heißt im Skelett statt, und wird nur im Gehirn ins Bewusst- führen. Kopf, Rumpf und Extremitäten bewegen sich nicht sein gehoben. zusammenklingend, nicht wie aus einem Guss. So bewegt In der Vorschulzeit liegt der Entwicklungsschwerpunkt im sich Xaver immer noch. Von seiner Gestalt her ist er ein groß- Kopfbereich. Nach dem Zahnwechsel wandert die Entwick- köpfiges Kind, also auch körperlich dem Kleinkindlichen zu- lungsdynamik in den Brustbereich, in das rhythmische Sys- geneigt. Als er vor zwei Jahren eingeschult werden sollte, tem, das sich im zweiten Jahrsiebt entwickelt, wie sich das kam eine Zurückstellung nicht in Frage: intellektuell und Nerven-Sinnessystem im Kopfbereich im ersten Jahrsiebt motorisch war er schon zu weit entwickelt. entwickelt hat. Diese Entwicklung wird angestoßen durch die Die Kinderbesprechung ergab einige neue Erkenntnisse. vorgeburtlichen seelisch-geistigen Kräfte, die im Verlauf der Xaver weicht in seiner Bewegungsentwicklung von seinen Kindheit und Jugendzeit den Menschen vom Kopf über die Klassenkameraden ab. Hierbei handelt es sich aber nicht Brust und dann zum Schluss im Stoffwechsel-Gliedmaßen- um eine neurologische Erkrankung, sondern um den Bewe- Bereich gestalten. gungsduktus, die Bewegungsgestalt. Die Teilleistungs- Um das Beispiel von Xaver wieder aufzugreifen: Ist sein Ver- störungen und psychosozialen Defizite, die in der Kinder- halten altersgemäß? Oder steht ein individuelles Problem, sei- besprechung offenkundig wurden, können nun durch kon- ner Entwicklung im Wege? Die Menschenkunde kann zu krete medizinische und pädagogische Maßnahmen ange- einem Spiegel werden, der hilft, das einzelne Kind zu sehen. gangen werden. Insgesamt ermöglichte die Kinderbe- Wenn die körperlich-menschenkundlichen Aspekte für die Er- sprechung ein vertieftes Verständnis Xaver gegenüber. ziehenden nicht zugänglich sind, besteht die Gefahr, schnell Die Kinder in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen, ist das in eine psychologisierende Haltung hineinzuschlittern, die Tor zum Heilen. Dies drückt der Satz aus: »Erziehen ist lei- nach einsehbaren Gründen und Schuldzuweisungen sucht. ses Heilen, Heilen ist spezialisiertes Erziehen.« Dieser Heil- Denn es besteht im gesellschaftlichen Umgang mit kindlichen impuls liegt der Waldorfpädagogik zu Grunde. Steiner wollte Schwierigkeiten – durchaus auch in der Waldorfschule – ein durch diese Pädagogik ermöglichen, dass die Kinder zu ge- sehr enges Verständnis von so genannter normaler Entwick- sunden Erwachsenen heranwachsen, wodurch sie sich eher lung, wobei einem Kind gerne schnell Diagnosen angeheftet zu freien Menschen entwickeln können. Die Sichtweise des werden zum Beispiel ADS oder autistische Züge. Schularztes ist eine Hilfe auf diesem Weg. ‹› Durch die Menschenkunde und auch die Einbeziehung Zum Autor: Christoph Buschmann ist Schularzt an der Freien karmischer Aspekte können wir die Kinder etwas tiefer und Waldorfschule Augsburg und Allgemeinarzt in einer Gemeinschafts- mit mehr Wärme betrachten. praxis. erziehungskunst März | 2011
15_16_17_18_19_20_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:27 Uhr Seite 17 THEMA KINDERBETRACHTUNG 17 Entwickeln im Dialog Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie zu Kinder- betrachtungen im Kindergarten von Daniela Heidtmann und Reinhold Schmitt Das Kollegium des Waldorfkindergartens Gänsweide in Mannheim-Neckarau war einverstanden, sich bei Kinderbetrachtungen von Wissenschaftlern auf Video aufnehmen und die Aufnahmen auswerten zu lassen. Herausgekommen ist die erste empirische Untersuchung darüber, was bei der Durchführung von Kinderkonferenzen geschieht: die Studie »Waldorfpädagogischer Ent- wicklungsdialog. Eine Interaktionsanalyse«. Messen, Bewerten, Vergleichen – im öffentlichen Diskurs Wie erfassen Erzieherinnen den Entwicklungsstand setzt man zur Erfassung der kindlichen Entwicklung meist eines Kindes? auf quantitative Erhebungsverfahren. Das Kind wird auf der Grundlage zuvor festgelegter Fragen beobachtet, der so Die Leitfrage der Untersuchung war: Was machen Waldorf- erhobene Entwicklungsstand anschließend festgehalten: erzieherinnen genau, wenn sie versuchen, den Entwick- entweder in Form eines frei formulierten Antwortsatzes lungsstand eines Kindes zu erfassen? Waldorfpädagogen oder als Kreuz auf dem Multiple-Choice-Fragebogen. kennen die Antwort: Sie beobachten das Kind systematisch Viele Waldorfpädagogen zögern, ein Kind auf einer vorge- über einen längeren Zeitraum, machen sich ein Bild und fertigten Grundlage zu beurteilen. Was aber hat die tauschen sich dann mündlich im Kreis von Kollegen in- Waldorfpädagogik an Alternativen zu bieten, wenn es um tensiv über dieses Kind aus. Kinderbeobachtung, Kinder- frühkindliche Entwicklungsdiagnostik und Förderung geht? betrachtung, Kinderbesprechung, Kinderkonferenz sind Aus dieser Frage ist ein Forschungsprojekt entstanden, das die Bezeichnungen, die in der Waldorfpädagogik für diese im Auftrag des Bundes der Freien Waldorfschulen und der Form der Entwicklungsdiagnostik verwendet werden. Vereinigung der Waldorfkindergärten Anfang 2010 von In den verschiedenen Benennungen mag sich eine grund- uns durchgeführt wurde und dessen Ergebnisse nun vor- sätzliche Erfahrung spiegeln: Kinderbetrachtungen sind liegen. Ziel des Projektes war es zu erforschen, wie die unterschiedlich. Sie verlaufen nie gleich. Sie sind so ver- Waldorfpädagogik mit der Individualdiagnostik umgeht. schieden wie die Kinder, um die es geht, und auch so Nicht die Theorie, das Ideal oder die Anleitungen aus Lehr- verschieden wie die Erzieherinnen, die daran teilhaben. büchern standen im wissenschaftlichen Fokus, sondern Aber sie haben dennoch einen gemeinsamen Kern. Dieser das wirkliche Vorgehen in einer Waldorfeinrichtung. Kern besteht aus den Anforderungen, die die Anwesenden › ? Was hat die Waldorfpädagogik an Alternativen zu bieten, wenn es um frühkindliche Entwicklungsdiagnostik und Förderung geht 2011 | März erziehungskunst
15_16_17_18_19_20_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:27 Uhr Seite 18 18 THEMA KINDERBETRACHTUNG Foto: Charlotte Fischer › bearbeiten müssen, wenn sie sich dem Kind im Gespräch Wie genau dies jedoch sprachlich geschieht, ist den prak- annähern. Sie müssen zum Beispiel das Kind genauestens tisch Handelnden zumeist nicht bewusst. Und genau hier darstellen, Fragen und Ergänzungen zu der Darstellung setzt die Studie an: Mit einer soziologischen Forschungs- formulieren und versuchen, den Kern des kindlichen methode identifiziert sie diese Anforderungen und die Wesens zu erfassen. Diese Anforderungen sind immer die sprachlich-interaktiven Techniken, mit denen sie bearbeitet gleichen, unabhängig, ob ein Kindergartenkind oder ein werden. Schüler betrachtet wird. Sie müssen von den Erzieherin- nen oder Lehrern bearbeitet werden, wenn sie sich im Ent- Beschreiben, ohne zu werten – sprachlich-interaktive wicklungsdialog um den Entwicklungsstand eines Kindes Techniken kümmern. Viele der in der Studie identifizierten sprachlich-interakti- innig ven Techniken reagieren auf den Anspruch, das Kind ohne Wertung zu präsentierten und es nicht vorab auf eine Ka- tegorie, wie zum Beispiel »Träumer«, »Prinzessin« oder liebevoll ähnliches festzulegen. Wie aber geht das? Wie realisiert die Erzieherin diese Grundhaltung dem Kinde gegenüber? rücksichtsvoll Beispielsweise, indem sie das Kind, anhand unterschied- licher Konzepte beschreibt: »… ein feiner Mensch, der da daher kommt, ganz innig, ganz innig und liebevoll und rücksichtsvoll.« erziehungskunst März | 2011
15_16_17_18_19_20_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:27 Uhr Seite 19 THEMA KINDERBETRACHTUNG 19 innig liebevoll rücksichtsvoll Die Erzieherin bezeichnet das Kind als feinen Menschen. Fülle an Informationen: das Kind beim Sandkuchenver- Aber bei dieser Beschreibung bleibt sie nicht stehen und zieren, beim Förmchenumdrehen, beim Ausmisten des legt das Kind darauf fest. Sie verdeutlicht vielmehr, was den Schafstalles, beim Schneckensammeln. Zudem wird die »feinen Menschen« ausmacht, indem sie verschiedene motorische Entwicklung des Kindes charakterisiert: gezielt Beschreibungen variiert (er ist innig, innig, liebevoll, rück- setzen, gut umdrehen, das heil bleibt, da ankommt, wo es hin sichtsvoll). Das Innige wird wiederholt, da es für die Cha- soll, liebevoll setzen. Außerdem wird deutlich, dass das Kind rakterisierung des Kindes besonders wichtig ist. Während eher im Alleinspiel als im Spiel mit anderen Kindern be- das Innige auch in Situationen aufscheinen kann, in denen schrieben wird. das Kind allein und selbstvergessen spielt, verweisen die Es ist diese Detailliertheit und Präzision der Beschreibung Konzepte »liebevoll« und »rücksichtsvoll« auf den Um- unterschiedlichster Situationen und Verhaltensweisen, die gang des Kindes mit Anderen. für den Entwicklungsdialog insgesamt charakteristisch ist. Dieses kurze Beispiel mit einer Sprechdauer von nur we- nigen Sekunden verdeutlicht, wie die Anforderung, das Der Dialog als Grundlage für Entwicklung Kind ohne Bewertungen und Kategorien zu beschreiben, sprachlich mit Hilfe der Technik »Konzeptvariation« be- Damit diese Annäherung gelingen kann, ist eine Voraus- wältigt wird. Viele Konzepte werden zur Beschreibung des setzung unerlässlich: Es muss ein Dialog zwischen den Er- Kindes aneinandergereiht. Begriffe, die sich im Kern äh- zieherinnen stattfinden. Denn schon dann, wenn die neln, aber gleichzeitig auf unterschiedliche Weltaus- Erzieherin, die das Kind im Vorfeld intensiv beobachtet schnitte verweisen. und wahrgenommen hat, für die Anderen ihren Eindruck Wie erreicht es die darstellende Erzieherin, den Anwesen- schildert, erlebt sie beim Formulieren, ob ihre Beobachtun- den ein umfassendes Bild des Kindes zu geben, das seiner gen wirklich dem Kind gerecht werden. Sie kann sich selbst Einzigartigkeit gerecht wird? Beispielsweise, indem sie die reden hören und nimmt wahr, wie ihre Kolleginnen auf das, Zuhörer in unterschiedliche Situationen des Kindergarten- was sie sagt, reagieren. Im Aussprechen liegt für die Prä- alltags entführt, in denen das Kind dargestellt wird (Morgen- sentierende ein wesentliches Moment der Erkenntnis. kreis, Freispiel, Essenszubereitung, Draußenspiel …): Dieses Miteinander-im-Gespräch-Sein bildet einen schüt- »… konnte ich draußen schon beobachten, dass sie dann ganz zenden Rahmen für das Kind. Durch Nachfragen oder Er- gezielt zum Beispiel Blüten auf einen Sandkuchen setzen kann, gänzungen wird verhindert, dass das Kind einzig auf eine ohne dass der kaputt geht oder auch die Förmchen gut umdre- Sichtweise einer Erzieherin festgelegt wird. Alle sind be- hen kann und das dann heil bleibt, bei den Schafen die Köttel müht, sich vollständig auf das Kind einzulassen und ihre auf die Schaufel schiebt und das wirklich auch da ankommt, Sichtweisen zusammenzubringen. Gemeinsam suchen sie wo es hin soll, oder wenn sie Schnecken sammelt, die auch lie- nach Hilfestellungen, die das Kind im Kindergarten in sei- bevoll in die Förmchen setzen kann.« ner weiteren Entwicklung unterstützen können. Obwohl das Zitat nur ein winziger Ausschnitt dessen ist, Da dem Dialog ein so zentraler Stellenwert zukommt, was alles zum Draußenspiel gesagt wird, enthält es eine haben die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Vorschlag › 2011 | März erziehungskunst
15_16_17_18_19_20_EK03_2011:EZK 11.02.2011 16:20 Uhr Seite 20 20 THEMA KINDERBETRACHTUNG › eines neuen Namens geführt: Wir sprechen vom Waldorf- Die Waldorfpädagogik besitzt mit dem Entwicklungsdialog pädagogischen Entwicklungsdialog. ein mächtiges Diagnostikverfahren, das in vielerlei Hinsicht Der Dialog ist dafür verantwortlich, dass mannigfaltige die besondere pädagogische Grundhaltung repräsentiert. Es Entwicklungen in Gang kommen (daher: Entwicklungs- ermöglicht nicht nur, das Kind in einer ihm angemessenen dialog). Die Studie führt ein ganzes Spektrum von Ent- Weise zu erfassen, sondern auch Hilfen zu entwickeln und wicklungen an, von denen hier nur einige genannt werden: umzusetzen, die maßgeschneidert sind und dem individu- ellen Kind gerecht werden. • Es geht um den Entwicklungsstand eines Kindes. Darüber hinaus – und nicht weniger wichtig – liegt im Ent- Dieser wird genauestens dargestellt. wicklungsdialog ein Schlüssel zur Qualitätssicherung: Im Gespräch wird es den Beteiligten ermöglicht, kontinuierlich Entwicklungsstand des Kindes von erfahrenen Kollegen zu lernen und sich selbst durch das • Im Dialog entwickelt sich das Bild des Kindes: eigene Tun zu verbessern. Sie lernen, Entwicklungsdialoge Es wird immer komplexer und differenzierter. durchzuführen und Ideen für eine konkrete Hilfestellung zu entwickeln. Regelmäßig Entwicklungsdialoge durchzufüh- Bild des Kindes ren, ermöglicht allen Teilnehmenden, sich im gemeinsamen • Die Erzieherinnen entwickeln konkrete Hilfen für Tun zum Wohle der Kinder zu verbessern und weiterzubil- das Kind. den. Deshalb sollte der Entwicklungsdialog im Kindergarten und in der Schule, aber auch in der in der Aus- und Fortbil- Hilfen für das Kind dung von Waldorfpädagogen, eine zentrale Rolle spielen. ‹› • Die Beziehungen der Erzieherinnen zum Kind Zu den Autoren: Dr. Daniela Heidtmann: Kommunikationswissen- entwickeln sich. schaftlerin und -beraterin, Yogalehrerin. Promotion in Linguistik, Beziehungen zum Kind Dissertation zu Unterrichtskommunikation, ehemalige Mitarbeiterin des Instituts für Deutsche Sprache (IDS Mannheim), Mitarbeiterin der • Die Beziehungen der Erzieherinnen untereinander Freien Hochschule Mannheim. entwickeln sich, weil sie sich intensiv austauschen. Dr. Reinhold Schmitt: Interaktionsanalytiker, Kommunikations- berater, Forschungsschwerpunkt: Unterrichtskommunikation. Beziehungen untereinander Promotion in Soziologie. Mitarbeiter des Instituts für Deutsche • Die Kompetenz, einen Entwicklungsdialog durchzu- Sprache (Mannheim). Daniela Heidtmann | Reinhold Schmitt führen, entwickelt sich durch die gemeinsam Das Buch Entwicklungsdialog. gemachten Erfahrungen, auf die man in folgenden Eine Interaktionsanalyse im Waldorfkinder- Entwicklungsdialogen zurückgreifen kann. garten von Daniela Heidtmann und Kompetenzen Reinhold Schmitt ist im Verlag für Wissen- schaftstransfer erschienen. Bestellung unter: Entwicklungsdialog Eine Interaktionsanalyse im Waldorfkindergarten www.entwicklungsdialog.de erziehungskunst März | 2011 Verlag für Wissenschaftstransfer
21_22_23_24_25_26_27_EK03_2011:EZK 11.02.2011 14:29 Uhr Seite 21 THEMA KINDERBETRACHTUNG 21 Foto: Charlotte Fischer Handwerkszeug im Hortalltag von Kathrin Heinz Dass Kinder ihren Tag nach der Schule zu Hause verbringen, da die Eltern beide berufstätig sind, hat heute Seltenheitswert. Immer mehr Kinder, je nach Bundesland bis zu 100 Prozent, besuchen nach der Schule Horte, Nachmittagsbetreuungen und Kindertagesstätten. Auch die Waldorfschulen bieten inzwischen diese Rundum-Betreuung. Seit vielen Jahren übt sich die »Hortbewegung« in der sofort lachend durchschaut. Seither wendet er sich gerne empathischen Beobachtung und der vertiefenden Betrach- solch schnöden Aufgaben zu wie Spielzeugkisten sortieren, tungsweise des Kindes. Dieses »Handwerkszeug« für die Bausteine aufräumen oder gar das Puppenhaus auf Vorder- Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher im nachschuli- mann bringen. Bei der Apfelernte konnte er geschickt zu schen Bereich erschließt mannigfaltige Möglichkeiten. den höchsten Zweigen klettern und freudig überrascht er die anderen mit den leckeren Äpfeln, die er wäscht, schnei- Hänschen, zum Beispiel, ist ein schlauer Fuchs. Als fünftes det und auf einem Teller schön präsentiert. Er kann sich nun und jüngstes Kind in der Familie und durch seine zarte in der Gruppe behaupten und wird ernst genommen. Nun Konstitution erschien er hilflos, etwas dümmlich und noch bringt er sich gerne tatkräftig oder mit guten Ideen ein. zu klein, um selbstständig etwas machen zu können. Seine Klugheit wird von den anderen immer mehr geachtet Über einen intensiven Austausch in unserem Mitarbeiter- und er darf zeigen, was er schon alles kann. kreis, angelehnt an die Methode von Anna Seydel, kamen Das Selbstvertrauen, das er am Nachmittag gewonnen hat, wir zu der Erkenntnis, dass sich hinter seiner äußeren Er- wirkt in die Schule hinein und hilft ihm, seine Rolle als scheinung ein starkes, aufgewecktes, intelligentes und aus- Clown und seine Verträumtheit Schritt für Schritt abzu- gleichendes Wesen verbirgt. legen. Sein leicht egozentrischer Umgang mit den Ge- Das veränderte unsere Haltung ihm gegenüber. Nun be- schwistern und seine Eifersucht auf die Großen stehen gegnen wir ihm mit einer gehörigen Portion Humor, den er ihm nicht mehr im Weg. › 2011 | März erziehungskunst
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