ESSEN. MACHT. ARBEIT. FEMINISTISCHE BLICKE AUF - FAIRFOOD IDEEN - Wide Switzerland

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ESSEN. MACHT. ARBEIT. FEMINISTISCHE BLICKE AUF - FAIRFOOD IDEEN - Wide Switzerland
ESSEN.
M A C H T.
A R B E I T.
               FEMINISTISCHE BLICKE AUF
               FAIRFOOD IDEEN
ESSEN. MACHT. ARBEIT. FEMINISTISCHE BLICKE AUF - FAIRFOOD IDEEN - Wide Switzerland
I N H A LT E

VORWORT						 1

ESSEN.
RECHT AUF NAHRUNG UND DIE KOMMERZIALISIERUNG DER
LANDWIRTSCHAFT	 				                                     3
AUFGETISCHT: FAIRES ESSEN	 				                          8
ANNÄHERUNG AN DAS SCHWEIZER ERNÄHRUNGSSYSTEM MIT
GENDERBRILLE	 					12

MACHT.
INTERVIEW: HANDEL JA – ABER WIE?	 			                   18
PORTO LOKO DEKLARATION	 				                            24
PORT LOKO DEKLARATION	 				                             26
WANN STÄRKT NACHHALTIGER HANDEL DIE POSITION VON FRAUEN? 28

ARBEIT.
INTERVIEW: ZUR SITUATION VON FRAUEN IN DER SCHWEIZER
LANDWIRTSCHAFT						                                 33
GESTEIGERTE NAHRUNGSMITTELPRODUKTION IN RUANDA –
WER PROFITIERT? 	 					36
GESPRÄCH: GENDER-GERECHTE WERTSCHÖPFUNG? 	 	            41

VORLÄUFIGES RESÜMEE					46
REDAKTION						48

März 2019, Bern

Eine Publikation von WIDE Switzerland                  Mit finanzieller Unterstützung von
www.wide-switzerland.ch
ESSEN. MACHT. ARBEIT. FEMINISTISCHE BLICKE AUF - FAIRFOOD IDEEN - Wide Switzerland
SECTV
                                                                                               I OONR W
                                                                                                      NAOM
                                                                                                         RET                    1

                                                                                      «Frauen ernähren die Welt, aber Männer erhalten
                                                                                                                   den Ernährerlohn.»

      Vorwort                                 

Zwischen den Anfängen der Bananenfrauen um           CEDAW) erweitert mit einer neuen Empfehlung
Ursula Brunner und der Fair-Food-Initiative, die      zur Situation von «Landfrauen» («rural women»).
Maya Graf massgeblich vertreten hatte, liegen        Gendergerechtigkeit besteht dann, wenn sich
exakt 45 Jahre. In diesem Zeitraum ist sehr viel     Frauen oder Männer gleichwertig für ihre Ziele
geschehen in Sachen Nachhaltigkeit, nicht zuletzt    einsetzen können und nicht mehr aufgrund ihres
auch mit der Festlegung der Nachhaltigkeitsziele     Geschlechts und der zugeschriebenen (und
(SDG) der UNO-Agenda 2030.                           einstudierten) Rollen soziale und wirtschaft-
   «Frauen ernähren die Welt, aber Männer            liche Benachteiligungen erfahren. Der Diskurs
erhalten den Ernährerlohn» − Im Bereich der          besteht, und doch bleiben konkrete Fortschritte
Nahrungsmittelproduktion und der Ernährung ist       harzig. In der Schweiz wird die Distanz zwischen
die Geschlechterdimension deutlich. Geht es um       Frauen und Männern wieder grösser, wie die
Sorgearbeiten, so stehen mehrheitlich Frauen in      neuesten Zahlen des Global Gender Gap Reports
der Verantwortung. Geht es um Profite, haben vor     des Weltwirtschaftsforums (WEF) zeigen: Die
allem Männer das Sagen. Frauen werden zwar           Digitalisierung – welche auch in der Land- und
präsenter in Führungsetagen, auch im Geschäft        Ernährungswirtschaft immer wichtiger wird –
mit Nahrungsmitteln, aber die Diskrepanz             schliesse die Frauen aus.
bleibt bestehen: Bäuer*innen wird (zu) wenig            Eine Diskussion über faires Essen in der
für ihre Produkte bezahlt, die Arbeiter*innen im     Schweiz muss somit die Geschlechterdimension
Lebensmittelsektor haben (zu) tiefe Löhne und        miteinbeziehen. Doch diese war in den letzten
schlussendlich bleibt es meistens den Frauen         Jahren, während der Debatten um die diversen
überlassen, sich um das Essen der Familie zu         Volksinitiativen zur Schweizer Land- und
kümmern.                                             Ernährungswirtschaft, kaum Thema.
   Eine relativ neue Debatte über «Food                 Dies veranlasste WIDE-Switzerland, die
Systems» innerhalb der UN-Organisationen             Auswirkung von nachhaltigen Ernährungs-
erkennt die Komplexität der Thematik an              systemen auf Geschlechterverhältnisse genauer
und benennt drei Bereiche, die lokal und             anzuschauen. Kann davon ausgegangen werden,
global miteinander verknüpft sind: Nahrungs-         dass Nachhaltigkeit beim Essen automatisch zu
mittel-Lieferketten, das Lebensmittelumfeld          mehr Gendergerechtigkeit führt, oder sind weitere
 und das Konsumverhalten. Ein Blick in die           Massnahmen nötig? Wäre Gendergerechtigkeit
Regale unserer Supermärkte zeigt, wie die Welt       eine Voraussetzung, um nachhaltige Ernährungs-
auch bei der Ernährung global zusammengerückt        systeme zu entwickeln? WIDE geht diesen Fragen
ist. Wertschöpfungsketten veranschaulichen           aus feministischer Perspektive nach.
den Weg der Lebensmittel. Hingegen wissen               Frauen sind ebenso wie Männer unterschiedlich
wir nicht, wie viel Arbeit hinter den einzelnen      und längst nicht alle sind in der Lage, so initiativ
Schritten steckt, wie diese durch Geschlechter-      zu sein wie Maya Graf oder Ursula Brunner.
rollen geprägt sind, und welche Akteure              Und genau davon handeln die Artikel: Wie kann
wirtschaftlich durchstarten können und welche        ein Ernährungssystem organisiert werden,
nicht. Die Genderperspektive bleibt aussen vor,      welches Einschränkungen, Diskriminierungen
wenn es um die Organisation und Analyse der          und Genderungerechtigkeiten entgegen-
Marktmechanismen geht.                               wirkt? Um diese Realitäten aus verschiedenen
   International ist die Stärkung der Frauenrechte   Perspektiven zu beleuchten, kommen hier
ein Dauerthema . In den letzten Jahren wurde         Frauen in verschiedenen Rollen zu Wort: als
die Frauenrechtskonvention (Convention on the        Aktivistinnen, Forscherinnen, Bäuerinnen und
Elimination of Discrimination against Women,         Konsumentinnen.

WIDE | Feministische Blicke auf Fairfood Ideen
2

ESSEN.
         Essen. Macht. Arbeit. | WIDE
ESSEN.               3

RECHT AUF NAHRUNG UND DIE
KOMMERZIALISIERUNG DER LANDWIRTSCHAFT
ERFAHRUNGEN AUS KAMBODSCHA UND GHANA

     Joanna Bourke Martignoni, Fenneke Reysoo                             

Weltweit sind Frauen und Mädchen                 Sozialschutzprogramme garantiert werden.
überdurchschnittlich von Ernährungs-               Gleichberechtigung und Nichtdis-
unsicherheit betroffen. Die zunehmende           kriminierung beim Zugang zu angemessenen
Kommerzialisierung der Landwirtschaft und        Lebensmitteln sind Schlüsselmerkmale der
Veränderungen im ländlichen Bodenbesitz          internationalen Menschenrechtspolitik und
wirken sich auf die Versorgungssituation         der sich darauf beziehenden Gesetze.
aus; die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit
von Nahrungsmitteln und deren Qualität           In Kambodscha zeigte sich in der DEMETER-
in städtischen und ländlichen Gebieten           Forschung, dass sich die landwirtschaft-
nehmen ab. Die Kommerzialisierung                liche Bodennutzung in den letzten zwei
von landwirtschaftlicher Produktion und          Jahrzehnten durch die Zuweisung grosser
von Land beeinflusst die Geschlechter-           Flächen für Konzessionen im Agrarsektor
verhältnisse, die den Geschlechtern              erheblich verändert hat. Cash Crops wie
zugeschriebenen sozialen, wirtschaftlichen       Maniok, Kautschuk, Cashewnüsse und
und politischen Bedeutungen sowie die            Pfeffer verdrängen nicht nur Reis als Grund-
dadurch verursachten Ungerechtigkeiten.          nahrungsmittel der Bevölkerung in vielen
                                                 Regionen des Landes. In der Folge nimmt
Die landwirtschaftliche Kommerzialisierung       auch die bäuerliche Landwirtschaft ab. Die
und der Wandel in der Bodennutzung haben         zunehmende Nutzung der Agrarflächen für
sich weltweit in den letzten zwanzig Jahren      den Anbau von Exportprodukten übt grossen
beschleunigt. Produktion, Vermarktung und        Druck aus auf die Subsistenzlandwirtschaft
der Konsum landwirtschaftlicher Produkte,        betreibende Bevölkerung.
wie Lebensmittel und nachwachsende                  Viele von ihnen haben (oft unfreiwillig)
Rohstoffe, nehmen auf allen Ebenen – von         Land an Agrarunternehmen verkauft oder
global bis regional, national und lokal – neue   abgetreten. Heute brauchen sie den Zugang
Formen an.                                       zum Arbeitsmarkt, um sich ihren Lebens-
   Internationale Gesetze und Politiken          unterhalt zu verdienen. Andere sind zur
unterstreichen im Sinne des Rechts auf           kommerziellen Landwirtschaft übergegangen,
Nahrung die Notwendigkeit, sicherzu-             sind da nun Preisschwankungen ausgesetzt
stellen, dass die durch die landwirtschaft-      und haben weniger Fläche und Zeit für die
liche Kommerzialisierung verursachten            Subsistenzwirtschaft.
Prozesse den physischen und wirtschaft-             Die massive Abholzung in den Hochgebirgs-
lichen Zugang aller Menschen zu Lebens-          regionen des Landes hatte erhebliche
mitteln nicht beeinträchtigen. Lebensmittel      Auswirkungen auf die Verfügbarkeit und
müssen verfügbar und zugänglich sein. Das        Zugänglichkeit von Nichtholz-Ressourcen
kann entweder durch Subsistenzproduktion         für indigene Gruppen, die traditionell von
erfolgen oder mittels des eigenen, aus           diesen abhängig sind, und zwar sowohl für
fairer und menschenwürdiger Arbeit erwirt-       Nahrungsmittel als auch für die Einkommen.
                                                                                                Foto linke Seite: (Daniel
schafteten Geldes. Schliesslich kann die              Andere Aspekte der Kommerzia-             Angele)
Verfügbarkeit der Nahrungsmittel auch über       lisierung: Der Vertragsanbau, der durch

WIDE | Feministische Blicke auf Fairfood Ideen
4   ESSEN.

                                            «Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem erhöhten
                                         Druck auf Bodennutzung und andere produktionsrelevante
                                             Ressourcen und die Zunahme von häuslicher Gewalt.»

             die Kommerzialisierung zugenommen              und Zubereitung von Lebensmitteln im
             hat, der grossflächige Landerwerb und die      Haushalt. Veränderungen in der landwirt-
             Privatisierung kommunaler Ressourcen,          schaftlichen Produktion und Landnutzung
             einschliesslich von Wäldern, Weideland und     beeinflussen die sozioökonomischen Rollen
             Wasserressourcen, haben sich für bestimmte     von Frauen und Männern und schaffen
             Gruppen von Männern als vorteilhaft            neue Interdependenzen. In diesem Prozess
             erwiesen, während Frauen im Allgemeinen        können Frauen benachteiligt werden, indem
             benachteiligt werden. Diese geschlechts-       sie stärker vom Einkommen männlicher
             differenzierten Auswirkungen der Agrar-        Familienmitglieder abhängig werden.
             und Flächenvermarktung werden in den           Die Entwicklung von Agrarunternehmen und
             folgenden Abschnitten näher beschrieben.       die landwirtschaftliche Kommerzialisierung
                                                            führen oft zu einer Verankerung struktureller
             Auch in Ghana haben Veränderungen in           Formen der Diskriminierung von Frauen in
             der Agrarpolitik und neue Investitions- und    der Beschäftigung. Sie arbeiten vor allem in
             Finanzierungsmechanismen dazu geführt,         unregulierten Arbeitsmarktsegmenten, ihre
             dass Exportkulturen wie Kakao, Ölpalmen,       Tätigkeiten gelten als gering qualifiziert. Ihre
             Gerste und Sorghum die traditionellen          Lohnarbeit ist schlecht bezahlt, unsicher und
             Subsistenzkulturen ersetzt haben. Die Studie   ohne Sozialversicherungsansprüche.
             zeigt, dass die Agrarindustrie zunehmend
             die Agrarpolitik und deren Umsetzung auf       Familienzusammensetzung,
             nationaler und subnationaler Ebene beein-      Geldmangel, Zeit
             flusst. Die Muster der landwirtschaftlichen
             Kommerzialisierung im Land unterscheiden       Auf der Ebene der Haushalte gibt die Studie
             sich, jedoch ein deutlicher Trend ist der      Hinweise darauf, dass die Kommerzia-
             Mangel an landwirtschaftlichen Arbeits-        lisierung der Landwirtschaft in einigen
             kräften. Dies ist zum Teil auf den Erfolg      Regionen zu einem Rückgang der Nahrungs-
             zurückzuführen, dass immer mehr Kinder         mittelproduktion führt und zur Verringerung
             eine Schule besuchen. Es hat auch damit        der Ernährungsvielfalt und der Qualität der
             zu tun, dass das ländliche Leben in der        Nahrungsmittel beiträgt. Veränderungen
             Wahrnehmung der Menschen an Attraktivität      betreffend Zugang zu Nahrungsmitteln, ihrer
             verloren hat. Landflucht ist auch hier ein     Angemessenheit und die kulturelle Akzeptanz
             Trend. Interessanterweise ist aber auch ein    können die Geschlechterrollen beeinflussen.
             deutlicher Anstieg von jüngeren Menschen          In armen ländlichen Haushalten, wenn in der
             zu verzeichnen, die in den kommerziellen       mageren Jahreszeit die Nahrung knapp wird,
             Gartenbau wechseln.                            müssen Frauen in ihrer Rolle als Köchinnen
                                                            Menge und Zusammensetzung der täglichen
             Geschlechterbeziehungen                        Mahlzeiten den Gegebenheiten anpassen.
             bei Nahrungsmittelproduktion                   Die Lebensmittelverteilung folgt geschlechts-
             und -konsum                                    spezifischen Normen, was in Wirklichkeit
                                                            bedeutet, dass erwachsene Männer grössere
             Frauen sind entscheidend für die Ernährungs-   und bessere Teile bekommen als erwachsene
             sicherheit in ländlichen Gebieten. Sie         Frauen und Jungen werden gegenüber
             leisten einen Beitrag als Bäuerinnen und als   Mädchen bevorzugt. Wir gehen davon aus,
             Arbeiterinnen und sie tragen in der Regel      dass Frauen und Mädchen daher häufiger
             die Hauptverantwortung für die Beschaffung     an Ernährungsmängeln leiden als Männer

                                                              Essen. Macht. Arbeit. | WIDE
ESSEN.                  5

                     Frauen bündeln ihre Arbeitskräfte und setzen Cassava Setzlinge auf gerodetem Waldboden. Der Wald musste der
                     kommerziellen Landwirtschaft weichen. (Joanna Burke-Martignoni, Kambodscha)

und Jungen. Diese haushaltsinternen Umver-           stärksten gefährdet. Familienzusammen-
teilungsregeln wirken sich auch negativ auf          setzung, Geldmangel und Nahrungs-(un)
ältere Haushaltsmitglieder aus, die nicht aktiv      adäquatheit sind eng miteinander verbunden.
zum Einkommen oder zur landwirtschaft-                 Wenn Nahrung knapp wird, müssen Frauen
lichen Arbeit beitragen.                             mehr Zeit und Ressourcen für die Versorgung
                                                     der Familie aufwenden. Die Interviewdaten
In Kambodscha stellt die Bodenknappheit, die         zeigen ebenfalls einen Zusammenhang                     «Essen ist leicht
sich aus der Kommerzialisierung der Landwirt-        zwischen dem erhöhten Druck auf Boden-                  zugänglich.
schaft ergeben hat, die Dorfbevölkerung              nutzung und andere produktionsrelevante                 Vorausgesetzt, die
(sowohl Männer als auch Frauen) vor eine             Ressourcen und der Zunahme von häuslicher               Familien haben
Wahl: Entweder sie produzieren Lebensmittel          Gewalt. Oft werden solche Phänomene                     Geld»
selber, mit dem Risiko, wegen klimatischen           als ein Fortbestehen diskriminierender
Veränderungen schlechte Erträge zu erzielen.         Traditionen erklärt.
Oder sie verdienen als Arbeitskräfte Geld, mit         Es ist erwiesen, dass die zunehmende
welchem sie die Lebensmittel dann kaufen.            Kommerzialisierung der Landwirtschaft
  Landwirtschaftliche Transformationen, weg          zu einer spürbaren Verringerung sowohl
vom kollektiven Zugang zu Waldprodukten              der Quantität als auch der Qualität des
und dem Wanderfeldbau, hin zum Anbau                 täglichen Nahrungsmittelkonsums in den
von Nutzpflanzen und die Einführung                  Untersuchungsgebieten geführt hat. Die
individueller Landnutzungsrechte, haben die          daraus resultierenden Einschränkungen
solidarischen Beziehungsnetze unterwandert.          des Zugangs von Frauen zu guter Nahrung
In qualitativen Interviews wurde häufig              haben neue Formen der Ungleichheit
festgestellt, dass «Essen leicht zugänglich          zwischen den Geschlechtern geschaffen.
ist, vorausgesetzt, die Familien haben               Diese Veränderungen untergraben die
Geld». Familien mit weniger Mitgliedern              Verwirklichung des Rechts auf Nahrung in
im produktiven Alter oder weiblich geführte          Bezug auf Zugänglichkeit, Angemessenheit
Haushalte, die sich nicht auf männliche              und kulturelle Akzeptanz nicht nur für Frauen,
Arbeitskräfte verlassen können, sind am              sondern auch für ältere Menschen und

WIDE | Feministische Blicke auf Fairfood Ideen
6   ESSEN.

                 «Das politische Ziel der Verbesserung der Ernährungssicherheit durch eine
             Kommerzialisierung der Landwirtschaft wird zunichte gemacht: durch die steigenden
               Ausgaben für Lebensmittel, das Verschwinden der Gemeinschaftsgüter und dem
               wachsenden Druck auf Frauen, eine angemessene Ernährung für ihre Haushalte
                                               sicherzustellen.»

             Kinder. Die Auswirkungen dieser Prozesse           ohnehin schon erheblichen Belastung durch
             sind für die indigenen Gruppen der Khmer           «reproduktive» Arbeit, für die Subsistenz-
             und Nicht-Khmer unterschiedlich.                   wirtschaft und andere produktive Tätig-
                                                                keiten aufwenden. Frauen in unseren
             In Ghana sind eher Männer in der Landwirt-         Untersuchungsgebieten berichten, dass sie
             schaft tätig als Frauen, Sie besitzen und          weniger Zeit für die Zubereitung von Lebens-
             bewirtschaften auch grössere Landflächen.          mitteln verwenden und oft selbstgekochte
               Sowohl Männer als auch Frauen verkaufen          Mahlzeiten durch neue Lebensmittel mit
             einen Teil ihrer Ernte; auch wenn der Anteil       geringerem Nährwert ersetzen müssen.
             der Frauen eher kleiner ist. Gleichzeitig finden   Das politische Ziel einer Verbesserung der
             wir aber Hinweise auf eine gleiche, wenn           Ernährungssicherheit durch die Kommerzia-
             nicht sogar höhere Marktorientierung von           lisierung der Landwirtschaft wird durch die
             Frauen. Die Daten bestätigen die Hypothese         steigenden Ausgaben der Haushalte für
             nicht, dass mit zunehmender Rentabilität           Lebensmittel, das Verschwinden der Gemein-
             mehr Männer in die Produktion einsteigen,          schaftsgüter und den wachsenden Druck auf
             während Frauen der Anbau für den Eigen-            Frauen, weiterhin angemessene Lebens-
             verbrauch bleibt.                                  mittel und die Ernährung für ihre Haushalte
               Obwohl immer noch signifikant, stellen wir       sicherzustellen, zunichte gemacht.»
             doch fest, dass die geschlechtsspezifische
             Differenzierung in den Anbaumustern nicht          Rechtsbasierte Ansätze und
             mehr so ausgeprägt ist wie vor zehn Jahren.        politische Repräsentation
             Wie in Kambodscha zeigen unsere Ergeb-
             nisse, dass die Kommerzialisierung vielfältige,    In unseren beiden Studienländern sind
             aber meist negative Auswirkungen auf den           Frauen in politischen, rechtlichen und
             Zugang zu den Bedürfnissen angepassten             wirtschaftlichen Institutionen auf allen – von
             Lebensmitteln in Haushalten hat.                   den lokalen und subnationalen, bis hin zu den
               Die Notwendigkeit, die Produktivität zu          nationalen - Ebenen der Regierungsführung
             steigern, führt häufig dazu, dass die in der       nach wie vor stark unterrepräsentiert. Im
             Landwirtschaft tätige Bevölkerung, welche          Kontext der landwirtschaftlichen Kommerzia-
             sich Inputs wie Düngemittel, Viehfutter oder       lisierung bedeutet dieser Mangel an
             Pflanzenschutzmittel leisten kann, den             politischer Repräsentation, dass die Rechte
             Einsatz von Agrochemikalien erhöht. Dies           und Interessen von Frauen als Kleingrund-
             wiederum ist mit einer Verschlechterung der        besitzerinnen, landlose Bäuerinnen oder
             Qualität der von ihnen angebauten Grund-           landwirtschaftliche Lohnarbeiterinnen in
             nahrungsmittel und einer Verringerung der          Verhandlungen, Politik und Gesetzgebung
             Verfügbarkeit derjenigen Forstressourcen           häufig übersehen werden.
             verbunden, welche die Frauen für die                  Neben diesen strukturellen Formen der
             Zubereitung von Mahlzeiten brauchen.               Ungleichheit in der politischen Repräsentation
               Mit zunehmender Kommerzialisierung               und Entscheidungsfindung sind die Möglich-
             steigt die Zeit, welche die Frauen nebst ihrer     keiten für die Erhebung von rechtsbasierten

                                                                  Essen. Macht. Arbeit. | WIDE
ESSEN.   7

Ansprüchen im Zusammenhang mit
Diskriminierung beim Zugang zu Nahrung,
Land und natürlichen Ressourcen oft
begrenzt. In Kambodscha gibt es zwar eine
lebendige Zivilgesellschaft und Frauen waren
bei vielen Protesten im Zusammenhang
mit der «Landnahme/Bodennahme» an
vorderster Front, aber Regierungsrepression
und gerichtliche Korruption führen dazu, dass
die Einforderung der Rechte weitgehend
erfolglos geblieben ist. Während die
ghanaischen Gerichte für das Recht auf
Nahrung empfänglicher sind und es weniger
Einschränkungen für die Aktivitäten zivil-
gesellschaftlicher Gruppen gibt, die an der
Förderung der Geschlechtergleichstellung
und der Frauenrechte beteiligt sind, ist das
Bewusstsein für das Recht auf Nahrung
als Menschenrecht in der Justiz gering,
ebenso wie das Engagement der sozialen
Bewegungen in dieser Frage.

  DEMETER           ( G e n d e r, Land         Joanna Bourke-Martignoni ist Postdoc-Forscherin
  and the Right to Food) ist ein                und als Senior Research Fellow ebenfalls
  interdisziplinäres Forschungsprojekt,         Koordinatorin des DEMETER-Projekts am Geneva
  welches im Rahmen des Nationalen              Graduate Institute of Development Studies (IHEID).
  Forschungsprogramms Research for              Sie ist eine internationale Menschenrechts-
  Development (r4d) durchgeführt wird.          anwältin und Historikerin mit den Schwerpunkten
  Es untersucht aus der Perspektive             Geschlechtergleichstellung, wirtschaftliche, soziale
  der Geschlechtergerechtigkeit und             und kulturelle Rechte sowie Südostasienwissen-
  des Rechts auf Nahrung den sozialen           schaften.
  Wandel in ländlichen Gebieten von
  Kambodscha und Ghana. Die dafür               Fenneke Reysoo (IHEID, Genf) setzt sich für die
  verwendeten Methoden sind vielfältig.         Bekämpfung der sozialen Ungerechtigkeiten
  Einige der wichtigsten Ergebnisse der         ein. Sie definiert diese als institutionalisierte
  qualitativen Forschung in den beiden          Hierarchien kultureller Werte, die bestimmte
  Ländern wurden in diesem Text                 Personengruppen vom gesellschaftlichen Leben
  zusammengefasst und in den Kontext            ausschließen. Ihre Forschung konzentriert sich
  breiter sozioökonomischer, politischer        auf die geschlechtsspezifischen Auswirkungen
  und rechtlicher Trends gestellt, die          der Landkommerzialisierung (Kambodscha), auf
  im Rahmen des Projekts analysiert             Gesundheits- und Fortpflanzungsrechte (Marokko,
  wurden.                                       Mali, Bangladesch) und den Status von Frauen
                                                im Islam (Marokko). Ihre Ausbildung befindet
  Weitere Informationen zum                     sich an der Schnittstelle von Anthropologie (PhD
  Forschungsprojekt DEMETER finden              Radboud University, 1988), und Gender- &
  Sie unter: https://r4d-demeter.info           Entwicklungstudien (ITC, 1982).

WIDE | Feministische Blicke auf Fairfood Ideen
8     ESSEN.

AUFGETISCHT: FAIRES ESSEN
ÜBERLEGUNGEN ZUR FAIR-FOOD-IDEE AM BEISPIEL
BOLIVIANISCHER QUINOA-PRODUZENT*INNEN

     Sabin Bieri               

                   Gesund und fair – so wollen wir auftischen       eine Kampagne, die den gesundheits-
                   in der Schweiz. Die Fair-Food-Initiative         bewussten, vegetarisch oder vegan lebenden
                   sollte dieses Anliegen verfassungsfähig          Liebhaberinnen und Liebhabern von Quinoa
                   machen. Was aber bedeutet die Nachfrage          den Appetit gründlich verdarb. Ausgehend
                   nach gesundem und fairem Essen für               von einem Artikel im britischen Guardian
                   diejenigen, die es produzieren? Wie viel         stellte bald jedes kritische Blatt den Verzehr
                   Fairness bleibt bei den Kleinbauern-             von Quinoa in unseren Breitengraden an
                   familien in Bolivien, deren Quinoa für den       den Pranger, und schliesslich schwappte
                   europäischen Konsum bestimmt ist? Könnte         die Alarmstimmung auch auf Konsumenten-
                   die politische Bestimmung von «fair» und         magazine in der Schweiz über.2
                   «gesund» aus der Schweiz Signalwirkung
                   erzeugen? Oder würde sie, wie gegnerische        Essen wir den bolivianischen
                   Stimmen argumentierten, vielmehr Kleinst-        Kleinbäuer*innen die
                   produzent*innen ausschliessen, weil diese        Quinoa vom Teller?
                   die Standards schon heute kaum einzuhalten
                   vermögen? Gibt es in der Beurteilung export-     Was ist an der Geschichte dran? Sind die
                   orientierter Landwirtschaft im globalen Süden    Ernährungsgewohnheiten wohlhabender
                   auch einen feministischen Standpunkt?            Amerikaner*innen und Europäer*innen
                                                                    der Grund für Mangelernährung und
                   Ein sechsjähriges, von der Schweizer             Geldknappheit der Andenbevölkerung?
                   Entwicklungsagentur DEZA und dem                 Ächzen die Bäuerinnen unter der zusätz-
                   Schweizerischen Nationalfonds kofinanziertes     lichen Arbeitsbelastung des kommerziellen
                   Forschungsprojekt1 ging den Auswirkungen         Anbaus?
                   der zunehmend kommerzialisierten Landwirt-          Der Boom von Quinoa ist beispielhaft (siehe
                   schaft in Binnenländern wie Bolivien nach.       Grafik rechts). Parallel zur Preissteigerung
                   Diese Auswirkungen wurden insbesondere           steigen die Anbaufläche und die Produktions-
                   nach geschlechterdifferenzierten Merkmalen       menge. Die Familien, die näher an den
                   sowie mit Blick auf die viel- beschworene        Zentren und damit an den Märkten leben,
                   Feminisierung der Landwirtschaft unter-          erweitern ihre Fläche rasch. Die Lamaherden,
                   sucht. Erhöht die Produktion für den Markt die   die bisher zu ihrer landwirtschaftlichen
                   Chancen von Frauen, sich auf dem Arbeits-        Strategie gehörten – häufig der Bereich der
                   markt zu betätigen?                              Frauen – werden entweder verkauft, um
                     Sind sie in der Lage, mit dem bezogenen        damit Landmaschinen anzuschaffen oder
                   Lohn ihre soziale Stellung zu verbessern?        an Verwandte in weiter entfernten Regionen
                   Erwerben sie Kenntnisse, schaffen sie sich       abgegeben. Söhne und Töchter, die in nahe
                   neue Netzwerke, entwickeln sie Perspektiven      gelegene Städte oder ins benachbarte
                   – wenn nicht für sich, so doch zumindest für     Ausland migriert sind, kehren zurück und
                   ihre Kinder?                                     beanspruchen, das Land ihrer Vorfahren
                     Im Fall von Quinoa gab es vor 2013,            bebauen zu können. Die traditionelle
                   während der Hausse des Quinoa-Booms,             Behörde, die den Landzugang organisiert,

                                                                      Essen. Macht. Arbeit. | WIDE
ESSEN.                  9

                                                                                Steigende Preise und Anbauflächen für
                                                                                Quinoa in Bolivien ab 2005 führten zu mehr
                                                                                Wohlstand, Schulbesuchen von Kindern,
                                                                                Mechanisierung der Produktion, und einer
                                                                                Diversifizierung der Ernährung. Ab 2016
                                                                                stürzten die Preise in sich zusammen.
                                                                                (Quelle: Fao Stats, Grafik von Maurice
                                                                                Tschopp)

sieht sich mit einer kaum zu bewältigenden        Quinoa auf dem internationalen Markt. Kaum
Nachfrage konfrontiert. Quinoa wird vermehrt      ein Bauer, eine Bäuerin, ist heute besser
auf flachen Ebenen angebaut, dort, wo             positioniert als vor dem Boom. Es profitierten
Traktoren fahren können. Auch wenn sich           allenfalls jene, die Kapital investierten und
die Erzählungen von Konflikten häufen und         ihre Produktion mechanisieren konnten –
die Böden auf dieser Höhenlage fragil sind,       dies sind meist Ausgewanderte, die mit dem
gibt es keinen eigentlichen Landmangel.           Sog des Booms wieder zurück ins Gebiet des
Konflikte entstehen in Bezug auf die bevor-       Salar kamen.
zugten Zonen, und weil die Instrumente der          Den Bäuerinnen aus dem bolivianischen
traditionellen Behörde zu wenig ausgereift        Hochland wurden die Exportstrategien
sind, um die wachsende und zunehmend              der eigenen Regierung sowie diejenige
konkurrierende Nachfrage zu organisieren.         der Nachbarländer, allen voran Peru, zum
                                                  Verhängnis. Die Produktion wurde so rasch
Dem Boom folgt der Preiszerfall                   nach oben geschraubt, dass die Preise in
                                                  sich zusammenstürzten. Der Vorsprung, den
Die Königsquinoa, die Quinoa Real, die im         Bolivien als Hauptexporteur gehabt hatte,
Gebiet rund um die Salzwüste von Uyuni            schmolz innerhalb von wenigen Jahren. Die
angebaut ist, gilt als eine der ursprüng-         Kleinbauernfamilien werden wieder auf ihre
lichen Sorten. Dank ihrer verhältnismässig        ursprünglichen, diversifizierten Wirtschafts-
grossen Körner, dem nussigen Geschmack            weisen zurückgeworfen.
und den hochwertigen Ernährungseigen-
schaften verkauft sie sich gut. Zudem genügt      Dennoch: Quinoa führte
die Produktion, die ohne Zufuhr von künst-        zu Wohlstand
lichem Dünger und Pestiziden auskommt,
den Kriterien des biologischen Anbaus.            Trotzdem ist die Boom- und Bust- Geschichte
   Trotzdem stürzt der Preis seit 2016 in sich    nicht ausschliesslich eine Geschichte des
zusammen. Die Lagerhäuser sind voll, die          Misserfolgs, auch wenn sie mit Sicherheit
Bauern und Bäuerinnen zögern den Verkauf          eine Geschichte der unterlassenen
hinaus, solange sie nur einen Bruchteil           Entscheidungen und mangelnden Weichen-
des in den Boomjahren erzielten Preises           stellungen für die Zukunft ist.
lösen können. Der Preiszerfall kam nicht          Viele Bauernfamilien erarbeiteten in den
vollkommen überraschend, aber doch abrupt         wenigen Boomjahren einen massgeblichen
und schneller als erwartet. In der Boomphase      Wohlstand, der ihnen über die ersten Monate
ging es vor allem darum, schnelles und            des Preisrückgangs hinweghalf. Einige Kinder
viel Geld zu verdienen. Niemand arbeitete         profitierten unabhängig vom Geschlecht
an den Rahmenbedingungen für eine                 von besseren Schulen oder wurden an
nachhaltige Quinoa-Wirtschaft. Es wurden          Universitäten im Ausland geschickt.
keine Anstrengungen unternommen, für eine         Die Investition in die Maschinen erleichterte
privilegierte Positionierung von bolivianischer   die Produktion – allerdings nicht so sehr für

WIDE | Feministische Blicke auf Fairfood Ideen
10    ESSEN.

«Es änderte sich an der Rollenverteilung innerhalb der Haushalte wenig: Während
Männer für technisierte Arbeiten zuständig sind, sind Frauen bei den aufwendigen
Handarbeiten während der Ernte und den primären Verarbeitungsprozessen gefragt.
Hierfür werden auch Frauen als externe Arbeitskräfte rekrutiert.»

                     die Frauen, wie wir sehen werden.
                       Die Ernährungsvielfalt in der Region nahm
                     zu, da sich die Menschen aus dem Erlös
                     für die Quinoa andere Produkte leisten
                     konnten, die das Standardmenü aus Quinoa
                     und Lamafleisch ergänzen und bereichern.         ist, erzeugt hier eine Pufferwirkung und
                     Zumindest ein Mythos ist damit widerlegt:        verhindert somit zu grosse Verwerfungen.
                     Der florierende Absatz von Quinoa in unseren     Dennoch ist letztlich entscheidend, wer wie
                     Breitengraden geht nicht auf Kosten der          viele Arbeitskräfte zur Verfügung hat.
                     Ernährungssicherheit oder der Ernährungs-
                     souveränität der Produzentinnen von Quinoa.      Die Frage des Geschlechts
                     Wie mir Doña Andrea, eine erfahrene Quinoa-
                     Bäuerin mitteilt:                                Welche Schlussfolgerungen lassen diese
                       «Bei uns zu Hause essen wir keine Quinoa.      Erkenntnisse im Rahmen einer feministischen
                     Wir bevorzugen Reis und Teigwaren.» –            Diskussion um «Fair Food» zu? Fragen, die
                     Quinoa gilt als Armeleuteessen. Wer es           etwa zu stellen wären, sind diejenige nach der
                     sich leisten kann, steigt um. Die nationalen     Verschiebung von geschlechterdifferenzierten
                     Kampagnen zur Förderung des Binnen-              Rollen, der Arbeitslast, den geteilten
                     verzehrs von Quinoa sollen diesem                Verantwortungen, den jeweiligen Chancen
                     Trend Einhalt gebieten. Gleichzeitig kann        sowie der gesellschaftlichen Stellung von
                     festgestellt werden, dass die Ernährungs-        Männern und Frauen ausserhalb der Familie.
                     vielfalt gewachsen ist, seit einige sich durch     Der ernüchternde Befund ist vorerst,
                     den Verkauf von Quinoa auch etwas leisten        dass sich an der Rollenverteilung innerhalb
                     können. Wie sich dadurch die Qualität der        der Haushalte wenig ändert, wenn von
                     Ernährung verändert hat, wurde hier nicht        der Produktion für den Eigengebrauch
                     untersucht.                                      auf Export umgesattelt wird. Während die
                                                                      Männer für technisierte Arbeiten zuständig
                     (Un)Gleichheiten zwischen                        sind, sind die Frauen bei den aufwendigen
                     Bauernfamilien                                   Handarbeiten während der Ernte und den
                                                                      primären Verarbeitungsprozessen gefragt.
                     Die zweite Entwarnung kommt bezüglich            Hierfür werden auch Frauen als externe
                     der Frage, ob die Produktion für den Markt       Arbeitskräfte rekrutiert. Sie kommen aus
                     die Ungleichheit unter den Bauernfamilien        den umliegenden Dörfern oder es sind die
                     verschärft. Auch hier ist die Antwort im         eigenen Kinder, die abgewandert sind und
                     bolivianischen Kontext ein Nein, so gibt es      für die arbeitsintensiven Phasen zurück-
                     bezüglich der staatlichen Sozialleistungen       kommen. Ihre Löhne sind tiefer als diejenigen
                     keinen Unterschied. Wer mehr Land                fürs Pflügen oder die Aussaat. Die Hausarbeit
                     besitzt, das gilt für Frauen ebenso wie für      bleibt weitgehend in der Verantwortung der
                     Männer, ist proportional bevorteilt. Es ist      Frauen, ebenso die Kindererziehung. Die
                     kaum eine Verschärfung der Ungleichheiten        einzige Entlastung, die sie erhalten, erfolgt
                     zwischen verschiedenen Haushaltstypen            durch die Aufgabe oder Verschiebung der
                     zu beobachten, einzig die «Single headed»        Viehproduktion. Von der viel beschworenen
                     Haushalte, in der Mehrheit von Frauen geführt,   andinen Rhetorik der komplementären, aber
                     sind stärker von Verdrängung bedroht.            gleichwertigen Geschlechterrollen bleibt nicht
                     Diese Schlussfolgerung ist mit Vorsicht zu       viel übrig.
                     geniessen: Das kommunale Landrecht, das            Interessant ist die Rolle von
                     in der bolivianischen Verfassung verankert       Frauen in den mächtiger werdenden

                                                                        Essen. Macht. Arbeit. | WIDE
ESSEN.   11

                                           Stolz auf ihre Produktion, aber Sorgen um die Zukunft: Ein Paar auf ihrem Quinoafeld in der
                                                      Nähe von San Pedro de Quemez, Provinz Nor Lípez, Bolivien. (Sabin Bieri, 2018)

Produktionskooperativen sowie den lokalen
Autoritäten, die an Einfluss eingebüsst haben.
Während die lokalen Autoritäten zunehmend
Frauen auf Posten berufen, so bleibt dies in
den Kooperativen eher die Ausnahme. Auch          die gemäss zahlreichen Studien mehrheitlich
hier scheint sich zu bestätigen, dass trotz       den Frauen angelastet werden.
neuer wirtschaftlicher Chancen die Machtver-        Die Folgen des Preiszerfalls in Bolivien
hältnisse eher perpetuieren als aufgebrochen      treffen jene hart, die ihre diversifizierten
werden. In diesem Sinne stellt sich die Frage,    Anbaustrategien aufgegeben und voll in die
welche sogenannten «Frauenprojekte»               Quinoa investiert haben. Fragen der sozialen
gefördert werden. Gerade die Besetzung von        Sicherheit und ihr Beitrag zu «Entwicklung» in
«traditionellen Ämtern» durch Frauen mag          Ländern des globalen Südens, insbesondere
zwar ein gutes Bild abgeben, doch es kann         für Frauen und im Landwirtschaftsbereich,
ihre Position auch schwächen. Denn offen-         müssen im Licht solcher Marktdynamiken und
sichtlich werden die wichtigen agrar- und         der Exportorientierung neu bewertet werden.
sozialpolitischen Entscheide zunehmend            Allenfalls müsste sich auch die internationale
auf höherer politischer Ebene oder von den        Zusammenarbeit intensiver mit der Frage der
Funktionären der Kooperativen getroffen, wo       Risikoabfederung und der sozialen Sicherheit
Frauen kaum vertreten sind.                       in Arbeitsverhältnissen auseinandersetzen.
                                                    Ein weiteres Thema, das viel stärker in den
Fazit für die Fair Food Idee                      Blick genommen werden könnte, ja müsste,
                                                  ist die Unterstützung der Organisation von
«Fair» soll im Falle globaler Nahrungs-Wert-      Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im
schöpfungsketten nicht einseitig zu Gunsten       Bereich der landwirtschaftlichen Produktion
derjenigen sein, die bereits zu besseren          und des Verkaufs.
Bedingungen starten. Im konkreten Fall
hiesse das, dass man etwa die Arbeits-            Sabin Bieri forscht am Interdisziplinären Zentrum
bedingungen in eine Definition von «fair»         für nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) an
einschliesst und hierbei die Geschlechter-        der Universität Bern.
perspektive einfordert. Zudem wären Fragen
zur Kinderbetreuung und der Arbeitsbelastung      1    Dieser Text basiert auf der Forschung mit dem Titel «Feminisation, agricultural transition

von Frauen ganz allgemein angebracht.             and rural employment (FATE)», welche unter der Leitung von Sabin Bieri im Rahmen eines
                                                  Research-for-development-Programms finanziert wird. http://www.r4d.ch/modules/employment/
Biologische Produktion ist häufig mit mehr        feminisation-agricultural-transition-and-employment (14.12.2018)

Aufwand verbunden – etwa beim Jäten oder          2    https://www.theguardian.com/commentisfree/2013/jan/16/vegans-stomach-unpalatable-

der Bekämpfung von Schädlingen. Arbeiten,         truth-quinoa (letzter Zugriff 3.9.2018)

WIDE | Feministische Blicke auf Fairfood Ideen
12     ESSEN.

ANNÄHERUNG AN DAS SCHWEIZER
ERNÄHRUNGSSYSTEM MIT GENDERBRILLE
     Heike Wach              

                  Im folgenden Artikel soll die Unterschiedlichkeit zwischen Frauen am Beispiel verschiedener
                  Interessengruppen im Schweizer Ernährungssystem näher betrachtet werden: Frauen
                  als Arbeiterinnen im Tieflohnbereich der Lebensmittelbranche, als Konsumentinnen und
                  Ernährerinnen mit unterschiedlichem Einkommen, und als Stimmbürgerinnen hier in der
                  Schweiz. Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für eine geschlechterdifferenzierte
                  Debatte um nachhaltige Nahrungsmittel herleiten?

                  Im Zusammenhang mit der Fair-Food-Kampagne war oft die Rede von mehr Ökologie und
                  Sozialverträglichkeit im Spannungsfeld mit Wirtschaftlichkeit. Unterschiede zwischen Männern
                  und Frauen wurden thematisiert, vor allem wenn es um Konsum und Abstimmungsverhalten
                  in der Schweiz ging. Unterschiede zwischen Frauen fanden indes keine Beachtung.

                  Arbeiter*innen im Schweizer
                  Nahrungsmittelsektor
                  In einem nachhaltigen Ernährungssystem           Entsprechende Statistiken existieren zwar,
                  sollten alle darin arbeitenden Menschen          die Ergebnisse werden in der Öffentlichkeit
                  einen gerechten Lohn für ihre Arbeit erhalten,   indes kaum rezipiert. Wer sind diese Frauen,
                  um ein gutes Leben zu führen. In der Schweiz     die im Niedriglohnbereich Teilzeit arbeiten?
                  sind die Preise von Nahrungsmitteln sehr tief,   Reicht der effektive Lohn, um sich und
                  was sich auch in der Lohnsumme dieser            eventuell noch eine Familie zu ernähren?
                  Branche manifestiert. Existenziell davon         Warum arbeiten so viele Frauen in diesen
                  betroffen sind die Arbeitskräfte, die sich in    Branchen Teilzeit und was bedeutet das
                  Tieflohnbereichen den Lebensunterhalt            für ihre langfristige finanzielle und soziale
                  verdienen, vor allem in Teilzeit und als         Sicherheit, zum Beispiel im Alter? Droht
                  Saisonarbeitende.                                gerade diesen Frauen Altersarmut?
                     Im Nahrungsmittelsektor findet 11% der
                  Bevölkerung Beschäftigung1. Ein erheb-           Alle Menschen konsumieren Lebens-
                  licher Anteil der Arbeitsplätze mit geringem     mittel als Grundlage für Wohlbefinden und
                  Einkommen liegt im Bereich der Nahrungs-         Gesundheit. Von Armut betroffene Menschen
                  mittelproduktion, -verarbeitung, -verpackung     haben weniger Spielraum, im Supermarkt die
                  und im -transport sowie im -verkauf. Auch        teureren nachhaltigen Produkte zu kaufen als
                  Arbeitsstellen im Restaurationsbereich           Kund*innen mit höherer Kaufkraft.
                  gehören zu dieser Kategorie, dort sind             Personen mit einem geringen Einkommen,
                  Menschen angestellt, die unsere Verpflegung      Familien mit mehr als zwei Kindern und Allein-
                  ausser Haus gewährleisten, sei es in             erziehende tragen laut Caritas Schweiz ein
                  Kantinen, Spitälern oder an Schulen2. Gerade     hohes Armutsrisiko. Kurzarbeit, temporäre
                  im Bereich der Hilfsarbeit bestehen zahlreiche   Arbeitsverhältnisse, fehlende oder zu teure
                  Jobs, die in Teilzeit und ohne formelle          Kinderbetreuungsplätze verschärfen die
                  Qualifikationen verrichtet werden können         Situation. Das verfügbare Einkommen ist
                  und deshalb schlecht bezahlt sind. Viele         knapp. Menschen mit Migrationshintergrund,
                  dieser Arbeiten werden von Migrant*innen         die aufgrund ihrer Herkunft in verschiedener
                  geleistet und mehr als 75% der Teilzeitjobs      Hinsicht diskriminiert werden, erleben
                  von Frauen.                                      zusätzliche Hindernisse, ein ausreichendes
                     Die Zahlen zur Arbeitsmarktsituation in       Einkommen zu erzielen.
                  diesen Branchen werden branchenspezifisch          Alle diese Elemente haben eine Gender-
                  kommuniziert, nicht aber nach Geschlecht.        dimension. Dies manifestiert sich in einer

                                                                     Essen. Macht. Arbeit. | WIDE
ESSEN.   13

«Durchschnittlich geben wir 6,4% vom Haushaltsbudget für
Nahrungsmittel aus. Je geringer das Einkommen, umso grösser
wird der prozentuale Anteil für Lebensmittel.»

bestehenden Lohndifferenz von 17% in der          Durchschnittlich geben wir 6,4% vom
Schweiz. Zudem zeigen die Lebensläufe,            Haushaltsbudget für Nahrungsmittel aus
dass Familiengründung für Männer nach wie         beziehungsweise 12,5%, wenn der Verzehr
vor mehrheitlich mit einem Karrieresprung,        ausser Haus mit einberechnet wird. Je
für Frauen jedoch mit einem Karriereknick         geringer das Einkommen, umso grösser
einhergeht, was zu weiteren Lohneinbussen         wird der prozentuale Anteil für Lebens-
führt. Haushalte mit nur einem Elternteil         mittel. Durchschnittlich wird bei den tiefsten
werden zu 80% von Frauen geführt. Frauen          Einkommen von einem Anteil zwischen
arbeiten vorwiegend Teilzeit und haben            12 und 13% des Einkommens (exklusive
folglich eine schlechtere Altersversorgung3.      Ausser-Haus-Verpflegung ) ausgegangen6.
Dies ist alles hinlänglich bekannt, Armuts-       Wenn das Geld knapp wird, wird auch bei
statistiken untermauern die Zuspitzung dieser     den Lebensmitteln gespart. Bereits heute,
Situation deutlich. «Armut ist weiblich», so      bei verhältnismässig tiefen Preisen, können
das Fazit der Caritas4.                           sich von Armut betroffene Menschen nicht
  «Working Poor», also armutsbetroffene           die ihrem Bedarf entsprechenden Lebens-
Erwerbstätige sind Personen, welche trotz         mittel leisten7.
Anstellung unter der Armutsgrenze leben.            Damit wird es zu einem Privileg der besser
Sie sind vor allem in Sektoren mit geringer       Verdienenden, Produkte zu kaufen, welche
Produktivität oder Niedriglöhnen beschäftigt5,    als nachhaltig gelten und damit einen
zu ihnen gehören die oben genannten Jobs          entsprechenden Preis haben. Solange der
in der Lebensmittelbranche, sowie in der          Anteil sozialverträglicher Produkte marginal
Primärproduktion.                                 bleibt, ändern sich aber auch die Produktions-
  Die Preise würden bei Annahme der               und Arbeitsbedingungen im Niedriglohn-
Initiative ansteigen, so eines der Haupt-         bereich der gesamten Branche entsprechend
argumente der Gegner*innen der Fair-Food-         wenig. Eine flächendeckende Sozial-
Initiative. So könnten arme Familien ihr          verträglichkeit bei der Lebensmittelproduktion
Essen kaum noch bezahlen. Es stellt sich          würde bestehende Machtverhältnisse in
dabei aber die Frage, welche Verantwortung        den Wertschöpfungsketten infrage stellen.
die Lebensmittelbranche diesbezüglich hat.        Wie sich das auf die Preise auswirkt, ist
Wenn ausgerechnet die Löhne in der Lebens-        schwierig vorherzusagen. Armutsbetroffene
mittelbranche zu den tiefsten des Landes          Familien sollten daher bereits jetzt gezielt
gehören und Produzent*innen von der               darin Unterstützung erhalten, sich nachhaltig
Produktion der Lebensmittel ihren Lebens-         ernähren zu können, unabhängig von den
unterhalt nicht decken können, klingt dieses      Lebensmittelpreisen.
Argument zynisch. Vor allem, wenn es von
Vertreter*innen mit der grössten Marktmacht
der Kette kommt, wie z.B. dem Detailhandel
oder den Lebensmittelkonzernen.
  Für das Gros der Schweizer Bevölkerung
sind Lebensmittel so billig, dass ein Aufschlag
das Portemonnaie wenig belasten würde.

WIDE | Feministische Blicke auf Fairfood Ideen
14       ESSEN.

                                                                              wird erwartet, dass sie noch mehr Rollen
                                                                              erfolgreich unter einen Hut packen.
                                                                                 Das Plakat unterstreicht, dass in
                                                                              Haushalten mit Kindern die Mutter/Frau für
                                                                              den Einkauf und die Zubereitung der Lebens-
                                                                              mittel verantwortlich ist. Vermutlich ungewollt,
                                                                              greift die Werbung indirekt auch das Thema
                                                                              der Betreuungslücke auf: In Haushalten, in
                                                                              denen alle Erwachsenen einer Lohnarbeit
                                                                              nachgehen müssen, fehlt oft die Zeit für
                                                                              Sorgearbeit, unter anderem auch aufgrund
                                                                              der langen Arbeitszeiten und einem geringen
                                                                              schulexternen Betreuungsangebot. Diesen
                                                                              Zeitmangel bekommen vor allem Frauen
                                                                              aufgrund der traditionellen Rollenaufteilung
                                                                              zu spüren. Mit entsprechenden finanziellen
                                                                              Mitteln ist es möglich, die Zeit fürs Kochen zu
                                                                              reduzieren: durch Verpflegung ausser Haus
                                                                              oder entsprechend aufbereitete Produkte,
                                                                              zum Beispiel aus der Tiefkühltruhe.
                                                                                 Konsumentscheide haben vielfältige
Werbeplakat für die «Mutter-Kind-Einkaufsliste»: Sind Mütter alleinig für     Motive: Essen kann Stress kompensieren,
die Zuwendung, das Kochen und den Einkauf verantwortlich? (Juli 2018)
                                                                              ist Ausdruck sozialer Zugehörigkeit, und wird
                                                                              auch eingesetzt, um Zuneigung zu zeigen
                                                                              und Anerkennung zu erlangen. Das breite
                                                                              Spektrum an Fertigprodukten bietet für jeden
                             Von Konsumentinnen und Müttern                   Geldbeutel etwas an, aber billige Kalorien
                                                                              sind häufig auch ernährungsphysiologisch
                             Sorgearbeit ist zeitintensiv, ob für Kinder,     weniger nachhaltig. Wenn das Bewusstsein
                             Alte, Kranke, die Umwelt. Ein nachhaltiger,      für gesunde Ernährung gering ist, zum
                             sorgsamer Konsum geht nicht auf Kosten von       Beispiel aufgrund fehlender Informationen
                             Umwelt, Arbeitsbedingungen und Tierwohl          und Zugangschancen, kann das vielfältige
                             und orientiert sich am lokalen und saisonalen    Angebot der Lebensmittelbranche dazu
                             Angebot. Das braucht Zeit und weitere            verleiten, zu billigen, nährstoffarmen
                             Ressourcen, wie Information, Mobilität           Produkten zu greifen. Frauen tragen durch
                             oder Netzwerke. Ziel könnte sein, dass der       ihre Rollenzuschreibungen eine existenzielle
                             Direktverkauf zwischen Produzent*innen und       Verantwortung und es stellt sich die Frage,
                             Konsument*innen gefördert wird. Die Preise       wer den Preis für die billigen Lebensmittel
                             für die Lebensmittel sind eher tiefer, da kein   bereits heute zahlt.
                             Zwischenhandel finanziert werden muss. Wer          Im Zusammenhang mit einer nicht
                             weniger Zeit hat, kann – wenn vorhanden -        ausgewogenen Ernährungsweise ist
                             mit Geld kompensieren und im Supermarkt          Übergewicht häufig mit Fehlernährung
                             zertifizierte Produkte kaufen.                   verknüpft, mit langfristigen Folgen für die
                               Noch im Jahr 2018 kommt die                    Gesundheit und das Wohlbefinden. In der
                             genderspezifische Rolle der Frauen im            Schweiz gilt etwa ein Viertel aller Jugend-
                             Zusammenhang mit Lebensmitteln in der            lichen als übergewichtig, überproportional
                             Schweiz auf einem Werbeplakat deutlich           betroffen sind zum Beispiel in der Region
                             zum Ausdruck: Die Werbung zeigt eine             Basel Mädchen aus ökonomisch schwachen
                             fürsorgliche Mutter, die aus Zeitmangel zur      Familien8. Während in der Schweiz allgemein
                             Fertigmahlzeit greift, denn das Elternsein ist   Frauen weniger übergewichtig sind als
                             heutzutage anspruchsvoll und von Frauen          Männer, ist es bei der Gruppe mit geringer
                                                                              Bildung gerade umgekehrt9.

                                                                                Essen. Macht. Arbeit. | WIDE
ESSEN.     15

                                                        «Sorgearbeit ist zeitintensiv, ob für Kinder, Alte, Kranke oder
                                                     die Umwelt. Ein nachhaltiger, sorgsamer Konsum geht nicht auf
                                                            Kosten der Umwelt, Arbeitsbedingungen und Tierwohl.»

Stimmbürgerinnen für Fair Food?

Die letzte Gruppe, die hier erwähnt werden
soll, sind die Stimmbürgerinnen. Sie haben
sich im Vergleich zu den Stimmbürgern im
Vorfeld gesamthaft eher für die Fair-Food-
Initiative ausgesprochen. Das Ergebnis deckt
sich mit der Aussage, dass sich Frauen
generell etwas stärker für Nachhaltigkeit
aussprechen als Männer10. Dieses Phänomen
wurde von der Presse aufgenommen. Der
Kommentar von FDP-Nationalrat Walter
Müller im Newsblatt «20 Minuten»: «Sie
machen häufiger den Einkauf und haben
eine grosse Affinität zu gesunden Lebens-
mitteln aus der Region.» Frauen seien
eben ein wenig emotionaler und hätten ein
Herz für Tiere. Aber: «Jetzt müssen wir den
Frauen erklären, dass die beiden Initiativen
ihre Erwartungen nicht erfüllen werden.
Rational gesehen führen die Initiativen nicht
zu gesunden Lebensmitteln, die auch noch
erschwinglich sind.»11
   Walter Müller griff damit ein uraltes Vorurteil
auf: Frauen sind emotional und verstehen
die grossen wirtschaftlichen Zusammen-               Fazit
hänge nicht. Er widerspiegelt damit die
starke Ablehnung der Fair-Food-Initiative            Im Schweizer Ernährungssystem
bei Männern aus der Deutschschweiz −                 hängt Gendergerechtigkeit mit einer
im gehobenen Alter und mit höherem                   geschlechts-spezifischen Rollenzuordnung
Einkommen. Menschen mit kleinem Budget               und Bewertung der Arbeit zusammen. Frauen
haben nämlich noch im September die                  sind wirtschaftlich tätig als bezahlte Arbeits-
Fair-Food-Initiative am stärksten unterstützt12.     kräfte und als unbezahlte Care-Arbeiterinnen.
   In den Tagen nach der Abstimmung wurde            In der Wahrnehmung werden die
noch gesagt, dass schweizweit 45% aller              strukturellen Bedingungen zu Gunsten der
Frauen der Initiative zugestimmt haben13.            zugeschriebenen, oft verklärenden Rollen-
In der entsprechenden VOTO-Studie wurde              bilder verdeckt. Frauen, als Ernährerinnen
allerdings festgestellt, dass die Unterschiede       und Konsumierende erscheinen als Haupt-
nicht signifikant waren14. In Genf, wo die           verantwortlichen für die gesunde Ernährung
Initiative angenommen wurde, haben somit             ihrer Familien.
wohl mehr Männer für die Initiative gestimmt           Einkommensschwache Familien sind
als Frauen im Kanton Obwalden, dem Kanton            besonders betroffen, da hier knappe
mit der deutlichsten Ablehnung. Derweil              Ressourcen dazu führen, dass es im
haben sich junge Leute, sowohl Frauen                Ernährungsbereich überproportional zu
als auch Männer, häufiger für Fair Food              Defiziten kommt. Tiefe Preise von Lebens-
ausgesprochen. Das stärkste Kriterium waren          mitteln für alle auf Kosten der Nachhaltigkeit
existierende Konsummuster – wer jetzt bereits        kann dieses Problem nicht lösen.
auf nachhaltige Lebensmittel und Ernährung             Der Blick in die unterschiedlichen Nischen
schaut, wünscht sich ein entsprechendes              des Ernährungssystems zeigt Bereiche auf, in
staatliches Engagement mit klaren Richt-             denen der Anspruch von Sozialverträglichkeit
linien, die für alle Lebensmittel gelten.            mit einer feministischen Perspektive ergänzt

WIDE | Feministische Blicke auf Fairfood Ideen
16   ESSEN.

              werden sollte. Aus der obenstehenden
              Reflexion ergeben sich folgende Handlungs-     Heike Wach, Mitglied der Redaktion (siehe S.48)
              felder für Politik und Wirtschaft:

              −− Eine Debatte um Fairness entlang der        1 Taschenstatistik Landwirtschaft und Ernährung 2017
                 Wertschöpfungsketten müsste die             2 Sektoren mit den tiefsten Löhnen sind gemäss der
                 entsprechenden Arbeitsplätze hier in der    Lohnerhebung des BFS von 2016 in der «Verarbeitung:
                                                             Herstellung von Nahrungsmitteln und Getränken» (15%
                 Schweiz differenziert nach Geschlecht       unter dem Medianlohn); im «Detailhandel» (−23%)
                 analysieren, Trends aufzeigen und daraus    und «Gastgewerbe/Beherbergung und Gastronomie»
                                                             (−18%) zu finden. Die Medianlöhne sind − bei einem
                 entsprechende Massnahmen formulieren,       Vollzeitäquivalent − alle weit über der Armutsgrenze. Mit
                 die zu mehr Gendergerechtigkeit führen.     Ausnahme des «weiblichen» Detailhandels sind beide
                                                             Geschlechter gleichermassen vertreten. Zahlen für die
              −− In den am tiefsten bezahlten Segmenten      Primärproduktion sind nicht geschlechterdifferenziert
                 der Lebensmittelbranche wäre eine recht-    verfügbar. Während in der Gesamtwirtschaft 70%
                                                             aller Teilzeitarbeitenden Frauen sind, sind in diesen
                 liche und wirtschaftliche Absicherung der   Sektoren zwischen 76–82% der Teilzeitarbeitenden
                 Angestellten auch bei kleinen Pensen        weiblich.
                 notwendig, um die bestehende Prekarität     3 M. Madörin: Die kleingerechnete Ungerechtigkeit.
                                                             Widerspruch 71/18
                 zu vermindern;
                                                             4 https://www.caritas.ch/de/aktuelles/blog/detail/blog/
              −− Die Verantwortung für Sorgearbeit sollte    armut-ist-weiblich.html?no_cache=1
                 gesellschaftlich breiter abgestützt und
                                                             5 Crettaz E 2018: Working Poor in der Schweiz
                 wirtschaftlich aufgewertet werden, indem    – Ausmass und Mechanismen; https://www.
                 alle Menschen Zugang zu ausreichend         socialchangeswitzerland.ch/?p=1514
                 gesunden und fair produzierten              6 BFS-Haushaltsbudget-Statistiken von 2016 mit
                                                             Daten bis 2014
                 Nahrungsmitteln erhalten, ohne dass
                 dabei die Arbeitslast von Frauen weiter-    7 Luzerner Zeitung vom 8. Januar 2019: «Zu wenig
                                                             Geld für ein Sandwich»; https://www.luzernerzeitung.ch/
                 wächst. Dies könnte durch qualitativ        schweiz/zu-wenig-geld-fur-ein-sandwich-ld.1083636
                 hochwertige schulergänzende Angebote,       8 BZ- Artikel vom 8.12.2018 und http://www.statistik.
                 gezielte Unterstützung für Haushalte mit    bs.ch/zahlen/faltblaetter/gesundheit.html
                 geringem Einkommen, sowie angepasste        9 MenuCH-Bericht 2017, Seite 34
                 Leistungen der Sozialversicherungen für     10 Gfs Hintergrundbericht 2. Welle der „SRG Trend-
                 unbezahlte Care-Arbeit geschehen;           umfragen“ zur Volksabstimmung vom 23.9. 2018
                                                             11 20 Minuten vom 29.8.2018: https://www.20min.ch/
                                                             schweiz/news/story/Fair-Food-Initiative-ueberzeugt-nur-
              Damit könnte eine breite gesellschaftliche     die-Frauen-24053022
              Diskussion über die Zusammenhänge              12 Gfs Hintergrundbericht 2. Welle der „SRG Trend-
              innerhalb des Schweizer Ernährungssystems      umfragen“ zur Volksabstimmung vom 23.9. 2018
              lanciert werden, in der auch die Sorge um      13 Tagesanzeiger vom 25.9.2018: https://www.tages-
              Mensch und Umwelt ein Anliegen ist und die,    anzeiger.ch/schweiz/standard/deutlich-mehr-jastimmen-
                                                             von-frauen-und-juengeren-bei-den-agrarinitiativen/
              gendergerecht, neue Arten von politischen      story/31065837
              und wirtschaftlichen Ansätzen hervorbringt.    14 http://www.voto.swiss/wp-content/uploads/2018/11/
                                                             VOTO_Bericht_23.09.2018_DE.pdf

                                                                                              Foto rechte Seite: Tina
                                                                                                Goethe, Brot für Alle

                                                                Essen. Macht. Arbeit. | WIDE
17

                             MACHT.

WIDE | Feministische Blicke auf Fairfood Ideen
18     M A C H T.

HANDEL JA – ABER WIE?
VON WELCHEM HANDEL PROFITIEREN KLEINBAUERN-FAMILIEN
IN AFRIKA? INWIEWEIT SIND KLEINBÄUER*INNEN IN AFRIKA
VON INTERNATIONALEN HANDELSABKOMMEN BETROFFEN?

      Gespräch mit Nyagoy Nyong’o, Elizabeth Mpofu, Marie Crescence Ngobo                                 

Marie Crescence Ngobo ist Geschäfts-   Nyagoy Nyong’o ist Generalsekretärin     E lizabeth M pofu ist General-
führerin des Unternehmens Grenier,     von​ Fairtrade Africa.                   koordinatorin von La Via Campesina.
Koordinatorin des Netzwerks für        Fairtrade Africa ist ein Zusammen-       La Via Campesina ist eine inter-
nachhaltige Entwicklung (RADD) und     schluss aller Fairtrade-zertifizierten   nationale Bewegung, die Millionen
Vorsitzende des Verwaltungsrates       Produzent*innenorganisationen in         von Bäuer*innen zusammenbringt
von COSECAM. Sie lebt und arbeitet     Afrika. Die Organisation arbeitet mit    und sich für Ernährungssouveränität
in Kamerun.                            Produzent*innen, Unternehmen,            als Mittel für soziale Gerechtigkeit
Grenier ist ein Unternehmen auf dem    der Zivilgesellschaft und den            und Würde einsetzt. Sie lebt und
Gebiet der Trocknung von Früchten      Regierungen, um die Interessen           arbeitet in Zimbabwe.
und Gemüse. Es arbeitet in einem       der Bäuer*innen sowie der Arbeit-
Gebiet mit 30000 Einwohnern,           nehmenden zu wahren.
davon 80% Bäuer*innen mit sehr
kleinen Landwirtschaftsbetrieben;
COSECAM vereint etwa 15
von Frauen geführte Agrar- und
Ernährungsunternehmen; RADD
schult und unterstützt Frauen-
gruppen bei der Verarbeitung und
Vermarktung lokaler Produkte in
verschiedenen Ländern Afrikas. Seit
einigen Jahren engagiert sich RADD
vermehrt auch für den Kampf von
Frauen um ihre Rechte an Land und
körperlicher Unversehrtheit.

                                                                           Essen. Macht. Arbeit. | WIDE
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