DISPUT - Partei DIE LINKE

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ISSN 0948-2407   | 67 485 | 2,00 Euro

DISPUT
Februar 2009

Lothar Bisky, Gabi Zimmer: Vor dem Europawahlparteitag, vor der Europawahl
Ulrich Maurer: Ist die Partei solidarisch genug, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden?
Zu den Kommunalwahlen: Anspruchsvolle Ziele in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz
Last und Lust der Geschichte des Sozialismus. Die Vergangenheit bleibt gegenwärtig
Mein Kind, der Nazi. Gespräch mit der Autorin Claudia Hempel

Protest und Widerstand gegen den Naziaufmarsch am 14. Februar in Dresden: Viele Mitglieder der LINKEN waren dabei.

                                                                                                                               © Erich Wehnert
4 EUROPA
                                                       Lothar Bisky: Europapolitik ist kein
                                                       Selbstzweck
                                                       6 EUROPA
                                                       Gabi Zimmer: Zur Bilanz der Abgeord-
                                                       neten
                                                        8 BETRACHTUNG
                                                        Ulrich Maurer: Hessenwahl – die Lehre
ZITAT                                                  10 KOMMUNE
                                                       Raju Sharma kandidiert als Kieler
Jede Wirtschaft beruht auf                             Oberbürgermeister

                                                                                                                                                                       © Erich Wehnert
dem Kreditsystem, das heißt auf
der irrtümlichen Annahme, der                          11 DEMNÄCHST
andere werde gepumptes Geld
                                                       12 INTERVIEW
zurückzahlen. Tut er das nicht,                                                                                     Die starken Seiten der behinderten
                                                       Ruth Kretzer-Braun und Johannes
so erfolgt eine sogenannte                                                                                          Menschen. Zu Besuch im Regenbogen-
                                                       Kretzer über das Regenbogenhaus
›Stützungsaktion‹, bei der alle,                                                                                    haus. Seite 12
bis auf den Staat, gut verdienen.                      16 KOMMUNAL
Solche Pleite erkennt man daran,                       Nordrhein-Westfalen: 3.500 Kandida-                          26 BILDUNG
dass die Bevölkerung aufgefordert                      tInnen auf einen Streich                                     Klasse mit Kasse? Warum Privat-
wird, Vertrauen zu haben.                                                                                           schulen überwinden?
Weiter hat sie ja dann auch meist                      17 KOMMENTIERT
nichts mehr.                                           18 KOMMUNAL                                                  27 ENTSPANNUNG
Wenn die Unternehmer alles Geld im                     Rheinland-Pfalz: Wahlkampf mit Herz                          Change heißt: NATO auflösen
Ausland untergebracht haben, nennt                                                                                  28 GESELLSCHAFT
man dieses den Ernst der Lage.                         20 WAHLKAMPF
                                                       Mach mit, misch dich ein!                                    Last und Lust der Geschichte des
Kaspar Hauser (Kurt Tucholsky) in:                                                                                  Sozialismus
Die Weltbühne, 15. September 1931                      Der Aktivierungswahlkampf
(Ausgewählte Werke, Band 6, Verlag                     21 SERVICE                                                   30 EUROPÄISCHE LINKE
Volk und Welt, Berlin 1973, S. 412)                    Das »Ticket« zum Mitmachen                                   Portugal: Der »Bloco« bläst zum
                                                                                                                    Angriff
                                                       22 WAHLKAMPF
                                                       Online auf drei Säulen                                       31 NACHBELICHTET

                                                       23 GESELLSCHAFT                                              32 POLITISCHE BILDUNG
                                                       Zur Konferenz »60 Jahre Grundgesetz –                        Ganz ohne Frontalunterricht
                                                       offen für eine neue soziale Idee«                            33 FRAUEN
                                                       24 FEUILLETON                                                Tribunal in Dortmund
                                                                                                                    34 GESELLSCHAFT
                                                                                                                    Zurück zu den Wurzeln? Die Grünen
                                                                                                                    35 FRAUEN
                                                                                                                    Konferenz in Potsdam
                                                                                                                    36 LITERATUR
                                                                                                                    Christa Wolf zum »80.«
ZAHL DES MONATS                                                                                                     38 REZENSION
2020                                                                                                                Zur Geschichte des »ND«
                                                                                                                    40 AUFKLÄRUNG
Für das Jahr 2012 plant China die                                                                                   Mein Kind, der Nazi. Gespräch mit
Landung eines Fahrzeuges auf dem                                                                                    der Autorin Claudia Hempel
Mond. Ab 2015 will Russland eine
ständige bemannte Mondstation                                                                                       43 MEDIEN
betreiben. Japan hat ähnliche Pläne.                                                                                Akademie linker Medienmacher/innen
Dagegen soll es erst ab 2020 möglich                                                                                44 BRIEFE
sein, in den ICE-Zügen der Deutschen
Bahn Fahrräder mitzunehmen.                                                                                         46 BÜCHER
Dies bestätigte ein Konzernsprecher                                                                                 47 FEBRUARKOLUMNE
am 11. Februar. Das Motto der DB:
                                                                                                            Repro

»Zukunft bewegen«.                                                                                                  48 SEITE ACHTUNDVIERZIG

IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung
GmbH, Weydingerstraße 14 – 16, 10178 Berlin REDAKTION Stefan Richter, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: (030) 24 00 95 10, Fax: (030) 24 00 93 99,
E-Mail: disput@die-linke.de GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell DRUCK MediaService GmbH BärenDruck und Werbung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin
ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407
REDAKTIONSSCHLUSS 16. Februar 2009

INHALT                                                                                                                                 DISPUT Februar 2009     0   2
CAROLIN REITH
                          29 Jahre, hat Anglistik studiert und war Mitglied der Hochschulgruppe in
                          Hannover. Derzeit wirkt sie im Koordinationskreis des Rosa-Luxemburg-Clubs
                          Hannover sowie im Frauenpolitischen Ratschlag mit. Wohnt in Hameln in Nie-

                                                                                                          © privat
                          dersachsen. Verbringt die Freizeit am liebsten im Kino oder beim Schwimmen.

                          Was hat Dich in letzter Zeit am meisten überrascht?
                          Dass die laut Medien jedes Jahr massiver werdende Grippewelle dieses Mal an
                          mir vorbeigezogen ist und dass Obama ins Weiße Haus eingezogen ist.
                          Beides positive Überraschungen!

                          Was ist für Dich links?
                          Für die Menschen bestmögliche Bedingungen zu schaffen, damit sie die
                          Freiheit haben, ihr Leben so gestalten zu können, wie sie es möchten,
                          aber trotzdem untereinander solidarisch bleiben. Konkret heißt das, vor allem
                          ein gutes Sozialsystem zu schaffen, sodass alle Menschen die Möglichkeit
                          zur gesellschaftlichen Teilhabe bekommen und einer für sie sinnstiftenden
                          Tätigkeit nachgehen können – ob das Erwerbsarbeit sein muss, lasse ich
                          hierbei offen.

                          Was war Dein erster Berufswunsch?
                          Löwendompteurin

                          Wie sieht Arbeit aus, die Dich zufrieden macht?
                          Sinnstiftend und leidenschaftserweckend. Sie trägt dazu bei, etwas Gutes
                          für andere und sich selber zu erreichen: politisch, kulturell, menschlich.
                          Dazu kommen die richtigen Arbeitsbedingungen, die Raum zur Entwicklung
                          lassen, nicht hierarchisch sind und andere Bereiche des Lebens nicht
                          vollständig erdrücken.

                         Wenn Du Parteivorsitzende wärst …
                         … würde ich die erfolgreiche Arbeit von Lothar Bisky und Oskar Lafontaine
                         fortsetzen und Lady Bitch Ray zur Ehrenvorsitzenden machen.

                          Was regt Dich auf?
                          Dass Menschen Gegebenheiten, die veränderbar sind, als unausweichlich
                          akzeptieren und sich teilweise im gepflegten Pessimismus einrichten,
                          anstatt Alternativen zu suchen.

                          Wann und wie hast Du unlängst Solidarität gespürt?
                          Gestern: Jemand half einer alten Dame, ihren schweren Koffer aus dem
                          Gepäckfach der S-Bahn zu heben. In den kleinen Gesten des Alltags fängt
                          alles an.

                          Möchtest Du (manchmal) anders sein, als Du bist?
                          Es gibt Tage, da mag ich mich, und andere, an denen es schwer ist, mich
                          selbst auszuhalten. In der Regel überwiegt aber die Zufriedenheit.

                          Müssen Helden und Vorbilder sein?
                          Da halte ich es mit David Bowie »we could be heroes just for one day«,
                          obwohl es nicht immer nur ein Tag sein muss. Vorbilder sind wichtig,
                          aber jede/r sollte an die eigenen Talente glauben, diese pflegen und
                          verwirklichen können.

                          Wann fühlst Du Dich gut?
                          Wenn der Wecker nicht allzu früh klingelt.

                          Wo möchtest Du am liebsten leben?
                          In der Nähe des Meeres. Wasser hat eine sehr beruhigende Wirkung auf mich
                          und vermittelt das Gefühl von Freiheit und Kraft.

                          Welche Eigenschaften schätzt Du an Menschen besonders?
                          Generell ist es spannend, die Besonderheiten an jedem Menschen zu
                          entdecken. Guten Humor schätze ich aber besonders und Authentizität.

3   0   DISPUT Februar 2009                                                                          FRAGEZEICHEN
Europapolitik ist kein Selbstzweck
Gemeinsame Positionen beschließen, gemeinsam in den Wahlkampf gehen.
Vor dem Bundesparteitag in Essen Von Lothar Bisky

Mitglieder der Europäischen Linken wa- der Krise«; dort sprachen selbst Mana-         Arbeitswelt, für erneuerbare Energien,
ren am 17. Januar in Athen. Im Gespräch ger von einer neuen Kooperation zwi-          ökologische Arbeitsplätze, mehr und
mit SchülerInnen und StudentInnen, schen Staat und Unternehmen.                       bessere öffentliche Dienstleistungen
die sich selbst als die 600-Euro-Gene-        Wirtschaftskrisen sind Gesellschafts-   zu fragen. Außer dem Ausbau von Breit-
ration bezeichnen, wurden die wilden krisen. Die Politik, die in die Krise ge-        bandinternet lässt sich im Konjunktur-
Demonstrationen vom Dezember leben- führt hat, darf nach der Krise nicht mehr         programm der Großen Koalition nichts
dig, die Wut und die Trauer über den Tod dieselbe sein wie zuvor. Das werden wir      finden, was auf eine bessere Zukunft
von Alexandros Grigoropoulos. Zugleich – gemeinsam mit der Europäischen Lin-          nach dem Bundestagswahltag deutet.
bekamen Besonnenheit und Gewaltfrei- ken – nicht nur in den Wahlkämpfen                   Die Große Koalition gibt die Serie
heit des Protestes gegen eine existen- vertreten. Das gehört in den politischen       des Retters aus der Krise. Bisher ste-
zielle Erfahrung der Perspektivlosigkeit Alltag, in eine harte Opposition gegen-      hen auf der einen Seite über 100 Milli-
wieder die Oberhand. Die sozialen For- über Krisenkonjunkturpaketen, deren            arden Euro Bürgschaft für die Real Esta-
derungen gegen die Folgen einer Bil- Halbwertzeit kaum länger sein dürfte             te und auf der anderen Seite 780.000
dungs- und Arbeitswelt, die von Dere- als ein Präsentkörbchen im Wahlkampf.           Kurzarbeiteranmeldungen seit Oktober
gulierung und Privatisierung geprägt ist, Teilverstaatlichung ohne Mitsprache,        2008. Die Prognosen über den Krisen-
wurden konkret. Die Solidarität half, die Abwrackprämie ohne ökologische Auf-         verlauf sehen den Verlust von weit über
Gemeinsamkeiten des Widerstandes lagen, Bildungsinvestitionen in Be-                  einer halben Million Arbeitsplätze vor-
und der Alternativen zwischen unter- ton – darin steckt schlichtweg zu we-            aus. Doch hier waltet der Retter der ei-
schiedlichsten Kräften hochzuhalten.       nig Zukunft. Es ist die Aufgabe der LIN-   genen politischen Versäumnisse, der
   Athen ist überall. Hier war ein selbst- KEN, jetzt deutlich nach den Impulsen      nun, statt munter die Gewinne zu priva-
verständlicher Ausgangspunkt auf der für strukturelle Veränderungen in der            tisieren, hektisch die Verluste der eins-
Suche nach politischen Lösungen ge-                                                   tigen Gewinner sozialisiert.
gen Sozial- und Lohndumping, ge-                                                          Die Demokratie leidet, wenn das Ver-
gen Bildungsprivatisierung und Auf-                                                   trauen in politische Lösungen immer
rüstung, gegen ein Europa der Banken
                                             Wer und wann wird gewählt?               und immer wieder enttäuscht wird. Ge-
statt einem Europa der Bürgerinnen und       Die Bürgerinnen und Bürger der 27        gen die Arbeitszeitrichtlinie der Europä-
Bürger. Eine europapolitische Debat-         Mitgliedsstaaten der Europäischen        ischen Union gingen am 16. Dezember
te in die Universität von Athen zu brin-     Union wählen vom 4. bis 7. Juni 2009     Gewerkschafterinnen und Gewerkschaf-
gen war das sprichwörtliche Eulen nach       die Abgeordneten für das Europä-         ter, Mitglieder linker Parteien Europas,
Athen tragen.                                ische Parlament. Für die Legislatur-     Bürgerinnen und Bürger auf die Straße.
                                             periode bis 2014 werden insgesamt        Die Mitglieder der deutschen Delega-
Wirtschaftskrise ist                         736 Mandate vergeben. Wahlberech-        tion der GUE/NGL-Fraktion im Europä-
Gesellschaftskrise                           tigt sind grundsätzlich alle Bürger/     ischen Parlament waren mit dabei, sie
                                             innen in EU-Europa, die am Wahltag       haben mit dazu aufgerufen und mobili-
Der Bundesverband deutscher Banken           mindestens 18 Jahre alt sind – unab-     siert. Die Solidarität zwischen ganz un-
ist zutiefst beunruhigt. Wie er zum Jah-     hängig davon, wo sie sich zum Zeit-      terschiedlichen gesellschaftlichen Kräf-
resauftakt herausfand, sind 40 Prozent       punkt der Wahl aufhalten. Allerdings     ten für ein soziales, demokratisches,
der Deutschen der Meinung, dass sich         gibt es in den Mitgliedsstaaten un-      friedliches und ökologisches Europa
die Marktwirtschaft nicht bewährt hat.       terschiedliche Regeln, da das Wahl-      stärkt die Demokratie. Doch sie braucht
60 Prozent der Bevölkerung, so stellte       recht national bestimmt wird. Die        Nahrung: konkrete Vorschläge. Die Lö-
Allensbach fest, sind sogar für eine Ver-    Briefwahl ist möglich.                   sungen globaler Konflikte, Antworten
staatlichung der Energiekonzerne.            Mit der Europawahl 2009 entsendet        auf den Klimawandel, ein demokra-
    Nun meinte sicherlich auch die Mehr-     Deutschland 99 Abgeordnete in das        tisches Sozialmodell – nicht allein in
heit der Bevölkerung bis vor einem vier-     Europaparlament. Für die Wahl stel-      Europa – stehen mindestens seit den
tel Jahr, dass die Rufe nach dem Staat,      len Parteien oder sogenannte poli-       Diskussionen des Club of Rome seit
dass das Projekt eines umfassenden           tische Vereinigungen Listen mit ih-      über 40 Jahren zur Debatte. Insofern ist
Konjunkturprogramms eine Art Allein-         ren Kandidatinnen und Kandidaten         die aktuelle Krise auch eine Chance, um
stellungsmerkmal der Politik der LIN-        für das Europaparlament auf. Die         überfällige Strukturentscheidungen an-
KEN sei. Das hat sich gewandelt. Jetzt       Bewerberinnen und Bewerber müs-          zumahnen, die Kräfteverhältnisse in Eu-
ist in allen politischen Lagern die staat-   sen sich auf einer öffentlichen Mit-     ropa gründlich zu verändern.
liche Feuerwehr gefragt, damit jenes hö-     gliederversammlung einem demo-               In Lissabon werden nicht nur Ver-
here Wesen, der Markt, wieder funktio-       kratischen Auswahlverfahren stel-        träge (ohne die Mitsprache von Bürge-
niere. Wirtschaftsunternehmen, ja sogar      len. Die Mitgliedschaft im Europä-       rinnen und Bürgern) verhandelt. An die-
die sogenannten Heuschrecken, schrei-        ischen Parlament ist unvereinbar mit     sem Ort traf sich die Partei der Europä-
en nach jener Göttlichkeit, die ihre Ver-    der Ausübung nationaler Mandate.         ischen Linken am 6. Februar, um ihre
luste sozialisieren soll. Im schicken Da-    Für alle Parteien gilt eine bundes-      Vorschläge aus der »neuen Krise eines
vos tagte das Weltwirtschaftsforum zum       weite Fünf-Prozent-Hürde.                alten Systems« zu erörtern. Wir kamen
Thema »Die Gestaltung der Welt nach                                                   zur Lissabonner Konferenz mit ordent-

PARTEITAG                                                                                               DISPUT Februar 2009   0   4
lichem Gepäck, haben wir doch den                  Krise, vom Dschungelcamp für einige           Parlament Anfang Juni, das der Partei-
Leitantrag zum Europaparteitag am 28.              Manager; ansonsten wisse keiner, wo           vorstand in Berlin am Montagabend be-
Februar in der Partei und darüber hin-             die Krise eigentlich stattfindet. Noch lie-   schloss (Nun gut, liebe JournalistInnen,
aus breit diskutiert.                              gen die Auswirkungen der Krise im Dun-        dies beschließen immer noch Partei-
    Den gescheiterten Verfassungs-                 keln, im Schatten eines hartnäckigen,         tage – L. B.), schlägt die Linke deutlich
prozess haben wir lange als Ausdruck               schleichenden Sozial- und Demokra-            EU-freundlichere Töne an als im bishe-
eines schwierigen Krisenprozesses po-              tieabbaus der vergangenen zehn Jahre.         rigen Entwurf. So fordert sie eine euro-
litischer Handlungsfähigkeit diagnosti-            Das ganze Ausmaß des Schlamassels             päische Wirtschaftsregierung und eine
ziert. Mit dem Lissabon-Vertrag fanden             der Finanzkrise ist noch nicht klar. Ka-      EU-Verfassung, die sich an Frieden und
                                                   lifornien ist pleite. Was das für Arnold      Demokratie orientiert. Den Vertrag von
                                                   heißt, kann man sich ausmalen; was es         Lissabon lehnt die Partei zwar weiterhin
    Wie stimmte Deutschland                        in Europa bedeutet, werden wir bald er-       ab. Dies richte sich aber nicht gegen das
    2004 ab? Ergebnisse in Prozent                 fahren. Auch die Wahlentscheidungen           europäische Zusammenwachsen, heißt
                                                   2009 hängen davon ab.                         es im Wahlprogramm. Vielmehr wen-
                                                       Wichtig wird sein, was wir für Ant-       de sie sich gegen eine ›Militarisierung‹,
        Union                      49 Sitze 44,5   worten geben, mit wem wir in die De-          ›antidemokratische Bevormundung‹
                                                   batte kommen, wie unsere Rolle als            und ein ›Europa des Kapitals‹«, so die
         SPD     23 Sitze 21,5                     Partei der sozialen Gerechtigkeit, als        Berliner Zeitung. Nun bin ich guter Hoff-
                                                   Friedens- und Bürgerrechtspartei von          nung, dass wir unsere gerade begon-
        Grüne      11,9 13 Sitze                   Wählerinnen und Wählern erkannt und           nene europapolitische Debatte nicht
                                                   eingefordert wird. Das gilt in Lissabon       gleich wieder beenden. Es wäre neu bei
         FDP    6,1 7 Sitze                        und in Berlin, in Thüringen, im Saarland,     der LINKEN, dass ihr die Lust am Strei-
                                                   überall.                                      ten ausginge. Doch es ist Zeit, dass die-
         PDS    6,1 7 Sitze                                                                      se allbekannte Quantität linker Lebens-
                                                                                                 lust in eine neue Qualität umschlägt:
                                                   DIE LINKE vor der Europawahl                  Wir werden gemeinsam in den Wahl-
                                                   Die Verabschiedung des Leitantrages           kampf gehen, mit gemeinsamen Positi-
die Regierungen erneut keinen Ausweg               für den Europaparteitag fiel in der Wo-       onen, die wir in Essen auf dem Partei-
aus der Legitimationskrise der EU.                 che des Wiedereinzugs der LINKEN in           tag beschließen. Uns wird gemeinsam
    Gerade die deutsche Geschichte ist             den hessischen Landtag. Sie fiel in           sein, dass europäische Konjunkturpro-
der bitterste Lehrmeister, wenn es um              der Woche, in der Aretha Franklin beim        gramme unsere Gesellschaften struktu-
unbewältigte Krisen der Demokratie                 Amtsantritt Obamas sang. Und doch             rell verändern müssen.
geht. Die Weltwirtschaftskrise vor 80              bemerkte eine überregionale Zeitung:              Deshalb setzen wir auf eine Been-
Jahren hat in der deutschen Geschich-              »Linke wird EU-freundlich (…) Die Partei      digung des Lohn- und Sozialdumpings,
te weder die demokratischen Kräfte ge-             Die Linke hat den Streit über ihre Euro-      auf einen europäischen Mindestlohn.
stärkt noch die Solidarität zwischen               papolitik vorerst beigelegt. In ihrem Pro-    Deshalb verteidigen wir eine Politik,
ganz unterschiedlichen gesellschaft-               gramm für die Wahl zum Europäischen           die Migration bewältigt, ein offenes Eu-
lichen Kräften gefördert. Die gesell-                                                            ropa gestaltet, in dem alle an Bildung,
schaftliche Katastrophe – Jahre nach                                                             Beschäftigung, an Kultur und Öffent-
der Wirtschaftskrise – hat mit Ausch-                Wer sitzt derzeit im                        lichkeit teilhaben. Die Geschichte Euro-
witz die Möglichkeiten der großen In-                                                            pas und die Geschichte der EU hat die
dustrie in ihr verbrecherisches Gegen-
                                                     Europaparlament?                            Idee des Friedens immer als politisches
teil verkehrt.                                       Die Fraktionen im Europaparlament           Projekt aufgegriffen. Es muss gelingen,
    Wie reagieren wir heute auf die Ur-              2004/09:                                    nach dem Ende der Blockkonfrontation
sachen der Krise? Strategisch ist die                • Fraktion der Europäischen Volks-          Europa als Faktor der zivilen Konfliktlö-
Antwort klar: Wir müssen europäisch                    partei (Christdemokraten) und             sung in der Welt zu entfalten. Wir kön-
handeln. Was in Athen und in Paris an                  europäischer Demokraten:                  nen unendliche Ansprüche an linke Po-
Protesten schon spürbar ist, scheint                   288 Abgeordnete                           litik formulieren, sie debattieren und in
Deutschland noch kalt zu lassen. Ver-                • Sozialdemokratische Fraktion im           Beschlüsse gießen. Doch entscheidend
besserte Kurzarbeiterregelungen durch                  Europäischen Parlament:                   ist, dass wir Politik machen: für die Men-
das erste Konjunkturpaket der Bundes-                  217 Abgeordnete                           schen in den ländlichen Regionen, für
regierung lassen die Hoffnung aufkom-                • Fraktion der Allianz der Liberalen        die Beschäftigten und für die Menschen,
men, wir werden die Absatzkrise – als                  und Demokraten für Europa:                die in unsicheren Jobs oder erwerbslos
eine vorübergehende – möglicherweise                   100 Abgeordnete                           ihr Dasein gestalten, für Rentner/in-
gut überstehen. Bisher hat die Mehrheit              • Fraktion Union für das Europa der         nen und Familien, für MigrantInnen, für
der Bevölkerung so gut wie keine sinn-                 Nationen: 44 Abgeordnete                  Schüler/innen und StudentInnen, für
liche Krisenerfahrung. Niemand muss                  • Fraktion der Grünen / Freie Europä-       Menschen mit Behinderungen, für Men-
Geldsäcke zum Bäcker tragen. Keiner                    ische Allianz: 43 Abgeordnete             schen in Afghanistan und in Brasilien,
steht vor verriegelten Banken. In Eur-               • Konföderale Fraktion der Vereini-         für Menschen, die auf eine gerechte Zu-
opa droht zu Beginn des 21. Jahrhun-                   gten Europäischen Linken/Nor-             kunft weltweit setzen. Auch Europapoli-
derts nicht das Buenos Aires der neun-                 dische Grüne Linke: 41 Abgeordne-         tik ist kein Selbstzweck.
ziger Jahre. Es gibt keine Hamsterkäu-                 te (unter ihnen die sieben Vertre-
fe, keine Vorratswirtschaft, an die sich               ter/innen für DIE LINKE)                  lothar.bisky@die-linke.de
die Großmütter und Großväter noch                    • Fraktion Unabhängigkeit/Demo-
erinnern. Der Chef-Entertainer des öf-                 kratie: 22 Abgeordnete
fentlich-rechtlichen Fernsehens Harald               • fraktionslos: 30 Abgeordnete              Tagesordnung und Leitantrag des
Schmidt spricht von der eingebildeten                                                            Parteivorstandes: www.die-linke.de

5   0    DISPUT Februar 2009
Links wirkt auch in Europa
Zur Bilanz der Europaabgeordneten der LINKEN                           Von Gabriele Zimmer

In einigen Tagen entscheidet DIE LINKE,    litik neu zu definieren und damit dem      schärfung der Richtlinie zur Vorratsda-
mit welchen inhaltlichen Zielstellun-      Ausschuss und dem Parlament ein völ-       tenspeicherung hätte es ohne die Ini-
gen und mit welchen Kandidatinnen          lig neues Gewicht gegenüber dem EU-        tiativen und das Engagement von Ab-
und Kandidaten sie in den Europawahl-      Handelskommissar zu verleihen.             geordneten unserer Delegationen so
kampf 2009 ziehen will.                        Angesichts der politischen Mehr-       nicht geben können.
   Wir, die jetzige Delegation der LIN-    heitsverhältnisse freuen wir uns als          Schließlich: Der schonungslosen
KEN im Europaparlament, werden zum         Linke durchaus über die Erfolge, die wir   Kritik des Europaparlaments an der un-
Europaparteitag in Essen unsere Bilanz     parlamentarisch und in der Kooperati-      genügenden Umsetzung der Grund-
vorlegen, die zeigt: Links wirkt nicht     on mit europäisch vernetzten sozialen      rechte innerhalb der EU ging ein Be-
nur in Thüringen, im Bundestag, in Nie-    Bewegungen, Gewerkschaften, Frie-          richt unseres italienischen Fraktions-
dersachsen oder in den anderen Land-       dens-, Umwelt- und Menschenrechts-         kollegen Giusto Catania voran. Es war
tagen, in denen wir vertreten sind. Die    initiativen erreicht haben.                unsere kleine Delegation der LINKEN,
Abgeordneten André Brie, Sylvia-Yvon-          Wir haben wesentlich dazu beige-       die eine klare Mehrheit im Europapar-
ne Kaufmann, Helmuth Markov, Tobias        tragen, dass Rat und Kommission ih-        lament dafür gewann, vom Rat und von
Pflüger, Feleknas Uca, Sahra Wagen-        re Ziele bei der Dienstleistungsrichtli-   den Mitgliedsstaaten der EU die Ein-
knecht und Gabi Zimmer können nach-        nie nicht vollständig umsetzen konn-       führung von Mindestlöhnen und Min-
weisen: Links wirkt auch in Europa.        ten, die Chemikalienrichtlinie Reach       desteinkommen oberhalb der Armuts-
   Linke Politik hat im Europaparla-       ökologisch ausgerichtet wurde, der Rat     grenze sowie konkrete Zielstellungen
ment einen Namen. Das ist die Frakti-
on GUE/NGL (Konföderale Fraktion der
Vereinten Europäischen Linken/Nor-
dische Grüne Linke). In ihr arbeiten 17
linke Parteien aus 14 Mitgliedsstaaten
der Europäischen Union eng zusam-
men. Trotz dieser Vielfalt ist es gelun-
gen, unsere Gemeinsamkeiten in den
Vordergrund zu rücken: für eine sozi-
ale, demokratische und zivile Europä-
ische Union, die ihrer gewachsenen
Verantwortung für die Lösung glo-
baler Konflikte und Krisen verantwor-

                                                                                                                                     © DIE LINKE. im Europäischen Parlament
tungsbewusst nachkommen muss. Vor
allem Francis Wurtz, der GUE/NGL-Frak-
tionsvorsitzende, hat viel dafür geleis-
tet, dass gegenseitiger Respekt und To-
leranz das Arbeitsklima in der Fraktion
bestimmten.
   Aber auch unsere Delegation ist in
der bald zu Ende gehenden Legisla-         Engagiert auch außerhalb des Parlaments
tur ihrer politischen Verantwortung als
zahlenmäßig größte Delegation in un-       beim Versuch, die Begrenzung der wö-       im Kampf gegen Armut und soziale
serer kunterbunten Truppe der GUE/         chentlichen Arbeitszeit nach oben zu       Ausgrenzung zu verlangen.
NGL nachgekommen.                          verschieben, gestoppt wurde und ei-           Sicherlich haben wir auch oft in
   Alle Abgeordneten der LINKEN ha-        ne Mehrheit des Parlaments den Rat in      wichtigen Entscheidungen den Kürze-
ben für die Gesamtfraktion in ihren je-    das Vermittlungsverfahren zwang.           ren gezogen, standen nicht selten mit
weiligen Hauptausschüssen die fach-           Wichtig war uns auch die Verhinde-      unseren Positionen allein im Parla-
politische Arbeit koordiniert. Sylvia-     rung der Liberalisierung von Dienst-       ment. Manchmal verloren wir Abstim-
Yvonne Kaufmann wurde in der ersten        leistungen in Häfen, die Einführung ei-    mungen knapp, weil zu einer parla-
Hälfte der Legislatur zu einer der Vi-     ner arbeitnehmerfreundlichen EU-wei-       mentarischen Mehrheit von Linken,
zepräsidentinnen des Parlaments ge-        ten Regelung der Lenk- und Ruhezeiten      Sozialdemokraten und Grünen eben
wählt. Helmuth Markov wurde 2007           von Fernfahrern, die weitgehende Bei-      rund einhundert Stimmen fehlen und
zum Vorsitzenden des Ausschusses für       behaltung der kommunalen Selbstbe-         es nicht immer gelang, die notwendige
Internationalen Handel gewählt. Er hat     stimmung beim öffentlichen Personen-       Zahl weiterer Stimmen aus anderen
viel dafür getan, in diesem früher für     nahverkehr oder auch die Kritik des Eu-    Fraktionen dazu zu gewinnen. Manch-
liberale Handelspolitik berüchtigten       ropaparlaments gegenüber den völker-       mal sehr klar, wenn vor allem die Sozi-
Ausschuss ein allmähliches Umden-          rechtswidrigen Aktivitäten der CIA im      aldemokraten auch in wichtigen Fragen
ken zu bewirken, die entwicklungspoli-     sogenannten Kampf gegen den Terror.        eines sozial ausgerichteten Europas
tische Verantwortung in der Handelspo-     Die in wichtigen Teilen erreichte Ent-     oder in außenpolitischen Fragen sehr

INTERNATIONAL                                                                                          DISPUT Februar 2009   0   6
nahe an die Konservativen rückten. Un-
ser eindeutiges – in der Delegation von
sechs der sieben Abgeordneten vertre-
tenes – NEIN zum Verfassungsentwurf,
zum Lissabonner Vertrag hat uns platte
                                              Der Essener Parteitag
                                              Parteitag am 28. Februar (ab 10 Uhr)
Vorwürfe eingebracht, wir würden die
EU ablehnen, wollten das europäische
                                              Vertreter/innenversammlung am 28. Februar und 1. März
Projekt zum Scheitern bringen. Die            CCE Grugahalle, Messe Essen
Mehrheit der Fraktion und unserer De-
legation war immer darauf bedacht, die        Der Europaparteitag am 28. Febru-         DISPUT ab 12. März. Das Interesse am
Ablehnung der neoliberalen und unso-          ar wird sich mit der Arbeit der Europa-   Parteitags-DISPUT wird erfahrungs-
zialen Ausrichtung der wichtigsten Ver-       abgeordneten der LINKEN befassen          gemäß groß sein. Zusätzliche Bestellun-
träge der EU und der wachsenden Mi-           und das Europawahlprogramm 2009           gen, die über das Abonnement hinaus-
litarisierung der EU aus linker Sicht zu      diskutieren und beschließen. Außer-       gehen, deshalb bitte rasch an:
begründen, uns nicht in einen Topf mit        dem geplant sind die Beratung und
jenen werfen zu lassen, die aus natio-        Entscheidung weiterer Anträge,            disput@die-linke.de bzw.
nalistischen und rechtspopulistischen         darunter von Anträgen auf Satzungs-       telefonisch (030) 24 00 95 10 oder
Gründen die Verträge ablehnen.                änderungen.                               an DISPUT, PSF 100, 10122 Berlin.
    Es ging uns immer darum, klar zu          Die Vertreter/innenversammlung wird       Preis: voraussichtlich 2,50 Euro.
machen, dass die Alternative zu einem         die Liste der Partei für die Europawahl
von uns abgelehnten Superstaats-              am 7. Juni wählen.
modell EU nicht in der Nationalstaa-          Alles Wichtige – Reden, Beschlüsse,
terei besteht, sondern in einer de-           Diskussion und, selbstverständlich, die
mokratischen Union von Staaten mit            Liste zur Europawahl – gibt’s im März-
klaren Kompetenzzuordnungen, de-
mokratischen und transparenten Ent-
scheidungsprozessen und Kontrollen.
    Mit unseren parlamentarischen Ini-     lung modernster Halbleitertechnik zu         enfahrten von jungen Menschen zum
tiative warben wir für ein soziales, de-   erhalten.                                    Beispiel nach Auschwitz und Mauthau-
mokratisches und ziviles Europa – ge-         Aktiv beteiligte sich die Delegation      sen, die Jiddische Musik- und Theater-
gen die Politik eines neoliberalen Wirt-   an den Weltsozialforen in Porto Alegre,      woche in Dresden, das Projekt »Men-
schaftswachstums und der Privatisie-       Bamako, Caracas, Nairobi und Belém,          schen im Zaun« (in Vorbereitung auf
rung öffentlicher Dienstleistungen, für    den Europäischen Sozialforen in Paris,       den G8-Gipfel 2008), Transportkosten
die Verteidigung und die Stärkung von      London, Athen und Malmö, den Alter-          für Solidaritätsleistungen nach Kuba
sozialen und Arbeitnehmerrechten, ge-      nativgipfeln EU-Lateinamerika in Wien        und Gaza oder die Teilnahme junger
gen Armut und soziale Ausgrenzung,         und Lima, beim G8-Gipfel in Heiligen-        Menschen am Weltsozialforum in Nai-
für die unmissverständliche Haltung        damm, dem Welttreffen gegen Militär-         robi und den Weltfestspielen in Vene-
zur Asyl-, Flüchtlings- und Migrations-    basen oder den Treffen des Foro Sao          zuela.
politik und für den Schutz vor jeglicher   Paulo.                                          Fazit: Die Delegation der LINKEN im
Form von Diskriminierung.                     Abgeordnete der Delegation waren          Europaparlament hat in den zurücklie-
    Linke Politik im Europaparlament       an den Protesten zum WTO-Gipfel 2005         genden fast fünf Jahren intensiv gear-
fand niemals unter einer Glasglocke        in Hongkong beteiligt bzw. nahmen als        beitet und für linke europäische Politik
statt. Immer gehörte unsere Solida-        Mitglied der Delegation des Europa-          geworben. Wir haben längst nicht alles
rität all jenen um ihre Arbeitsplätze      parlaments an der parlamentarischen          umsetzen können, was wir gern wollten,
kämpfenden Belegschaften, den Men-         Versammlung der WTO (Welthandels-            aber wesentlich mehr als von außen, in
schen, die sich, in welchem Mitglieds-     organisation) teil. Kontakte und Bezie-      Deutschland und auch in unserer eige-
staat der EU auch immer, gegen Sozial-     hungen insbesondere zum lateinameri-         nen Partei wahrgenommen wird. Sie-
abbau, Diskriminierung oder auch ge-       kanischen und zum afrikanischen Kon-         ben Abgeordnete haben für DIE LIN-
gen die Stationierung von Raketenab-       tinent konnten kontinuierlich ausge-         KE in Brüssel, Strasbourg, auf europä-
wehrsystemen wie in Tschechien zur         baut werden.                                 ischer Ebene Politik gemacht.
Wehr setzten.                                 Wesentliche Impulse für unsere in-           Vor fünf Jahren hat unsere Partei ent-
    Es war unsere Delegation, die sich     haltliche Arbeit brachte uns die enge        schieden, genau diese sieben Abgeord-
mit den Streikenden von Gate Gour-         Kooperation mit dem Netzwerk »Wirt-          neten ins Europaparlament zu schicken.
met in Düsseldorf und der Telekom so-      schaftswissenschaftlerinnen und Wirt-        Sie hat dabei auf einen Mix aus erfah-
lidarisierte und gemeinsam mit den         schaftswissenschaftler für eine alterna-     renen und aus neuen Abgeordneten ge-
Abgeordneten anderer Delegationen          tive Wirtschaftspolitik in Europa« (Euro-    setzt. Es gibt keinen nachvollziehbaren
der europäischen Linken Betriebsräte       memo), dem linksgewerkschaftlichen           Grund, auf die Erfahrung der Abgeord-
von Alcatel, Nokia, Airbus oder Opel       »Forum Soziales Europa«, dem Netz-           neten nun fast völlig verzichten zu wol-
in das Europaparlament einlud, um ih-      werk gegen Prekarität, dem Europä-           len, zumal aller Wahrscheinlichkeit DIE
ren Forderungen auf europäischer Ebe-      ischen Netzwerk gegen Armut (EAPN),          LINKE gestärkt in das nächste Europa-
ne Gehör zu verschaffen. Gerade jetzt      mit Verbänden der Entwicklungskoope-         parlament einziehen kann.
drängen wir gemeinsam mit portugie-        ration und der europäischen Friedens-
sischen und deutschen Betriebsräten        bewegung.                                    Gabriele Zimmer ist Sprecherin der
von Qimondo Kommission und die Re-            Aus dem »Spendentopf« der Dele-           deutschen Delegation in der Fraktion
gierungen beider Länder zum schnel-        gation unterstützten wir in dieser Legis-    GUE/NGL im Europäischen Parlament.
len Handeln, um den europäischen           latur mit fast 50.000 Euro eine Vielzahl     gabriele.zimmer-assistant@
Standort der Produktion und Entwick-       von Projekten wie Bildungs- und Studi-       europarl.europa.eu

7 0   DISPUT Februar 2009
Hessenwahl – die Lehre
Ist diese Partei solidarisch genug, um ihrer historischen Aufgabe gerecht zu werden?
Ich hoffe und glaube: ja Von Ulrich Maurer

Was lehrt uns die Wahl in Hessen? Zu-                                      lerdings auch: Wenn es unseren zahl-
nächst: Unsere Kernwählerschaft ist                                        reichen Gegnern in Politik, Wirtschaft
auch im Westen so zahlreich und stabil                                     und Medienindustrie gelingt, diese un-
geworden, dass nicht einmal der kon-                                       terschiedlichen Milieus zu entzweien
zentrische Angriff aller Parteien sowie                                    und gegeneinander zu treiben, wird es
der gesamten Medienindustrie und ih-                                       gefährlich.
rer Demoskopen uns unter Wasser drü-                                          Genau dies ist in Hessen erstmals im
cken konnte.                                                               großen Maßstab versucht worden. Der
   Zweitens: Dort wo die Partei struk-                                     Versuch ist zwar gescheitert, aber es
turell und personell schwach ist (wie                                      werden erneute Angriffe auf dieser Li-
in Nordhessen), kann sie einer solchen                                     nie erfolgen. Interessanterweise sind
Kampagne nicht standhalten. Dort wo                                        die Leitmedien dieser Strategie exakt
sie stärker ist (wie in Mittel- oder Süd-                                  dieselben, die den neoliberalen Nie-
hessen), legt sie unter diesem Druck so-                                   dergang der SPD unter Schröder ausge-
gar noch zu.                                                               löst und gestützt haben. Das neolibe-
   Drittens: Die Wählerschaft unserer                                      rale Lager, das oberflächlich betrach-
Partei – wie die Partei selbst – verkör-                                   tet nur noch aus lauter Wendehälsen
pert nach wir vor unterschiedliche Mi-                                     besteht (Wer will sich denn auch an-
lieus, Kulturen und Biografien, die ge-                                    gesichts des Zusammenbruchs des Fi-
eint sind in der Auseinandersetzung mit                                    nanzmarktkapitalismus noch als Neoli-
der neoliberalen Ideologie, der Agenda                                     beraler bekennen?), hat die Destruktion
2010 und in der Ablehnung des finanz-                                      der LINKEN als letzte Chance begriffen.
marktkapitalistischen Systems.                                             Wer schon selbst ideell nichts mehr zu
                                                        © Stefan Richter

   Im Umkehrschluss bedeutet dies al-                                      bieten hat außer geronnenem Zynismus,

                                                                                                                          © Dietmar Treber

BETRACHTUNG                                                                                 DISPUT Februar 2009   0   8
© Stefan Richter
                                           mitspielen, sei es, weil sie sich persön-   Klasse zu betreiben, oder bringt sie die
    Landtagswahl in Hessen, 2009           liche Vorteile davon versprechen, sei es,   Kraft auf, die soziale Verteidigung zu or-
    Ergebnisse in Prozent                  weil sie ihre eigene ideologische Gefan-    ganisieren, das Abgleiten in Demokra-
                                           genschaft über den Erfolg der Gesamt-       tieabbau und autoritäre Strukturen zu
                                           partei stellen.                             bekämpfen und den Krieg als Mittel der
       CDU                          37,2       Für DIE LINKE stellt sich eine ganz     Politik zu ächten.
                                           einfache Frage: Will sie sich mitten im         Also ist diese Partei solidarisch ge-
       SPD                   23,7          Zusammenbruch des Finanzmarktkapi-          nug, um ihrer historischen Aufgabe ge-
                                           talismus und mitten in einer Weltwirt-      recht zu werden? Ich hoffe und glaube:
       FDP           16,2                  schaftskrise mit absehbar furchtbaren       ja. Aber lasst uns alle wachsam sein!
                                           Folgen für die Armen ebenso wie für die
      Grüne         13,7                   abhängig Beschäftigten entlang ihrer        Ulrich Maurer ist Parteibildungsbeauf-
                                           durchaus vorhandenen eigenen Wider-         tragter und Mitglied des Geschäftsfüh-
  DIE LINKE        5,4                     sprüche aufreiben, ist sie amoralisch       renden Parteivorstandes.
                                           oder dumm genug, den Kampf in der           ulrich.maurer@die-linke.de

dem bleibt als letzte Karte die Destruk-
tion des politischen Gegners. Welch ei-
ne Chance! Man muss nur die Arbeitslo-
sen gegen die Malocher, die sozial Be-
wegten gegen die Gewerkschaftsfunk-
tionäre, die angeblichen Fundis gegen
die angeblichen Realos, die Frauen ge-
gen die Männer, die ökologisch Den-
kenden gegen die im Existenzkampf
materiell Orientierten in Stellung brin-
gen. Für den Osten dann noch eine Pri-
se Geschichtsdebatte, für den Westen
die Israel-Palästina Frage, und schon
geht die Saat auf.
   Aber nur dann, wenn unsere Partei
                                                                                                                                © Dietmar Treber

dumm genug ist, sich auf diese Art ent-
zweien zu lassen. Nur dann, wenn Prot-
agonisten dieser Partei dieses Spiel

9 0    DISPUT Februar 2009
Nicht König von Kiel …
… aber Oberbürgermeister möchte Raju Sharma schon sein                                   Von Wilfried Hille

Die Szenerie ist surreal. An einem düs-     So wurde er Kieler Pressesprecher des 44-jährige, in Hamburg geborene Sohn
teren Herbstmorgen steht die Kieler         Bundesfinanzministeriums.                 einer Deutschen und eines Inders nur
Oberbürgermeisterin um acht vor dem            Volquartz, die früher im Bundestag zögernd preis, dass er mit 14 Jahren
heimischen Bahnhof und verteilt Bröt-       saß und sich der Nähe der heutigen Vollwaise war und mit seinem Bruder
chen. Alle sollen sehen, spüren und so-     Kanzlerin rühmte, gegen Albig. Die unmittelbar vor der Einweisung in ein
gar schmecken: Die soziale Kälte, die       Oberbürgermeister-Wahl am 15. März Heim stand. »Wir hatten großes Glück,
Angelika Volquartz (CDU) immer wie-         2009 drohte eine zwischen Kartoffeln als sich in letzter Minute doch noch ein
der nachgesagt wird, entspricht nicht       und Erdäpfeln zu werden. Beide ste- Cousin meines Vaters fand, der uns auf-
der Realität. Ihre Brötchen wird sie los,   hen für einseitige Interessenspolitik. nahm – in einer kleinen Wohnung am
die Botschaft verhallt hingegen un-         Soziale Belange werden nur in Fens- Rande eines Gewerbegebietes, ohne
gehört. Den Passanten steht der Sinn        terreden und mittels Klischees berück- heißes Wasser und mit einem Bade-
nicht nach aufgesetzten Wahlkampfver-       sichtigt. Rot müsse das Rathaus wieder zimmerfenster, das zur Hälfte aus ei-
anstaltungen. Sie nehmen die Backwa-        werden, so Albig.                         ner Spanplatte bestand.«
ren, lassen ihre Oberbürgermeisterin           »Dann aber richtig rot!«, entgegnet        Später studierte er in Hamburg und
dann aber einfach stehen. So kann sie       Raju Sharma. Der ist Ministerialrat mit Bombay Jura. 1990 trat er in den schles-
froh sein über das mangelnde Interes-       Migrationshintergrund und jetzt auch wig-holsteinischen Landesdienst ein,
se der Presse an diesem Termin. Nur         OB-Kandidat der LINKEN. Seine Vita, bald darauf auch in die SPD. »Die Auf-
ein Journalist, der sich alsbald kopf-      seine Qualifikation, die Konsequenz, bruchstimmung unter Björn Engholm
schüttelnd verabschiedet, verirrt sich      mit der er zu seinen Überzeugungen hat mich mitgezogen.« Es war die Zeit
zu der frühen Show.                         steht, machen ihn zu einem Bewerber, nach Uwe Barschel, dem skandalum-
   Der SPD-Kandidat Torsten Albig hat       dessen Eignung für das Amt offensicht- witterten CDU-Ministerpräsidenten, der
ein ähnliches Problem. Er war schon mal     lich ist.                                 unter ungeklärten Umständen ums Le-
Kämmerer der Stadt und hat dabei ei-           »Ich weiß, wie sich Armut anfühlt«, ben kam. Engholm war dessen Nachfol-
nen derart rigorosen Sparkurs gefahren,     merkt er eher beiläufig an. Seiner Her- ger und zugleich Hoffnungsträger der
dass sein Ruf nachhaltig litt. Nur einer    kunft schämt er sich nicht, er will damit Bundes-SPD. Seine Landespartei wur-
fand Albig wirklich gut, Peer Steinbrück.   aber auch nicht kokettieren. So gibt der de damals ihrem linken Ruf noch ge-
                                                                                      recht. »Immer wieder standen wir im
                                                                                      Widerspruch zur Bundespartei, sei es
                                                                                      bei Atomkraftwerken, in der Asyl- oder
                                                                                      in der Umweltpolitik«, erinnert sich
                                                                                      Sharma.
                                                                                          Sein beruflicher Weg entwickel-
                                                                                      te sich vielversprechend. Leitenden
                                                                                      Funktionen im Sozialministerium und
                                                                                      beim Rechnungshof des Landes folgte
                                                                 »Ich möchte          – »im nationalen Interesse«, so die of-
                                                                 OB einer             fizielle Begründung – eine vorüberge-
                                                                 Stadt sein,          hende Abstellung zum Deutschen Fuß-
                                                                 die zu ihren         ballbund zwecks Vorbereitung des Kul-
                                                                 Bürgerinnen          turprogramms der WM 2006. Anschlie-
                                                                 und Bürgern           ßend bezog er sein heutiges Büro als
                                                                 steht, gleich        Referatsleiter in der Kulturabteilung der
                                                                 welches              Kieler Staatskanzlei.
                                                                 Einkommen,               Der Bruch mit der SPD kam schlei-
                                                                 welche               chend. Vollzogen hat er ihn, nachdem
                                                                 Hautfarbe,           Engholms Nachfolgerin Heide Simo-
                                                                 religiöse            nis 2005 aus der eigenen Fraktion her-
                                                                 Überzeugung          aus gestürzt wurde. »Die innerpartei-
                                                                 oder politische      liche Empörung darüber war scheinhei-
                                                                 Gesinnung            lig«, konnte Sharma aus nächster Nähe
                                                                 sie haben.«          beobachten. »Ohne jede Klärung wurde
                                                                                       weitergemacht, als sei nichts gewesen.«
                                                                                      Die SPD wurde Juniorpartner der CDU.
                                                                                      »Seither wird nur noch links geblinkt
                                                                                      und rechts abgebogen.« Er selber bog
                                                              © Robert Bajela

                                                                                      links ab und wurde noch 2005 Mitglied
                                                                                      der Linkspartei. Eine gezielte Karriere-
                                                                                      planung sieht anders aus. »Was hilft mir

KOMMUNE                                                                                               DISPUT Februar 2009   0   10
DEMNÄCHST

die Karriere, wenn ich nicht mehr in den    Jubiläen und Jahrestage               Termine
Spiegel gucken kann?«, hält Raju Shar-
ma dem entgegen.                            18. Februar 1919                      18./19. Februar
   »Die Spitze des Hauses frozzelt, die     Schwarzrotgold als deutsche           Sitzungstage im Europaparlament
Kollegen ermuntern mich«, fasst er die      Nationalfarben eingeführt
Reaktionen am Arbeitsplatz nach Be-                                               21. Februar
kanntgabe seiner Kandidatur zusam-          20. Februar                           Landes-Vertreter/innenversammlung
men. Unmittelbare Nachteile erfahre er      Welttag der sozialen Gerechtigkeit    Mecklenburg-Vorpommern, Göhren-
dort nicht. »Klar ist aber, dass ich mich   (UN seit 2007)                        Lebbin
auf andere Posten nicht mehr zu bewer-      21. Februar 1919                      23. Februar
ben brauche.« Sonderlich zu beküm-          Kurt Eisner ermordet                  Sitzung Geschäftsführender Partei-
mern scheint ihn das nicht.                                                       vorstand
   Größere Widerstände hätte er als         21. Februar
OB, dem eine ihm nicht wohlgeson-           Internationaler Tag der Mutter-       25. Februar
nene Ratsmehrheit gegenüberstünde,          sprache (Unesco)                      Politischer Aschermittwoch
zu überwinden. »Verwaltung kann ich«,                                             28. Februar/1. März
so Sharma selbstbewusst »und Verwal-        25. Februar 1999
                                            Bundestagsmehrheit für Bereit-        Europaparteitag und Vertreter/innen-
tung kann eine Menge bewirken.«                                                   versammlung, Essen
    Beim Besuch des neuen städtischen       stellung von 5.000 Bundeswehr-
Bürgerhauses im Stadtteil Mettenhof,        soldaten für KFOR-Truppen unter       2./6. März
einem der sozialen Brennpunkte Kiels,       NATO-Führung                          Sitzungswoche im Bundestag
findet er gleich ein Beispiel. Die Kan-     1. März                               6. März
tine des Hauses produziert täglich sie-     Woche der Brüderlichkeit beginnt      Sitzung Bundesrat
benhundert Essen. Hier arbeiten fast
nur Ein-Euro-Jobber. Das verstößt ge-       2. März 1919                          6./7. März
gen die Hartz-Gesetze, nach denen di-       Kommunistische Internationale         Konferenz 60 Jahre Grundgesetz,
ese Jobs keine regulären Arbeitsplät-       wird gegründet                        Leipzig
ze ersetzen dürfen. »Mit mir würde das
                                            6. März 1984                          9. März
nicht gehen.« Das gelte auch für Ver-
                                            Pastor Martin Niemöller gestorben     Sitzung des Geschäftsführenden
träge der Stadt, die Passagen enthal-
ten, die nicht mal den Mitgliedern des                                            Parteivorstandes
                                            8. März
Rates zugänglich sind. Solche gibt es in    Internationaler Frauentag             9./12. März
Kiel offensichtlich im Zusammenhang                                               Sitzungswoche im Europaparlament
mit Privatisierungen. »Gesetze sind im      8. März 1929
Sinne der Menschen und der demokra-         erste drahtlose Fernsehsendung        14. März
tischen Gepflogenheiten zu handha-          (ohne Ton) in Deutschland             Sitzung des Parteivorstandes, Berlin
ben und nicht im Sinne privater Profi-      11. März 1999                         16./20. März
tinteressen. Dafür zeichnet ein OB ver-     Oskar Lafontaine tritt von            Sitzungswoche im Bundestag
antwortlich.«                               sämtlichen Ämtern zurück
   »Der Oberbürgermeister ist nicht der                                           27./29. März
König von Kiel«, habe aber als direkt       14. März 1879                         Landesparteitag und Vertreter/
gewählter Verwaltungschef eine star-        Albert Einstein geboren               innenversammlung Thüringen,
ke Stellung. »Ich will Akzente setzen.«                                           Arnstadt
                                            15. März
Für soziale Gerechtigkeit, gegen Privati-                                         28./29. März
                                            Weltverbrauchertag
sierungen und konsequent antifaschis-                                             Landes-Vertreter/innenversammlung
tisch. »Ich möchte OB einer Stadt sein,     16. März 1979                         Nordrhein-Westfalen, Köln
die zu ihren Bürgerinnen und Bürgern        Die Grünen werden gegründet
steht, gleich welches Einkommen, wel-                                             29. März
che Hautfarbe, religiöse Überzeugung        18. März 1929                         Landes-Vertreter/innenversammlung
oder politische Gesinnung sie haben.«       Christa Wolf geboren                  Bayern, München
Die Unantastbarkeit der Würde des           21. März                              4. April
Menschen ist, das wird in Gesprächen        Internationaler Tag zur Beseitigung   Demonstration gegen NATO-Gipfel
mit Raju Sharma zu den unterschied-         der Rassendiskriminierung (UN seit
lichsten Themen schnell deutlich, des-      1966)                                 4. April
sen zentrales Anliegen. »Ich will dafür                                           Landes-Vertreter/innenversammlung
sorgen, dass dieser Verfassungsan-          24. März 1999                         Rheinland-Pfalz, Grünstadt
spruch für jeden Menschen in Kiel Wirk-     Die NATO beginnt Luftangriffe auf
lichkeit wird.«                             Jugoslawien                           Zusammenstellung: Daniel Bartsch

11  0   DISPUT Februar 2009
Ein Hotel, in dem
                                         Schwerbehinderte
                                         Arbeit und
                                         Anerkennung
                                         finden

                                         Jeder Handgriff
                                         will gelernt sein.
                                         Im Regenbogen-
                                         haus vor allem in
                                         Gastronomie,
                                         Küche und
                                         Hauswirtschaft.

               Ruth Kretzer-Braun ist Pädagogin und Vor-           Johannes: Das Besondere ist, dass wir in unserem Hotel
               sitzende der Linksfraktion im Stadtrat von       als schwerbehindert geltende Menschen ausbilden und in Ar-
               Freiberg in Sachsen. Johannes Kretzer ist        beit gebracht haben beziehungsweise bringen. Normalerwei-
               Betriebswirt und Mitglied der Linksfrakti-       se werden sie von der Agentur für Arbeit in Werkstätten für
               on im Kreistag von Mittelsachsen. Ihr größ-      Behinderte beschäftigt. Diese sollen behinderten Menschen
               tes Projekt ist aber kein politisches. Es hört   eine angemessene berufliche Bildung und eine Beschäfti-
               auf den Namen Regenbogenhaus. Darüber            gung zu einem angemessenen Gehalt ermöglichen. In einer
               sprach DISPUT mit ihnen.                         Werkstatt gibt es ganz unterschiedliche Beschäftigungsge-
                                                                biete: Zuliefereraufgaben, Holz- und Metallbearbeitung bis
Wir sitzen im Hotel Regenbogenhaus im sächsischen Frei-         hin zu Schnürsenkel knüpfen. Alle – vor allem geistig – be-
berg. Für dieses Hotel habt ihr bereits mehrere Auszeich-       hinderten Menschen haben nach dem Abschluss der Schule
nungen erhalten, zum Beispiel wurdet ihr zu Sachsens As-        Anspruch auf einen Platz in der Werkstatt. Diese Werkstätten
sen 2007 gekürt und mit dem Bürgerpreis 2008 der Stadt          sind zwar eine wunderbare Sache, doch nicht für jeden ge-
Freiberg geehrt. Was ist das Besondere am Regenbogen-           eignet. Viele fühlen sich durch die Arbeit in diesen Werkstät-
haus?                                                           ten unterfordert oder haben einfach keine Lust darauf. Wir

SOZIAL                                                                                               DISPUT Februar 2009   0   12
»Wir mussten
                                darum kämpfen«
                                Oder: Die starken Seiten des behinderten Menschen.
                                Ruth Kretzer-Braun und Johannes Kretzer über das
                                                                                                                                © Erich Wehnert (4)

                                Regenbogenhaus in Freiberg

wollten ihnen deshalb die Möglichkeit bieten, in einer ande-         Ruth: 1988 waren Johannes und ich als Dozenten in Äthi-
ren Branche eine Tätigkeit zu finden, nämlich im Hotel-Ge-        opien. Ich durfte an der Universität Lehrer ausbilden und Jo-
werbe. Nach unseren Erfahrungen ist diese Branche dafür be-       hannes hat Management unterrichtet. Dort gab es viele be-
sonders geeignet. Hier können sie in drei unterschiedlichen       hinderte Menschen. Sie hatten keine Chance, einen Roll-
Bereichen eines Hotels arbeiten: in der Gastronomie, der Kü-      stuhl zu bekommen. Sie hatten große Lederhandschuhe und
che und der Hauswirtschaft.                                       schleiften sich damit über die Höfe und kletterten Treppen
    Das Hotel Regenbogenhaus ist das einzige komplett bar-        hoch. Fahrstühle gab es nicht. Viele Menschen sind auch auf
rierefreie Hotel in ganz Sachsen. Man kann also sagen, dass       uns zugekommen: Großeltern, deren Enkelkinder Augenfehl-
wir mit unserem Hotel drei Ziele verfolgen: Wir sind Hotel, wir   stellungen hatten und die glaubten, wenn wir eine Brille mit-
beschäftigen behinderte Menschen und wir sind dabei, ein          brächten, seien sie geheilt. Das hat uns sehr bewegt.
Netzwerk mit anderen Unternehmen aufzubauen, die bei uns             Eigentlich wollten wir drei Jahre in Äthiopien verbringen.
ausgebildete behinderte Menschen in Arbeit nehmen.                Leider war die militärische Situation vor Ort so, dass wir nach
                                                                  einem Jahr von unserem Urlaub zu Hause nicht mehr zurück-
Wie kommt man auf die Idee, ein derart ehrgeiziges Projekt        kehren konnten. Die fehlende Sicherheit ließ es nicht mehr
zu beginnen?                                                      zu. Als wir wieder zurückkamen, war ja hier die Wende. Wir

13   0   DISPUT Februar 2009
Ruth Kretzer-
                                           Braun (Mitte):
                                           »Mich hat das nicht
                                           losgelassen.«

mussten uns also überlegen, wie es mit uns weiterging. Mein       Und irgendwann kam dann der Punkt, an dem es konkret
Arbeitsplatz war anderweitig besetzt worden. Ich hatte nichts     wurde …
zu tun und bekam letztlich die Aufgabe, eine Schule für geis-         Ruth: Im September 1997 hatten wir die Chance, im So-
tig behinderte Menschen in Freiberg aufzubauen. So etwas          zialministerium unsere Idee vorzustellen. Dort fand man un-
gab es zu DDR-Zeiten nicht. Es gab in der DDR regionale Hilfs-    sere Idee gut, meinte aber, wir müssten einen Verein grün-
schulen, aber dort waren die geistig Behinderten nicht mehr       den. Das haben wir getan und Johannes mit dazugenommen,
dabei. Ich musste also mit diesen Inhalten ganz von vor-          weil wir insgesamt sieben Mitglieder brauchten und einer
ne beginnen. Ich wurde auch in die alten Bundesländer ge-         sich um das Geld kümmern musste. Am 3. Dezember 1997
schickt, um zu schauen, wie die das da gemacht haben. Wir         gründeten wir den Verein Regenbogenhaus e. V. Das ging
haben uns Lehrpläne besorgt aus Bayern und Baden-Würt-            recht schnell. Wir haben diverse Förderungsanträge gestellt,
temberg. Dadurch kam ich mit vielen Menschen mit Behinde-         so dass wir im Dezember 1998 die ersten schwerbehinder-
rungen zusammen. Wir haben uns dann in Zusammenarbeit             ten Menschen, die zum Teil noch heute bei uns arbeiten, in
mit der Diakonie Freiberg eine Kindereinrichtung ausgesucht,      eine Qualifizierung bringen konnten. Diese wurde vom Ar-
die zur heutigen Albert-Schweitzer-Schule ausgebaut wurde.        beitsamt gefördert. In Brand-Erbisdorf bei Freiberg bauten
Ich wollte dort eigentlich als Lehrerin arbeiten. Weil ich aber   wir eine Etage eines Internats, das nicht mehr genutzt wur-
nicht mehr Kirchenmitglied war, durfte ich das nicht.             de, zu einem Übungshotel um. Wir begannen mit acht Schü-
                                                                  lerInnen und erhöhten ihre Anzahl 1999 auf 20.
Das ist sehr schade.                                                  Johannes: Parallel dazu suchten wir ein passendes Haus
    Ruth: Ja. Aber daraufhin habe ich mir gesagt, dann müs-       und fanden schließlich das jetzige Regenbogenhaus. Das
sen wir eben ehrenamtlich was tun. Als Mitglied der Lebens-       gehörte früher zu einem Kasernenkomplex. Das Haus bau-
hilfe e. V. habe ich in Duisburg an einem Kongress teilgenom-     ten wir zu einem in jedem Bereich barrierefreien Hotel um,
men. Dort erlebte ich, wie Leute aus Hamburg ein Projekt vor-     was einzigartig in Sachsen ist. Das Sozialministerium hat
stellten: ein Hotel, in dem schwerbehinderte Menschen Ar-         uns 1,85 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Den Rest ha-
beit fanden. Da habe ich gesagt, so was machen wir jetzt          ben wir über Spenden erbracht. Die Aktion Mensch hat uns
auch in Freiberg! Man meinte nur zu mir: »Nein! Hamburg ist       zum Beispiel mit 400.000 DM unterstützt. Dennoch mussten
nicht Freiberg und Freiberg ist nicht Hamburg!« Aber mich hat     wir einen Kredit aufnehmen, den wir heute noch abzahlen.
das nicht los gelassen. Ich überlegte mir, ob es denn sinnvoll    Die Rekonstruktion des Hauses konnten wir Juli 2001 been-
ist, dass alle geistig behinderten Menschen nach der Schu-        den. Ende August 2001 war die Eröffnung.
le in eine Werkstatt kommen, oder ob es nicht sinnvoller ist,
solche Menschen auch in der Hotel-Branche auszubilden und         Ihr wurdet also von staatlicher Seite sehr gut unterstützt?
sie dann in Arbeit zu nehmen.                                        Johannes: Zu Beginn wurden wir sehr gut unterstützt. Der

SOZIAL                                                                                                DISPUT Februar 2009   0   14
damalige Referatsleiter und andere Mitarbeiter im säch-          ten Menschen zu stärken. Wenn jemand also seine Stärken
sischen Sozialministerium fanden unsere Idee gut und ha-         in der Küche sieht, geht er für zwei Jahre in die Küche.
ben uns sehr unterstützt.                                            Dann wird es schwierig. Wir können nämlich niemanden
                                                                 mehr in Arbeit nehmen. Bisher konnten wir das, aber jetzt
Zu Beginn? Hat sich später etwas daran geändert?                 haben wir genug Personal. Das sagen wir den Budgetneh-
    Johannes: In der Verwaltung des Sozialministeriums gab       mern und ihren Eltern, bevor sie den Antrag bei der Agentur
es wie so oft eine Rotation unter den Verantwortlichen. Und      für Arbeit stellen. Sie gehen deshalb in einem anderen Un-
die, die uns kannten und unser Projekt unterstützten, wa-        ternehmen ins Praktikum. Und wir fragen das Unternehmen,
ren plötzlich weg. Da gab es dann einen anderen Referats-        ob sie sich vorstellen können, diese jungen Menschen spä-
leiter, der wollte das plötzlich nicht mehr. Aber wir hatten     ter in Arbeit zu nehmen.
Glück: Wir hatten bereits eine schriftliche Zusage des Sozi-         Ruth: Was wir machen, haben wir in einem Leistungsan-
alministeriums. So konnte das doch in die richtigen Bahnen       gebot zusammengefasst und den Eltern in die Hand gege-
gelenkt werden. Doch wir mussten darum kämpfen. Und das          ben. So können sie überprüfen, ob wir alles einhalten, was
haben wir gemacht.                                               wir versprechen. Das ist auch insofern wichtig, als dass die
                                                                 Agentur für Arbeit mit den Eltern eine Vereinbarung darüber
Wie bekommt man als behinderter Mensch eine Ausbildung           trifft, was ihre Kinder in diesen 2 ¼ Jahren schaffen müs-
im Regenbogenhaus?                                               sen. Das wird alle halbe Jahre überprüft. Wenn dabei her-
   Ruth: Also genaugenommen ist das, was wir hier machen,        auskommt, dass die Budgetnehmer das nicht schaffen, wer-
keine Ausbildung. Ausbildung ist ja immer ein duales Sys-        den sie nicht weiter gefördert. Bisher hatten wir so einen Fall
tem, bestehend aus Berufsschule und Praxis. Wir machen           zum Glück noch nicht.
eigentlich Berufsbildung anstelle von Werkstatt. Die Eltern
kommen zu uns, wenn ihr Kind nicht in die Werkstatt will,        Wie finanziert ihr euch?
und fragen, ob es hier ein Praktikum machen kann. Die Kin-           Johannes: Wir müssen uns selbstverständlich selbst fi-
der werden dann in allen unseren Bereichen getestet: Wie         nanzieren. Wir verkaufen ganz normale Hotelleistungen,
sie sich dem Gast gegenüber verhalten, wie sie in den Zim-       richten Feiern aus, bieten Räume für Seminare. Wir bekom-
mern arbeiten, wie sie sich in der Küche einbringen können.      men über die Schwerbehindertenausgleichsabgabe hinaus
Manchmal müssen wir es leider ablehnen, dass jemand ei-          einen besonderen Aufwand gezahlt. Diese Abgabe müssen
ne Berufsbildung bei uns beginnt.                                alle Unternehmen zahlen, die zu wenige schwerbehinder-
   Im November 2006 haben wir bei der Agentur für Arbeit in      te Menschen angestellt haben – bei großen Unternehmen
Chemnitz durchgesetzt, dass wir als Leistungserbringer über      muss das jeder Zwanzigste sein.
ein persönliches Budget den Berufsbildungsbereich durchfüh-          Im Übrigen macht das volkswirtschaftlich Sinn. Die Bun-
ren können, analog zu einer Werkstatt. Das bedeutet, dass be-    desarbeitsgemeinschaft Integrationsfirmen, deren Mitglied
hinderte Menschen ihre Berufsbildung bei uns machen kön-         wir sind, macht in Sachsen gerade ein Monitoringprogramm.
nen anstatt in einer Werkstatt. Wenn jemand bei uns diese        Dafür müssen wir unsere Jahresabschlüsse und eine be-
Berufsbildung durchführen will, muss man bei der Agentur         triebswirtschaftliche Auswertung einreichen. Die erste Un-
für Arbeit einen Antrag darauf stellen. Wird er bewilligt, be-   tersuchung ergab, dass für jeden Euro Zuschuss, den ein In-
kommt die Budgetnehmerin oder der Budgetnehmer von der           tegrationsunternehmen in Sachsen erhält, 1,20 Euro zurück
Agentur für Arbeit das Geld überwiesen, das für ihre oder sei-   in die Sozialkasse fließen.
ne Berufsbildung eigentlich an die Werkstatt gegangen wäre.          Ruth: Für jeden schwerbehinderten Menschen bekom-
Dieses Geld wird wiederum an uns überwiesen. Auf dieser Ba-      men wir außerdem gemäß seines Unterstützungsbedarfs
sis konnten wir im November 2006 vier junge Leute bei uns in     Zuschüsse. Mit Hilfe dieser Unterstützung können wir gut
die Berufsbildung nehmen. Inzwischen sind es sechs.              25 Prozent unserer Personalkosten decken. Das sind alles

                                                                                                                               © Erich Wehnert (3)

Wie läuft die Berufsbildung ab?                                  Zuschüsse, die uns gesetzlich zustehen. Die bekommen wir
   Johannes: Die ersten drei Monate sind eine Einführungs-       nicht, weil uns jemand sehr mag. Die bekommt jedes Unter-
phase. Hier durchlaufen die Budgetnehmer unsere drei Be-         nehmen, das mehr behinderte Menschen beschäftigt, als es
reiche, also einen Monat sind sie in der Hauswirtschaft, ei-     beschäftigen müsste.
nen weiteren in der Küche und einen im Service. Danach ent-
scheiden wir im Gespräch mit den Eltern und den Budget-          Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg mit
nehmern, in welchem Bereich sie am stärksten sind, in            diesem tollen Projekt!
welchem sie also weiter eingesetzt werden möchten. Wir ge-
hen nach dem Prinzip vor, die starken Seiten des behinder-       Interview: Dirk Schröter

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