EINSICHTEN PERSPEKTIVEN - Bayern.de
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Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, Autorinnen und Autoren dieses Heftes Ich lerne jetzt schon wochenlang Englisch, aber glaubst Du, ich komme Dr. Anke Buettner ist Literaturwissenschaftlerin weiter? Ausgeschlossen. Ich glaub, dass ich‘s nie kapiere. Das kommt wohl und leitet seit 2019 die Monacensia im Hildebrand- auch davon, weil ich all diese lateinischen Ausdrücke wie ‚Verb’, ‚Adverb’ haus in München. und Maskulinum und was weiß ich, nicht in unserer Dorfschule gelernt habe. Es wird aber auch daher kommen, weil ich zu wenig unter Ameri- Dr. Waldemar Fromm ist apl. Professor am Institut kaner komme, und zum dritten endlich – weil ich einfach in der Gefan- für Deutsche Philologie der LMU in München und genschaft der deutschen Sprache als Schriftsteller bleibe. Vorsitzender der Oskar-Maria-Graf-Gesellschaft. (Oskar Maria Graf an Kurt Kersten 14.4.1943) Christina Gibbs ist Referentin bei der Bayerischen Oskar Maria Graf beschreibt, wie schwer es für ihn ist, Englisch zu Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. lernen als Deutscher im amerikanischen Exil. Nachdem er 1933 das Land verlassen und zur Verbrennung seiner Bücher mit den anderen Prof. Dr. Sibylle Krämer lehrte bis 2018 am Institut auf den Listen der Nationalsozialisten stehenden Werken aufgerufen für Philosophie der Freien Universität Berlin. Ihre hatte, war er über mehrere Umwege dorthin emigriert. Waldemar Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Fromm beleuchtet in seinem Beitrag die Verbindung von Literatur Sprach- und Medienphilosophie. und Politik bei Graf, der dieses Jahr 125 Jahre alt geworden wäre. Prof. Dr. Rainer F. Schmidt hat eine Professur für Um Sprache und ihre Komplexität geht es auch in den Artikeln von Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an Sybille Krämer und Konrad Sziedat, die den Zusammenhang von der Universität Würzburg inne. Sprache und Gewalt bzw. den Begriff „Friedliche Revolution“ analy- sieren. Dr. Bernhard Schoßig ist Lehrbeauftragter im Bereich Didaktik der Geschichte und Public History Auch wenn man des Englischen mächtig ist, versteht man die Vor- am Historischen Seminar der LMU in München. gänge in Großbritannien rund um den Brexit bisweilen kaum noch. In unserem Artikel zeichnen wir den Weg seit dem Referendum 2016 Dr. Konrad Sziedat ist Referent bei der Bayerischen bis heute nach und lassen Briten aus Nordengland dazu zu Wort kom- Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. men. Bernhard Schoßig stellt dar, wie die bayerischen Opernhäuser in München und Nürnberg ihre NS-Geschichte aufarbeiten, und Anke Buettner erläutert ausgehend von der aktuellen Ausstellung über Erika Mann, wie die Monacensia, das „literarische Gedächtnis Münchens“, arbeitet. Leserbriefe richten Sie bitte an folgende Wir laden Sie wieder ein, sich auf historisch-biographische Spurensu- E-Mail-Adresse: landeszentrale@blz.bayern.de, che zu begeben und wünschen Ihnen eine fröhliche Weihnachtszeit Stichwort: Einsichten und Perspektiven. sowie einen guten Start in ein glückliches neues Jahr 2020, in dem Sie Hier können Sie auch ein kostenloses uns hoffentlich als Leserinnen und Leser gewogen bleiben. Abonnement der Zeitschrift beziehen. Die Redaktion 2 Einsichten und Perspektiven 4 | 19
Inhalt „Warum können Worte verletzen?“ 4 Reflexionen über sprachliche Gewalt von Sybille Krämer „Friedliche Revolution“ – ein umkämpfter Begriff 12 von Konrad Sziedat Zeitenwende 20 – Erinnerungen an das Jahr des Mauerfalls 1989 „Goodbye and thank you for having us! ” 26 Der Brexit: Was bisher passierte und was Briten in Nordengland darüber denken von Christina Gibbs Oper im Nationalsozialismus – zwei Projekte zur Geschichte 42 des Musiktheaters in München und Nürnberg von Bernhard Schoßig Wer war es? 51 Ein historisch-biographisches Rätsel von Rainer F. Schmidt Alles verändert sich 54 Ein Monacensia-Werkstattbericht über den Versuch, entspannt mit der Zeit zu gehen von Anke Buettner Von der Revolution zum Exil 60 Zum Verhältnis von Literatur und Politik im Werk Oskar Maria Grafs in den 1920er Jahren von Waldemar Fromm Einsichten und Perspektiven 4 | 19 3
Warum können Worte verletzen? Warum können Worte verletzen? Reflexionen über sprachliche Gewalt Sybille Krämer Aktivisten protestieren am 2. Juni 2018 in Wiesbaden gegen Hassnachrichten im Internet. Foto: picture alliance/dpa/Frank Rumpenhorst 4 Einsichten und Perspektiven 4 | 19
Warum können Worte verletzen? Die Allgegenwart symbolischer Gewalt Was bedeutet ‚Gewalt‘? In der digitalen Welt sind Hassrede und Hasskommentare Die Sprache stiftet Kommunikation und Gemeinschaft; allgegenwärtig. Sie bedrohen nicht nur die Meinungs- der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“1 macht es vielfalt und untergraben damit, was doch Voraussetzung möglich, Streit gewaltlos zu schlichten. Die Sprachlichkeit demokratischer Willensbildung ist. Vielmehr kann die bildet unser kulturstiftendes Band und allzu gerne würde Verrohung aufhetzender Sprache – wie die Ermordung man kränkende, beleidigende Worte als einen Missbrauch Walter Lübckes (2. Juni 2019) zeigte – immer auch von Sprache verstehen, als Entgleiten des zivilisierten umschlagen in reale, brutale Gewalt. Überdies war das Umgangs miteinander in einen barbarisch anmutenden bestürzende Attentat auf die Synagoge in Halle (9. Okto- Akt. Doch die Alltäglichkeit und Allgegenwart verlet- ber 2019) begleitet von Netzaktivitäten, angefangen vom zender Worte auf nahezu allen zwischenmenschlichen Live-Stream des Attentats bis hin zur elektronischen Ver- und öffentlichen Problemfeldern zeigt etwas Anderes, das breitung des volksverhetzenden ‚Manifestes‘ des Attentä- durchaus unabhängig ist von den digitalen Brutstätten der ters. Die kritische Öffentlichkeit ist alarmiert; die Mög- Hassrede. Aus unserer Geschichte und den spezifischen lichkeiten, gegen verletzende Rede auch strafrechtlich Traditionen unserer Kultur sind Phänomene wie Blasphe- vorzugehen, tritt zunehmend in den Fokus und wird – mit mie, politische Schmährede, satirische Kritik, boshafte mehr oder weniger Erfolg allerdings – auch praktiziert. Ironie nicht nur vertraut, sondern kaum mehr wegzuden- Doch das, was Beleidigungen und Hassrede so problema- ken. Eine „Unhintergehbarkeit der Gewalt“ zeichnet sich tisch macht, sind nicht alleine ihre praktischen Folgewir- ab.2 Ob das nun gefällt oder nicht: Die Sprache, die uns kungen. Es ist nicht nur das akute Bedrohungspotenzial alle erst zu Mitmenschen macht, kann gleichursprünglich und der Umschlag symbolischer in physische Gewalt, wel- Gewaltverhinderung und Gewaltausübung sein. Schon che die Verletzung mit Worten so anfechtbar macht. der Philosoph J.L. Austin3 erinnerte daran, dass wir ‚mit Gerade die Aktualität des Themas der Hassrede im Netz Worten etwas tun‘. Für die verletzende Rede, auf die sich überdeckt und verdrängt einige der damit verbundenen Austin gerade nicht berief, heißt das: Worte stellen Gewalt grundlegenden Fragen: Wie kann es überhaupt sein, dass nicht nur dar oder drohen sie als zukünftige Handlungs- Diskriminierung, Beleidigung und Kränkung mit den option an, sondern der Akt der diskriminierenden Ver- Mitteln von Wort, Schrift und Bild etwas sind, das sich balisierung selbst ist in seinem Vollzug als eine Form des nicht nur heute, sondern – wenn auch noch nicht hoch- gewaltförmigen Handelns zu begreifen. Das, was Men- geputscht im Echoraum des Internets – zu allen Zeiten in schen, indem sie sprechen, mit ihren Worten machen, menschlicher Kommunikation und Kultur ereignet hat? kann der Anerkennung anderer ebenso dienen, wie der Erinnern wir an eine biblische Urszene: Kain, bevor Entzweiung und Abwertung. Mit Worten kann nicht nur er seinen Bruder Abel erschlug, fühlte sich gekränkt, weil etwas getan, sondern auch ‚angetan‘ werden. Gott Abels Opfer wohlgefälliger angenommen hatte. An dieser Stelle ist aufschlussreich, dass das deutsche Kann es sein, dass das, was der Mensch ist, sich gerade Wort ‚Gewalt‘ eine Ambivalenz birgt: Im Lateinischen darin zeigt, dass er eben nicht nur ein Lebewesen ist, das meint ‚potentia‘ bzw. ‚potestas‘ die rechtmäßige, ordnende physisch, sondern das auch symbolisch verletzbar ist? Der Gewalt, die heute noch im Ausdruck ‚Amtsgewalt‘, ‚recht- ‚Waffengang mit Worten‘, also verbale Demütigung und sprechende Gewalt‘ oder ‚Gewaltenteilung‘ fortlebt. ‚Vio- Herabsetzung, ist immer noch die am häufigsten prakti- lentia‘ dagegen bezieht sich auf die unrechtmäßige und zierte Form von Gewalt. Doch wieso können Menschen zerstörerische Gewalt gegenüber Personen und Sachen. durch etwas verletzt werden, das ihre Physis – zuerst ein- Das deutsche Wort ‚Gewalt‘ birgt beide Bedeutungsdi- mal – unbeschädigt lässt? Und ist der Umstand, dass es mensionen: die ordnungsstiftende, konstruktive wie die symbolische Formen von Gewalt gibt, tatsächlich nur ein ordnungszerstörende, destruktive. Erst die geschichtliche Problem oder nicht auch eine Art von zivilisatorischer Herausbildung des Gewaltmonopols, die allein den Staat Errungenschaft? legitimierte, physische Gewalt auszuüben, zog eine ein- 1 Diesen Ausdruck prägte Jürgen Habermas. 2 Christoph Wulf: Die Unhintergehbarkeit der Gewalt, in: Michael Wimmer/ Christoph Wulf/Bernhard Dieckmann (Hg.): Das ‚zivilisierte Tier‘. Zur his- torischen Anthropologie der Gewalt, Frankfurt am Main 1966, S. 77-83. 3 John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979. Einsichten und Perspektiven 4 | 19 5
Warum können Worte verletzen? deutige Grenze zwischen erlaubter und verbotener Gewalt; und dem Semantischen eine rein begriffliche; faktisch nun erst wird die persönliche Ausübung von Gewalt zu durchwirken sich beide Dimensionen im Realen: Kaum einem kulturellen Tabu, ohne damit allerdings Formen ein physischer Gewaltakt, dem nicht auch eine symboli- zerstörerischer Gewalt in der Gesellschaft unterbinden zu sche Dimension zukommt. können. Die Idee einer gewaltfreien Kultur scheint ebenso Worauf es nun ankommt, ist: Einen Ort einzunehmen, utopisch wie die Idee einer gewaltfreien Sprache: Als regu- ist für beide Arten von Körperlichkeit grundlegend. Phy- lative Utopie sind beide unabdingbar; zur Beschreibung sische Körper nehmen einen Platz ein, von dem sie mit der Wirklichkeit taugen sie weniger. Denn Gewalt ist Kraft und Gewalt verdrängt werden können. Die Ver- nicht einfach ‚das Andere‘ von Kultur, sondern ihr genu- treibung bildet daher die Urform physischer Gewalt. Die ines Inkrement. Dass dies – verstörender Weise – so ist, symbolische Körperlichkeit bezieht sich dagegen auf den tritt gerade am Phänomen verletzender Worte hervor. Platz, den wir innerhalb einer Gesellschaft und im Gefüge der sozialen Interaktionen und Beziehungen einnehmen. Charakteristisch für die symbolische Konstitution unserer Körperlichkeit nun ist, dass diese auf der Anerkennung durch andere beruht. Im Sprechen bringen wir überhaupt erst unsere Welt als eine soziale Welt, in der wir einen Ort einnehmen, hervor. Eine Sprache zu haben, bedeu- tet nicht einfach zu reden, sondern von anderen ange- sprochen werden zu können. Erst die Anrede, Ansprache und Adressierung macht uns zum anerkannten Teil einer Gemeinschaft. Dem Sprechen geht das Angesprochenwer- den voraus. Kaum etwas erläutert dies deutlicher als die Institution des Eigennamens: Der Name wird (gewöhnlich) nicht erworben, sondern mit der Geburt verliehen. Er stiftet Unverwechselbarkeit und verleiht eine soziale Identität Die Justitia auf dem Giebel des Münchner Justizpalastes als Symbol für die Dritte Gewalt impliziert die ordnungsstiftende Bedeutungsdimension des noch vor aller biologischen und psychologischen Entfal- Wortes ‚Gewalt‘. tung von Individualität. Einen Namen zu haben, macht Foto: picture alliance/dpa/Sven Hoppe uns als Menschen kenntlich, der einen Ort im öffentlichen Raum der Gemeinschaft und innerhalb sozialer Beziehun- gen innehat. Es wundert nicht – gerade Kinder haben dafür Die ‚Doppelkörperlichkeit‘ von Personen ein feines Gespür –, dass die Verballhornung, Verhöhnung Ernst Kantorowicz4 schrieb, zurückgehend auf einen und Desavouierung des Namens das Eingangsportal zur Topos aus elisabethanischer Zeit, von den zwei Kör- seelischen Verletzung bildet. Doch bei der eher kindlichen pern des Königs, dem natürlichen, sterblichen und dem Diskriminierung des Namens bleibt es nicht. öffentlichen, übernatürlichen. Aufzeigen wollte er, wie die Wenn die Rede in ihrer Beziehungsdimension immer Entstehung des modernen Staates die öffentliche Funk- auch ein Akt der Anerkennung ist, dann kann sie zugleich tion abspaltet von der natürlichen Person. Dies ist ver- auch ein Akt der Aberkennung von Achtung, Ehre und allgemeinerbar: Eine Doppelkörperlichkeit kommt allen Würde einer Person sein. Da Verdrängung und Vertrei- Menschen zu, die als Personen stets beides sind, physisch- bung das Signum physischer Gewalt sind, findet dies in leiblicher wie sozial-symbolisch konstituierter Körper.5 der Sphäre des Symbolischen darin eine Entsprechung, Allerdings ist diese Trennung zwischen dem Somatischen dass die Opfer sprachlicher Verletzung aus dem Diskurs verdrängt, ihrer ‚Stimme beraubt‘, zum Verstummen gebracht werden. Kommunikation ist Diskurs (‚discur- 4 Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen sus’: Hin- und Herlaufen), also eine Wechselrede, die Theologie des Mittelalters, Stuttgart 1992. gerade nach Anschließbarkeit strebt. Doch mit der Macht 5 Sybille Krämer: Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte?, in: verletzender Sprache kann die Sprechfähigkeit des Ande- Steffen K. Herrmann/Sybille Krämer/Hannes Kuch (Hg.): Verletzende Wor- te. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007, S. 31-48, ren beschädigt werden. Hetzreden und Hasskommentare hier S. 36. haben gerade in dieser Praxis‚ den anderen ‚zum Ver- 6 Einsichten und Perspektiven 4 | 19
Warum können Worte verletzen? stummen zu bringen‘, ihn davon abzuhalten, weiterhin Die Rhetorik verletzender Rede macht Gebrauch vom seine Meinung zu artikulieren, die verwundbare Achil- sprachlichen Verfahren der Prädikation, mit dem Einzel- lesferse menschlicher Kommunikation entdeckt, die sich nes als ein Allgemeines charakterisiert wird. Philosophen in der anonymisierten Netzkommunikation weidlich wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Jacques ausschlachten lässt: Die Angst vor dem ‚Shitstorm‘ lähmt Derrida haben in dem grammatischen Verfahren von Aus- die freie Meinungsäußerung. Die Sprache als Waffe ein- sagesätzen, Einzelnes unter ein universelles Prädikat zu zusetzen, heißt immer auch, mit der eigenen Sprache die subsumieren, eine strukturelle Gewalt gesehen, die der Sprache und Sprechfähigkeit des anderen zu zerstören. Sprache per se zukommt. Werde ich als ‚Wissenschaft- Wie aber ist das möglich? lerin‘ bezeichnet, ist zugleich klar, dass mannigfaltige Aspekte meiner Persönlichkeit, die mich zur unverwech- Zur Rhetorik sprachlicher Verletzung selbaren Individualität machen, dabei ausgeklammert Gibt es eine Rhetorik sprachlicher Verletzung, lassen sich werden zugunsten einer Eigenschaft, die ich wiederum Schemata in den Formen angreifender Rede identifizie- mit vielen anderen teile. Doch jene Art von sprachlicher ren? Graumann und Wintermantel haben 1989 ein rheto- Gewalt, welche dieser Essay erörtern möchte, unterschei- risches Schema herauspräpariert:6 det sich gerade von diesem ‚strukturalen’ Ansatz, da es uns hier um die absichtsvolle Ausübung sprachlicher Gewalt • Unterscheidende Separation: Gerade weil die Fähigkeit, geht, um Sprechereignisse, bei denen Personen andere eine Sprache sprechen und verstehen zu können, Men- Personen kränken und beleidigen wollen. In dieser Per schen als Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft kennt- spektive besteht die Grammatik beleidigender Prädikation lich macht, liegt der Anfang diskriminierender Rede nicht darin, irgendein Einzelnes als Allgemeines zu fassen, zumeist in einem Akt der Separation, bei dem zwischen sondern bestimmte Menschen einem diskriminierenden dem ‚Wir’ und dem ‚Sie’, zwischen denen, die zu einer Stereotyp zu unterwerfen. Dieses Stereotyp wird zumeist Gruppe gehören, und denen, die nicht dazu gehören, gebildet durch Worte, die sich in den kulturellen Traditi- unterschieden wird. onen einer Gesellschaft zu Chiffren des Diskriminierens • Kategorisierung und Stereotypisierung: Die durch Sepa- und Abwertens verdichtet und sedimentiert haben. ration gewonnene Distanz wird stilisiert durch die Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass es neben Verdichtung von Differenzen zu Stereotypen, die dann den expliziten Formen sprachlicher Verletzung auch impli- Bausteine ganzer Ontologien und Weltbildern wer- zite, indirekte Formen gibt: Wenn gesagt wird „Die Stu- den. Weiße und Schwarze, Juden, Türken, Blondinen, dentin war blond, aber sie hat ein gutes Referat gehalten“ Schwule, Ostfriesen: Alles dies sind Kategorisierungen, oder „Es gibt in der Philosophie viele Habilitationen, sogar welche die Vielgestaltigkeit eines Individuums eineb- von Frauen mit Kindern“, so liegt das Diskriminierungspo- nen zugunsten einer grobmaschigen Typisierung, als tenzial solcher Äußerungen nicht in negativen Kategorisie- deren Inkarnation der Einzelne dann nur noch zählt. rungen, sondern in der Verwendung der Partikel ‚aber’ und • Abwertung und Herabsetzung: Die zur Anwendung ‚sogar’. Der sich auf eine Gruppe beziehende diskriminie- kommenden Stereotype sind mit negativen Konnota- rende Sinn ist indirekt und erschließbar nur im Horizont tionen und abfälligen Bewertungen verbunden: Aus kulturell geteilter Stereotype. Die Verletzung besteht nicht Deutschen werden ‚Krauts’ oder ‚Boches’, aus Türken darin, zu jemandem, sondern über jemanden zu sprechen. ‚Kanaken’, aus Afroamerikanern ‚Nigger’. Die Typisie- Nicht zu vergessen ist auch das Lächerlichmachen. Ein rung setzt im buchstäblichen Sinne herab. Gutteil unseres Lachens birgt eine aggressive Komponente und bewirkt eine ‚Anästhesie des Herzens’: Schadenfreude Die Rhetorik der Diskriminierung kann als ein Drei- arbeitet dem Triumphgefühl der eigenen Stärke zu; Komik schritt von ‚Separierung’, ‚Stereotypisierung’ und ‚Abwer- entmachtet ihren Gegenstand; das Verlachen verkleinert. tung’ rekonstruiert werden. Doch ist noch einen Schritt Die Witzforschung bietet ein reichhaltiges Reservoir indi- weiter zu gehen. rekter Rhetoriken des Verletzens. 6 Carl Friedrich Graumann/Margarete Wintermantel: Diskriminierende Sprechakte. Ein funktionaler Ansatz, in: Steffen K. Herrmann/Sybille Krä- mer/Hannes Kuch (Hg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007, S. 147-178. Einsichten und Perspektiven 4 | 19 7
Warum können Worte verletzen? Die persönlich von Hate Speech betroffene Bundestagsabgeordnete Renate Künast engagiert sich gegen Hasskommentare im Netz. Foto: picture alliance/dpa/Bernd Jutrczenka Zum Unterschied zwischen physischer und sprachli- wie ein traktierbares Ding behandelt wird, bei dem die cher Gewalt Tötung als Übergang vom Lebendigen in ein lebloses Wir haben bisher auf die Verwandtschaft zwischen physi- Ding nur die letzte Konsequenz ist. Symbolische Gewalt scher und symbolischer Gewaltausübung verwiesen; doch dagegen ist interpretationsabhängig und – so rudimentär nun ist ein wichtiger Unterschied zu betonen. Die Wirk- das auch sein mag – bildet immer noch eine Art zwischen- kraft verbaler Aggression setzt voraus, dass eine sprachli- menschlicher Interaktion. Während der körperlichen che Äußerung seitens der Adressaten der Aggression auch Gewalt immer ein Zug zur Ent-Menschlichung eigen ist, verstanden wird. Ein Bedeutungs- und Sinnverstehen, gar spricht die symbolische Gewalt ihr Opfer als einen Men- ein Vertrautsein mit kulturellen Sprachgebräuchen ist schen an, und zwar nicht nur als ein sprechendes und ver- vorausgesetzt, damit verletzende Worte ihren Adressaten stehendes, sondern als ein interpretierendes und fühlendes persönlich ‚treffen‘ können. Genau darin liegt ein Unter- Wesen; das aber sind Dimensionen, die für das, was ein schied: Physische Gewalt vollzieht sich – in gewisser Weise Lebewesen zum Menschen macht, grundständig sind. Wir – monokausal bzw. ‚monologisch‘.7 Sie geht vom Täter aus sehen also: Was die spezifisch menschliche Weise in der und trifft das Opfer, welches durch die Gewaltausübung Welt zu sein auszeichnet, ist zugleich das, was uns psy- chisch kränkbar und sozial diffamierbar macht: dass wir erst durch Sprache zu sozialer Existenz kommen und in 7 Gertrud Nummer Winkler: Mobbing und Gewalt in der Schule. Sprechakt- theoretische Überlegungen, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialfor- dieser Existenzweise auf andere angewiesen, jedoch immer schung 1/2014 S. 91-100, hier S. 94. auch gefährdet sind. 8 Einsichten und Perspektiven 4 | 19
Warum können Worte verletzen? Interventionen und Widerstand gegen die Verlet- auf nur fünf Prozent der Accounts zurück. Die Zahl derer, zungsmacht der Hassrede die angaben, selbst Hasskommentare zu verfassen, liegt Wie kann verletzenden Worten begegnet, die Macht der seit Jahren unverändert bei etwa einem Prozent.10 diskriminierenden Rede gebrochen werden? Umfang und Doch die Frage, wie symbolischer Verletzung entgegen- Eskalationsstufe der Hassrede und der Hetzkommentare zutreten ist, ist nicht zu beschränken auf die strafrechtli- im Netz haben ein öffentliches Bewusstsein geschaffen chen Aspekte. dafür, dass die mit Worten vollzogene Herabwürdigung Es darf nicht übersehen werden, dass die Kriminali- von Personen juristisch zu ahnden ist. Die Strafverfol- sierung und Stigmatisierung symbolischer Verletzung gung der Hassrede wird zunehmend erwartet und befür- durch Wort, Schrift und Bild in vielen kulturellen Berei- wortet. Dass ein Berliner Landgericht vom 9. September chen auch zu Bigotterie, Zensur und Denunziation füh- 2019 entschieden hat, dass Beschimpfungen, die Renate ren kann. Dass Kinderbücher umgeschrieben werden, Künast in den sozialen Medien widerfuhren wie „Dreck- weil dort Worte wie ‚Negerkönig ‘ (Pipi Langstrumpf ) schwein“, „Stück Scheisse“, „Sondermüll“ oder „Drecks oder ‚Nigger‘ (Onkel Toms Hütte) vorkommen, dass eine Fotze“ als immer noch „legitime Meinungsäußerungen“ studentische Sprachpolizei Hochschullehrer diffamiert mit einem Sachbezug zu gelten haben, hat zu Recht für und bedrängt (Herfried Münkler, HU Berlin), dass eine Empörung gesorgt. Widerspruch ist erhoben und so wird Opernaufführung aus Sorge um muslimische Reaktio- die irritierende juridische Legitimierung herabwürdigen- nen vom Spielplan genommen wird, (Mozart: Idomeneo der Schmährede nicht das letzte juristische Wort zu den 2006, Deutsche Oper) dass ein harmloses Gedicht an Angriffen auf Frau Künast bleiben. der Fassade einer Berliner Hochschule, welches Frauen, Unerachtet solcher Rückschläge in der rechtlichen Blumen und Alleen aufruft und bewundert (Gomringer: Anerkennung des Verletzungspotenzials von Worten, gibt „Alleen…“), übertüncht wird. Das sind zwar Auswüchse, es Anzeichen für Fortschritte in der rechtlichen Verfolgung aber sie zeigen, dass auch eine Gefahr von der ‚anderen sprachlicher Gewalt im Netz: Anfang 2018 trat das Netz- Seite‘ droht, die in blindem Eifer Worte ihrer immer auch werkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in Kraft. Schritte hin beweglichen Bedeutungen beraubt und sich als Speerspitze zum Aufbau einer ‚Task Force‘ gegen Hetze im Netz, in der ‚political correctness‘ wähnt. Eine Verbotspolitik – das der Polizisten, IT-Experten und Verfassungsschützer ver- sollte nicht vergessen werden – arbeitet stets der Verlet- treten sein sollen, werden von Landesregierungen wie bei- zungsmacht verbotener Wörter und Aussagen eher zu, als spielsweise in Hessen bereits unternommen. Eine Gruppe dass sie diese schwächt. Warum glauben wir nicht mehr an von Facebook-Nutzern „#ichbinhier“, ausgezeichnet mit eine magische Wirkung von Worten, eine Wirkung also, dem Grimme Online Award, hat sich gebildet, um eine der automatisch und ohne Kontextbezug eine determinie- Debattenkultur wieder herzustellen, in der ohne Angst rende Kraft zugesprochen wird? Dem Glauben an diese vor Beleidigung und Diskriminierung diskutiert werden Art von Magie verdankte der Fluch seine religiöse Bann- kann.8 Doch – davon zeugt nicht nur das ‚Künast-Urteil‘ kraft. Heute wissen wir es besser: So sehr sprechen auch – die Situation des rechtlichen Kampfes gegen den Hass heißt zu handeln, beruht das Sprechhandeln doch niemals im Netz bleibt unbefriedigend. Denn selbst wenn die auf einer unauflöslichen, deterministischen Verbindung Hürden juridischer Verfahren genommen sind, werden von Wort und Sache. Worte sind interpretationsbedürftig. die meisten Verfahren ohne Verurteilung eingestellt. Es Interpretation aber entkommt nicht dem Grundprinzip ist gerade die Netzanonymität, die Hetzern einen Schutz- aller sprachlichen Semantik: Willst Du wissen, was eine raum für ungehemmte Tiraden bietet. Allerdings scheint Äußerung bedeutet, so erkunde, ‚wer, was, wann, wo, zu – obwohl die Anzahl der Hasspostings steigt – die Anzahl wem und wie‘ gesagt hat. ihrer Urheber im Netz gleich zu bleiben.9 Ungefähr die Vor diesem Horizont einer prinzipiellen Kontextab- Hälfte der Likes bei Hasskommentaren auf Facebook geht hängigkeit gewinnen nicht-juridische Widerstandsformen gegen sprachliche Gewalt ihr Profil. Sie beruhen darauf, 8 Patrick Wehner: Facebook-Gruppe #ichbhinhier kämpft gegen Hetze, 29.01.2017, vgl. https://www.jetzt.de/g00/politik/facebook-gruppe-ich- binhier-kaempft-gegen-hetzte?i10c.ua=1&i10c.encReferrer=aHR0cHM6 10 Zum Umfang von Hassrede im Internet siehe die Studie „#HASS IM NETZ: Ly93d3cuZ29vZ2xlLmNvbS8%3d&i10c.dv=15 [Stand: 04.02.2017]. DER SCHLEICHENDE ANGRIFF AUF UNSERE DEMOKRATIE. Eine bundes- 9 Zur Analyse von Hass-Kommentaren: Svea Eckert/Patrick Gensing: Laut- weite repräsentative Untersuchung“ von Daniel Geschke, Anja Klaßen, starke Minderheit, 08.05.2019, vgl. https://www.tagesschau.de/faktenfin- Matthias Quent, Christoph Richter, Juni 2019, vgl. https://campact.org/ der/inland/hasskommentare-analyse-101.html [Stand: 21.10.2019]. hass-im-netz-studie-2019 [Stand: 08.11.2019]. Einsichten und Perspektiven 4 | 19 9
Warum können Worte verletzen? Das mittlerweile übertünchte Gedicht des Poeten Eugen Gomringer an der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule. Der dortige AStA hatten einen entsprechenden Antrag gestellt, da das Gedicht laut den Studierenden Frauen herabsetzen und an sexuelle Belästigung von Frauen erinnern würde.13 Foto: ullstein bild – Public Address dass die Adressaten verletzender Worte diese aufgreifen fänger meist rassistischer Hassbotschaften diese öffentlich und sie auf die Angreifer zurückwenden, vergleichbar verlesen und deren Absender dadurch bloßstellen. Oder es fast einer Kampfkunst, die darin besteht, die Schlagkraft gibt Initiativen wie „Kanak Attak“, ein Zusammenschluss des Gegners aufzufangen und gegen ihn selbst zu wen- von Menschen mit Migrationshintergrund, die rassisti- den. Es war Judith Butler,11 die erstmals die Möglich- sche Denkfiguren attackieren, sich gegen identitätspoliti- keit des Widerstandes gegen verletzende Sprache jenseits sche, ethnographische Zuschreibungen wehren und auch von Kriminalisierung und Zensur unter dem Stichwort das Modell assimilierter Integration angreifen.12 Die Initi- ‚Re-Signifikation‘ ausgelotet und beschrieben hat: Was ativen gegen die Hassrede im Netz – darauf wurde bereits als Demütigung und Herabsetzung gedacht ist, kann verwiesen – sind vielfältig; nicht wenige Foren beraten unter gewissen Bedingungen aufgegriffen und zu einem Betroffene über Widerstandsformen und es gibt Apps wie Instrument stolzer Selbstermächtigung werden, indem „Hassmelden.de“, die das Melden von Hasskommentaren die Beleidigten selbst das ihnen beschiedene Schmähwort erleichtern.13 aufnehmen, umwenden und zum Etikett einer stolzen Selbstbeschreibung machen. Die Verwendung des Wortes Nigger, bevorzugt als ‚Nigga‘ im Rap afroamerikanischer Musiker, ist dafür ein Beispiel. 12 Christian Vasili Schütze: Die Subversion verletzender Worte. Philosophi- sche Untersuchungen zu einer Politik des Performativen, Dissertation In Die Formen nicht-juridischer Interventionen sind viel- stitut für Philosophie, FU Berlin, verteidigt am 14.10.2019. fältig: „Hate Poetry“ ist eine Leseshow, bei der die Emp- 13 In deutscher Übersetzung lautet das Gedicht: Alleen / Alleen und Blu- men / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Al- leen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer; Übersetzung nach: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kontroverse-um-eugen-gom- 11 Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, ringers-gedicht-kunstfreiheit.2156.de.html?dram:article_id=394868 S. 103 ff. [Stand: 28.11.2019]. 10 Einsichten und Perspektiven 4 | 19
Warum können Worte verletzen? Symbolische Gewalt – ein Kulturgut? Doch die kritische Erörterung sprachlicher Gewalt sollte nicht überdecken und vergessen lassen, dass die Gewalt in ihrer symbolischen Form als Wort, Schrift und Bild auch eine kulturelle Errungenschaft ist.14 Eine Initialzündung für diese Einsicht kann der Karikaturenstreit 2005/06 sein, bei dem eine Zeichnung, die den Propheten Moham- med mit Bombenhut zeigte, bei radikalen Muslimen, die sich in ihrem religiösen Empfinden gekränkt fühlten, umschlug in körperliche Gewalt, die 139 Menschen das Leben kostete.15 Die Unterscheidung zwischen physischer und symbolischer Gewalt – so sehr diese auch in welt- weiten Gewalthandlungen sich beständig überschneiden – bleibt ein Herzstück der europäischen Aufklärung. So sehr wir kulturelle Differenzen in der Verletzungsanfäl- ligkeit für verbale und bildliche Äußerungen respektieren und in Rechnung stellen sollten, so sehr auch ist der Wert zu verteidigen, welcher darin besteht, zwischen Wort und Sache zu trennen und die Meinungsfreiheit, Kritikfähig- keit und Satire sowie die Freiheit der Kunst anzuerken- nen. Die Gratwanderung zwischen konsequenter Straf- verfolgung übler Hetzrede, nicht-juridischem Widerstand Die Journalisten Deniz Yücel und Yassin Musharbash lesen im Rahmen einer gegen Hassrede und aufgeklärter Toleranz gegenüber den Hate Poetry-Veranstaltung zusammen mit anderen Journalisten mit ‚Migra- tionshintergrund‘ Hassbriefe, die sie erhalten haben, einem Publikum vor. Spielräumen symbolischen Handelns bleibt ein Balance- Fotos: picture alliance/AP Photo/Oliver Krato akt. 14 Sybille Krämer: ‚Humane Dimensionen‘ sprachlicher Gewalt oder: Warum symbolische und körperliche Gewalt wohl zu unterscheiden sind, in: Ge- walt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens, München 2010, S. 21-44. 15 Dieter Grimm: Nach dem Karikaturenstreit, in: Juristische Studiengemein- schaft, Jahresband 2007, Heidelberg 2008, S. 21-36. Einsichten und Perspektiven 4 | 19 11
„Friedliche Revolution“ – ein umkämpfter Begriff rie Neue Se 1989/90 im Begriffsstreit Ob „Unrechtsstaat“, „friedliche Revolution“ oder „Wiedervereinigung“ – wie wir über die DDR und ihr Ende sprechen, prägt unser Verständnis der Vergan- genheit und bleibt so auch in der Gegenwart umstritten. In unserer Serie nehmen wir solch kontroverse Begriffe genauer in den Blick: Woher stammen sie? Welche Auffassungen und Deutungen bringen sie zum Ausdruck? Und welche Auseinandersetzungen gibt es um sie? Folge 1 „Friedliche Revolution“ – ein umkämpfter Begriff von Konrad Sziedat In der Erinnerungskultur des vereinten Deutschland hat die friedliche Revolu- tion1 einen festen Platz. Wie schon bei den vorherigen Jubiläen, so erinnerte die Politik auch dieses Jahr wieder prominent an den Umbruch von 1989. Leipzig richtete einen Festakt zu „30 Jahre Friedliche Revolution“ mit Bundes- präsident Frank-Walter Steinmeier aus. Zuvor würdigte bereits Bundeskanz- lerin Angela Merkel am Tag der deutschen Einheit in Kiel die „friedliche deut- 1 Der Begriff erscheint im Folgenden nur bei wörtlichen Zitaten in Anführungszeichen. Die Schreibweise folgt dabei stets dem Original. Außerhalb von Zitaten erfolgt keine Kapitalisierung. 12 Einsichten und Perspektiven 4 | 19
„Friedliche Revolution“ – ein umkämpfter Begriff Ausstellung in Leipzig zu den Feierlichkeiten „30 Jahre Friedliche Revolution“ Foto: picture alliance/Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa sche Revolution“. Dabei kontrastierte sie Thomas Manns berühmtes Diktum vom Mai 1945, in Deutschland herrsche ein „befremdetes Maß an Unfreiheit, Unmündigkeit, dumpfer Untertänigkeit“, weil man „nie eine Revolution gehabt“ habe, mit den „mutige[n] Bürgerinnen und Bürgern“ von 1989, die „ihre Angst überwanden und gleichsam die Spielregeln des Untertanen- und Unrechtsstaates außer Kraft setzten“.2 Auch in der Geschichtswissenschaft hat sich die Begriffsverwendung etabliert. Gab es in den 1990er Jahren noch intensive Diskussionen, inwieweit sich der Revolutionsbegriff zur Kennzeich- nung der DDR-Ereignisse eigne,3 haben ihn längst ost- wie westdeutsche Historiker in ihr Vokabular aufgenommen. Über die Jahre hat sich zudem eine Vielzahl von Benennungen entwickelt – von „demokratische Revolution“ über „protestantische Revolution“ bis hin zu „deutsche Revolution“.4 2 Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Festakts zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2019 in Kiel, https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktu- elles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-des-festakts-zum-tag-der-deutschen-einheit-am-3-oktober-2019-in-kiel-1678326 [Stand: 09.10.2019]. 3 Vgl. bilanzierend Rainer Eckert: Revolution, Zusammenbruch oder „Wende“. Das Ende der zweiten Diktatur auf deutschem Boden im Meinungsstreit, in: Heiner Timmermann (Hg.): Die DDR zwischen Mauerbau und Mauerfall, Münster 2003, S. 419–448. 4 Eckart Conze/Katharina Gajdukowa/Sigrid Koch-Baumgarten (Hg.): Die demokratische Revolution 1989 in der DDR, Köln/Wien/Weimar 2009; Ehrhart Neu- bert: Eine protestantische Revolution, Berlin 1990; Andreas Rödder: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, Bonn 2010, S. 217. Einsichten und Perspektiven 4 | 19 13
„Friedliche Revolution“ – ein umkämpfter Begriff Blick in den Demonstrationszug am Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 Foto: ullstein bild - ADN-Bildarchiv Revolution und Gewalt Gewalt als notwendiger Bestandteil von Revolutionen“6 Dass sich der Revolutionsbegriff für den DDR-Umbruch bewirkt habe. Erst die Neuauflage von 2003 fügt nach gleichsam eingebürgert hat, ist durchaus erklärungs- dieser Passage folgenden Absatz an: „Das 20. Jahrhundert bedürftig. Zum Ersten, weil der Begriff „sehr norma- endete jedoch mit der Rehabilitierung der ‚friedlichen tiv aufgeladen“5 ist, wie Andreas Rödder feststellt. Zum Revolution‘, denn die Auflösung der Sowjetunion infolge Zweiten in Anbetracht der deutschen Geschichte vor der von Gorbatschow durchgesetzten Reformen führte zu 1989 – zu denken wäre an das Scheitern des weitge- Umbrüchen, die zumindest teilweise unblutig verliefen.“7 hend gewaltlosen Aufbruchs 1848/49, die Schwäche der Die Zäsur von 1989/90 ist insofern auch als semantischer Demokratie nach 1918/19 und die Inanspruchnahme des Einschnitt, als Verschiebung im Gehalt des Revolutions- Revolutionsbegriffs durch die Nationalsozialisten. Zum begriffs zu verstehen. Dritten, weil ein solcher Wortgebrauch mit Bedeutungs- Warum überhaupt der Umbruch in der DDR – anders schichten kollidiert, die das Begriffsverständnis mindes- als etwa in Rumänien – weitestgehend gewaltlos blieb, ist tens vor der Umbruchszeit prägten. So endet im Fischer intensiv diskutiert worden. Als wichtige Faktoren gelten Lexikon Geschichte von 1990 die (offensichtlich noch vor etwa die Unbeweglichkeit von Führung und Repressions- dem Herbst 1989 finalisierte) Einführung zur betreffen- organen, das Ausbleiben militärischen Beistands seitens den Begriffsgeschichte mit der russischen und der chine- der Sowjetunion, die Sanktionen westlicher Staaten gegen sischen Revolution, welche eine „erneute Aufwertung der China nach dem Pekinger Massaker vom Juni 1989, der 6 Dieter Langewiesche: Revolution, in: Fischer Lexikon Geschichte, Frank- furt 1990, S. 250–270, hier S. 254. 7 Ders.: Revolution, in: Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt 2003, S. 315– 5 Rödder (wie Anm. 4). 337, hier S. 318 f. 14 Einsichten und Perspektiven 4 | 19
„Friedliche Revolution“ – ein umkämpfter Begriff Archivbilder des telegraph Antje Vollmer, damalige Fraktionssprecherin der Grünen, 1989 Abbildung: Zeitschrift telegraph Foto: Sepp Spiegl/Süddeutsche Zeitung Photo Einfluss der DDR-Kirchen und die anfangs reformsozi- ideologischen Kernbestand des Regimes gehörte. Zwar alistischen Forderungen der Oppositionsgruppen. Doch hatte das Revolutionsverständnis der SED insofern bereits sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es 1989 Konkurrenz erhalten, als der sowjetische Staats- und Partei- auch in der DDR Gewalt gab, so am 4. Oktober beim chef Gorbatschow seine Umgestaltungspolitik als „zweite brutalen Vorgehen der Staatsmacht gegen Dresdner russische Revolution“ bezeichnete. Dennoch mochte sich Bürger bei der Durchfahrt der Ausreiserzüge aus Prag.8 der Begriff zunächst wenig zur Artikulation von Protest Zudem war die Angst vor einer „chinesischen Lösung“ eignen. Entsprechend traten bei den DDR-Demonstratio- durchaus vorhanden, etwa vor der Leipziger Demonstra- nen vielfach Forderungen etwa nach Reformen und freien tion vom 9. Oktober, als (unzutreffende) Gerüchte von Wahlen auf, von Revolution war jedoch nur selten und erst bereitstehenden Panzern und Blutkonserven in den Kran- spät die Rede: Auf der Ost-Berliner Großkundgebung vom kenhäusern die Runde machten – möglicherweise gezielt 4. November trug ein Transparent die Aufschrift „Es lebe gestreut seitens des Regimes.9 die Oktoberrevolution 1989“, die ähnlich zuvor schon in Dass der DDR-Umbruch als friedliche Revolution in die Markneukirchen und später auch in Plauen zu sehen war.11 Geschichte eingehen konnte, war also in mehrfacher Hin- Spielte dies zumindest nominell noch auf das offi- sicht voraussetzungsvoll. Wie kam es zu dieser Bezeichnung? zielle marxistisch-leninistische Revolutionsverständnis Wann kam sie auf, und wer führte sie ein? Welche Vorstel- an, erfolgte eine explizite Reformulierung des Begriffs lungen und Deutungskämpfe verbanden sich mit ihr? unmittelbar im Anschluss: „Eine neue DDR-Identität ist entstanden, die Identität einer gewaltlosen Revolution“, Spätes Aufkommen des Begriffs im Demonstrations- berichtete die Samizdat-Publikation telegraph aus der geschehen 1989 dissidentischen Umweltbibliothek über die Ost-Berliner Sucht man im DDR-Herbst 1989 nach dem Revoluti- Demonstration. onsbegriff, wird man zunächst in SED-Publikationen Der Bericht des telegraph ist in zweifacher Hinsicht fündig.10 Dies überrascht insofern kaum, als etwa die bemerkenswert: Zum einen trennte er den Revolutions- Bezugnahme auf die Russische Revolution von 1917 zum begriff ausdrücklich vom Element der Gewalt und nahm damit eine entscheidende Umdeutung vor (Bernd Lindner sieht hierin die früheste Kombination der Wörter „Revo- 8 Vgl. Martin Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012. lution“ und „gewaltlos“). Zum anderen gebrauchte er den 9 So jedenfalls Georg Wagner-Kyora: Väter der Gerüchte. Angst und Mas- senkommunikation in Halle und Magdeburg im Herbst 1989, in: Journal of Modern European History 3/2012, S. 362–390, hier S. 362 f. 10 So druckte das Neue Deutschland (06.10.1989) vor dem 40. Jahrestag der 11 In Leipzig, wo bereits Anfang Oktober Hunderttausende demonstrierten DDR Grußworte aus den sozialistischen „Bruderstaaten“, in denen es etwa hatten, war sogar erst Ende November – und dann bereits in neuen Wort- hieß, die Gründung der DDR sei „die größte Errungenschaft der revoluti- kombinationen, von Revolution die Rede, vgl. Bernd Lindner: Wir bleiben onären deutschen Arbeiterbewegung“ und die DDR erfülle „ein revolutio- … das Volk! Losungen und Begriffe der Friedlichen Revolution 1989, Erfurt näres Vermächtnis“. 2019, S. 71. Einsichten und Perspektiven 4 | 19 15
„Friedliche Revolution“ – ein umkämpfter Begriff 12. November 1989: Der Regierende Bürgermeister von Berlin Walter Momper spricht anlässlich der Öffnung der innerdeutschen Grenze am Potsdamer Platz in Berlin. Foto: picture alliance / ddrbildarchiv / Gerhard Murza Begriff, um zugleich die Eigenständigkeit der DDR zu beto- Revolution contra Wiedervereinigung nen: „Demokratieformen können nicht einfach unreflek- Denn fast wortgleich sprach wenige Tage später, am 8. tiert aus Westen oder Osten übernommen werden, sondern November, die Grünen-Fraktionssprecherin Antje Vollmer müssen darauf abgeklopft werden, wieweit sie dem Selbst- im Bundestag von einer „gewaltfreie[n] demokratische[n] regierungsbedürfnis und der Selbstregierungsfähigkeit der Revolution“, durch die in der DDR „die erste selbster- DDR-Bevölkerung gerecht werden.“ Schließlich hätten, kämpfte Demokratie auf deutschem Boden“ entstehe. so der telegraph, zumindest die Ost-Berliner „nichts gegen Ähnlich wie der telegraph leitete auch Vollmer hieraus einen neuen Versuch zu einem wirklichen Sozialismus“.12 ab: „Zum erstenmal [sic!] entsteht hier eine eigene DDR- Mit dieser Logik kreierte das Blatt, das sich politisch links Identität.“ Gegen Bundeskanzler Kohl und dessen Rede verorten lässt,13 ein Argumentationsmuster, das die initiale zur Lage der Nation gerichtet, fügte sie noch an: „Jetzt, Begriffsverwendung durchziehen sollte. ausgerechnet in dieser Lage, von Wiedervereinigung zu sprechen, heißt, das Scheitern der Reformbewegung zu postulieren und vorauszusetzen.“ Damit nahm auch Vollmer den Revolutionsbegriff zum Argument für die Eigenständigkeit der DDR. Außerdem 12 R.L.: Eine Kundgebung als Plebiszit, in: telegraph 7/1989, S. 1. Zur Chro- wandte sie ihn gegen den Begriff der Wiedervereinigung, nologie vgl. Lindner (wie Anm. 11), S. 74. Unter Samizdat (russ. „Selbst- der damals selbst hoch umstritten war. Zugleich verwarf verlag“) versteht man alternative, nonkonforme Untergrundpublikationen im damaligen „Ostblock“. sie ein Revolutionsverständnis, dem sie als frühere Mao- 13 Auch im vereinten Deutschland ging es dem Blatt um „neue Widerstands- istin einst selbst angehangen hatte, und distanzierte sich formen unter neuen Verhältnissen“, und Herausgeber Rüddenklau beton- demonstrativ von ihrer eigenen Vergangenheit: „Mao te: „Dass Kapitalismus keine Alternative ist, braucht man uns nicht zu sa- gen", s. Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. DDR-Opposition 1986–1989, Zedong hat einmal gesagt: ‚Die Haupttendenz in der heu- Berlin 1992, S. 369 und 387. tigen Welt ist Revolution‘, und er meinte damit das alte 16 Einsichten und Perspektiven 4 | 19
„Friedliche Revolution“ – ein umkämpfter Begriff Modell, eine mit Gewalt ausgetragene Oktoberrevolution, Bereits zu Beginn des Umbruchs hatte das Neue Forum die auch im November stattfand. Dieser Satz, der einmal betont: „Für uns ist die ‚Wiedervereinigung‘ kein Thema, eine Utopie von Teilen der politischen Linken gewesen da wir von der Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen ist, stimmt heute nicht mehr.“14 Indem auch Vollmer den und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben.“22 Revolutionsbegriff vom Element der Gewalt trennte, löste sie ihn vom marxistischen Begriffsverständnis und von Ausbreitung des Begriffs und konkurrierende den „kommunistischen Zukunftserwartungen“15, die sich Begriffsverständnisse mit ihm verbanden. Explizit entkleidete sie den Begriff Doch musste der Gebrauch des Revolutionsbegriffs kei- seiner leninistischen Prägung, die das jakobinische Revo- neswegs immer gegen die Idee einer Wiedervereinigung lutionskonzept „zu einem Avantgardemodell der Füh- gerichtet sein. Vielmehr griffen ihn in den Tagen nach rung von Massenbewegungen durch Berufsrevolutionäre dem Mauerfall etwa konservative Kommentatoren gleich- zugespitzt“16 hatte. Dies dürfte die Anschlussfähigkeit des falls auf. Auch sie unterstrichen die Gewaltlosigkeit der Begriffs – im westlichen Kontext ohnehin „als Modewort Ereignisse und schlossen damit im Kern an das Begriffs- ubiquitär verwendet“ und dadurch „zerschlissen“17 – verständnis an, das der telegraph auf östlicher sowie Voll- innerhalb und mehr noch außerhalb einer fragmentierten mer und Momper auf westlicher Seite eingeführt hatten. bundesdeutschen Linken befördert haben. So schrieb Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allge- Hieran konnte West-Berlins Regierender Bürgermeis- meinen Zeitung: „Immer wieder ist von dieser einzigar- ter Walter Momper anschließen, wenn er laut Lindner tigen Revolution die Rede, die sanft, buchstäblich ohne am 10. November am Rathaus Schöneberg als Erster den eine Fensterscheibe zu zerbrechen, Tyrannen von der Begriff der „friedlichen und demokratischen Revolution“ Bildfläche fegte und ein Regime veränderte.“ Und Kon- gebrauchte. Momper hatte an der zitierten Bundestags- rad Adam, Redakteur der FAZ, bestätigte: „Was sich sitzung zwei Tage zuvor teilgenommen. Die Grenzöff- im Osten von Berlin und an den Grenzen ereignet hat, nung war in seinem Verständnis „nicht der Tag der Wie- war eine Revolution, vielleicht die erste in der deutschen dervereinigung, sondern der Tag des Wiedersehens“.18 Geschichte. Gegen die Tradition, die den Umsturz immer In der DDR-Bürgerbewegung konnte sich der Revo- nur von oben kannte, kam er diesmal von unten. [...] Dies lutionsbegriff vorerst nicht durchsetzen.19 Gleichwohl war das eine Wunder. Das andere bestand in der Friedfer- konnte er auch hier, gerade nach dem Mauerfall, als Argu- tigkeit der Revolutionäre. [...] Die gewohnte Kulisse der ment gegen westliche „Vereinnahmung“20 dienen. So, Revolution, die Brände, Plünderungen und bewaffneten wenn das oppositionelle Neue Forum im November die Milizen, fehlte.“23 Bürger in einem Flugblatt beschwor: „Ihr seid die Hel- Zugleich nahmen konservative Kommentatoren mit der den einer politischen Revolution, lasst Euch jetzt nicht Adaption des Revolutionsbegriffs eine zusätzliche Bedeu- ruhigstellen durch Reisen und schuldenerhöhende Kon- tungsausweitung vor. Während telegraph wie Vollmer den sumspritzen“, und vor einer „Gesellschaft, in der Schieber Begriff auf die Protestierenden und Oppositionsgruppen und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen“, warnte.21 innerhalb der DDR bezogen hatten, fasste FAZ-Redakteur Günther Nonnenmacher auch die Abwanderung zehn- tausender DDR-Bürger in die Bundesrepublik darunter: 14 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 11/173, S. 13030 ff. „Wenn die SED-Führung, getrieben von der demokrati- 15 Reinhart Koselleck: Revolution, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Histori- schen Revolution, die von den Deutschen in der DDR sches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5 , Stutt- gart 1984, S. 653–788, hier S. 771. durch politische Verweigerung, Flucht und Demonstra- 16 Detlef Lehnert: Revolution (Begriffsgeschichte und Theorie), in: Thomas Mey- tionen erzwungen wurde, an ihrem Wendekurs festhält, er u. a. (Hg.): Lexikon des Sozialismus, Köln 1986, S. 532–533, hier S. 532. wird der 9. November 1989 als großes Datum in die 17 Koselleck (wie Anm. 15), S. 787. Geschichte des 20. Jahrhunderts eingehen, als der Tag, an 18 Tagesschau vom 10.11.1989. Vgl. Lindner (wie Anm. 11), S. 73 f. dem die Nachkriegsepoche, die Ära des ‚Kalten Krieges‘ 19 Vgl. Lindner (wie Anm. 11), S. 74 f. […] zu Ende ging.“ Statt für eine eigene „DDR-Identität“ 20 Stefan Heym etwa bezeichnete Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm als „Ouvertüre zur Vereinnahmung“, zit. nach Michael Richter: Die Friedliche Revolution: Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90, Bd. 2, Göttin- 22 http://www.chronik-der-mauer.de/system/files/dokument_pdf/47824_ gen 2009, S. 858. cdm-891001-schritte-NF.pdf [Stand: 07.11.2019]. 21 Zit. nach Hannes Bahrmann/Christoph Links: Chronik der Wende, Bd. 1: 23 Frank Schirrmacher: Es gibt wieder Hoffnung in der Welt, in: FAZ vom Die DDR zwischen 7. Oktober und 18. Dezember 1989, Berlin 1994, S. 76. 11.11.1989; Konrad Adam: David, in: FAZ vom 11.11.1989. 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„Friedliche Revolution“ – ein umkämpfter Begriff Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden Foto: picture alliance / dpa konnte die Revolution damit den Beweis auch für die verdeutlicht habe. Dies hat aber auch Widerspruch her- Notwendigkeit einer Wiedervereinigung liefern. So fol- vorgerufen, demzufolge der Dresden-Besuch eine wir- gerte Konrad Adam im oben zitierten Artikel: „Zusam- kungsvolle „Inszenierung“ für die Medien gewesen sei, men mit den Sperrlinien steht auch die deutsche Frage die der damaligen Mehrheitsmeinung in der DDR nicht wieder offen; nur um den Preis der Unglaubwürdigkeit entsprochen habe.26 wird das der Westen ignorieren können“.24 Mit etwas anderer Note hatte Willy Brandt Revolu- Besondere Bedeutung bei der Verknüpfung von tion und Einheit tags zuvor auf dem Berliner Parteitag Revolution und deutscher Einheit ist sicherlich Helmut der SPD verknüpft. Dort äußerte sich Brandt kritisch Kohls berühmter Rede vor der Dresdner Frauenkir- zum Begriff der Wiedervereinigung, wiederholte jedoch che im Dezember 1989 beizumessen. Darin sprach der sein – bereits älteres – Diktum, „dass zusammenwächst, Bundeskanzler den unzähligen Zuhörern ein Wort der was zusammengehört“, das er bereits nach dem Mauerfall „Anerkennung und der Bewunderung für diese friedliche aktualisiert hatte. Außerdem stellte er fest: „Es kann nun Revolution in der DDR“ aus und bekannte sich zugleich auch als sicher gelten, dass wir – unter welcher Form von zur „Einheit unserer Nation“, „wenn die geschichtliche Dach auch immer – der deutschen Einheit näher sind, als Stunde es zulässt“.25 Die Geschichtsschreibung hat die dies noch bis vor kurzem erwartet werden durfte. Die Ein- Rede vielfach als spontanen Entschluss und bewegendes heit von unten wächst, und sie wird weiter wachsen.“27 Erlebnis geschildert, das Kohl den Einheitswillen der Die Revolution allerdings mit staatlicher Vereinigung in Ostdeutschen und die Dringlichkeit einer Vereinigung Verbindung zu bringen, blieb umstritten, bei zunehmen- 24 Günther Nonnenmacher: Ein großer Schritt nach vorn, in: FAZ vom 26 Markus Driftmann: Mythos Dresden. Symbolische Politik und deutsche 12.11.1989; Adam (wie Anm. 23). Einheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 21–22/2009, S. 33–39. 25 https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-des- 27 https://www.cvce.eu/de/obj/rede_von_willy_brandt_auf_dem_spd_par- bundeskanzlers-auf-der-kundgebung-vor-der-frauenkirche-in-dres- teitag_berlin_18_dezember_1989-de-45a5f0c8-942e-451c-b46c- den-790762 [Stand: 05.11.2019]. fee8f92f9d81.html, S. 3 f [Stand: 07.11.2019]. 18 Einsichten und Perspektiven 4 | 19
„Friedliche Revolution“ – ein umkämpfter Begriff den Einheitsforderungen auf den Demonstrationen. Wäh- „zynisch und empörend“, dass mit dem letzten SED-Vor- rend sich die DDR-Oppositionsgruppe Demokratischer sitzenden „nun schon diejenigen zu Festreden eingeladen Aufbruch als eine, wie sie betonte, „Partei der friedlichen werden, die Revolution und Einheit mit aller Entschie- Revolution“28 für einen schnellen Beitritt nach Artikel 23 denheit zu verhindern“31 gesucht hätten. Die Philharmo- Grundgesetz aussprechen sollte, erblickten andere hinter nie hielt an Gysi als Redner fest.32 Die Erinnerung an den der Vereinigungsdynamik eine „missglückte“, „abgetrie- DDR-Umbruch bleibt umkämpft, und mit ihr dessen bene“ oder „Konterrevolution“.29 In der Alltagssprache Begriffe. konnte sich der Revolutionsbegriff bis heute – anders als in Wissenschaft und Politik – kaum gegen die ebenfalls umstrittene Bezeichnung „Wende“ durchsetzen.30 Fazit Woher stammt die Bezeichnung des DDR-Umbruchs als Vertiefende Literatur: friedliche Revolution? Zusammenfassend lässt sich fest- Bernd Lindner: Begriffsgeschichte der Fried- stellen, dass ihre Verwendung auf einen grenzüberschrei- lichen Revolution. Eine Spurensuche, in: tenden Diskurs zurückgeht, in dem neben ostdeutschen Aus Politik und Zeitgeschichte 24–26/2014, Demonstranten und Oppositionellen westdeutsche Kom- S. 33–39. mentatoren und Politiker eine wesentliche Rolle spielten. Bernd Lindner: Wir bleiben … das Volk! Losun- Zunächst entstammte die Rede von einer gewaltlosen oder gen und Begriffe der Friedlichen Revolution friedlichen Revolution dem politisch linken Spektrum 1989, Erfurt 2019 (Thüringische Landeszent- und verband sich mit der Idee einer anderen DDR und rale für politische Bildung). mit der Absage an eine Wiedervereinigung Deutschlands. Martin Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Der Begriff transportierte in seinem frühesten Gebrauch Gewalt, Göttingen 2012. somit Erwartungen, die sich bald schon erübrigten. Konrad Sziedat: Erwartungen im Umbruch. Die Damit steht er neben der Erfolgsgeschichte, die sich in der westdeutsche Linke und das Ende des „real Rückschau mit ihm verbindet, auch für Enttäuschungen, existierenden Sozialismus“, Berlin/Boston die der Umbruch mit sich brachte. Nach dem Mauerfall 2019. verbreitete sich der Begriff jedoch über Parteigrenzen hin- weg. So nahmen ihn auch Konservative auf, um explizit für eine Vereinigung Deutschlands einzutreten. Friedliche Revolution und deutsche Einheit miteinander zu ver- knüpfen, gehörte insofern rasch zur Begriffsverwendung, die sich ihrerseits schnell verbreitete. Umstritten ist gleichwohl bis heute die Frage, was genau der Begriff bezeichnet und wer Anspruch auf ihn erheben darf. Dies illustriert der Streit um den Auftritt Gregor Gysis beim „Jubiläumskonzert Friedliche Revolu- tion“ der Philharmonie Leipzig dieses Jahr in der Peters- kirche. Hunderte Bürgerinnen und Bürger, darunter zahlreiche frühere DDR-Oppositionelle, erklärten sich in einem offenen Brief „fassungslos“ und bezeichneten es als 28 Zit. nach Lindner (wie Anm. 11), S. 77. 29 Konrad Weiß: Die missglückte Revolution, in: Gerhart Maier (Hg.): Die Wende in der DDR, 2. Aufl., Bonn 1991, S. 34; Michael Schneider: Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie, Berlin 31 https://www.archiv-buergerbewegung.de/9-verein/aktuelles/473-offe- 1990; Ronald M. Schernikau, zit. nach Wolfgang Fritz Haug: Versuch, ner-brief-zum-geplanten-auftritt-von-gregor-gysi-am-30-jahrestag- beim Verlieren des Bodens unter den Füßen neuen Grund zu gewinnen. der-friedlichen-revolution-in-einer-leipziger-kirche [Stand: 21.11.2019]. Das Perestroika-Journal, Hamburg 1990, S. 403. 32 https://www.berlin.de/aktuelles/berlin/5934550-958092-gysi-wuerdigt- 30 Vgl. Lindner (wie Anm. 11), S. 77. historische-leistung-der-o.html [Stand: 21.11.2019]. Einsichten und Perspektiven 4 | 19 19
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