Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife

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Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
U1_U2_U3_U4_EK_03_2011:EZK Cover   11.02.2011   15:00 Uhr   Seite 1

          03 | 2011                                                                   März | 4,90 €

         erziehungskunst                                                Waldorfpädagogik heute

                                                                           Stockholmsyndrom
                                                                             und Nächstenliebe

                                                                              Körperdominanz
                                                                                und Schulreife

                                                                      Das Paradies in der Krise

                        Das Kind im Blick
Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
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      2 INHALT
                                                       4
                      C. Wiechert: Die Kunst, Kinder zu betrachten 5
                      Was ist eine Kinderbesprechung? Im Gespräch mit Anna Seydel 8
                      K. Hadamovsky: Was braucht eine gute Kinderbesprechung? 12
                      C. Buschmann: Der Blick des Schularztes auf das Kind 15
                      D. Heidtmann u. R. Schmitt: Entwicklung im Dialog 17
                      K. Heinz: Handwerkzeug im Hortalltag 21
                      C. Lehmann: Ich sehe was, was du nicht siehst … 23

                                                 24

                                      27

                                           28
                      B. Kahn: Körperdominanz und Schulreife 28

                                                 32
                      A. Heinz: Mit Krummen und Geraden auf der Überholspur 32

                                                 36
                      U. Hallaschka: Polyglott und voll geerdet – Bruno Sandkühler 36

                                                 40
                      A. Zuleger: Das Paradies in der Krise 40
                      P. Leise: Aus Nichtstuern werden Umgestalter 43
                      B. Schiller: Kasperle macht Mut zum Leben 44
                      R. Zbinden: »The armed Man« – eine Messe für den Frieden 47

                                          49
                      Stockholmsyndrom und Nächstenliebe.
                      Mit dem Rapper Edgar Wasser im Gespräch 49

                                            52
                      L. Grünewald, E. Riesterer u. T. Singer-Carpenter: Bologna statt Waldorf 52

                                                 54
                      L. Ravagli: Kräutergeist und Ideenflug 54

                                     56

                                                 58

                                       60

                                                                  63
                                                                                                    Titelfoto: Charlotte Fischer

                                                      66

                                                      90

                      erziehungskunst März | 2011
Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
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                                                                                                                      EDITORIAL   3

        Schafft PISA ab
        Liebe Leserin, lieber Leser,

        wer hätte das gedacht: Wir sind wieder wer! Zumindest im oberen Mittelfeld liegt Deutschland nach den
        neuesten PISA-Ergebnissen in Sachen Lesekompetenz und Rechnen. Natürlich müssen die Schulen noch
        ordentlich nachlegen. Denn nach wie vor werden wir von den asiatischen Tigermama-Staaten zu Ent-
        wicklungsländern degradiert, was regelmäßige bildungspolitische Depressionen auslöst. Was machen wir
        nur falsch? Auch hierzulande trimmen wir doch schon die Dreijährigen in den Kindergärten, der Nach-
        hilfemarkt boomt durch alle Klassenstufen – das Abitur ist bei den meisten ohne nicht mehr denkbar –
        und Punktsysteme prägen die studentische Lernmotivation an den Hochschulen. Ist es, weil wir in
        unserem Bildungssystem Druck und Drill öffentlich ablehnen, aber dennoch durch subtilere Formen
        anwenden? Sind wir nicht genauso weit entfernt von einer kindgerechten Lernkultur wie die PISA-
        Gewinner? Sollte man dann nicht lieber Farbe bekennen und sagen: Ja, auf die Noten, auf die Credit Points
        kommt es an, und die entscheiden über deine Berufs- und Lebenschancen.
        Oder stimmt an PISA etwas nicht, weil es genauso schief hängt wie der Turm? Nicht nur, dass man den
        Zahlen-Päpsten blinden Glauben schenkt: Die Auftraggeber sind nicht die vereinigten europäischen
        Kinderschutzvereine, sondern Wirtschaftsunternehmen, und die verfolgen ihre eigenen Interessen:
        Wie lässt sich Bildung rechnen? Was springt am Ende einer langen – aus ihrer Sicht viel zu langen –
        Bildungszeit heraus? Und springt ihnen nicht der Staat zur Seite, der an möglichst vielen, möglichst
        jungen Rentenzahlern interessiert ist?
        Es scheint, dass die PISA-Empirie an einem wesentlichen Punkt vorbei geht: Dass es zwar Bildungssysteme
        gibt, die exzellente Ergebnisse aus den Schülern heraustreiben, aber gleichzeitig die angeborene Lernfreude
        der Kinder, je höher sie auf der Stufenleiter der Auslese steigen, korrumpieren und in humankapitalistische
        Portfolios pressen. Die Konsequenz wäre, sich nicht PISA, sondern PISA an ein Bildungswesen anzu-
        passen, das ein menschliches Antlitz besitzt – oder PISA gänzlich abzuschaffen. ‹›

                                                                                          Aus der Redaktion grüßt

                                                                                                  Mathias Maurer

                                                                                2011 | März erziehungskunst
Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
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          »Deine Kinder sind nicht deine Kinder. Sie sind die Söhne
            und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst ...
             Du kannst versuchen, ihnen gleich zu sein, aber suche
                        nicht, sie dir gleich zu machen.«
                                   Kahlil Gibran (1883–1931),
                           syrisch-amerikanischer Dichter und Maler

                                                                      Foto: Wolfgang Schmidt
Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
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                                                                                              THEMA KINDERBETRACHTUNG                      5

        Die Kunst, Kinder zu betrachten
        von Christof Wiechert

        Kann man die Kunst der Kinder- oder Schülerbetrachtung lernen? Darauf gibt es zwei Antworten: Ja und Nein. Ja, denn der
        Mensch kann alles lernen. Nein, denn man hat nie ausgelernt. Sobald man meint, man kann es, ist man in einer riskanten
        Situation, vergleichbar der eines Künstlers, der vor dem Konzert ganz entspannt meint, er werde es schon können. Entweder es
        gelingt oder es wird nichts. – So ist es auch bei der Kinderbesprechung. Man weiß nie, ob es gelingt, man kommt in eine Art
        Spannung wie beim Lampenfieber. Werden wir dieses Kind wirklich in seinem Wesen erkennen und ihm dadurch helfen können?

        Bedingungen für die Kinderbesprechung                              zuhört. Die wahre Aktivität liegt nicht in der Darstellung
                                                                           des Kollegen, sondern in der Qualität des Zuhörens. Wo
        Ein wesentliches Merkmal dieser Kunst ist, dass sie sich in        vernimmt man das, was Licht bringt in das Dunkel der
        einer Gemeinschaft vollzieht. Ein Kollege hat eine Frage zu        Erscheinung? Wann fangen die geschilderten Situationen
        einem Schüler. Der Schüler reagiert nicht so, wie erwartet         an zu sprechen, erhellend für das Verständnis des Kindes
        oder leistet nicht, was der Lehrer von ihm erhofft. Der Lehrer     zu werden?
        will den Schüler aber verstehen, denn er spürt, ohne dieses        3. Eine wichtige Bedingung ist ein Zustand sozialen Frie-
        Verständnis wird er den Schüler nicht erreichen und wird das       dens. Nun sind das alles erhabene Worte, die man eigent-
        Lernen schwierig. Er weiß: Erziehung setzt Beziehung voraus.       lich so nicht mehr gebraucht oder hören mag. Sie sind aber
        Also wendet er sich an seine Kollegen und bittet um Bera-          leider wahr. Ein Kollegium, das sich an Strukturdebatten
        tung. Die pädagogische Konferenz hat eigentlich nichts             oder Ähnlichem zerrieben hat, wird sich zu Kinderbespre-
        Wichtigeres zu tun, als diese gegenseitige Beratung in päd-        chungen nicht leicht bereit finden – man braucht dazu eine
        agogischen Angelegenheiten zu ermöglichen. Was ist                 gewisse Stimmung. Eine Konferenz, die nur aus Berichten
        nötig, damit eine solche Beratung gelingt?                         und Mitteilungen besteht, wird eine solche Stimmung
        1. Es muss eine Gemeinschaft vorhanden sein, ein Kreis             nicht aufbringen können.
        ohne Löcher. Wer sich für diese Arbeit nicht interessiert,         4. Man sollte danach streben, am Schluss eine oder meh-
        bleibt ihr besser fern. Wer dem Schüler keine Sympathie            rere Hilfestellungen zu vereinbaren. Wenn man nach un-
        entgegenbringen kann, bleibe draußen. Denn die Beratung            gefähr acht Wochen kurz auf die Kinderbetrachtung
        setzt das aktive Interesse aller Beteiligten voraus, sie ist die   zurückblickt, und die Frage stellt, haben wir getan, was ver-
        hohe Schule des Interesses. Da können Eltern genau so gut          abredet war und hat es geholfen? dann wird die Kinder-
        teilnehmen wie Kollegen, die den Schüler nicht kennen.             besprechung zu einem der stärksten Instrumente zur
        Gerade durch ihr neutrales Interesse können sie wichtige           Sicherung wirklicher Schulqualität. Denn das Kollegium
        Fragen aufwerfen. Es ist hilfreich, wenn der Kollege, der          hat nicht nur dem Schüler geholfen, sondern selbst un-
        den Schüler darstellt, nicht auch die Gesprächsführung in-         endlich viel gelernt. Viele klagen darüber, die »Allgemeine
        nehat.                                                             Menschenkunde« sei doch bloß Theorie. In der Kinder-
        2. Eine Kinder- oder Schülerbetrachtung braucht einen              oder Schülerbetrachtung wird die Menschenkunde prak-
        Atem. Wenn man es ein wenig geübt hat, braucht man                 tisch. Wer an ihr teilnimmt, kann sie als Glückserlebnis
        sicher eine Stunde. Viel hängt davon ab, wie der Kreis             empfinden.                                                      ›
                                                                                                    2011 | März erziehungskunst
Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
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      6 THEMA KINDERBETRACHTUNG

                                          Anamnese
                                             Diagnose
                                               Therapie
       ›   Grundsätzlich gibt es für die Kinderbetrachtung kein
           festes Modell, kein Protokoll. Bei dieser Arbeit setzt das
           Kind selber, wenn es denn erkannt wird, die Akzente. Den-
           noch kann man drei Stufen unterscheiden. Es gibt sie
           schon seit Hippokrates: die Anamnese, die Diagnose und
           die Therapie. Wir können stattdessen auch von Schilderung,
           von Verstehen und von Hilfe sprechen, die durch Intuition
           gefunden wird.

           Reden und Hören – inklusiv

           Der Klassenlehrer oder -betreuer (Mentor) schildert den
           Schüler so wie er ihn erfährt, wie er sich darlebt. Er ver-
           sucht seine Gestalt, sein Benehmen zu beschreiben, zeigt
           seine Arbeiten: kurz, man verschafft sich ein Bild. Dieses
                                                                         Foto: Charlotte Fischer

           Bild beinhaltet auch die Zeitgestalt des Schülers. Das Bild
           wird von anderen Kollegen ergänzt. Der Schularzt trägt
           möglicherweise aus der Vorgeschichte des Schülers Rele-
           vantes bei. Derjenige, der den Schüler schildert, übt sich
           in der Kunst der inklusiven Rede, die Übrigen in der Kunst                              eigen gemacht hat. Denn die Interpretation, das Verständ-
           des inklusiven Zuhörens: sie sollten nicht nur mit den                                  nis kommt aus der Menschenkunde. Wer bloß etwas
           Ohren, sondern mit dem Herzen hören. Der Darstellende                                   Angelesenes zum Besten gibt, wirkt anders, als wer die
           liefert Bausteine für die Wahrheitsfindung, er soll sich                                Menschenkunde verinnerlicht hat. Hier braucht man ein
           nicht einen lang angestauten Frust von der Seele reden.                                 kollegiales Empfinden, das imstande ist, das Können des
           Naturgemäß dauert dieser Teil oft zu lang. Jeder hat ja                                 anderen Kollegen zu würdigen. Hinhören und Zurückhal-
           etwas zu sagen, auch wenn man dasselbe sagt, wie der Vor-                               tung sind gefordert. Ein feines Gefühl für Evidenz wird sich
           redner. Es ist die einzige Gelegenheit, wo man aus Erfah-                               einstellen: Was ist stimmig, was nicht? Rudolf Steiner hat
           rung sprechen kann, aber man muss nicht alles wissen.                                   viele Hinweise für eine solche Interpretation gegeben, ein
                                                                                                   Kollegium sollte sich diese in den Konferenzen erarbeiten.
           Ein Gefühl für Evidenz stellt sich ein                                                  Meiner Auffassung nach liegt in Steiners Menschenkunde
                                                                                                   alles, was man braucht, um auch die heutigen Phänomene
           Nun wird es auffällig still. Wer kann denn etwas sagen?                                 zu verstehen.
           Wer kann sachgemäß interpretieren? Hier wird sich zei-                                  Hier ist auch der richtige Moment, um sich mit Empathie
           gen, wie weit ein Kollegium sich die Menschenkunde zu                                   zu fragen, wie würde ich mich fühlen, wenn ich so ge-

           erziehungskunst März | 2011
Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
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                                                                         Schildern
                                                                         Verstehen
                                                                         Helfen
                                                                         am Kind? Was eine stärkere intellektuelle Förderung oder
                                                                         eine mehr bildliche Ansprache des Kindes? Was eine mu-
                                                                         sikalische oder plastische Betätigung?
                                                                         Kann dem Kind geholfen werden mit Aufgaben der Erin-
                                                                         nerungsbildung oder durch Sprachübungen? Der Mög-
                                                                         lichkeiten sind viele. Erziehen, Unterrichten ist ein leises
                                                                         Heilen (Rudolf Steiner). Hier hilft der Wille zu helfen, we-
                                                                         niger der richtige Gesichtspunkt.
                                                                         Im Wesentlichen sind wir ja alle hilflos und können uns nur
                                                                         um Hilfsbereitschaft bemühen. Die Besprechung endet
                                                                         damit, dass festgehalten wird, wer was für den Schüler tut.
                                                                         Nach acht oder zehn Wochen blickt man zurück: Haben wir
                                                                         getan, was verabredet war und hat es gewirkt?

                                                                         Elternbeteiligung – eine Taktfrage

                                                                         Einem elementaren ethischen Empfinden folgend wird
                                                                         man so weit wie möglich immer die Eltern um Zustim-
                                                                         mung für eine solche Besprechung bitten und man wird
        strickt wäre? Wie fühlt sich der Drang nach ungestümer           sagen, warum man meint, sie sei angebracht. Prinzipiell ist
        Bewegung von innen her an, wie das Stottern, wie die             nichts dagegen einzuwenden, wenn Eltern (wenn sie das
        Legasthenie? Solche Fragen können über Unzulänglich-             wünschen) an der Besprechung teilnehmen. Ein Lehrer-
        keiten in der Erkenntnis der Menschenkunde hinweg                kollegium sollte sich aber fragen, ob das Verhältnis
        helfen, sollten aber nicht zum Selbstzweck werden.               zwischen Schule und Eltern deren Teilnahme zulässt. Das
        Wer gut zugehört hat, wird bemerken, dass das Kind, der          ist eine Takt- und keine Grundsatzfrage. Und Takt ist ja
        Schüler sich offenbart.                                          bekanntlich gesunder Menschenverstand mit Gefühl.

        Entscheidend ist der Wille zu helfen                             Die Kinder- oder Schülerbetrachtung ist ein Qualitätsinstru-
                                                                         ment das, vernünftig angewandt, seinesgleichen sucht. ‹›
        Und wie helfen wir jetzt? Zuerst suchen wir die Hilfe bei
        den Lehrern und der Pädagogik. Danach entscheidet sich,
        ob spezialisierte Hilfe nötig ist. Welcher Lehrstoff hilft bei   Zum Autor: Christof Wiechert ist ehemaliger Leiter der pädago-
        welchem Problem? Was bewirkt Rechnen? Was Zeichnen               gischen Sektion am Goetheanum. Zuletzt ist sein Buch Lust aufs
        oder gar Formenzeichnen? Was bewirkt eine Fremdsprache           Lehrersein im Verlag am Goetheanum erschienen.

                                                                                                    2011 | März erziehungskunst
Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
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      8 THEMA KINDERBETRACHTUNG

          Was ist eine Kinderbesprechung?
          mit Anna Seydel im Gespräch

          Erziehungskunst | Frau Seydel, den wenigsten Lesern der              AS | Zunächst deshalb, weil Entwicklung fast generell nicht
          Erziehungskunst wird wahrscheinlich bekannt sein, dass die           mehr problemlos verläuft. Die äußeren Bedingungen des
          Praxis der Kinderbesprechungen schon seit langem an                  Heranwachsens sind teilweise dramatisch komplizierter ge-
          Waldorfschulen existiert. Was ist eigentlich eine Kinderbe-          worden. Komplizierter sind auch die Familienverhältnisse
          sprechung?                                                           von Heranwachsenden, die Beziehung des Lehrers zu sich
          Anna Seydel | Eine Gruppe von Menschen möchte sich dem               selbst, zu den Kindern und die Zusammenarbeit mit Eltern
          Wesen eines Kindes erkennend zuwenden. Man geht dabei                und Kollegen geworden. Das kann dahin führen, dass ein
          von den Eindrücken aus, die man von diesem Kind hat, und             Klassenlehrer zu der Überzeugung kommt, ein Kind in
          reflektiert sie. Man wendet sich in der Regel Kindern zu, die        seiner Klasse nicht mehr tragen zu können, auch wenn es
          Entwicklungshemmungen oder -störungen haben, oder die                unter Umständen von anderen Lehrern oder den Eltern
          die Arbeit in der Klasse beeinträchtigen. Das sind zunächst          ganz anders gesehen wird. Eine Kinderbesprechung bietet
          äußere Anlässe. Man kann aber auch Kinder besprechen,                die Chance, die Betrachtung des Kindes auf eine neue Ebene
          die keine solchen Auffälligkeiten aufweisen. Durch das               zu heben und die Einstellung zu ihm zu beleben, aufzuhel-
          gemeinsame Anschauen gleichen sich persönliche Sicht-                len und zu klären.
          weisen, Animositäten und Vorbehalte bei den Erziehenden
          aus. Alle möglichen Gesichtspunkte kommen zusammen                   EK | Wie hat man sich eine Kinderbesprechung vorzu-
          und ergeben im Gespräch ein Gesamtbild.                              stellen?
                                                                               AS | Es gibt viele Formen. Ein Kind kann beispielsweise vom
          EK | Im Grunde bemüht sich doch jeder Lehrer um eine                 Klassenlehrer der Konferenz geschildert werden. Besser ist
          solche Kindererkenntnis und versucht, sein pädagogisches             es aber, man nimmt das Kind selber wahr. Das kann in der
          Handeln danach auszurichten. Wozu benötigt man dann                  Klasse sein: Man hospitiert zum Beispiel im Unterricht
          noch eine Kinderbesprechung?                                         eines anderen Lehrers oder man beobachtet das Kind auf
                                                                               dem Schulhof. Als besonders fruchtbar hat sich erwiesen,
                                                                               eine Gruppe von Kindern in die Besprechungsrunde einzu-
                                         Anna Seydel war lange Zeit            laden und etwas berichten oder vorführen zu lassen. Da hat
                                         Klassen- und Seminarlehrerin in       jeder Gelegenheit, das Kind, das besprochen werden soll,
                                         München und hat vor kurzem            wahrzunehmen und es mit Gleichaltrigen zusammen
                                         das Buch »Ich bin Du – Kinder-        zu sehen. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher
                                         erkenntnis in pädagogischer           Lebendigkeit, Treffsicherheit und Vielfalt danach Wahrneh-
                                                                               mungen zusammengetragen werden, die auch einen
                                         Verantwortung« veröffentlicht.
                                                                               Klassenlehrer überraschen.
                                         www.waldorfbuch.de

                                                                               EK | Also am Anfang steht die Beobachtung?
                                                                               AS | Ja. Dann folgt der Versuch, sich in das Kind zu versetzen,

          erziehungskunst März | 2011
Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
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                                                                                                                Durch das gemeinsame
                                                                                                                Anschauen gleichen sich
                                                                                                                persönliche Sichtweisen,
                                                                                                                Animositäten und
                                                                                                                Vorbehalte bei den
                                                                                                                Erziehenden aus.

        sich in das, was man bei ihm wahrnimmt, einzufühlen.                                     EK | Es geht also nicht nur darum, das zu beschreiben, was
        Also nicht sofort zu Interpretationen oder Urteilen zu                                   man am Kind wahrnimmt, sondern auch andere Kenntnisse
        kommen, sondern sich mit dem Kind in Einklang zu                                         mit einzubeziehen?
        versetzen.                                                                               AS | Ja. Da können einem die Berichte der Eltern eine große
                                                                                                 Hilfe sein. Aber immer geht es um Tatsächliches, nicht um
        EK | Noch einmal zur Beobachtung: Was wird da genau be-                                  Annahmen, Vermutungen, Interpretationen oder Theorien,
        obachtet?                                                                                sondern um Beobachtungen, um Wahrnehmungen.                   ›
        AS | Die einen sehen mehr das Äußere des Kindes: das Ge-
        sicht, den Kopf, die Hände, die Arme, die Gestalt und seine
        Körperhaltung, alles, worin sich ein Kind leiblich aus-
        drückt. Dann gibt es das mehr Habituelle, das Gewohn-
        heitsmäßige, wie ein Kind reagiert, ob es sich an etwas
        beteiligt, welche Neigungen es hat, welches Temperament.
        Ein weiteres Feld ist das Seelische: wie es sich denkend,
        fühlend und wollend in der Welt verhält, wie es sich in
        Kontakt zu anderen Menschen bringt, auch zu anderen Le-
        bewesen. Das drückt sich auch in seinen Bewegungen, in
        seinem ganzen Verhalten aus. Schließlich gibt es den in-
        tentionalen, den Willensbereich. Wie geht ein Kind zum
        Beispiel bestimmte Aufgaben an? Wie werden Denk-
        schritte vollzogen oder Arbeitsschritte individuell geplant
        und ausgeführt? Ein weiterer Aspekt ist das Schicksal eines
        Kindes. Es gibt signifikante, das ganze weitere Leben eines
                                                                       Fotos: Charlotte Fscher

        Menschen bestimmende biographische Ereignisse, Un-
        fälle, Krankheiten, Todesfälle, Verlust der Heimat oder
        eines Elternteiles. Auch Einzelheiten des Geburtsvorgan-
        ges gehören dazu.

                                                                                                                         2011 | März erziehungskunst
Erziehungskunst - Das Kind im Blic k - Stockholmsyndrom und Nächstenliebe Körperdominanz und Schulreife
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    10 THEMA KINDERBETRACHTUNG

       ›   EK | Worauf zielt dieses Sammeln von Tatsachen ab?
           AS | Dass man in ihnen und durch sie das Zusammen-
           hängliche erfasst: Das Wesen eines Kindes. Denn das Geis-
           tig-Seelische des Kindes selbst ist es, das die äußeren
           Tatsachen hervorbringt. Jede Einzelheit eines Äußeren ist
           Ausdruck des Wesens. Goethe spricht von dem »Auffinden
           eines prägnanten Punktes«, von dem aus sich einem das
           Wesen einer Erscheinung entgegenträgt, die Idee innerhalb
           eines sinnlich gegebenen Zusammenhangs.
                                                                         EK | Nun hat man diese Einfühlung, man empfindet sich
           EK | Wenn man diesen Punkt gefunden hat, versucht man         wie das Kind. Geht man dann weiter zu einer Maßnahme,
           dann die Eigenschaften des Kindes, sein Verhalten daraus      zu einer Entscheidung, wie man handeln soll?
           zu erklären?                                                  AS | Nicht gleich. Erst geht der Strom des Interesses zum
           AS | Nein, es ist eher so, dass man etwas findet, durch das   Kind, dann beginnt das Kind sich in mir auszusprechen.
           man sich gefühlsmäßig in das Kind hineinversetzen kann.       Jetzt antworte ich wieder, und diese Antwort ist eine
           Man versucht, mitzuerleben, wie es sich anfühlt, wenn man     Seelenantwort, in der ich den Ausgleich aufbringe zu dem,
           immer mit offenem Mund dasitzt und in die Gegend              was ich beim Kind als seine Schwäche erfahren habe.
           träumt. Dann bemerkt man, da sinkt einem immer etwas          Diese Antwort zielt darauf ab, ein Gleichgewicht herbei-
           weg. Das ist es, was einen mit dem Kind in Zusammenhang       zuführen, etwas zu heilen. Man fühlt, ein Kind braucht
           bringt. Man muss es nicht gleich verstehen. Der Lehrer oder   stärkere Struktur, ein anderes Ermutigung. Das ist zu-
           Therapeut muss die Verfassung des Kindes in sich erleben,     nächst nur eine gefühlte Antwort. Im kollegialen Gespräch
           das ist das Entscheidende.                                    kann man dann nach und nach versuchen, herauszufin-
                                                                         den, was eigentlich vorliegt. Was drückt sich darin aus, dass
           EK | Es geht also um Einfühlung, Empathie?                    sich ein Kind gegen die Umwelt abschottet? Die Maß-
           AS | Ja! Es geht darum, zu erleben: Das Kind kann ich in      nahme ist gar nicht das Ausschlaggebende, sondern dass
           mir fühlen, weil ich etwas in mir habe, das mir bei mir       die Erwachsenen sich dem Kind zuwenden und durch ihre
           selbst bekannt ist, und das ich deshalb bei ihm wieder-       Aufmerksamkeit, ihr Interesse, ihre Wärme für das Kind
           erkenne. Ich kann mir sagen: »Ich erkenne Dich, denn ich      erwachen. Wer nach einer Kinderbesprechung dem Kind
           bin Du!« Dadurch sagt mir das Kind, wer es ist. Indem ich     begegnet, tritt ihm instinktiv mit einer anderen inneren
           es erkenne, bringt es sich selbst in meinem Erkennen, in      Haltung gegenüber: Wenn ein Kind in seiner Haltung
           meinem Blick hervor. Es »wird« derjenige, den ich in ihm      schlaff ist und mutlos, vielleicht gar hoffnungslos er-
           sehe. Und in meinem Blick schließlich erkennt sich jetzt      scheint, wird der Erwachsene ihm vielleicht mit einer
           das Kind, empfindet sich wahrgenommen, kommt zu sich          inneren Gebärde der Ermutigung, des Sich-Aufrichtens
           selbst.                                                       entgegentreten. Er sagt nicht: »Nun sei doch etwas mut-

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        Das Kind kann ich in mir fühlen, weil ich etwas in mir habe,
        das mir bei mir selbst bekannt ist, und das ich deshalb bei ihm
        wiedererkenne. Ich kann mir sagen:
                     »Ich erkenne Dich, denn ich bin Du!«
        voller«, sondern er trägt ihm in seiner Haltung das Mut-           sprechungen verbunden sind? Immerhin geht man auf sehr
        volle, Hoffnungsvolle entgegen.                                    persönliche und intime Weise mit dem Kind um.
                                                                           AS | Das Problematische liegt darin, dass man oft nicht so
        EK | Unabhängig von therapeutischen Maßnahmen ist also             spricht, als wäre das Kind dabei. Man müsste sich stets be-
        schon allein die Tatsache, dass man das Bewußtsein auf das         wusst sein, dass jedes Negativurteil eine Kränkung des Kin-
        Kind lenkt, von Bedeutung?                                         des darstellt. Es geht nicht um positive oder negative Urteile,
        AS | Ja. Das wirksamste therapeutische Mittel, das wir haben,      sondern darum, dass das Kind sich in den Anwesenden aus-
        ist die Kinderbesprechung selbst. Was man dann konkret             zusprechen beginnt. Manche haben ein Problem mit dem
        unternimmt, das geschieht automatisch, man überlegt nicht          Sich-in-Einklang-Versetzen. Sie sagen: »Ich trete dem Kind
        lange. Man rutscht gleichsam von selbst in eine thera-             dadurch zu nahe«. Eigentlich fürchten sie sich davor, sich
        peutisch wirkende Gegenbewegung zu einer wahrgenom-                selbst ein Stück weit zu verlassen und in etwas einzu-
        menen Schwäche. Man entdeckt viele Möglichkeiten, durch            tauchen, was ihnen nicht so ganz geheuer ist. Wenn jemand
        den Unterrichtsstoff therapeutisch zu wirken. Einem Asth-          das Wachstum einer Pflanze mitmacht, dann sagt er ja auch
        matiker zum Beispiel habe ich damit geholfen, dass ich mit         nicht, ich trete der Pflanze zu nahe. Und so versuchen
        ihm täglich geflötet und ihm damit sein Ausatmen erleich-          wir, in der Individualgebärde des Kindes sein Wesen zu
        tert habe. Nach ein paar Jahren hatte er sein Asthma über-         erkunden.
        wunden.
                                                                           EK | Nehmen an Kinderbesprechungen auch Eltern teil?
        EK | Wie wird das Kind weiter begleitet? Gibt es bestimmte         AS | Wenn es geht. Ich befürworte, dass die Eltern beim
        Zeiträume, nach denen man sich wieder bespricht und das            Sammeln der Wahrnehmungen dabei sind. Ich habe viele
        Kind erneut anschaut?                                              Besprechungen im kleineren Rahmen mit Eltern gemacht.
        AS | Es ist natürlich sinnvoll, einem Kreis, in dem das Kind       In eine Konferenz mit 50 Lehrern würde ich die Eltern nicht
        besprochen wurde, nach einer gewissen Zeit zu erzählen,            so gerne einladen, das würde die meisten überfordern, denn
        was sich verändert hat. Und dann vielleicht nach einem Jahr        das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern ist tiefgründiger,
        erneut. Aber man kann auch erleben, wenn man ein Kind in           vielschichtiger und sehr intimer Natur. Aus diesen Gründen
        der zweiten Klasse bespricht, dass man es in den folgenden         ist es leicht störbar. Das würde ich nicht wollen. Ich würde
        Jahren nicht mehr zu besprechen braucht. Durch die Be-             das Kind immer mit den Eltern allein besprechen.
        sprechung und die Art, wie die Lehrer danach mit ihm um-
        gehen, stellt sich ein einigermaßen harmonisches Verhältnis        EK | Sollten die Eltern informiert werden, wenn eine Kinder-
        des Kindes zu sich selbst ein. Und darum geht es eigentlich,       besprechung stattfindet?
        dass das Individuelle des Kindes, das Geistig-Seelische, mit       AS | Unbedingt! Keine Schülerbesprechung, ohne den
        sich selbst ins Reine kommt.                                       Eltern zu sagen, was wir versuchen wollen und in welcher
                                                                           Form. Und keine Schülerbesprechung, ohne danach den
        EK | Gibt es Bedenken oder Probleme, die mit Kinderbe-             Eltern eingehend davon zu berichten. ‹›

                                                                                                     2011 | März erziehungskunst
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     12 THEMA KINDERBETRACHTUNG

          Was braucht eine gute
          Kinderbesprechung?
          von Klaus Hadamovsky

          Ohne Zeit, Ruhe und ungeteilte Aufmerksamkeit kann die Individualität eines Kindes in einer Besprechung nicht aufleuchten.
          Auch der Schularzt muss dabei über seinen professionellen Schatten springen.

          Empfinde ich eine Kinderbesprechung als gelungen, dann            sind zwei Aspekte der Subjektivität, die jeden gemeinsa-
          gehe ich daraus mit zwei Erlebnissen hervor:                      men Prozess sprengen können
          Erstens mit einer aktuellen Geist-Erfahrung. Unbeweisbar,
          aber so konkret, dass sich jede Diskussion erübrigt, ist          Wirklich mitmachen oder den Raum verlassen
          etwas geschehen zwischen mir und der geistigen Indivi-
          dualität des Kindes, die in der Besprechung aufleuchtete.         Vielleicht die unangenehmste Störwirkung geht von der
          Eine Berührung hat stattgefunden, die mich freudig erhebt         subjektiv erlebten Zeitnot aus. Die meisten Pädagogen bei-
          und aufrichtet.                                                   derlei Geschlechts vermitteln den Eindruck, sie hätten ei-
          Zweitens mit überraschend neuen Einfällen zur Förderung,          gentlich keine Zeit: Es gibt noch so unendlich viel zu tun
          Behandlung und gegebenenfalls weiteren Diagnostik                 an jeder Schule! Dabei gibt es doch nichts Wichtigeres als
          dieses Kindes.                                                    das, was man jetzt tut, in eben diesem Augenblick.
                                                                            Damit etwas Neues entstehen kann, müssen solcherlei
          Meines Erachtens hängt es von diesen beiden Erfahrungen           Subjektivitäten überwunden werden. Meinungen sind alte,
          ab, ob ein Kollegium gedeiht. Teilt es solche Erlebnisse, dann    subjektive Urteile, die man mitbringt. Mögen sie auch erst
          wächst es zusammen, kann sich seelisch-geistig ernähren           vor wenigen Minuten entstanden sein – dem wirklich
          und widersteht dem burn-out. Wenn der Mathelehrer, ein er-        Neuen stehen sie im Wege. Sie werden am leichtesten
          klärter Agnostiker und gefürchteter Zyniker, nach der Kon-        überwunden, wenn man sich ein umfassendes Bild macht.
          ferenz mit blitzenden Augen verkündet, er habe da gerade          In dieser Vollständigkeit kann das nur von einem Kolle-
          so eine Idee, wie er den besprochenen Jungen jetzt anpacken       gium geleistet werden, weil dem Einzelnen die Wahrneh-
          könne, – dann hatte der gute Mann soeben einen Geistes-           mungen und Blickwinkel der anderen fehlen. Wenn dabei
          blitz, sprich eine Intuition, egal, wie er das in seinem Voka-    wirklich alle Betroffenen zu Wort kommen sollen, braucht
          bular nennt, und er nimmt teil an dem Prozess.                    das seine Zeit – mindestens eine dreiviertel Stunde.
          Vor einer sinnvollen Teilhabe an einer Kinderbesprechung
          sind allerdings Hindernisse zu überwinden. Die schwersten         Wer nicht betroffen ist, sollte sich betroffen machen, das
          errichten die Teilnehmer selbst. Man kommt mit Meinun-            heißt, interessieren und konzentrieren oder den Raum ver-
          gen in die Konferenz, mit subjektiven Urteilen, die man           lassen. Eine Predigt in der Kirche hält es ja vielleicht aus,
          gerne austauschen, bestenfalls bestätigt finden möchte. Statt-    wenn in der ersten Bank jemand schnarcht – eine Kinder-
          dessen geht es um etwas vollständig Neues.                        besprechung verträgt es nicht, wenn jemand döst, tuschelt
          Manche Gesprächsteilnehmer verhalten sich desinteres-             oder auch nur still Hefte korrigiert. Es ist wie mit zahlrei-
          siert und disziplinlos, weil sie das Kind, das besprochen         chen anderen Errungenschaften der Kultur: Ein Einzelner
          wird, nicht betrifft. Desinteresse und Disziplinlosigkeit         kann sie nicht herstellen, wohl aber zerstören.

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        Ob das Bild des Kindes so deutlich wird, dass es Leuchtkraft        fähigkeiten und Elternmacken. Die Wahrnehmungen der
        gewinnt und die geistige Individualität ahnen lässt, hängt von      Bedächtigeren kommen nicht zu Wort. Man geht mit In-
        der Mitarbeit sämtlicher Anwesenden ab. Ich frage mich              formationen nach Hause statt mit einer Intuition.
        nach mehreren Jahrzehnten der Teilnahme an solchen                  Klassen- und Fachkonferenzen, in denen nur die kleine
        Veranstaltungen, ob sich das in Kollegien von 30, 40, 60            Zahl unmittelbar beteiligter Lehrkräfte zusammensitzt,
        Lehrern überhaupt methodisch herbeiführen lässt; ob es              finden offensichtlich leichter zu diesem Ziel, wenn sie sich
        nicht vielmehr ein Glücksfall ist, wenn es einmal gelingt.          denn die Zeit lassen, methodisch zu arbeiten und nicht nur
                                                                            Meinungen auszutauschen.
        Bei Zeitdruck setzen sich die großen Redner durch
                                                                            Die Verknüpfung medizinisch-therapeutischer mit päda-
        Nur angesichts eines gemeinsam völlig neu erstellten                gogischen Gesichtspunkten in der Kinderbesprechung ist
        Wahrnehmungsbildes kann man überhaupt zu einer Ur-                  nach meiner Einschätzung nur fruchtbar, wenn diese bei-
        teilsbildung über ein Kind kommen und in eine Be-                   den Erfahrungen gemacht werden: die innerste Berührung
        schlussphase eintreten, die für alle Beteiligten Neues              mit der Individualität des Kindes und die Intuition völlig
        erwarten lässt. Auch dies braucht Zeit und Ruhe. Bei Zeit-          neuer Einfälle. Wenn nicht, verbleibt man im Erfahrungs-
        druck setzen sich sofort die brillantesten Redner durch, die        wissen, gibt ärztliche Tipps und Informationen weiter –
        genialsten Charakterisierer und Glossierer von Kinder-              nichts, was das Leben wirklich ändern könnte.                          ›
                                                                                                    2011 | März erziehungskunst
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     14 THEMA KINDERBETRACHTUNG                                                                   Disziplin
           Kinderbesprechungen leben von der
           methodischen Disziplin und                                                   Kompetenz
           Kompetenz ihrer Teilnehmer
                                                                                             . . ..
           und brauchen Intimität.
                                                                                          Intimität
       ›   Auch die Eltern brauchen eine Intuition                         Selbsthilfegruppen. Da die Teilnehmer miteinander unge-
                                                                           übt sind, brauchen sie mehr Zeit für die Bildgestaltung,
           Aber auch eine gelungene Kinderbesprechung mündet               etwa zehn Minuten pro Person. Für Bildaufbau, Urteils-
           nicht selten in eine herbe Enttäuschung. Man möchte als         bildung, Beschluss-Phase und Rückschau über das soeben
           Pädagoge oder Arzt die Resultate mit den Eltern erörtern –      Erlebte braucht man also mindestens neunzig Minuten.
           und diese ziehen nicht richtig mit! Sie können nicht, denn      Bei sämtlichen Schritten sollten die erprobten Grundregeln
           man teilt ihnen die neuen Erkenntnisse mit, statt dass man      aller Selbsthilfegruppen eingehalten werden. Erstens:
           ihnen dazu verhilft, sie selbst zu gewinnen. Man bringt sie     keine Fragen, zweitens: keine Ratschläge. Schließlich sind
           dabei um den Prozess, der sie in der Stunde der Not –           die Eltern betroffener als alle übrigen Teilnehmer und rea-
           wann sonst werden Kinderbesprechungen gehalten? – von           gieren zu Recht empfindlich auf Grenzverletzungen durch
           ihrer eigenen Subjektivität erlösen und selbst intuitionsfä-    lenkende oder bohrende Fragen und pädagogische Rat-
           hig machen könnte, reif für unerhörte neue Einsichten           schläge.
           über ihr Kind und vor allem: für Handlungsimpulse.              Wenn man sie nicht mit unverständlichem Vokabular
           Soll man also die betroffenen Eltern in die Kinderbespre-       zutextet, sind eigentlich alle Eltern spirituell viel offener
           chungen einbeziehen? Unsinn! Alle Beteiligten wären             und belastbarer, als man erwartet. Wenn mir hinterher ein
           überfordert. Diese Gespräche leben von der methodischen         Vater, Hardcore-Autoverkäufer einer Nobelmarke, mit
           Disziplin und Kompetenz ihrer Teilnehmer und brauchen           etwas feuchtem Blick erklärt, er habe die ganze Zeit sich
           Intimität; das habe ich hoffentlich deutlich ausgedrückt.       selber gesehen als kleinen Jungen: Nun ja, dann hatte er
                                                                           halt seine Intuition … Wie immer er das benennt, es wird
           Das Dilemma lässt sich jedoch lösen, indem man Helfer-          segensreiche Folgen haben.
           Runden einrichtet, Rundgespräche, an denen sich alle be-        Gewiss sind solche Rundgespräche sehr aufwändig und
           teiligen, die sich unmittelbar für dieses Kind verantwortlich   keineswegs für jedes Kind erforderlich. Aber in vielen Pro-
           fühlen: Eltern, Klassenlehrer, der Schularzt, vielleicht be-    blemfällen bewähren sie sich und es spielt dabei keine
           stimmte Fachlehrer, gegebenfalls weitere Familienangehö-        Rolle, ob die Betroffenen das Problem mehr beim Kind
           rige und Therapeuten von inner- wie außerhalb der Schule.       oder bei den beteiligten Erwachsenen lokalisieren. ‹›
           Die Eltern stehen im Mittelpunkt dieser Gespräche und
           entscheiden, wen sie dabei haben möchten, gemeinsam
           mit Klassenlehrer oder Schularzt.

           Ein Vater sieht sich selbst
                                                                           Zum Autor: Klaus Hadamovsky ist Schularzt an der Flensburger
           Meist entstehen dabei Gesprächskreise von fünf bis sieben       Waldorfschule. Als Arzt für Allgemeinmedizin betreibt er
           Teilnehmern, die verblüffend effizient arbeiten. Im Grunde      gemeinsam mit seiner Frau die medizinisch-pädagogische Praxis
           handelt es sich um spontan gebildete spirituell-pädagogische    für Entwicklungs-Hilfe und Therapie in Flensburg.

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        Der Blick des Schularztes auf das Kind
        von Christoph Buschmann

        Xaver aus der zweiten Klasse kann nicht an seinem Platz sitzen bleiben. Er spaziert im Klassenzimmer herum, redet hier mit
        einem Freund, dort mit einem anderen. Dieses Verhalten war schon am Anfang der ersten Klasse zu beobachten, es ist nicht
        untypisch für eben eingeschulte Kinder. Bei Xaver aber legte sich dieses Verhalten nicht allmählich, sondern verstärkte sich in der
        zweiten Klasse. Da die Bemühungen der Lehrkräfte wenig fruchteten, schlug die Lehrerin eine Kinderbesprechung vor.

        Wenn Lehrer vor solchen Rätseln stehen und in ihren Be-            ten, dass zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr
        mühungen nicht weiterkommen, kann eine Kinderbe-                   das Zentrum der Entwicklungsdynamik im rhythmischen
        sprechung weiterhelfen. Neben den beteiligten Lehrern              System, das heißt in den Bewegungen des Kreislauf- und
        und meist den Eltern sind auch der Schularzt und Thera-            Atemsystems liegt. Es besteht ein enges Verhältnis zwi-
        peuten anwesend.                                                   schen der Muskulatur und dem Rhythmus dieser beiden
        Was können medizinische Gesichtspunkte den pädagogi-               Organsysteme. Das Kind lebt nur von dem, was ihm im
        schen hinzufügen? Es ist die Aufgabe des Schularztes, die          künstlerischen Gewand aus der Welt und aus der Pädago-
        seelisch-soziale Sicht des Pädagogen durch die körperlich-         gik entgegenkommt. Alles, was nicht Rhythmus und Takt
        individuelle des Arztes zu ergänzen. Selbstverständlich            hat, kann das Kind nicht aufnehmen. Gut zu beobachten
        schaut der Pädagoge jedes Kind individuell an, aber er geht        ist, wie jüngere Kinder Geschichten, Lieder, kleine Spiele
        doch primär von der Klasse, der Gruppensituation und               immer wiederholen wollen. Das einmal Erlebte geht an
        dem damit verbundenen Verhalten aus. Er sieht das Kind             ihnen vorbei.
        vor diesem Hintergrund.                                            Wenn das Kind das zwölfte Lebensjahr überschritten hat,
        Die Sichtweise des Arztes ist schon durch die äußeren Um-          ändern sich seine Bewegungen. Vorher waren sie zentriert,
        stände anders: Er sieht das Kind meist im Schularztzimmer          rhythmisch, wie eine Gesamtgestalt von innen heraus ge-
        ohne die Klassenkameraden und auch bei einer Hospitation           führt. Jetzt, wenn die Extremitäten zu wachsen beginnen,
        ist seine Aufmerksamkeit vor allem einzelnen Kindern ge-           werden die Bewegungen ungelenk, schwer, mechanisch.
        widmet. Nun ist das Ziel der Kinderbesprechung, das Kind           Sie gehen nicht mehr von der Muskulatur aus, sondern von
        in seiner Ganzheit zu erkennen. Dazu muss neben dem see-           dem Skelettsystem, das nun dominiert.
        lisch-sozialen der physisch-leibliche Anteil betrachtet wer-       Jetzt hat sich der geistig-seelische
        den. Das ist der Beitrag des Schularztes.                          Mensch, das vorgeburtliche
        Die Waldorfschule macht die Entwicklung des Kindes,                Ich, in das Skelett hinein
        nicht nur die intellektuelle und seelische, sondern auch die       begeben. Diese Aus-
        physiologische, zur Grundlage einer altersgemäßen Päda-            einandersetzung des
        gogik mit einem altersspezifischen Lehrplan. Durch die             Jugendlichen mit der
        »Menschenkunde« komme ich zu einem ganzheitlichen                  Schwere in seinem
        Betrachten des Kindes, zu einer wirklichen Psychosoma-             Skelett bringt sei-
        tik. Betrachte ich die Bewegung des Kindes im Verhältnis           nen Organismus in
        zu seiner logischen Denkfähigkeit, so kann ich beobach-            die Lage, Mecha- ›

                                                          2011 | März      erziehungskunst
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                                                                                                                       aus medizinischer Sicht Folgendes zum
                                                                                                  Vorschein: In der Bewegung zeigt er einen Duktus wie ein
                                                                                                  Kleinkind. Das Kind im ersten Jahrsiebt bewegt sich vom
                           ›   nisches, Dynamisches und Logisches denken zu können.               Kopf aus, ähnlich wie eine Marionette, deren Extremitäten
                               Dieses Denken findet erstaunlicherweise eben im Leib, das          wie unverbunden mit dem Körper ihre Bewegungen aus-
                               heißt im Skelett statt, und wird nur im Gehirn ins Bewusst-        führen. Kopf, Rumpf und Extremitäten bewegen sich nicht
                               sein gehoben.                                                      zusammenklingend, nicht wie aus einem Guss. So bewegt
                               In der Vorschulzeit liegt der Entwicklungsschwerpunkt im           sich Xaver immer noch. Von seiner Gestalt her ist er ein groß-
                               Kopfbereich. Nach dem Zahnwechsel wandert die Entwick-             köpfiges Kind, also auch körperlich dem Kleinkindlichen zu-
                               lungsdynamik in den Brustbereich, in das rhythmische Sys-          geneigt. Als er vor zwei Jahren eingeschult werden sollte,
                               tem, das sich im zweiten Jahrsiebt entwickelt, wie sich das        kam eine Zurückstellung nicht in Frage: intellektuell und
                               Nerven-Sinnessystem im Kopfbereich im ersten Jahrsiebt             motorisch war er schon zu weit entwickelt.
                               entwickelt hat. Diese Entwicklung wird angestoßen durch die        Die Kinderbesprechung ergab einige neue Erkenntnisse.
                               vorgeburtlichen seelisch-geistigen Kräfte, die im Verlauf der      Xaver weicht in seiner Bewegungsentwicklung von seinen
                               Kindheit und Jugendzeit den Menschen vom Kopf über die             Klassenkameraden ab. Hierbei handelt es sich aber nicht
                               Brust und dann zum Schluss im Stoffwechsel-Gliedmaßen-             um eine neurologische Erkrankung, sondern um den Bewe-
                               Bereich gestalten.                                                 gungsduktus, die Bewegungsgestalt. Die Teilleistungs-
                               Um das Beispiel von Xaver wieder aufzugreifen: Ist sein Ver-       störungen und psychosozialen Defizite, die in der Kinder-
                               halten altersgemäß? Oder steht ein individuelles Problem, sei-     besprechung offenkundig wurden, können nun durch kon-
                               ner Entwicklung im Wege? Die Menschenkunde kann zu                 krete medizinische und pädagogische Maßnahmen ange-
                               einem Spiegel werden, der hilft, das einzelne Kind zu sehen.       gangen werden. Insgesamt ermöglichte die Kinderbe-
                               Wenn die körperlich-menschenkundlichen Aspekte für die Er-         sprechung ein vertieftes Verständnis Xaver gegenüber.
                               ziehenden nicht zugänglich sind, besteht die Gefahr, schnell       Die Kinder in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen, ist das
                               in eine psychologisierende Haltung hineinzuschlittern, die         Tor zum Heilen. Dies drückt der Satz aus: »Erziehen ist lei-
                               nach einsehbaren Gründen und Schuldzuweisungen sucht.              ses Heilen, Heilen ist spezialisiertes Erziehen.« Dieser Heil-
                               Denn es besteht im gesellschaftlichen Umgang mit kindlichen        impuls liegt der Waldorfpädagogik zu Grunde. Steiner wollte
                               Schwierigkeiten – durchaus auch in der Waldorfschule – ein         durch diese Pädagogik ermöglichen, dass die Kinder zu ge-
                               sehr enges Verständnis von so genannter normaler Entwick-          sunden Erwachsenen heranwachsen, wodurch sie sich eher
                               lung, wobei einem Kind gerne schnell Diagnosen angeheftet          zu freien Menschen entwickeln können. Die Sichtweise des
                               werden zum Beispiel ADS oder autistische Züge.                     Schularztes ist eine Hilfe auf diesem Weg. ‹›
                               Durch die Menschenkunde und auch die Einbeziehung                  Zum Autor: Christoph Buschmann ist Schularzt an der Freien
                               karmischer Aspekte können wir die Kinder etwas tiefer und          Waldorfschule Augsburg und Allgemeinarzt in einer Gemeinschafts-
                               mit mehr Wärme betrachten.                                         praxis.

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        Entwickeln im Dialog
        Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie zu Kinder-
        betrachtungen im Kindergarten
        von Daniela Heidtmann und Reinhold Schmitt

        Das Kollegium des Waldorfkindergartens Gänsweide in Mannheim-Neckarau war einverstanden, sich bei Kinderbetrachtungen
        von Wissenschaftlern auf Video aufnehmen und die Aufnahmen auswerten zu lassen. Herausgekommen ist die erste empirische
        Untersuchung darüber, was bei der Durchführung von Kinderkonferenzen geschieht: die Studie »Waldorfpädagogischer Ent-
        wicklungsdialog. Eine Interaktionsanalyse«.

        Messen, Bewerten, Vergleichen – im öffentlichen Diskurs       Wie erfassen Erzieherinnen den Entwicklungsstand
        setzt man zur Erfassung der kindlichen Entwicklung meist      eines Kindes?
        auf quantitative Erhebungsverfahren. Das Kind wird auf
        der Grundlage zuvor festgelegter Fragen beobachtet, der so    Die Leitfrage der Untersuchung war: Was machen Waldorf-
        erhobene Entwicklungsstand anschließend festgehalten:         erzieherinnen genau, wenn sie versuchen, den Entwick-
        entweder in Form eines frei formulierten Antwortsatzes        lungsstand eines Kindes zu erfassen? Waldorfpädagogen
        oder als Kreuz auf dem Multiple-Choice-Fragebogen.            kennen die Antwort: Sie beobachten das Kind systematisch
        Viele Waldorfpädagogen zögern, ein Kind auf einer vorge-      über einen längeren Zeitraum, machen sich ein Bild und
        fertigten Grundlage zu beurteilen. Was aber hat die           tauschen sich dann mündlich im Kreis von Kollegen in-
        Waldorfpädagogik an Alternativen zu bieten, wenn es um        tensiv über dieses Kind aus. Kinderbeobachtung, Kinder-
        frühkindliche Entwicklungsdiagnostik und Förderung geht?      betrachtung, Kinderbesprechung, Kinderkonferenz sind
        Aus dieser Frage ist ein Forschungsprojekt entstanden, das    die Bezeichnungen, die in der Waldorfpädagogik für diese
        im Auftrag des Bundes der Freien Waldorfschulen und der       Form der Entwicklungsdiagnostik verwendet werden.
        Vereinigung der Waldorfkindergärten Anfang 2010 von           In den verschiedenen Benennungen mag sich eine grund-
        uns durchgeführt wurde und dessen Ergebnisse nun vor-         sätzliche Erfahrung spiegeln: Kinderbetrachtungen sind
        liegen. Ziel des Projektes war es zu erforschen, wie die      unterschiedlich. Sie verlaufen nie gleich. Sie sind so ver-
        Waldorfpädagogik mit der Individualdiagnostik umgeht.         schieden wie die Kinder, um die es geht, und auch so
        Nicht die Theorie, das Ideal oder die Anleitungen aus Lehr-   verschieden wie die Erzieherinnen, die daran teilhaben.
        büchern standen im wissenschaftlichen Fokus, sondern          Aber sie haben dennoch einen gemeinsamen Kern. Dieser
        das wirkliche Vorgehen in einer Waldorfeinrichtung.           Kern besteht aus den Anforderungen, die die Anwesenden        ›

                                                                                 ?
             Was hat die Waldorfpädagogik an Alternativen zu bieten,
             wenn es um frühkindliche Entwicklungsdiagnostik und
                                Förderung geht

                                                                                              2011 | März erziehungskunst
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     18 THEMA KINDERBETRACHTUNG
       Foto: Charlotte Fischer

       ›                         bearbeiten müssen, wenn sie sich dem Kind im Gespräch         Wie genau dies jedoch sprachlich geschieht, ist den prak-
                                 annähern. Sie müssen zum Beispiel das Kind genauestens        tisch Handelnden zumeist nicht bewusst. Und genau hier
                                 darstellen, Fragen und Ergänzungen zu der Darstellung         setzt die Studie an: Mit einer soziologischen Forschungs-
                                 formulieren und versuchen, den Kern des kindlichen            methode identifiziert sie diese Anforderungen und die
                                 Wesens zu erfassen. Diese Anforderungen sind immer die        sprachlich-interaktiven Techniken, mit denen sie bearbeitet
                                 gleichen, unabhängig, ob ein Kindergartenkind oder ein        werden.
                                 Schüler betrachtet wird. Sie müssen von den Erzieherin-
                                 nen oder Lehrern bearbeitet werden, wenn sie sich im Ent-     Beschreiben, ohne zu werten – sprachlich-interaktive
                                 wicklungsdialog um den Entwicklungsstand eines Kindes         Techniken
                                 kümmern.
                                                                                               Viele der in der Studie identifizierten sprachlich-interakti-

                                 innig                                                         ven Techniken reagieren auf den Anspruch, das Kind ohne
                                                                                               Wertung zu präsentierten und es nicht vorab auf eine Ka-
                                                                                               tegorie, wie zum Beispiel »Träumer«, »Prinzessin« oder
                                 liebevoll                                                     ähnliches festzulegen. Wie aber geht das? Wie realisiert die
                                                                                               Erzieherin diese Grundhaltung dem Kinde gegenüber?

                                 rücksichtsvoll                                                Beispielsweise, indem sie das Kind, anhand unterschied-
                                                                                               licher Konzepte beschreibt: »… ein feiner Mensch, der da daher
                                                                                               kommt, ganz innig, ganz innig und liebevoll und rücksichtsvoll.«

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                                                                                                      innig
                                                                                                   liebevoll
                                                                                              rücksichtsvoll
        Die Erzieherin bezeichnet das Kind als feinen Menschen.          Fülle an Informationen: das Kind beim Sandkuchenver-
        Aber bei dieser Beschreibung bleibt sie nicht stehen und         zieren, beim Förmchenumdrehen, beim Ausmisten des
        legt das Kind darauf fest. Sie verdeutlicht vielmehr, was den    Schafstalles, beim Schneckensammeln. Zudem wird die
        »feinen Menschen« ausmacht, indem sie verschiedene               motorische Entwicklung des Kindes charakterisiert: gezielt
        Beschreibungen variiert (er ist innig, innig, liebevoll, rück-   setzen, gut umdrehen, das heil bleibt, da ankommt, wo es hin
        sichtsvoll). Das Innige wird wiederholt, da es für die Cha-      soll, liebevoll setzen. Außerdem wird deutlich, dass das Kind
        rakterisierung des Kindes besonders wichtig ist. Während         eher im Alleinspiel als im Spiel mit anderen Kindern be-
        das Innige auch in Situationen aufscheinen kann, in denen        schrieben wird.
        das Kind allein und selbstvergessen spielt, verweisen die        Es ist diese Detailliertheit und Präzision der Beschreibung
        Konzepte »liebevoll« und »rücksichtsvoll« auf den Um-            unterschiedlichster Situationen und Verhaltensweisen, die
        gang des Kindes mit Anderen.                                     für den Entwicklungsdialog insgesamt charakteristisch ist.
        Dieses kurze Beispiel mit einer Sprechdauer von nur we-
        nigen Sekunden verdeutlicht, wie die Anforderung, das            Der Dialog als Grundlage für Entwicklung
        Kind ohne Bewertungen und Kategorien zu beschreiben,
        sprachlich mit Hilfe der Technik »Konzeptvariation« be-          Damit diese Annäherung gelingen kann, ist eine Voraus-
        wältigt wird. Viele Konzepte werden zur Beschreibung des         setzung unerlässlich: Es muss ein Dialog zwischen den Er-
        Kindes aneinandergereiht. Begriffe, die sich im Kern äh-         zieherinnen stattfinden. Denn schon dann, wenn die
        neln, aber gleichzeitig auf unterschiedliche Weltaus-            Erzieherin, die das Kind im Vorfeld intensiv beobachtet
        schnitte verweisen.                                              und wahrgenommen hat, für die Anderen ihren Eindruck
        Wie erreicht es die darstellende Erzieherin, den Anwesen-        schildert, erlebt sie beim Formulieren, ob ihre Beobachtun-
        den ein umfassendes Bild des Kindes zu geben, das seiner         gen wirklich dem Kind gerecht werden. Sie kann sich selbst
        Einzigartigkeit gerecht wird? Beispielsweise, indem sie die      reden hören und nimmt wahr, wie ihre Kolleginnen auf das,
        Zuhörer in unterschiedliche Situationen des Kindergarten-        was sie sagt, reagieren. Im Aussprechen liegt für die Prä-
        alltags entführt, in denen das Kind dargestellt wird (Morgen-    sentierende ein wesentliches Moment der Erkenntnis.
        kreis, Freispiel, Essenszubereitung, Draußenspiel …):            Dieses Miteinander-im-Gespräch-Sein bildet einen schüt-
        »… konnte ich draußen schon beobachten, dass sie dann ganz       zenden Rahmen für das Kind. Durch Nachfragen oder Er-
        gezielt zum Beispiel Blüten auf einen Sandkuchen setzen kann,    gänzungen wird verhindert, dass das Kind einzig auf eine
        ohne dass der kaputt geht oder auch die Förmchen gut umdre-      Sichtweise einer Erzieherin festgelegt wird. Alle sind be-
        hen kann und das dann heil bleibt, bei den Schafen die Köttel    müht, sich vollständig auf das Kind einzulassen und ihre
        auf die Schaufel schiebt und das wirklich auch da ankommt,       Sichtweisen zusammenzubringen. Gemeinsam suchen sie
        wo es hin soll, oder wenn sie Schnecken sammelt, die auch lie-   nach Hilfestellungen, die das Kind im Kindergarten in sei-
        bevoll in die Förmchen setzen kann.«                             ner weiteren Entwicklung unterstützen können.
        Obwohl das Zitat nur ein winziger Ausschnitt dessen ist,         Da dem Dialog ein so zentraler Stellenwert zukommt,
        was alles zum Draußenspiel gesagt wird, enthält es eine          haben die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Vorschlag         ›
                                                                                                  2011 | März erziehungskunst
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    20 THEMA KINDERBETRACHTUNG

      ›   eines neuen Namens geführt: Wir sprechen vom Waldorf-           Die Waldorfpädagogik besitzt mit dem Entwicklungsdialog
          pädagogischen Entwicklungsdialog.                               ein mächtiges Diagnostikverfahren, das in vielerlei Hinsicht
          Der Dialog ist dafür verantwortlich, dass mannigfaltige         die besondere pädagogische Grundhaltung repräsentiert. Es
          Entwicklungen in Gang kommen (daher: Entwicklungs-              ermöglicht nicht nur, das Kind in einer ihm angemessenen
          dialog). Die Studie führt ein ganzes Spektrum von Ent-          Weise zu erfassen, sondern auch Hilfen zu entwickeln und
          wicklungen an, von denen hier nur einige genannt werden:        umzusetzen, die maßgeschneidert sind und dem individu-
                                                                          ellen Kind gerecht werden.
          • Es geht um den Entwicklungsstand eines Kindes.                Darüber hinaus – und nicht weniger wichtig – liegt im Ent-
            Dieser wird genauestens dargestellt.                          wicklungsdialog ein Schlüssel zur Qualitätssicherung: Im
                                                                          Gespräch wird es den Beteiligten ermöglicht, kontinuierlich
   Entwicklungsstand des Kindes                                           von erfahrenen Kollegen zu lernen und sich selbst durch das
          • Im Dialog entwickelt sich das Bild des Kindes:                eigene Tun zu verbessern. Sie lernen, Entwicklungsdialoge
            Es wird immer komplexer und differenzierter.                  durchzuführen und Ideen für eine konkrete Hilfestellung zu
                                                                          entwickeln. Regelmäßig Entwicklungsdialoge durchzufüh-
   Bild des Kindes                                                        ren, ermöglicht allen Teilnehmenden, sich im gemeinsamen
          • Die Erzieherinnen entwickeln konkrete Hilfen für              Tun zum Wohle der Kinder zu verbessern und weiterzubil-
            das Kind.                                                     den. Deshalb sollte der Entwicklungsdialog im Kindergarten
                                                                          und in der Schule, aber auch in der in der Aus- und Fortbil-
   Hilfen für das Kind                                                    dung von Waldorfpädagogen, eine zentrale Rolle spielen. ‹›
          • Die Beziehungen der Erzieherinnen zum Kind
                                                                          Zu den Autoren: Dr. Daniela Heidtmann: Kommunikationswissen-
            entwickeln sich.
                                                                          schaftlerin und -beraterin, Yogalehrerin. Promotion in Linguistik,
   Beziehungen zum Kind                                                   Dissertation zu Unterrichtskommunikation, ehemalige Mitarbeiterin
                                                                          des Instituts für Deutsche Sprache (IDS Mannheim), Mitarbeiterin der
          • Die Beziehungen der Erzieherinnen untereinander               Freien Hochschule Mannheim.
            entwickeln sich, weil sie sich intensiv austauschen.          Dr. Reinhold Schmitt: Interaktionsanalytiker, Kommunikations-
                                                                          berater, Forschungsschwerpunkt: Unterrichtskommunikation.
   Beziehungen untereinander                                              Promotion in Soziologie. Mitarbeiter des Instituts für Deutsche
          • Die Kompetenz, einen Entwicklungsdialog durchzu-              Sprache (Mannheim).
                                                                                                                          Daniela Heidtmann                |    Reinhold Schmitt
            führen, entwickelt sich durch die gemeinsam
                                                                          Das Buch Entwicklungsdialog.
            gemachten Erfahrungen, auf die man in folgenden
                                                                          Eine Interaktionsanalyse im Waldorfkinder-
            Entwicklungsdialogen zurückgreifen kann.
                                                                          garten von Daniela Heidtmann und

   Kompetenzen                                                            Reinhold Schmitt ist im Verlag für Wissen-
                                                                          schaftstransfer erschienen. Bestellung unter:
                                                                                                                          Entwicklungsdialog
                                                                                                                          Eine Interaktionsanalyse im Waldorfkindergarten

                                                                          www.entwicklungsdialog.de

          erziehungskunst März | 2011                                                                                      Verlag für   Wissenschaftstransfer
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                                                                                                                                        Foto: Charlotte Fischer
        Handwerkszeug im Hortalltag
        von Kathrin Heinz

        Dass Kinder ihren Tag nach der Schule zu Hause verbringen, da die Eltern beide berufstätig sind, hat heute Seltenheitswert.
        Immer mehr Kinder, je nach Bundesland bis zu 100 Prozent, besuchen nach der Schule Horte, Nachmittagsbetreuungen und
        Kindertagesstätten. Auch die Waldorfschulen bieten inzwischen diese Rundum-Betreuung.

        Seit vielen Jahren übt sich die »Hortbewegung« in der            sofort lachend durchschaut. Seither wendet er sich gerne
        empathischen Beobachtung und der vertiefenden Betrach-           solch schnöden Aufgaben zu wie Spielzeugkisten sortieren,
        tungsweise des Kindes. Dieses »Handwerkszeug« für die            Bausteine aufräumen oder gar das Puppenhaus auf Vorder-
        Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher im nachschuli-             mann bringen. Bei der Apfelernte konnte er geschickt zu
        schen Bereich erschließt mannigfaltige Möglichkeiten.            den höchsten Zweigen klettern und freudig überrascht er
                                                                         die anderen mit den leckeren Äpfeln, die er wäscht, schnei-
        Hänschen, zum Beispiel, ist ein schlauer Fuchs. Als fünftes      det und auf einem Teller schön präsentiert. Er kann sich nun
        und jüngstes Kind in der Familie und durch seine zarte           in der Gruppe behaupten und wird ernst genommen. Nun
        Konstitution erschien er hilflos, etwas dümmlich und noch        bringt er sich gerne tatkräftig oder mit guten Ideen ein.
        zu klein, um selbstständig etwas machen zu können.               Seine Klugheit wird von den anderen immer mehr geachtet
        Über einen intensiven Austausch in unserem Mitarbeiter-          und er darf zeigen, was er schon alles kann.
        kreis, angelehnt an die Methode von Anna Seydel, kamen           Das Selbstvertrauen, das er am Nachmittag gewonnen hat,
        wir zu der Erkenntnis, dass sich hinter seiner äußeren Er-       wirkt in die Schule hinein und hilft ihm, seine Rolle als
        scheinung ein starkes, aufgewecktes, intelligentes und aus-      Clown und seine Verträumtheit Schritt für Schritt abzu-
        gleichendes Wesen verbirgt.                                      legen. Sein leicht egozentrischer Umgang mit den Ge-
        Das veränderte unsere Haltung ihm gegenüber. Nun be-             schwistern und seine Eifersucht auf die Großen stehen
        gegnen wir ihm mit einer gehörigen Portion Humor, den er         ihm nicht mehr im Weg.                                         ›
                                                                                                  2011 | März erziehungskunst
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