DISPUT - Partei DIE LINKE
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ISSN 0948-2407 | 67 485 | 2,00 Euro DISPUT Februar 2009 Lothar Bisky, Gabi Zimmer: Vor dem Europawahlparteitag, vor der Europawahl Ulrich Maurer: Ist die Partei solidarisch genug, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden? Zu den Kommunalwahlen: Anspruchsvolle Ziele in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz Last und Lust der Geschichte des Sozialismus. Die Vergangenheit bleibt gegenwärtig Mein Kind, der Nazi. Gespräch mit der Autorin Claudia Hempel Protest und Widerstand gegen den Naziaufmarsch am 14. Februar in Dresden: Viele Mitglieder der LINKEN waren dabei. © Erich Wehnert
4 EUROPA Lothar Bisky: Europapolitik ist kein Selbstzweck 6 EUROPA Gabi Zimmer: Zur Bilanz der Abgeord- neten 8 BETRACHTUNG Ulrich Maurer: Hessenwahl – die Lehre ZITAT 10 KOMMUNE Raju Sharma kandidiert als Kieler Jede Wirtschaft beruht auf Oberbürgermeister © Erich Wehnert dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der 11 DEMNÄCHST andere werde gepumptes Geld 12 INTERVIEW zurückzahlen. Tut er das nicht, Die starken Seiten der behinderten Ruth Kretzer-Braun und Johannes so erfolgt eine sogenannte Menschen. Zu Besuch im Regenbogen- Kretzer über das Regenbogenhaus ›Stützungsaktion‹, bei der alle, haus. Seite 12 bis auf den Staat, gut verdienen. 16 KOMMUNAL Solche Pleite erkennt man daran, Nordrhein-Westfalen: 3.500 Kandida- 26 BILDUNG dass die Bevölkerung aufgefordert tInnen auf einen Streich Klasse mit Kasse? Warum Privat- wird, Vertrauen zu haben. schulen überwinden? Weiter hat sie ja dann auch meist 17 KOMMENTIERT nichts mehr. 18 KOMMUNAL 27 ENTSPANNUNG Wenn die Unternehmer alles Geld im Rheinland-Pfalz: Wahlkampf mit Herz Change heißt: NATO auflösen Ausland untergebracht haben, nennt 28 GESELLSCHAFT man dieses den Ernst der Lage. 20 WAHLKAMPF Mach mit, misch dich ein! Last und Lust der Geschichte des Kaspar Hauser (Kurt Tucholsky) in: Sozialismus Die Weltbühne, 15. September 1931 Der Aktivierungswahlkampf (Ausgewählte Werke, Band 6, Verlag 21 SERVICE 30 EUROPÄISCHE LINKE Volk und Welt, Berlin 1973, S. 412) Das »Ticket« zum Mitmachen Portugal: Der »Bloco« bläst zum Angriff 22 WAHLKAMPF Online auf drei Säulen 31 NACHBELICHTET 23 GESELLSCHAFT 32 POLITISCHE BILDUNG Zur Konferenz »60 Jahre Grundgesetz – Ganz ohne Frontalunterricht offen für eine neue soziale Idee« 33 FRAUEN 24 FEUILLETON Tribunal in Dortmund 34 GESELLSCHAFT Zurück zu den Wurzeln? Die Grünen 35 FRAUEN Konferenz in Potsdam 36 LITERATUR Christa Wolf zum »80.« ZAHL DES MONATS 38 REZENSION 2020 Zur Geschichte des »ND« 40 AUFKLÄRUNG Für das Jahr 2012 plant China die Mein Kind, der Nazi. Gespräch mit Landung eines Fahrzeuges auf dem der Autorin Claudia Hempel Mond. Ab 2015 will Russland eine ständige bemannte Mondstation 43 MEDIEN betreiben. Japan hat ähnliche Pläne. Akademie linker Medienmacher/innen Dagegen soll es erst ab 2020 möglich 44 BRIEFE sein, in den ICE-Zügen der Deutschen Bahn Fahrräder mitzunehmen. 46 BÜCHER Dies bestätigte ein Konzernsprecher 47 FEBRUARKOLUMNE am 11. Februar. Das Motto der DB: Repro »Zukunft bewegen«. 48 SEITE ACHTUNDVIERZIG IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH, Weydingerstraße 14 – 16, 10178 Berlin REDAKTION Stefan Richter, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: (030) 24 00 95 10, Fax: (030) 24 00 93 99, E-Mail: disput@die-linke.de GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell DRUCK MediaService GmbH BärenDruck und Werbung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407 REDAKTIONSSCHLUSS 16. Februar 2009 INHALT DISPUT Februar 2009 0 2
CAROLIN REITH 29 Jahre, hat Anglistik studiert und war Mitglied der Hochschulgruppe in Hannover. Derzeit wirkt sie im Koordinationskreis des Rosa-Luxemburg-Clubs Hannover sowie im Frauenpolitischen Ratschlag mit. Wohnt in Hameln in Nie- © privat dersachsen. Verbringt die Freizeit am liebsten im Kino oder beim Schwimmen. Was hat Dich in letzter Zeit am meisten überrascht? Dass die laut Medien jedes Jahr massiver werdende Grippewelle dieses Mal an mir vorbeigezogen ist und dass Obama ins Weiße Haus eingezogen ist. Beides positive Überraschungen! Was ist für Dich links? Für die Menschen bestmögliche Bedingungen zu schaffen, damit sie die Freiheit haben, ihr Leben so gestalten zu können, wie sie es möchten, aber trotzdem untereinander solidarisch bleiben. Konkret heißt das, vor allem ein gutes Sozialsystem zu schaffen, sodass alle Menschen die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe bekommen und einer für sie sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen können – ob das Erwerbsarbeit sein muss, lasse ich hierbei offen. Was war Dein erster Berufswunsch? Löwendompteurin Wie sieht Arbeit aus, die Dich zufrieden macht? Sinnstiftend und leidenschaftserweckend. Sie trägt dazu bei, etwas Gutes für andere und sich selber zu erreichen: politisch, kulturell, menschlich. Dazu kommen die richtigen Arbeitsbedingungen, die Raum zur Entwicklung lassen, nicht hierarchisch sind und andere Bereiche des Lebens nicht vollständig erdrücken. Wenn Du Parteivorsitzende wärst … … würde ich die erfolgreiche Arbeit von Lothar Bisky und Oskar Lafontaine fortsetzen und Lady Bitch Ray zur Ehrenvorsitzenden machen. Was regt Dich auf? Dass Menschen Gegebenheiten, die veränderbar sind, als unausweichlich akzeptieren und sich teilweise im gepflegten Pessimismus einrichten, anstatt Alternativen zu suchen. Wann und wie hast Du unlängst Solidarität gespürt? Gestern: Jemand half einer alten Dame, ihren schweren Koffer aus dem Gepäckfach der S-Bahn zu heben. In den kleinen Gesten des Alltags fängt alles an. Möchtest Du (manchmal) anders sein, als Du bist? Es gibt Tage, da mag ich mich, und andere, an denen es schwer ist, mich selbst auszuhalten. In der Regel überwiegt aber die Zufriedenheit. Müssen Helden und Vorbilder sein? Da halte ich es mit David Bowie »we could be heroes just for one day«, obwohl es nicht immer nur ein Tag sein muss. Vorbilder sind wichtig, aber jede/r sollte an die eigenen Talente glauben, diese pflegen und verwirklichen können. Wann fühlst Du Dich gut? Wenn der Wecker nicht allzu früh klingelt. Wo möchtest Du am liebsten leben? In der Nähe des Meeres. Wasser hat eine sehr beruhigende Wirkung auf mich und vermittelt das Gefühl von Freiheit und Kraft. Welche Eigenschaften schätzt Du an Menschen besonders? Generell ist es spannend, die Besonderheiten an jedem Menschen zu entdecken. Guten Humor schätze ich aber besonders und Authentizität. 3 0 DISPUT Februar 2009 FRAGEZEICHEN
Europapolitik ist kein Selbstzweck Gemeinsame Positionen beschließen, gemeinsam in den Wahlkampf gehen. Vor dem Bundesparteitag in Essen Von Lothar Bisky Mitglieder der Europäischen Linken wa- der Krise«; dort sprachen selbst Mana- Arbeitswelt, für erneuerbare Energien, ren am 17. Januar in Athen. Im Gespräch ger von einer neuen Kooperation zwi- ökologische Arbeitsplätze, mehr und mit SchülerInnen und StudentInnen, schen Staat und Unternehmen. bessere öffentliche Dienstleistungen die sich selbst als die 600-Euro-Gene- Wirtschaftskrisen sind Gesellschafts- zu fragen. Außer dem Ausbau von Breit- ration bezeichnen, wurden die wilden krisen. Die Politik, die in die Krise ge- bandinternet lässt sich im Konjunktur- Demonstrationen vom Dezember leben- führt hat, darf nach der Krise nicht mehr programm der Großen Koalition nichts dig, die Wut und die Trauer über den Tod dieselbe sein wie zuvor. Das werden wir finden, was auf eine bessere Zukunft von Alexandros Grigoropoulos. Zugleich – gemeinsam mit der Europäischen Lin- nach dem Bundestagswahltag deutet. bekamen Besonnenheit und Gewaltfrei- ken – nicht nur in den Wahlkämpfen Die Große Koalition gibt die Serie heit des Protestes gegen eine existen- vertreten. Das gehört in den politischen des Retters aus der Krise. Bisher ste- zielle Erfahrung der Perspektivlosigkeit Alltag, in eine harte Opposition gegen- hen auf der einen Seite über 100 Milli- wieder die Oberhand. Die sozialen For- über Krisenkonjunkturpaketen, deren arden Euro Bürgschaft für die Real Esta- derungen gegen die Folgen einer Bil- Halbwertzeit kaum länger sein dürfte te und auf der anderen Seite 780.000 dungs- und Arbeitswelt, die von Dere- als ein Präsentkörbchen im Wahlkampf. Kurzarbeiteranmeldungen seit Oktober gulierung und Privatisierung geprägt ist, Teilverstaatlichung ohne Mitsprache, 2008. Die Prognosen über den Krisen- wurden konkret. Die Solidarität half, die Abwrackprämie ohne ökologische Auf- verlauf sehen den Verlust von weit über Gemeinsamkeiten des Widerstandes lagen, Bildungsinvestitionen in Be- einer halben Million Arbeitsplätze vor- und der Alternativen zwischen unter- ton – darin steckt schlichtweg zu we- aus. Doch hier waltet der Retter der ei- schiedlichsten Kräften hochzuhalten. nig Zukunft. Es ist die Aufgabe der LIN- genen politischen Versäumnisse, der Athen ist überall. Hier war ein selbst- KEN, jetzt deutlich nach den Impulsen nun, statt munter die Gewinne zu priva- verständlicher Ausgangspunkt auf der für strukturelle Veränderungen in der tisieren, hektisch die Verluste der eins- Suche nach politischen Lösungen ge- tigen Gewinner sozialisiert. gen Sozial- und Lohndumping, ge- Die Demokratie leidet, wenn das Ver- gen Bildungsprivatisierung und Auf- trauen in politische Lösungen immer rüstung, gegen ein Europa der Banken Wer und wann wird gewählt? und immer wieder enttäuscht wird. Ge- statt einem Europa der Bürgerinnen und Die Bürgerinnen und Bürger der 27 gen die Arbeitszeitrichtlinie der Europä- Bürger. Eine europapolitische Debat- Mitgliedsstaaten der Europäischen ischen Union gingen am 16. Dezember te in die Universität von Athen zu brin- Union wählen vom 4. bis 7. Juni 2009 Gewerkschafterinnen und Gewerkschaf- gen war das sprichwörtliche Eulen nach die Abgeordneten für das Europä- ter, Mitglieder linker Parteien Europas, Athen tragen. ische Parlament. Für die Legislatur- Bürgerinnen und Bürger auf die Straße. periode bis 2014 werden insgesamt Die Mitglieder der deutschen Delega- Wirtschaftskrise ist 736 Mandate vergeben. Wahlberech- tion der GUE/NGL-Fraktion im Europä- Gesellschaftskrise tigt sind grundsätzlich alle Bürger/ ischen Parlament waren mit dabei, sie innen in EU-Europa, die am Wahltag haben mit dazu aufgerufen und mobili- Der Bundesverband deutscher Banken mindestens 18 Jahre alt sind – unab- siert. Die Solidarität zwischen ganz un- ist zutiefst beunruhigt. Wie er zum Jah- hängig davon, wo sie sich zum Zeit- terschiedlichen gesellschaftlichen Kräf- resauftakt herausfand, sind 40 Prozent punkt der Wahl aufhalten. Allerdings ten für ein soziales, demokratisches, der Deutschen der Meinung, dass sich gibt es in den Mitgliedsstaaten un- friedliches und ökologisches Europa die Marktwirtschaft nicht bewährt hat. terschiedliche Regeln, da das Wahl- stärkt die Demokratie. Doch sie braucht 60 Prozent der Bevölkerung, so stellte recht national bestimmt wird. Die Nahrung: konkrete Vorschläge. Die Lö- Allensbach fest, sind sogar für eine Ver- Briefwahl ist möglich. sungen globaler Konflikte, Antworten staatlichung der Energiekonzerne. Mit der Europawahl 2009 entsendet auf den Klimawandel, ein demokra- Nun meinte sicherlich auch die Mehr- Deutschland 99 Abgeordnete in das tisches Sozialmodell – nicht allein in heit der Bevölkerung bis vor einem vier- Europaparlament. Für die Wahl stel- Europa – stehen mindestens seit den tel Jahr, dass die Rufe nach dem Staat, len Parteien oder sogenannte poli- Diskussionen des Club of Rome seit dass das Projekt eines umfassenden tische Vereinigungen Listen mit ih- über 40 Jahren zur Debatte. Insofern ist Konjunkturprogramms eine Art Allein- ren Kandidatinnen und Kandidaten die aktuelle Krise auch eine Chance, um stellungsmerkmal der Politik der LIN- für das Europaparlament auf. Die überfällige Strukturentscheidungen an- KEN sei. Das hat sich gewandelt. Jetzt Bewerberinnen und Bewerber müs- zumahnen, die Kräfteverhältnisse in Eu- ist in allen politischen Lagern die staat- sen sich auf einer öffentlichen Mit- ropa gründlich zu verändern. liche Feuerwehr gefragt, damit jenes hö- gliederversammlung einem demo- In Lissabon werden nicht nur Ver- here Wesen, der Markt, wieder funktio- kratischen Auswahlverfahren stel- träge (ohne die Mitsprache von Bürge- niere. Wirtschaftsunternehmen, ja sogar len. Die Mitgliedschaft im Europä- rinnen und Bürgern) verhandelt. An die- die sogenannten Heuschrecken, schrei- ischen Parlament ist unvereinbar mit sem Ort traf sich die Partei der Europä- en nach jener Göttlichkeit, die ihre Ver- der Ausübung nationaler Mandate. ischen Linken am 6. Februar, um ihre luste sozialisieren soll. Im schicken Da- Für alle Parteien gilt eine bundes- Vorschläge aus der »neuen Krise eines vos tagte das Weltwirtschaftsforum zum weite Fünf-Prozent-Hürde. alten Systems« zu erörtern. Wir kamen Thema »Die Gestaltung der Welt nach zur Lissabonner Konferenz mit ordent- PARTEITAG DISPUT Februar 2009 0 4
lichem Gepäck, haben wir doch den Krise, vom Dschungelcamp für einige Parlament Anfang Juni, das der Partei- Leitantrag zum Europaparteitag am 28. Manager; ansonsten wisse keiner, wo vorstand in Berlin am Montagabend be- Februar in der Partei und darüber hin- die Krise eigentlich stattfindet. Noch lie- schloss (Nun gut, liebe JournalistInnen, aus breit diskutiert. gen die Auswirkungen der Krise im Dun- dies beschließen immer noch Partei- Den gescheiterten Verfassungs- keln, im Schatten eines hartnäckigen, tage – L. B.), schlägt die Linke deutlich prozess haben wir lange als Ausdruck schleichenden Sozial- und Demokra- EU-freundlichere Töne an als im bishe- eines schwierigen Krisenprozesses po- tieabbaus der vergangenen zehn Jahre. rigen Entwurf. So fordert sie eine euro- litischer Handlungsfähigkeit diagnosti- Das ganze Ausmaß des Schlamassels päische Wirtschaftsregierung und eine ziert. Mit dem Lissabon-Vertrag fanden der Finanzkrise ist noch nicht klar. Ka- EU-Verfassung, die sich an Frieden und lifornien ist pleite. Was das für Arnold Demokratie orientiert. Den Vertrag von heißt, kann man sich ausmalen; was es Lissabon lehnt die Partei zwar weiterhin Wie stimmte Deutschland in Europa bedeutet, werden wir bald er- ab. Dies richte sich aber nicht gegen das 2004 ab? Ergebnisse in Prozent fahren. Auch die Wahlentscheidungen europäische Zusammenwachsen, heißt 2009 hängen davon ab. es im Wahlprogramm. Vielmehr wen- Wichtig wird sein, was wir für Ant- de sie sich gegen eine ›Militarisierung‹, Union 49 Sitze 44,5 worten geben, mit wem wir in die De- ›antidemokratische Bevormundung‹ batte kommen, wie unsere Rolle als und ein ›Europa des Kapitals‹«, so die SPD 23 Sitze 21,5 Partei der sozialen Gerechtigkeit, als Berliner Zeitung. Nun bin ich guter Hoff- Friedens- und Bürgerrechtspartei von nung, dass wir unsere gerade begon- Grüne 11,9 13 Sitze Wählerinnen und Wählern erkannt und nene europapolitische Debatte nicht eingefordert wird. Das gilt in Lissabon gleich wieder beenden. Es wäre neu bei FDP 6,1 7 Sitze und in Berlin, in Thüringen, im Saarland, der LINKEN, dass ihr die Lust am Strei- überall. ten ausginge. Doch es ist Zeit, dass die- PDS 6,1 7 Sitze se allbekannte Quantität linker Lebens- lust in eine neue Qualität umschlägt: DIE LINKE vor der Europawahl Wir werden gemeinsam in den Wahl- Die Verabschiedung des Leitantrages kampf gehen, mit gemeinsamen Positi- die Regierungen erneut keinen Ausweg für den Europaparteitag fiel in der Wo- onen, die wir in Essen auf dem Partei- aus der Legitimationskrise der EU. che des Wiedereinzugs der LINKEN in tag beschließen. Uns wird gemeinsam Gerade die deutsche Geschichte ist den hessischen Landtag. Sie fiel in sein, dass europäische Konjunkturpro- der bitterste Lehrmeister, wenn es um der Woche, in der Aretha Franklin beim gramme unsere Gesellschaften struktu- unbewältigte Krisen der Demokratie Amtsantritt Obamas sang. Und doch rell verändern müssen. geht. Die Weltwirtschaftskrise vor 80 bemerkte eine überregionale Zeitung: Deshalb setzen wir auf eine Been- Jahren hat in der deutschen Geschich- »Linke wird EU-freundlich (…) Die Partei digung des Lohn- und Sozialdumpings, te weder die demokratischen Kräfte ge- Die Linke hat den Streit über ihre Euro- auf einen europäischen Mindestlohn. stärkt noch die Solidarität zwischen papolitik vorerst beigelegt. In ihrem Pro- Deshalb verteidigen wir eine Politik, ganz unterschiedlichen gesellschaft- gramm für die Wahl zum Europäischen die Migration bewältigt, ein offenes Eu- lichen Kräften gefördert. Die gesell- ropa gestaltet, in dem alle an Bildung, schaftliche Katastrophe – Jahre nach Beschäftigung, an Kultur und Öffent- der Wirtschaftskrise – hat mit Ausch- Wer sitzt derzeit im lichkeit teilhaben. Die Geschichte Euro- witz die Möglichkeiten der großen In- pas und die Geschichte der EU hat die dustrie in ihr verbrecherisches Gegen- Europaparlament? Idee des Friedens immer als politisches teil verkehrt. Die Fraktionen im Europaparlament Projekt aufgegriffen. Es muss gelingen, Wie reagieren wir heute auf die Ur- 2004/09: nach dem Ende der Blockkonfrontation sachen der Krise? Strategisch ist die • Fraktion der Europäischen Volks- Europa als Faktor der zivilen Konfliktlö- Antwort klar: Wir müssen europäisch partei (Christdemokraten) und sung in der Welt zu entfalten. Wir kön- handeln. Was in Athen und in Paris an europäischer Demokraten: nen unendliche Ansprüche an linke Po- Protesten schon spürbar ist, scheint 288 Abgeordnete litik formulieren, sie debattieren und in Deutschland noch kalt zu lassen. Ver- • Sozialdemokratische Fraktion im Beschlüsse gießen. Doch entscheidend besserte Kurzarbeiterregelungen durch Europäischen Parlament: ist, dass wir Politik machen: für die Men- das erste Konjunkturpaket der Bundes- 217 Abgeordnete schen in den ländlichen Regionen, für regierung lassen die Hoffnung aufkom- • Fraktion der Allianz der Liberalen die Beschäftigten und für die Menschen, men, wir werden die Absatzkrise – als und Demokraten für Europa: die in unsicheren Jobs oder erwerbslos eine vorübergehende – möglicherweise 100 Abgeordnete ihr Dasein gestalten, für Rentner/in- gut überstehen. Bisher hat die Mehrheit • Fraktion Union für das Europa der nen und Familien, für MigrantInnen, für der Bevölkerung so gut wie keine sinn- Nationen: 44 Abgeordnete Schüler/innen und StudentInnen, für liche Krisenerfahrung. Niemand muss • Fraktion der Grünen / Freie Europä- Menschen mit Behinderungen, für Men- Geldsäcke zum Bäcker tragen. Keiner ische Allianz: 43 Abgeordnete schen in Afghanistan und in Brasilien, steht vor verriegelten Banken. In Eur- • Konföderale Fraktion der Vereini- für Menschen, die auf eine gerechte Zu- opa droht zu Beginn des 21. Jahrhun- gten Europäischen Linken/Nor- kunft weltweit setzen. Auch Europapoli- derts nicht das Buenos Aires der neun- dische Grüne Linke: 41 Abgeordne- tik ist kein Selbstzweck. ziger Jahre. Es gibt keine Hamsterkäu- te (unter ihnen die sieben Vertre- fe, keine Vorratswirtschaft, an die sich ter/innen für DIE LINKE) lothar.bisky@die-linke.de die Großmütter und Großväter noch • Fraktion Unabhängigkeit/Demo- erinnern. Der Chef-Entertainer des öf- kratie: 22 Abgeordnete fentlich-rechtlichen Fernsehens Harald • fraktionslos: 30 Abgeordnete Tagesordnung und Leitantrag des Schmidt spricht von der eingebildeten Parteivorstandes: www.die-linke.de 5 0 DISPUT Februar 2009
Links wirkt auch in Europa Zur Bilanz der Europaabgeordneten der LINKEN Von Gabriele Zimmer In einigen Tagen entscheidet DIE LINKE, litik neu zu definieren und damit dem schärfung der Richtlinie zur Vorratsda- mit welchen inhaltlichen Zielstellun- Ausschuss und dem Parlament ein völ- tenspeicherung hätte es ohne die Ini- gen und mit welchen Kandidatinnen lig neues Gewicht gegenüber dem EU- tiativen und das Engagement von Ab- und Kandidaten sie in den Europawahl- Handelskommissar zu verleihen. geordneten unserer Delegationen so kampf 2009 ziehen will. Angesichts der politischen Mehr- nicht geben können. Wir, die jetzige Delegation der LIN- heitsverhältnisse freuen wir uns als Schließlich: Der schonungslosen KEN im Europaparlament, werden zum Linke durchaus über die Erfolge, die wir Kritik des Europaparlaments an der un- Europaparteitag in Essen unsere Bilanz parlamentarisch und in der Kooperati- genügenden Umsetzung der Grund- vorlegen, die zeigt: Links wirkt nicht on mit europäisch vernetzten sozialen rechte innerhalb der EU ging ein Be- nur in Thüringen, im Bundestag, in Nie- Bewegungen, Gewerkschaften, Frie- richt unseres italienischen Fraktions- dersachsen oder in den anderen Land- dens-, Umwelt- und Menschenrechts- kollegen Giusto Catania voran. Es war tagen, in denen wir vertreten sind. Die initiativen erreicht haben. unsere kleine Delegation der LINKEN, Abgeordneten André Brie, Sylvia-Yvon- Wir haben wesentlich dazu beige- die eine klare Mehrheit im Europapar- ne Kaufmann, Helmuth Markov, Tobias tragen, dass Rat und Kommission ih- lament dafür gewann, vom Rat und von Pflüger, Feleknas Uca, Sahra Wagen- re Ziele bei der Dienstleistungsrichtli- den Mitgliedsstaaten der EU die Ein- knecht und Gabi Zimmer können nach- nie nicht vollständig umsetzen konn- führung von Mindestlöhnen und Min- weisen: Links wirkt auch in Europa. ten, die Chemikalienrichtlinie Reach desteinkommen oberhalb der Armuts- Linke Politik hat im Europaparla- ökologisch ausgerichtet wurde, der Rat grenze sowie konkrete Zielstellungen ment einen Namen. Das ist die Frakti- on GUE/NGL (Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nor- dische Grüne Linke). In ihr arbeiten 17 linke Parteien aus 14 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eng zusam- men. Trotz dieser Vielfalt ist es gelun- gen, unsere Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu rücken: für eine sozi- ale, demokratische und zivile Europä- ische Union, die ihrer gewachsenen Verantwortung für die Lösung glo- baler Konflikte und Krisen verantwor- © DIE LINKE. im Europäischen Parlament tungsbewusst nachkommen muss. Vor allem Francis Wurtz, der GUE/NGL-Frak- tionsvorsitzende, hat viel dafür geleis- tet, dass gegenseitiger Respekt und To- leranz das Arbeitsklima in der Fraktion bestimmten. Aber auch unsere Delegation ist in der bald zu Ende gehenden Legisla- Engagiert auch außerhalb des Parlaments tur ihrer politischen Verantwortung als zahlenmäßig größte Delegation in un- beim Versuch, die Begrenzung der wö- im Kampf gegen Armut und soziale serer kunterbunten Truppe der GUE/ chentlichen Arbeitszeit nach oben zu Ausgrenzung zu verlangen. NGL nachgekommen. verschieben, gestoppt wurde und ei- Sicherlich haben wir auch oft in Alle Abgeordneten der LINKEN ha- ne Mehrheit des Parlaments den Rat in wichtigen Entscheidungen den Kürze- ben für die Gesamtfraktion in ihren je- das Vermittlungsverfahren zwang. ren gezogen, standen nicht selten mit weiligen Hauptausschüssen die fach- Wichtig war uns auch die Verhinde- unseren Positionen allein im Parla- politische Arbeit koordiniert. Sylvia- rung der Liberalisierung von Dienst- ment. Manchmal verloren wir Abstim- Yvonne Kaufmann wurde in der ersten leistungen in Häfen, die Einführung ei- mungen knapp, weil zu einer parla- Hälfte der Legislatur zu einer der Vi- ner arbeitnehmerfreundlichen EU-wei- mentarischen Mehrheit von Linken, zepräsidentinnen des Parlaments ge- ten Regelung der Lenk- und Ruhezeiten Sozialdemokraten und Grünen eben wählt. Helmuth Markov wurde 2007 von Fernfahrern, die weitgehende Bei- rund einhundert Stimmen fehlen und zum Vorsitzenden des Ausschusses für behaltung der kommunalen Selbstbe- es nicht immer gelang, die notwendige Internationalen Handel gewählt. Er hat stimmung beim öffentlichen Personen- Zahl weiterer Stimmen aus anderen viel dafür getan, in diesem früher für nahverkehr oder auch die Kritik des Eu- Fraktionen dazu zu gewinnen. Manch- liberale Handelspolitik berüchtigten ropaparlaments gegenüber den völker- mal sehr klar, wenn vor allem die Sozi- Ausschuss ein allmähliches Umden- rechtswidrigen Aktivitäten der CIA im aldemokraten auch in wichtigen Fragen ken zu bewirken, die entwicklungspoli- sogenannten Kampf gegen den Terror. eines sozial ausgerichteten Europas tische Verantwortung in der Handelspo- Die in wichtigen Teilen erreichte Ent- oder in außenpolitischen Fragen sehr INTERNATIONAL DISPUT Februar 2009 0 6
nahe an die Konservativen rückten. Un- ser eindeutiges – in der Delegation von sechs der sieben Abgeordneten vertre- tenes – NEIN zum Verfassungsentwurf, zum Lissabonner Vertrag hat uns platte Der Essener Parteitag Parteitag am 28. Februar (ab 10 Uhr) Vorwürfe eingebracht, wir würden die EU ablehnen, wollten das europäische Vertreter/innenversammlung am 28. Februar und 1. März Projekt zum Scheitern bringen. Die CCE Grugahalle, Messe Essen Mehrheit der Fraktion und unserer De- legation war immer darauf bedacht, die Der Europaparteitag am 28. Febru- DISPUT ab 12. März. Das Interesse am Ablehnung der neoliberalen und unso- ar wird sich mit der Arbeit der Europa- Parteitags-DISPUT wird erfahrungs- zialen Ausrichtung der wichtigsten Ver- abgeordneten der LINKEN befassen gemäß groß sein. Zusätzliche Bestellun- träge der EU und der wachsenden Mi- und das Europawahlprogramm 2009 gen, die über das Abonnement hinaus- litarisierung der EU aus linker Sicht zu diskutieren und beschließen. Außer- gehen, deshalb bitte rasch an: begründen, uns nicht in einen Topf mit dem geplant sind die Beratung und jenen werfen zu lassen, die aus natio- Entscheidung weiterer Anträge, disput@die-linke.de bzw. nalistischen und rechtspopulistischen darunter von Anträgen auf Satzungs- telefonisch (030) 24 00 95 10 oder Gründen die Verträge ablehnen. änderungen. an DISPUT, PSF 100, 10122 Berlin. Es ging uns immer darum, klar zu Die Vertreter/innenversammlung wird Preis: voraussichtlich 2,50 Euro. machen, dass die Alternative zu einem die Liste der Partei für die Europawahl von uns abgelehnten Superstaats- am 7. Juni wählen. modell EU nicht in der Nationalstaa- Alles Wichtige – Reden, Beschlüsse, terei besteht, sondern in einer de- Diskussion und, selbstverständlich, die mokratischen Union von Staaten mit Liste zur Europawahl – gibt’s im März- klaren Kompetenzzuordnungen, de- mokratischen und transparenten Ent- scheidungsprozessen und Kontrollen. Mit unseren parlamentarischen Ini- lung modernster Halbleitertechnik zu enfahrten von jungen Menschen zum tiative warben wir für ein soziales, de- erhalten. Beispiel nach Auschwitz und Mauthau- mokratisches und ziviles Europa – ge- Aktiv beteiligte sich die Delegation sen, die Jiddische Musik- und Theater- gen die Politik eines neoliberalen Wirt- an den Weltsozialforen in Porto Alegre, woche in Dresden, das Projekt »Men- schaftswachstums und der Privatisie- Bamako, Caracas, Nairobi und Belém, schen im Zaun« (in Vorbereitung auf rung öffentlicher Dienstleistungen, für den Europäischen Sozialforen in Paris, den G8-Gipfel 2008), Transportkosten die Verteidigung und die Stärkung von London, Athen und Malmö, den Alter- für Solidaritätsleistungen nach Kuba sozialen und Arbeitnehmerrechten, ge- nativgipfeln EU-Lateinamerika in Wien und Gaza oder die Teilnahme junger gen Armut und soziale Ausgrenzung, und Lima, beim G8-Gipfel in Heiligen- Menschen am Weltsozialforum in Nai- für die unmissverständliche Haltung damm, dem Welttreffen gegen Militär- robi und den Weltfestspielen in Vene- zur Asyl-, Flüchtlings- und Migrations- basen oder den Treffen des Foro Sao zuela. politik und für den Schutz vor jeglicher Paulo. Fazit: Die Delegation der LINKEN im Form von Diskriminierung. Abgeordnete der Delegation waren Europaparlament hat in den zurücklie- Linke Politik im Europaparlament an den Protesten zum WTO-Gipfel 2005 genden fast fünf Jahren intensiv gear- fand niemals unter einer Glasglocke in Hongkong beteiligt bzw. nahmen als beitet und für linke europäische Politik statt. Immer gehörte unsere Solida- Mitglied der Delegation des Europa- geworben. Wir haben längst nicht alles rität all jenen um ihre Arbeitsplätze parlaments an der parlamentarischen umsetzen können, was wir gern wollten, kämpfenden Belegschaften, den Men- Versammlung der WTO (Welthandels- aber wesentlich mehr als von außen, in schen, die sich, in welchem Mitglieds- organisation) teil. Kontakte und Bezie- Deutschland und auch in unserer eige- staat der EU auch immer, gegen Sozial- hungen insbesondere zum lateinameri- nen Partei wahrgenommen wird. Sie- abbau, Diskriminierung oder auch ge- kanischen und zum afrikanischen Kon- ben Abgeordnete haben für DIE LIN- gen die Stationierung von Raketenab- tinent konnten kontinuierlich ausge- KE in Brüssel, Strasbourg, auf europä- wehrsystemen wie in Tschechien zur baut werden. ischer Ebene Politik gemacht. Wehr setzten. Wesentliche Impulse für unsere in- Vor fünf Jahren hat unsere Partei ent- Es war unsere Delegation, die sich haltliche Arbeit brachte uns die enge schieden, genau diese sieben Abgeord- mit den Streikenden von Gate Gour- Kooperation mit dem Netzwerk »Wirt- neten ins Europaparlament zu schicken. met in Düsseldorf und der Telekom so- schaftswissenschaftlerinnen und Wirt- Sie hat dabei auf einen Mix aus erfah- lidarisierte und gemeinsam mit den schaftswissenschaftler für eine alterna- renen und aus neuen Abgeordneten ge- Abgeordneten anderer Delegationen tive Wirtschaftspolitik in Europa« (Euro- setzt. Es gibt keinen nachvollziehbaren der europäischen Linken Betriebsräte memo), dem linksgewerkschaftlichen Grund, auf die Erfahrung der Abgeord- von Alcatel, Nokia, Airbus oder Opel »Forum Soziales Europa«, dem Netz- neten nun fast völlig verzichten zu wol- in das Europaparlament einlud, um ih- werk gegen Prekarität, dem Europä- len, zumal aller Wahrscheinlichkeit DIE ren Forderungen auf europäischer Ebe- ischen Netzwerk gegen Armut (EAPN), LINKE gestärkt in das nächste Europa- ne Gehör zu verschaffen. Gerade jetzt mit Verbänden der Entwicklungskoope- parlament einziehen kann. drängen wir gemeinsam mit portugie- ration und der europäischen Friedens- sischen und deutschen Betriebsräten bewegung. Gabriele Zimmer ist Sprecherin der von Qimondo Kommission und die Re- Aus dem »Spendentopf« der Dele- deutschen Delegation in der Fraktion gierungen beider Länder zum schnel- gation unterstützten wir in dieser Legis- GUE/NGL im Europäischen Parlament. len Handeln, um den europäischen latur mit fast 50.000 Euro eine Vielzahl gabriele.zimmer-assistant@ Standort der Produktion und Entwick- von Projekten wie Bildungs- und Studi- europarl.europa.eu 7 0 DISPUT Februar 2009
Hessenwahl – die Lehre Ist diese Partei solidarisch genug, um ihrer historischen Aufgabe gerecht zu werden? Ich hoffe und glaube: ja Von Ulrich Maurer Was lehrt uns die Wahl in Hessen? Zu- lerdings auch: Wenn es unseren zahl- nächst: Unsere Kernwählerschaft ist reichen Gegnern in Politik, Wirtschaft auch im Westen so zahlreich und stabil und Medienindustrie gelingt, diese un- geworden, dass nicht einmal der kon- terschiedlichen Milieus zu entzweien zentrische Angriff aller Parteien sowie und gegeneinander zu treiben, wird es der gesamten Medienindustrie und ih- gefährlich. rer Demoskopen uns unter Wasser drü- Genau dies ist in Hessen erstmals im cken konnte. großen Maßstab versucht worden. Der Zweitens: Dort wo die Partei struk- Versuch ist zwar gescheitert, aber es turell und personell schwach ist (wie werden erneute Angriffe auf dieser Li- in Nordhessen), kann sie einer solchen nie erfolgen. Interessanterweise sind Kampagne nicht standhalten. Dort wo die Leitmedien dieser Strategie exakt sie stärker ist (wie in Mittel- oder Süd- dieselben, die den neoliberalen Nie- hessen), legt sie unter diesem Druck so- dergang der SPD unter Schröder ausge- gar noch zu. löst und gestützt haben. Das neolibe- Drittens: Die Wählerschaft unserer rale Lager, das oberflächlich betrach- Partei – wie die Partei selbst – verkör- tet nur noch aus lauter Wendehälsen pert nach wir vor unterschiedliche Mi- besteht (Wer will sich denn auch an- lieus, Kulturen und Biografien, die ge- gesichts des Zusammenbruchs des Fi- eint sind in der Auseinandersetzung mit nanzmarktkapitalismus noch als Neoli- der neoliberalen Ideologie, der Agenda beraler bekennen?), hat die Destruktion 2010 und in der Ablehnung des finanz- der LINKEN als letzte Chance begriffen. marktkapitalistischen Systems. Wer schon selbst ideell nichts mehr zu © Stefan Richter Im Umkehrschluss bedeutet dies al- bieten hat außer geronnenem Zynismus, © Dietmar Treber BETRACHTUNG DISPUT Februar 2009 0 8
© Stefan Richter mitspielen, sei es, weil sie sich persön- Klasse zu betreiben, oder bringt sie die Landtagswahl in Hessen, 2009 liche Vorteile davon versprechen, sei es, Kraft auf, die soziale Verteidigung zu or- Ergebnisse in Prozent weil sie ihre eigene ideologische Gefan- ganisieren, das Abgleiten in Demokra- genschaft über den Erfolg der Gesamt- tieabbau und autoritäre Strukturen zu partei stellen. bekämpfen und den Krieg als Mittel der CDU 37,2 Für DIE LINKE stellt sich eine ganz Politik zu ächten. einfache Frage: Will sie sich mitten im Also ist diese Partei solidarisch ge- SPD 23,7 Zusammenbruch des Finanzmarktkapi- nug, um ihrer historischen Aufgabe ge- talismus und mitten in einer Weltwirt- recht zu werden? Ich hoffe und glaube: FDP 16,2 schaftskrise mit absehbar furchtbaren ja. Aber lasst uns alle wachsam sein! Folgen für die Armen ebenso wie für die Grüne 13,7 abhängig Beschäftigten entlang ihrer Ulrich Maurer ist Parteibildungsbeauf- durchaus vorhandenen eigenen Wider- tragter und Mitglied des Geschäftsfüh- DIE LINKE 5,4 sprüche aufreiben, ist sie amoralisch renden Parteivorstandes. oder dumm genug, den Kampf in der ulrich.maurer@die-linke.de dem bleibt als letzte Karte die Destruk- tion des politischen Gegners. Welch ei- ne Chance! Man muss nur die Arbeitslo- sen gegen die Malocher, die sozial Be- wegten gegen die Gewerkschaftsfunk- tionäre, die angeblichen Fundis gegen die angeblichen Realos, die Frauen ge- gen die Männer, die ökologisch Den- kenden gegen die im Existenzkampf materiell Orientierten in Stellung brin- gen. Für den Osten dann noch eine Pri- se Geschichtsdebatte, für den Westen die Israel-Palästina Frage, und schon geht die Saat auf. Aber nur dann, wenn unsere Partei © Dietmar Treber dumm genug ist, sich auf diese Art ent- zweien zu lassen. Nur dann, wenn Prot- agonisten dieser Partei dieses Spiel 9 0 DISPUT Februar 2009
Nicht König von Kiel … … aber Oberbürgermeister möchte Raju Sharma schon sein Von Wilfried Hille Die Szenerie ist surreal. An einem düs- So wurde er Kieler Pressesprecher des 44-jährige, in Hamburg geborene Sohn teren Herbstmorgen steht die Kieler Bundesfinanzministeriums. einer Deutschen und eines Inders nur Oberbürgermeisterin um acht vor dem Volquartz, die früher im Bundestag zögernd preis, dass er mit 14 Jahren heimischen Bahnhof und verteilt Bröt- saß und sich der Nähe der heutigen Vollwaise war und mit seinem Bruder chen. Alle sollen sehen, spüren und so- Kanzlerin rühmte, gegen Albig. Die unmittelbar vor der Einweisung in ein gar schmecken: Die soziale Kälte, die Oberbürgermeister-Wahl am 15. März Heim stand. »Wir hatten großes Glück, Angelika Volquartz (CDU) immer wie- 2009 drohte eine zwischen Kartoffeln als sich in letzter Minute doch noch ein der nachgesagt wird, entspricht nicht und Erdäpfeln zu werden. Beide ste- Cousin meines Vaters fand, der uns auf- der Realität. Ihre Brötchen wird sie los, hen für einseitige Interessenspolitik. nahm – in einer kleinen Wohnung am die Botschaft verhallt hingegen un- Soziale Belange werden nur in Fens- Rande eines Gewerbegebietes, ohne gehört. Den Passanten steht der Sinn terreden und mittels Klischees berück- heißes Wasser und mit einem Bade- nicht nach aufgesetzten Wahlkampfver- sichtigt. Rot müsse das Rathaus wieder zimmerfenster, das zur Hälfte aus ei- anstaltungen. Sie nehmen die Backwa- werden, so Albig. ner Spanplatte bestand.« ren, lassen ihre Oberbürgermeisterin »Dann aber richtig rot!«, entgegnet Später studierte er in Hamburg und dann aber einfach stehen. So kann sie Raju Sharma. Der ist Ministerialrat mit Bombay Jura. 1990 trat er in den schles- froh sein über das mangelnde Interes- Migrationshintergrund und jetzt auch wig-holsteinischen Landesdienst ein, se der Presse an diesem Termin. Nur OB-Kandidat der LINKEN. Seine Vita, bald darauf auch in die SPD. »Die Auf- ein Journalist, der sich alsbald kopf- seine Qualifikation, die Konsequenz, bruchstimmung unter Björn Engholm schüttelnd verabschiedet, verirrt sich mit der er zu seinen Überzeugungen hat mich mitgezogen.« Es war die Zeit zu der frühen Show. steht, machen ihn zu einem Bewerber, nach Uwe Barschel, dem skandalum- Der SPD-Kandidat Torsten Albig hat dessen Eignung für das Amt offensicht- witterten CDU-Ministerpräsidenten, der ein ähnliches Problem. Er war schon mal lich ist. unter ungeklärten Umständen ums Le- Kämmerer der Stadt und hat dabei ei- »Ich weiß, wie sich Armut anfühlt«, ben kam. Engholm war dessen Nachfol- nen derart rigorosen Sparkurs gefahren, merkt er eher beiläufig an. Seiner Her- ger und zugleich Hoffnungsträger der dass sein Ruf nachhaltig litt. Nur einer kunft schämt er sich nicht, er will damit Bundes-SPD. Seine Landespartei wur- fand Albig wirklich gut, Peer Steinbrück. aber auch nicht kokettieren. So gibt der de damals ihrem linken Ruf noch ge- recht. »Immer wieder standen wir im Widerspruch zur Bundespartei, sei es bei Atomkraftwerken, in der Asyl- oder in der Umweltpolitik«, erinnert sich Sharma. Sein beruflicher Weg entwickel- te sich vielversprechend. Leitenden Funktionen im Sozialministerium und beim Rechnungshof des Landes folgte »Ich möchte – »im nationalen Interesse«, so die of- OB einer fizielle Begründung – eine vorüberge- Stadt sein, hende Abstellung zum Deutschen Fuß- die zu ihren ballbund zwecks Vorbereitung des Kul- Bürgerinnen turprogramms der WM 2006. Anschlie- und Bürgern ßend bezog er sein heutiges Büro als steht, gleich Referatsleiter in der Kulturabteilung der welches Kieler Staatskanzlei. Einkommen, Der Bruch mit der SPD kam schlei- welche chend. Vollzogen hat er ihn, nachdem Hautfarbe, Engholms Nachfolgerin Heide Simo- religiöse nis 2005 aus der eigenen Fraktion her- Überzeugung aus gestürzt wurde. »Die innerpartei- oder politische liche Empörung darüber war scheinhei- Gesinnung lig«, konnte Sharma aus nächster Nähe sie haben.« beobachten. »Ohne jede Klärung wurde weitergemacht, als sei nichts gewesen.« Die SPD wurde Juniorpartner der CDU. »Seither wird nur noch links geblinkt und rechts abgebogen.« Er selber bog © Robert Bajela links ab und wurde noch 2005 Mitglied der Linkspartei. Eine gezielte Karriere- planung sieht anders aus. »Was hilft mir KOMMUNE DISPUT Februar 2009 0 10
DEMNÄCHST die Karriere, wenn ich nicht mehr in den Jubiläen und Jahrestage Termine Spiegel gucken kann?«, hält Raju Shar- ma dem entgegen. 18. Februar 1919 18./19. Februar »Die Spitze des Hauses frozzelt, die Schwarzrotgold als deutsche Sitzungstage im Europaparlament Kollegen ermuntern mich«, fasst er die Nationalfarben eingeführt Reaktionen am Arbeitsplatz nach Be- 21. Februar kanntgabe seiner Kandidatur zusam- 20. Februar Landes-Vertreter/innenversammlung men. Unmittelbare Nachteile erfahre er Welttag der sozialen Gerechtigkeit Mecklenburg-Vorpommern, Göhren- dort nicht. »Klar ist aber, dass ich mich (UN seit 2007) Lebbin auf andere Posten nicht mehr zu bewer- 21. Februar 1919 23. Februar ben brauche.« Sonderlich zu beküm- Kurt Eisner ermordet Sitzung Geschäftsführender Partei- mern scheint ihn das nicht. vorstand Größere Widerstände hätte er als 21. Februar OB, dem eine ihm nicht wohlgeson- Internationaler Tag der Mutter- 25. Februar nene Ratsmehrheit gegenüberstünde, sprache (Unesco) Politischer Aschermittwoch zu überwinden. »Verwaltung kann ich«, 28. Februar/1. März so Sharma selbstbewusst »und Verwal- 25. Februar 1999 Bundestagsmehrheit für Bereit- Europaparteitag und Vertreter/innen- tung kann eine Menge bewirken.« versammlung, Essen Beim Besuch des neuen städtischen stellung von 5.000 Bundeswehr- Bürgerhauses im Stadtteil Mettenhof, soldaten für KFOR-Truppen unter 2./6. März einem der sozialen Brennpunkte Kiels, NATO-Führung Sitzungswoche im Bundestag findet er gleich ein Beispiel. Die Kan- 1. März 6. März tine des Hauses produziert täglich sie- Woche der Brüderlichkeit beginnt Sitzung Bundesrat benhundert Essen. Hier arbeiten fast nur Ein-Euro-Jobber. Das verstößt ge- 2. März 1919 6./7. März gen die Hartz-Gesetze, nach denen di- Kommunistische Internationale Konferenz 60 Jahre Grundgesetz, ese Jobs keine regulären Arbeitsplät- wird gegründet Leipzig ze ersetzen dürfen. »Mit mir würde das 6. März 1984 9. März nicht gehen.« Das gelte auch für Ver- Pastor Martin Niemöller gestorben Sitzung des Geschäftsführenden träge der Stadt, die Passagen enthal- ten, die nicht mal den Mitgliedern des Parteivorstandes 8. März Rates zugänglich sind. Solche gibt es in Internationaler Frauentag 9./12. März Kiel offensichtlich im Zusammenhang Sitzungswoche im Europaparlament mit Privatisierungen. »Gesetze sind im 8. März 1929 Sinne der Menschen und der demokra- erste drahtlose Fernsehsendung 14. März tischen Gepflogenheiten zu handha- (ohne Ton) in Deutschland Sitzung des Parteivorstandes, Berlin ben und nicht im Sinne privater Profi- 11. März 1999 16./20. März tinteressen. Dafür zeichnet ein OB ver- Oskar Lafontaine tritt von Sitzungswoche im Bundestag antwortlich.« sämtlichen Ämtern zurück »Der Oberbürgermeister ist nicht der 27./29. März König von Kiel«, habe aber als direkt 14. März 1879 Landesparteitag und Vertreter/ gewählter Verwaltungschef eine star- Albert Einstein geboren innenversammlung Thüringen, ke Stellung. »Ich will Akzente setzen.« Arnstadt 15. März Für soziale Gerechtigkeit, gegen Privati- 28./29. März Weltverbrauchertag sierungen und konsequent antifaschis- Landes-Vertreter/innenversammlung tisch. »Ich möchte OB einer Stadt sein, 16. März 1979 Nordrhein-Westfalen, Köln die zu ihren Bürgerinnen und Bürgern Die Grünen werden gegründet steht, gleich welches Einkommen, wel- 29. März che Hautfarbe, religiöse Überzeugung 18. März 1929 Landes-Vertreter/innenversammlung oder politische Gesinnung sie haben.« Christa Wolf geboren Bayern, München Die Unantastbarkeit der Würde des 21. März 4. April Menschen ist, das wird in Gesprächen Internationaler Tag zur Beseitigung Demonstration gegen NATO-Gipfel mit Raju Sharma zu den unterschied- der Rassendiskriminierung (UN seit lichsten Themen schnell deutlich, des- 1966) 4. April sen zentrales Anliegen. »Ich will dafür Landes-Vertreter/innenversammlung sorgen, dass dieser Verfassungsan- 24. März 1999 Rheinland-Pfalz, Grünstadt spruch für jeden Menschen in Kiel Wirk- Die NATO beginnt Luftangriffe auf lichkeit wird.« Jugoslawien Zusammenstellung: Daniel Bartsch 11 0 DISPUT Februar 2009
Ein Hotel, in dem Schwerbehinderte Arbeit und Anerkennung finden Jeder Handgriff will gelernt sein. Im Regenbogen- haus vor allem in Gastronomie, Küche und Hauswirtschaft. Ruth Kretzer-Braun ist Pädagogin und Vor- Johannes: Das Besondere ist, dass wir in unserem Hotel sitzende der Linksfraktion im Stadtrat von als schwerbehindert geltende Menschen ausbilden und in Ar- Freiberg in Sachsen. Johannes Kretzer ist beit gebracht haben beziehungsweise bringen. Normalerwei- Betriebswirt und Mitglied der Linksfrakti- se werden sie von der Agentur für Arbeit in Werkstätten für on im Kreistag von Mittelsachsen. Ihr größ- Behinderte beschäftigt. Diese sollen behinderten Menschen tes Projekt ist aber kein politisches. Es hört eine angemessene berufliche Bildung und eine Beschäfti- auf den Namen Regenbogenhaus. Darüber gung zu einem angemessenen Gehalt ermöglichen. In einer sprach DISPUT mit ihnen. Werkstatt gibt es ganz unterschiedliche Beschäftigungsge- biete: Zuliefereraufgaben, Holz- und Metallbearbeitung bis Wir sitzen im Hotel Regenbogenhaus im sächsischen Frei- hin zu Schnürsenkel knüpfen. Alle – vor allem geistig – be- berg. Für dieses Hotel habt ihr bereits mehrere Auszeich- hinderten Menschen haben nach dem Abschluss der Schule nungen erhalten, zum Beispiel wurdet ihr zu Sachsens As- Anspruch auf einen Platz in der Werkstatt. Diese Werkstätten sen 2007 gekürt und mit dem Bürgerpreis 2008 der Stadt sind zwar eine wunderbare Sache, doch nicht für jeden ge- Freiberg geehrt. Was ist das Besondere am Regenbogen- eignet. Viele fühlen sich durch die Arbeit in diesen Werkstät- haus? ten unterfordert oder haben einfach keine Lust darauf. Wir SOZIAL DISPUT Februar 2009 0 12
»Wir mussten darum kämpfen« Oder: Die starken Seiten des behinderten Menschen. Ruth Kretzer-Braun und Johannes Kretzer über das © Erich Wehnert (4) Regenbogenhaus in Freiberg wollten ihnen deshalb die Möglichkeit bieten, in einer ande- Ruth: 1988 waren Johannes und ich als Dozenten in Äthi- ren Branche eine Tätigkeit zu finden, nämlich im Hotel-Ge- opien. Ich durfte an der Universität Lehrer ausbilden und Jo- werbe. Nach unseren Erfahrungen ist diese Branche dafür be- hannes hat Management unterrichtet. Dort gab es viele be- sonders geeignet. Hier können sie in drei unterschiedlichen hinderte Menschen. Sie hatten keine Chance, einen Roll- Bereichen eines Hotels arbeiten: in der Gastronomie, der Kü- stuhl zu bekommen. Sie hatten große Lederhandschuhe und che und der Hauswirtschaft. schleiften sich damit über die Höfe und kletterten Treppen Das Hotel Regenbogenhaus ist das einzige komplett bar- hoch. Fahrstühle gab es nicht. Viele Menschen sind auch auf rierefreie Hotel in ganz Sachsen. Man kann also sagen, dass uns zugekommen: Großeltern, deren Enkelkinder Augenfehl- wir mit unserem Hotel drei Ziele verfolgen: Wir sind Hotel, wir stellungen hatten und die glaubten, wenn wir eine Brille mit- beschäftigen behinderte Menschen und wir sind dabei, ein brächten, seien sie geheilt. Das hat uns sehr bewegt. Netzwerk mit anderen Unternehmen aufzubauen, die bei uns Eigentlich wollten wir drei Jahre in Äthiopien verbringen. ausgebildete behinderte Menschen in Arbeit nehmen. Leider war die militärische Situation vor Ort so, dass wir nach einem Jahr von unserem Urlaub zu Hause nicht mehr zurück- Wie kommt man auf die Idee, ein derart ehrgeiziges Projekt kehren konnten. Die fehlende Sicherheit ließ es nicht mehr zu beginnen? zu. Als wir wieder zurückkamen, war ja hier die Wende. Wir 13 0 DISPUT Februar 2009
Ruth Kretzer- Braun (Mitte): »Mich hat das nicht losgelassen.« mussten uns also überlegen, wie es mit uns weiterging. Mein Und irgendwann kam dann der Punkt, an dem es konkret Arbeitsplatz war anderweitig besetzt worden. Ich hatte nichts wurde … zu tun und bekam letztlich die Aufgabe, eine Schule für geis- Ruth: Im September 1997 hatten wir die Chance, im So- tig behinderte Menschen in Freiberg aufzubauen. So etwas zialministerium unsere Idee vorzustellen. Dort fand man un- gab es zu DDR-Zeiten nicht. Es gab in der DDR regionale Hilfs- sere Idee gut, meinte aber, wir müssten einen Verein grün- schulen, aber dort waren die geistig Behinderten nicht mehr den. Das haben wir getan und Johannes mit dazugenommen, dabei. Ich musste also mit diesen Inhalten ganz von vor- weil wir insgesamt sieben Mitglieder brauchten und einer ne beginnen. Ich wurde auch in die alten Bundesländer ge- sich um das Geld kümmern musste. Am 3. Dezember 1997 schickt, um zu schauen, wie die das da gemacht haben. Wir gründeten wir den Verein Regenbogenhaus e. V. Das ging haben uns Lehrpläne besorgt aus Bayern und Baden-Würt- recht schnell. Wir haben diverse Förderungsanträge gestellt, temberg. Dadurch kam ich mit vielen Menschen mit Behinde- so dass wir im Dezember 1998 die ersten schwerbehinder- rungen zusammen. Wir haben uns dann in Zusammenarbeit ten Menschen, die zum Teil noch heute bei uns arbeiten, in mit der Diakonie Freiberg eine Kindereinrichtung ausgesucht, eine Qualifizierung bringen konnten. Diese wurde vom Ar- die zur heutigen Albert-Schweitzer-Schule ausgebaut wurde. beitsamt gefördert. In Brand-Erbisdorf bei Freiberg bauten Ich wollte dort eigentlich als Lehrerin arbeiten. Weil ich aber wir eine Etage eines Internats, das nicht mehr genutzt wur- nicht mehr Kirchenmitglied war, durfte ich das nicht. de, zu einem Übungshotel um. Wir begannen mit acht Schü- lerInnen und erhöhten ihre Anzahl 1999 auf 20. Das ist sehr schade. Johannes: Parallel dazu suchten wir ein passendes Haus Ruth: Ja. Aber daraufhin habe ich mir gesagt, dann müs- und fanden schließlich das jetzige Regenbogenhaus. Das sen wir eben ehrenamtlich was tun. Als Mitglied der Lebens- gehörte früher zu einem Kasernenkomplex. Das Haus bau- hilfe e. V. habe ich in Duisburg an einem Kongress teilgenom- ten wir zu einem in jedem Bereich barrierefreien Hotel um, men. Dort erlebte ich, wie Leute aus Hamburg ein Projekt vor- was einzigartig in Sachsen ist. Das Sozialministerium hat stellten: ein Hotel, in dem schwerbehinderte Menschen Ar- uns 1,85 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Den Rest ha- beit fanden. Da habe ich gesagt, so was machen wir jetzt ben wir über Spenden erbracht. Die Aktion Mensch hat uns auch in Freiberg! Man meinte nur zu mir: »Nein! Hamburg ist zum Beispiel mit 400.000 DM unterstützt. Dennoch mussten nicht Freiberg und Freiberg ist nicht Hamburg!« Aber mich hat wir einen Kredit aufnehmen, den wir heute noch abzahlen. das nicht los gelassen. Ich überlegte mir, ob es denn sinnvoll Die Rekonstruktion des Hauses konnten wir Juli 2001 been- ist, dass alle geistig behinderten Menschen nach der Schu- den. Ende August 2001 war die Eröffnung. le in eine Werkstatt kommen, oder ob es nicht sinnvoller ist, solche Menschen auch in der Hotel-Branche auszubilden und Ihr wurdet also von staatlicher Seite sehr gut unterstützt? sie dann in Arbeit zu nehmen. Johannes: Zu Beginn wurden wir sehr gut unterstützt. Der SOZIAL DISPUT Februar 2009 0 14
damalige Referatsleiter und andere Mitarbeiter im säch- ten Menschen zu stärken. Wenn jemand also seine Stärken sischen Sozialministerium fanden unsere Idee gut und ha- in der Küche sieht, geht er für zwei Jahre in die Küche. ben uns sehr unterstützt. Dann wird es schwierig. Wir können nämlich niemanden mehr in Arbeit nehmen. Bisher konnten wir das, aber jetzt Zu Beginn? Hat sich später etwas daran geändert? haben wir genug Personal. Das sagen wir den Budgetneh- Johannes: In der Verwaltung des Sozialministeriums gab mern und ihren Eltern, bevor sie den Antrag bei der Agentur es wie so oft eine Rotation unter den Verantwortlichen. Und für Arbeit stellen. Sie gehen deshalb in einem anderen Un- die, die uns kannten und unser Projekt unterstützten, wa- ternehmen ins Praktikum. Und wir fragen das Unternehmen, ren plötzlich weg. Da gab es dann einen anderen Referats- ob sie sich vorstellen können, diese jungen Menschen spä- leiter, der wollte das plötzlich nicht mehr. Aber wir hatten ter in Arbeit zu nehmen. Glück: Wir hatten bereits eine schriftliche Zusage des Sozi- Ruth: Was wir machen, haben wir in einem Leistungsan- alministeriums. So konnte das doch in die richtigen Bahnen gebot zusammengefasst und den Eltern in die Hand gege- gelenkt werden. Doch wir mussten darum kämpfen. Und das ben. So können sie überprüfen, ob wir alles einhalten, was haben wir gemacht. wir versprechen. Das ist auch insofern wichtig, als dass die Agentur für Arbeit mit den Eltern eine Vereinbarung darüber Wie bekommt man als behinderter Mensch eine Ausbildung trifft, was ihre Kinder in diesen 2 ¼ Jahren schaffen müs- im Regenbogenhaus? sen. Das wird alle halbe Jahre überprüft. Wenn dabei her- Ruth: Also genaugenommen ist das, was wir hier machen, auskommt, dass die Budgetnehmer das nicht schaffen, wer- keine Ausbildung. Ausbildung ist ja immer ein duales Sys- den sie nicht weiter gefördert. Bisher hatten wir so einen Fall tem, bestehend aus Berufsschule und Praxis. Wir machen zum Glück noch nicht. eigentlich Berufsbildung anstelle von Werkstatt. Die Eltern kommen zu uns, wenn ihr Kind nicht in die Werkstatt will, Wie finanziert ihr euch? und fragen, ob es hier ein Praktikum machen kann. Die Kin- Johannes: Wir müssen uns selbstverständlich selbst fi- der werden dann in allen unseren Bereichen getestet: Wie nanzieren. Wir verkaufen ganz normale Hotelleistungen, sie sich dem Gast gegenüber verhalten, wie sie in den Zim- richten Feiern aus, bieten Räume für Seminare. Wir bekom- mern arbeiten, wie sie sich in der Küche einbringen können. men über die Schwerbehindertenausgleichsabgabe hinaus Manchmal müssen wir es leider ablehnen, dass jemand ei- einen besonderen Aufwand gezahlt. Diese Abgabe müssen ne Berufsbildung bei uns beginnt. alle Unternehmen zahlen, die zu wenige schwerbehinder- Im November 2006 haben wir bei der Agentur für Arbeit in te Menschen angestellt haben – bei großen Unternehmen Chemnitz durchgesetzt, dass wir als Leistungserbringer über muss das jeder Zwanzigste sein. ein persönliches Budget den Berufsbildungsbereich durchfüh- Im Übrigen macht das volkswirtschaftlich Sinn. Die Bun- ren können, analog zu einer Werkstatt. Das bedeutet, dass be- desarbeitsgemeinschaft Integrationsfirmen, deren Mitglied hinderte Menschen ihre Berufsbildung bei uns machen kön- wir sind, macht in Sachsen gerade ein Monitoringprogramm. nen anstatt in einer Werkstatt. Wenn jemand bei uns diese Dafür müssen wir unsere Jahresabschlüsse und eine be- Berufsbildung durchführen will, muss man bei der Agentur triebswirtschaftliche Auswertung einreichen. Die erste Un- für Arbeit einen Antrag darauf stellen. Wird er bewilligt, be- tersuchung ergab, dass für jeden Euro Zuschuss, den ein In- kommt die Budgetnehmerin oder der Budgetnehmer von der tegrationsunternehmen in Sachsen erhält, 1,20 Euro zurück Agentur für Arbeit das Geld überwiesen, das für ihre oder sei- in die Sozialkasse fließen. ne Berufsbildung eigentlich an die Werkstatt gegangen wäre. Ruth: Für jeden schwerbehinderten Menschen bekom- Dieses Geld wird wiederum an uns überwiesen. Auf dieser Ba- men wir außerdem gemäß seines Unterstützungsbedarfs sis konnten wir im November 2006 vier junge Leute bei uns in Zuschüsse. Mit Hilfe dieser Unterstützung können wir gut die Berufsbildung nehmen. Inzwischen sind es sechs. 25 Prozent unserer Personalkosten decken. Das sind alles © Erich Wehnert (3) Wie läuft die Berufsbildung ab? Zuschüsse, die uns gesetzlich zustehen. Die bekommen wir Johannes: Die ersten drei Monate sind eine Einführungs- nicht, weil uns jemand sehr mag. Die bekommt jedes Unter- phase. Hier durchlaufen die Budgetnehmer unsere drei Be- nehmen, das mehr behinderte Menschen beschäftigt, als es reiche, also einen Monat sind sie in der Hauswirtschaft, ei- beschäftigen müsste. nen weiteren in der Küche und einen im Service. Danach ent- scheiden wir im Gespräch mit den Eltern und den Budget- Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg mit nehmern, in welchem Bereich sie am stärksten sind, in diesem tollen Projekt! welchem sie also weiter eingesetzt werden möchten. Wir ge- hen nach dem Prinzip vor, die starken Seiten des behinder- Interview: Dirk Schröter 15 0 DISPUT Februar 2009
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