FLUCHT UND MIGRATION Wie die Poli k Fluchtursachen bekämp Migra onsmanagement mit Afrika Menschenrechte für alle! - Verband Entwicklungspolitik ...
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VERBAND ENTWICKLUNGSPOLITIK NIEDERSACHSEN 2 | 2018 EINE WELT IN NIEDERSACHSEN FLUCHT UND MIGRATION Wie die Poli�k Fluchtursachen bekämp� Migra�onsmanagement mit Afrika Menschenrechte für alle!
Liebe Leser*innen, bereits 2016 befassten wir uns der neuen Landesregierung bislang nicht fortgesetzt in einer Ausgabe der VEN-Posi- wurde, hoffen wir, dass die Diskussion um Fluchtursa- tionen mit dem Thema Flucht. chen auch in Niedersachsen weitergeführt wird. Ge- Was hat sich seitdem getan? Ei- nauso vielschichtig wie Fluchtursachen sind die Auswir- nerseits rückte im politischen kungen unserer Politik, unserer Konsumgewohnheiten Diskurs die notwendige Bekämp- und unserer Produktionsweisen auf den Globalen Sü- fung von Fluchtursachen in den den. Dies stärker in den Blick zu nehmen, ja eine breite Blick. Mehr noch, sie wurde zum gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, das ist die Argument für eine Erhöhung der Chance, die in der medialen Aufmerksamkeit für das Ausgaben für die Entwicklungs- Thema liegt. Auch wenn es in der zunehmenden Polari- zusammenarbeit und Grundla- sierung der Gesellschaft nicht leichter wird, für ein soli- ge für neue Kooperationen, z. B. darisches Miteinander der Menschen in der Einen Welt mit afrikanischen Ländern. Ande- einzustehen, mit dieser Positionen möchten wir Sie ge- rerseits werden mit europäischen nau darin bestärken. Entwicklungsgeldern autoritäre Regime beim Aufbau von Grenz- Wie wichtig Ihr Engagement ist, zeigt sich gerade in die- kontrollen unterstützt. Die Seenotrettung im Mittelmeer sen Tagen. Die Diskussionen um den jetzt in Marrakesh wird zunehmend kriminalisiert. Gleichzeitig ist die öf- verabschiedeten UN-Migrationspakt verdeutlichen, wie fentliche Debatte über Migration und Flucht von perma- wenig selbstverständlich es ist, dass Staaten sich in die nenten verbalen Grenzüberschreitungen und einer zu- Pflicht nehmen lassen, in Fragen der Migration stär- nehmenden Verrohung geprägt. ker zusammenzuarbeiten und die Menschenrechte von Migrant*innen zu schützen. Die USA und mehrere eu- Aber hat sich im Sinne der Fluchtursachenbekämpfung ropäische Länder werden den Pakt vorerst nicht unter- nun tatsächlich die Politik verändert? In der Handels- schreibe. In Belgien entzweite sich sogar die Regierungs- oder Klimapolitik zum Beispiel? Geht es wirklich um die koalition über diese Frage, und auch in Deutschland Bekämpfung von Ursachen von Flucht und Migration schlugen die Wellen der politischen Debatte und der Be- oder vielmehr um das Aufhalten von Migrant*innen und richterstattung hoch. Umso wichtiger, dass wir deutlich Flüchtenden vor den Toren Europas? Mit dieser Ausga- machen: Menschenrechte müssen für alle gelten! be der VEN-Positionen wollen wir diesen Fragen nach- gehen. Die Beiträge der unterschiedlichen Autor*innen Eine anregende Lektüre wünschen werfen Schlaglichter auf die aktuelle, politisch brisante Diskussion. Unsere eigenen Positionen als VEN sowie die Antje Edler und Muriel Hermann beispielhaften Aktivitäten der entwicklungspolitischen Gruppen stellen den Bezug zu uns in Niedersachsen her. Auch wenn die Landesmittel für die Bekämpfung von Fluchtursachen 2019 deutlich zurückgefahren werden, und der Runde Tisch „Fluchtursachen bekämpfen“ von VERBAND ENTWICKLUNGSPOLITIK NIEDERSACHSEN E.V. Herausgeber Verband Entwicklungspolitik Niedersachsen e.V., Hausmannstr. 9 - 10, 30159 Hannover, Tel. 0511-391650, info@ven-nds.de, www.ven-nds.de Redaktionsteam Nico Beckert, Hilke Brandy, Antje Edler, Nina Gawol, Noreen Hirschfeld, Inna Jungmann, Marion Rolle Bilder JANUN e.V., JANUN Lüneburg e.V., Eine Welt-Promotor*innen-Pro- gramm der Region Lüneburg, Zeichnung Markus Wende (Titel), djvstock/vectorstock.com (4), A. Lemke (6), Serge Pa- lasie (8), klavapuk/vectorstock.com (10), Chris Grodotzki/Sea-Watch.org (12), L. Hoffmann/Sea-Watch.org (Porträt , 12), commons.wikimedia.org (18), Peer Leader (18), Seebrücke Hannover (19), Citizen Diplomats for Syria (19), Ibis e.V. (19) Grafik 24zwoelf.de Druck auf Recyclingpapier Auflage 750 Hannover Dezember 2018 Gefördert durch das Land Niedersachsen < Titelbild: Wimmelbild Klima+Flucht
DARUM GEHT ES INTERVIEW ÜBER SEENOTRETTUNG 4 Solidarität statt Konkurrenz: 12 Was richtig und was wichtig ist ... Wider die Politik mit der Angst Pia Klemp, SeaWatch Thomas Gebauer, medico international GEHT DIE RECHNUNG AUF? „FLUCHTURSACHENBEKÄMPFUNG“ IN PRAXIS? 16 ‚Fluchtursachenbekämpfung‘ 6 Gelder, Projekte und Auswirkungen mit Entwicklungszusammenarbeit europäischer Migrationspolitik nach 2015 Dr. Benjamin Schraven, Deutsches Institut Dr. Inken Bartels, Universität Osnabrück für Entwicklungspolitik VEN POSITION HERAUS AUS DEM SCHATTEN 17 Sturmfestes Niedersachsen? 8 Koloniale Vorgeschichte aktueller Flucht und Migrationsbewegungen am Beispiel Afrikas ENGAGEMENT! Serge Palasie, Eine WeltNetz NRW 18 70 Jahre! Menschenrechte für alle! PARTNERSCHAFT AUF AUGENHÖHE? 10 Afrika endlich ernst nehmen! Prof. Dr. Robert Kappel, Nico Beckert
d DARUM GEHT ES Solidarität statt Konkurrenz: Wider die Politik mit der Angst Thomas Gebauer, medico international Zum bedauerlichen Zustand gegenwärtiger Politik gehört, dass sie immer wieder erstaunt auf Krisen reagiert, die sie zuvor selbst befördert hat. Exemplarisch kommt dies in der sogenannten „Flüchtlings- krise“ zum Ausdruck, die keineswegs die „Mutter aller Probleme“ ist, sondern die Folge einer Politik, an der auch Leute wie Horst Seehofer maßgeblichen Anteil haben. Wie der Klimawandel, die anhaltende Finanzkrise, der Hunger und die vielen kriegerischen Konflikte, die heute allerorten für Verheerungen sorgen, ist auch die weltweite Migration nicht vom Himmel gefallen. Die vielen Millionen Menschen, die sich auf den Weg ge- jährlich zusammenkommen, eingestehen musste, dass die macht haben, verweisen auf eine Krise, die viel umfassender soziale Verunsicherung von Menschen zum Weltrisiko Num- ist und viel tiefer reicht. Sie verweisen auf globale Verhält- mer 1 geworden ist. nisse, in denen die Belange von Mensch und Natur nichts gel- ten, wenn sie in den Konflikt mit partikularen ökonomischen Soziale Verunsicherung – übersetzt heißt das ein Leben in und machtpolitischen Interessen geraten. zunehmender Bedeutungs- und Perspektivlosigkeit, be- droht von den Folgen einer umweltschädigen Produktions- Im Zuge der Einbeziehung noch des letzten Winkels der Erde weise, die auch hierzulande nicht mehr zu leugnen sind, be- in einen kapitalistisch geprägten Weltmarkt – wir nennen das droht von einer rasant voranschreitenden technologischen mitunter Globalisierung –, ist die Welt zu einem höchst unsi- Entwicklung, die den Menschen kaum noch nutzt, sie aber cheren Ort geworden. Die Lage ist heute so prekär, dass in- zunehmend nutzlos macht, bedroht auch von Sozialabbau, zwischen selbst das Davoser Weltwirtschaftsforum, in dem der zu immer offensichtlicher werdenden gesellschaftlichen die Macher der marktradikalen Umgestaltung der Welt all- Auslösungserscheinungen führt. 4
Für einen Großteil der Weltbevölkerung brachte die globale die hier Schutz gesucht haben. 150 Mio. Euro stehen bis Entfesselung des Kapitalismus nicht ein Mehr an Wohlstand 2020 für ein Programm zur Verfügung, das sich „Perspektive und Freiheit, sondern Marginalisierung und Vogelfreiheit. Heimat“ nennt. „Heimat“ an allen Fronten. Auch in den privilegierten Ländern des Nordens macht sich Unbehagen breit, auch hier wächst die Verunsicherung und In den Augen der Leute im Süden ist der Begriff Fluchtursa- mit ihr das Bedürfnis nach Sicherheit. chenbekämpfung heute derart kontaminiert, dass wir lieber auf ihn verzichten und von dem sprechen sollten, was die Und aus Ängsten lässt sich bekanntlich Kapital schlagen. Flucht von Menschen antreibt: die Zerstörung von Lebens- Ängste haben nicht nur der Sicherheitsindustrie einen Boom grundlagen im Zuge der voranschreitenden ökonomischen beschert, sondern treiben und machtpolitischen Durch- die Leute auch in die Hän- dringung aller Sphären des de von Politiker*innen, Ohne einen Bruch mit den Idealen der Lebens. Um dieser Entwick- die Lösungen durch wehr- lung entschlossen entgegen- hafte Abschottung und kapitalistischen Lebensform wird die treten zu können, bedarf es rückwärtsgewandte Nati- einer alternativen Idee von onalismen versprechen. Verwirklichung menschenwürdiger Gesellschaftlichkeit. So wich- Sündenböcke, die für alle Lebensbedingungen nicht gelingen. tig es ist, Menschen auf der Probleme der Welt verant- Flucht beizustehen, ihnen wortlich sein sollen, sind Menschlichkeit, Mitgefühl und Soli Schutz und Hilfestellungen schnell präsentiert. Die gegen Ausgrenzung und ras- Fremden, die Flüchtlinge, darität vertragen sich nicht mit den sistische Übergriffe zu geben, die Obdachlosen und So- herrschenden Maßgaben von Verwert so notwendig ist die Entfal- zialhilfeempfänger*innen. tung eines neuen Internatio- Mit dem Tritt nach unten barkeit, Konkurrenz und Sicherheit. nalismus, der mit einer sozial lässt sich die am eigenen und ökologisch gerechten Ge- Leib erfahrene Angst wie- staltung der globalen Verhält- der in Stärke verwandeln. nisse Ernst macht. Dabei wird es auch notwendig sein, jene imperiale Lebensweise anzu- Der Verlust an Menschlichkeit, der mit Ausgrenzung und ras- gehen, die wir im Norden auf Kosten der Menschen im Sü- sistischen Überhöhungen einhergeht, aber hat gravierende den führen. Folgen. Die Verrohung der Sitten, die Aufkündigung des Re- spekts gegenüber dem Anderssein der Anderen, die Gewöh- Ohne einen Bruch mit den Idealen der kapitalistischen Le- nung daran, dass die Würde der Menschen offenbar doch bensform wird die Verwirklichung menschenwürdiger Le- angetastet werden kann – all das sichert nicht das friedliche bensbedingungen nicht gelingen. Menschlichkeit, Mitgefühl Zusammenleben von Menschen, sondern nur das bestehen- und Solidarität vertragen sich nicht mit den herrschenden de Unrecht. Die Mauern, die nach außen gezogen werden, Maßgaben von Verwertbarkeit, Konkurrenz und Sicherheit. wirken auch nach innen. Die vermeintliche Sicherheit führt Einer Sicherheit, die immer nur eine partikulare und andere geradewegs in den Abgrund. Der Traum absoluter Sicher- ausschließende Sicherheit ist. heit, so der in Südafrika lebende Philosoph Achille Mbem- be, meint nicht nur Überwachung, sondern auch Säuberung. Thomas Gebauer ist seit 1996 Geschäfts- Unter solchen Umständen verwundert es nicht, wenn die an führer von medico international. Zu seinen sich gute Idee der Bekämpfung von Fluchtursachen ins Gere- Arbeitsschwerpunkten zählen Fragen der de gekommen ist. Immer deutlicher wird, dass oftmals nicht internationalen Friedens- und Sicherheits- die Bekämpfung der Ursachen auf der politischen Tagesord- politik und die sozialen Bedingungen nung steht, sondern die Bekämpfung der Flucht, genauer: globaler Gesundheit. der Flüchtlinge. Auch das Entwicklungshilfeministerium en- gagiert sich inzwischen in der Rückführung von Menschen, HILFE? HILFE! WEGE AUS DER GLOBALEN KRISE Thomas Gebauer und der Schriftsteller Ilija Trojanow beleuchten in dem Buch verschiedene Ansätze von Hilfe u.a. in Pakistan, Kenia, Sierra Leone und Guatemala. Sie zeigen, was funktioniert und was nicht: Von der Wohltätigkeit der Superreichen, über staatliche Un- terstützungsprojekte bis hin zu beeindruckenden lokalen Initiativen. Erschienen im Fischer-Verlag, 256 S., 15 € 5
Die Plakatkampagne „Dein Land. Deine Zukunft. Jetzt“ des BMI richtet sich an Personen, die möglicherweise ausreisepflichtig sind. Sie sollen zu einer freiwilligen Rückkehr motiviert werden. Das Budget der Kampagne beträgt 500.000 Euro. Hier ist auch eine Gegenkampagne zu sehen. „FLUCHTURSACHENBEKÄMPFUNG“ IN PRAXIS? Gelder, Projekte und Auswirkungen europäischer Migrationspolitik nach 2015 „Fluchtursachenbekämpfung“ ist in den letzten Jahren zum lärer Migration – denn um diese geht es bei der sogenannten Schlagwort europäischer Migrations- und Flüchtlingspolitik Fluchtursachenbekämpfung meistens – konkret bekämpft geworden. Im Sommer 2015 rückten Flucht- und Migrations- werden? Und welche Auswirkungen haben die unzähligen bewegungen nach Europa in den Mittelpunkt europäischer neuen Gelder und Projekte mit diesem Ziel auf Migrations- Politik und Öffentlichkeit – nicht zuletzt wegen steigender To- prozesse in den Transit- und Herkunftsstaaten? deszahlen bei den Versuchen europäisches Territorium zu er- reichen. In der Folge suchten die EU und ihre Mitgliedsstaaten nach neuen Mitteln und Wegen diese zukünftig zu unterbin- Europa wirbt für migrationspolitische den. Die Kooperation mit Transit- und Herkunftsstaaten wur- Kooperationen de dabei als zentral erachtet, um die Ursachen von Flucht und Im November 2015 lud der Europäische Rat europäische und irregulärer Migration außerhalb Europas zu bekämpfen. Der afrikanische Staatschefs zu einem Migrationsgipfel nach La afrikanische Kontinent rückte so zunehmend in den Fokus mi- Valletta auf Malta ein, um sie für eine bessere migrations- grationspolitischer Externalisierungsbestrebungen der EU. politische Kooperation zu gewinnen. Nach zähen Verhand- lungen einigten sich die Staatschefs am Ende auf fünf Ziele Doch welche Folgen hatte der sich schnell verbreitende und zukünftiger Zusammenarbeit: Darunter die Bekämpfung der vielstimmige Diskurs der Fluchtursachenbekämpfung auf die Ursachen von irregulärer Migration und Vertreibung; die Be- politische Praxis der EU? Wie sollen die Ursachen von irregu- kämpfung irregulärer Migration, der sogenannten Schleu- 6
sung von Migrant*innen und des Menschenhandels; die Verbes- serung von Schutz und humanitärer Hilfe für Menschen auf der Die fünf häufigsten Rückkehrländer 2017 Flucht; die Zusammenarbeit bei der Rückführung und Rücknahme und schließlich die Förderung legaler Migrationsmöglichkeiten. 29.522 Personen reisten 2017 aus Deutschland aus. Datenquelle: IOM, REAG/GARP Die EU richtete im Anschluss ein neues Finanzierungsinstrument ein, den Nothilfe Treuhandfonds für Afrika (EUTF), mit dessen Hilfe die verabschiedeten Ziele umgesetzt werden sollten. Die bis Ende 2018 zugesagten Mittel in Höhe von 4,1 Mrd. Euro stammen da- 6.936 Albanien bei überwiegend aus entwicklungspolitischen Fonds des EU Haus- halts. Ein Großteil dieser Gelder geht an Internationale Organisa- 2.938 Mazedonien tionen wie die GIZ und europäische Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Innerhalb von fünf Jahren sollen sie laut EU Kommission diverse Projekte zur „Förderung von 2.922 Serbien wirtschaftlichen Möglichkeiten, Chancengleichheit, Sicherheit und Entwicklung“ durchführen. Ziel ist es somit, die „Ursachen von De- stabilisierung, Zwangsvertreibung und irregulärer Migration“ in 28 2.866 Irak afrikanischen Partnerländern, die als „stark von Migration betrof- fen“ gelten, zu bekämpfen. Mit diesem neuen Finanzierungsinstru- ment stellt die EU Gelder sowie Akteure aus der EZ, die ursprüng- 1.636 Russische Föderation lich die Reduzierung von Armut zum Ziel hatten, in den Dienst aktueller migrationspolitischer Externalisierung. Bei näherer Betrachtung der detaillierten Projektbeschreibungen auf der offiziellen EUTF-Website wird deutlich, was nach der Hälfte igrationspolitik auf die Verhinderung von Migration lässt damit M der Laufzeit konkret mit den 4,1 Mrd. Euro gefördert wird: Über die außer Acht, dass Migration in vielen afrikanischen Ländern eine Hälfte der Gelder wird für Projekte ausgegeben, die die Bekämp- wichtige ökonomische Strategie im Umgang mit Armut ist. So wer- fung von Ursachen irregulärer Migration und Vertreibung zum Ziel den von den 4,1 Mrd. Euro der EUTF Gelder lediglich ein Prozent haben. Außerdem werden Projekte, die irreguläre Migration, die für die Förderung von legaler Migration ausgegeben. „Schleusung“ von Migrant*innen und Menschenhandel bekämp- fen (20%) und den Schutz und humanitäre Hilfe für Menschen auf der Flucht verbessern sollen (16%) gefördert. Knapp ein Zehntel EU-Politik behindert Bestrebungen wird für die Verbesserung der Zusammenarbeit bei der Rückfüh- regionaler Freizügigkeit rung von Migrant*innen aus Europa bereitgestellt. Die Projekte in Die aktuellen europäischen Versuche grenzüberschreitende Migra- diesem Bereich sollen Migrant*innen aus Transitstaaten wie Lib- tion bereits in den Herkunftsregionen zu unterbinden, verkennen yen oder Niger zurückführen und sie bei der Reintegration in ihren die Vielfalt, Tradition und Bedeutung innerafrikanischer Migrati- Herkunftsländern unterstützen. onsprozesse, die sich, wie etwa saisonale Migration in der Land- wirtschaft, Handelsreisen und Bildungsmobilität in Westafrika, sel- ten an die aus der Kolonialzeit stammenden Staatsgrenzen halten. Unterstützung wird künftig an Rücknahme Während etwa zwei Drittel afrikanischer Migrationsbewegungen bereitschaft gekoppelt innerhalb des Kontinents stattfinden, fokussiert die europäische Neuerdings wird zudem versucht, in Kampagnen über die Gefahren Migrationspolitik ihre Gelder und Projekte auf die Routen nach Eu- irregulärer Migration aufzuklären. Auch der Aufbau staatlicher Un- ropa. Sie erschwert mit ihrer auf Restriktionen ausgerichteten För- terstützungsstrukturen in diesem Bereich ist in vielen Projekten derung den grenzüberschreitenden Verkehr und Austausch zwi- vorgesehen. Die afrikanischen Staaten haben traditionell wenig schen afrikanischen Staaten auch dort, wo sich diese eigentlich für Interesse gezeigt, ihre Staatsbürger*innen aus Europa wiederauf- regionale Freizügigkeit ihrer Staatsbürger*innen einsetzen wie in zunehmen und entzogen sich trotz des jahrelangen Drucks recht der westafrikanischen ECOWAS Region. So zeigt die konkrete Um- erfolgreich europäischen Rückführungsbestrebungen. Um dies zu setzung der aktuellen europäischen Migrationspolitik durch die ändern, wollen die EU und ihre Mitgliedsstaaten, neben den 300 Förderung des EUTFs, wie im Namen der Fluchtursachenbekämp- Mio. Euro für Rückführungsprojekte aus dem EUTF, zukünftig auch fung in erster Linie Migration von Afrika nach Europa verhindert ihre (finanzielle) Unterstützung für afrikanische Staaten in anderen werden soll. Die Interessen afrikanischer Staaten und Bevölke- Politikbereichen an die Kooperation bei der Rücknahme von Mi- rungen sowie die Auswirkungen auf innerafrikanische Mobilitäts- grant*innen aus Europa koppeln. und Entwicklungsprozesse werden dabei kaum berücksichtigt. Vertreter*innen afrikanischer Staaten versprechen sich von der Kooperation mit der EU und europäischen Staaten vor allem die Dr. Inken Bartels ist Wissenschaftliche Mit- Verbesserung legaler Migrationsmöglichkeiten, nicht zuletzt we- arbeiterin am Institut für Migrationsfor- gen der stetig wachsenden Bedeutung von Rücküberweisungen schung und Interkulturelle Studien (IMIS) ihrer Staatsbürger*innen aus Europa. Seit Mitte der 1990er Jahre der Universität Osnabrück. Aktuell arbeitet ist die Gesamtheit der Gelder, die weltweit von Migrant*innen in sie in dem Projekt „ExiTT: Exit – Transit – ihre Herkunftsländer zurücküberwiesen wird, laut Weltbank höher Transformation“ zu Migrationsprozessen als die Gesamtsumme an Entwicklungshilfegeldern. In kleinen Län- in und aus Westafrika sowie im Fachgebiet dern wie Gambia und Liberia machen Rücküberweisungen heute Migration und Gesellschaft. 20 bis 30 Prozent des BIPs aus. Der aktuelle Fokus europäischer 7
HERAUS AUS DEM SCHATTEN Koloniale Vorgeschichte aktueller Flucht und Migrationsbewegungen am Beispiel Afrikas Serge Palasie, Eine WeltNetz NRW Kaum ein Tag vergeht seit 2015 – dem Jahr der sogenannten meinen Medien und Politik, wenn sie von Fluchtursachen „Flüchtlingskrise“ – an dem nicht über das Thema Flucht in sprechen? Die Genfer Flüchtlingskonvention gibt einen Medien und Politik gesprochen wird. Selbst das Wiederer- Anhaltspunkt, wenn es medial darum geht, wer eine Bleibe- starken rechter Parteien in Europa wäre ohne die steigenden perspektive hat und wer nicht. Die in ihr anerkannten, eher Zahlen von Migrant*innen und Geflüchteten so kaum denk- individuellen Fluchtgründe – etwa Verfolgung aufgrund von bar. Auch die etablierten Parteien befassen sich mit dem The- politischer oder religiöser Überzeugung oder wegen des Ge- ma: Neben der effektiveren Sicherung der EU-Außengrenzen schlechts oder der sexuellen Orientierung – garantieren the- geht es darum, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Was oretisch ein Recht auf Schutz. Geschichte und Gegenwart auf einem Bild: Fischerboot vor der ehemaligen Sklaveninsel Gorée (Senegal). Immer öfter bedrohen transnationale Fischerei-Konzerne die Existenz lokaler Fischer. Einige „satteln“ notge- drungen um und werden „Schlepper“. Copyright: Serge Palasie 8
Für Geflüchtete gilt, die aus (Bürger-)Kriegsgebieten Richtung EU Elite vor Ort profitierte bzw. profitiert. Der geschaffene Rassismus flüchten. De facto wurde die Konvention aber zunehmend nach rechtfertigte die koloniale Einverleibung Afrikas. Unter dem Vor- Ende des Ost-Westkonflikts ausgehöhlt. Die ganzen Dublin-Verfah- wand der Zivilisierung wurde Afrika ökonomisch in den Weltmarkt ren, die vorsehen, dass Geflüchtete dort Asyl beantragen, wo sie eingespannt – auch als Absatzmarkt für industrielle Produkte. erstmals europäischen Boden betreten haben, machen es selbst dieser vergleichsweise kleinen Gruppe der nach Europa migrie- Aber das eingefädelte Muster endete nicht mit dem Ende der Ko- renden oder fliehenden Menschen schwer. Dass Flüchtlingsboote lonialzeit. Zum Teil wurde es erst nach dem Ende der Kolonialzeit nicht erst das Mittelmeer verlassen, um dann über die Atlantik- richtig lukrativ – auch, weil die Kosten für Verwaltung, Infrastruk- küste Richtung Nordsee zu gelangen und etwa die Elbe stromauf- tur etc., die eine offizielle Kolonialmacht hatte, weitestgehend wärts Hamburg ansteuern, leuchtet den meisten ein. wegfielen. EU-Zollpolitiken, die nach wie vor die Einfuhr von unver- arbeiteten Rohstoffen begünstigen, während sie weiterverarbei- Die größte Gruppe der Migrant*innen und Geflüchteten hat in der tete Produkte mit hohen Einfuhrzöllen belegen, zementieren die Regel keine Bleibeperspektive. Ihr wird quasi pauschal unterstellt, Arbeitsteilung in vielen Fällen und be- oder verhindern weiterver- dass sie keine wirklichen Gründe habe, ihre Heimat zu verlassen. arbeitende Industrien in Afrika. So entstehen keine Perspektiven. Despektierlich werden solche Migrant*innen oft als Wirtschafts- flüchtlinge bezeichnet. Ihre Migration – so die Unterstellung weiter Doch es gibt begrüßenswerte Ansätze der Entwicklungspolitik, – sei nichts anderes als der Versuch, einer hausgemachten Notla- wie die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs), die Ungleichheit inner- ge zu entfliehen und von unseren Errungenschaften zu profitieren. halb und zwischen Staaten verringern wollen. Auch die Weltde- Zu diesen Errungenschaften gehören unter anderem unser hoher kade für Menschen afrikanischer Abstammung (2015-24) will die Lebensstandard sowie der Sozialstaat. Neben diesen Geflüchteten historische bedingte globale Schieflage überwinden. Eine zu ge- haben auch die oft als Klimaflüchtlinge bezeichneten Menschen ringe finanzielle Ausstattung und eine vielfach fehlende Verbind- kaum eine Bleibeperspektive. Die Auswirkungen des Klimawandels lichkeit erschweren aber den Weg zum Erfolg. Gleichzeitig werden sind bis heute kein anerkannter Fluchtgrund. Damit kein falscher Freihandelsabkommen verhandelt, die historische bedingte Schie- Eindruck entsteht: Dies soll kein Appell für ein Bleiberecht für alle flagen eher ausbauen als überwinden helfen – so die Wirtschafts- werden. Vielmehr sollen hier Zusammenhänge dargestellt werden, partnerschaftsabkommen (WPA, engl. EPA), in denen die EU den auch weil die zunehmend vom rechten Parteienspektrum getrie- Freihandel mit Staaten in Afrika, der Karibik und im Pazifik wei- bene Politik hier viel zu wenig tut. ter ausbauen will. So sollen etwa Einfuhrzölle für europäische Er- zeugnisse weiter gesenkt werden. Dies verhindert, dass Industrien Aber wo müssen wir beginnen, um Fluchtursachen wirklich voll- entstehen oder kann entstehende Industrien empfindlich treffen. ständig zu erfassen? Um zu verstehen, warum es eine derma- Perspektivlosigkeit – also Fluchtursachen – bekämpft die Politik so ßen deutliche Perspektivenungleichheit in der Welt gibt, reicht nicht. Wenn wir wollen, dass Menschen nicht fliehen müssen, dür- es nicht, dass wir 20 bis 30 Jahre zurückgehen. Wir müssen uns fen wir die historischen Voraussetzungen und Kontinuitäten nicht die Kolonialgeschichte anschauen. Denn damals schufen auch länger ignorieren. Wenn wir despektierlich von Wirtschaftsflücht- wir uns unseren „Platz an der Sonne“ (den Ausdruck prägte Ber- lingen sprechen, die „leider“ keine Bleibeperspektive haben, dann nard von Bülow 1897, damals im Auswärtigen Amt). Der spätere müssen wir selbst ein wenig aus der Sonne raus. Unser Platz an der Reichskanzler sagte aber auch, dass man dabei „niemand in den Sonne wäre dann nicht weg. Aber diejenigen im Schatten hätten Schatten stellen“ wolle. Wen meinte er damit? Wohl nicht die da- endlich wieder mehr Sonnenlicht. Machbar wäre das. Aber sind maligen kolonialen Untertanen. Es ist davon auszugehen, dass wir – also die Gesellschaft als Ganzes – dazu wirklich bereit? nicht andere Kolonialmächte düpiert werden sollen. Diese ande- ren Kolonialmächte – vor allem Großbritannien, Frankreich oder aber auch die Niederlande, Portugal und Spanien – schufen lan- Serge Palasie ist Eine Welt-Promotor für Flucht, ge, bevor sich Deutschland nach dem gewonnenen Krieg gegen Migration und Entwicklung in Düsseldorf. In sei- Frankreich 1870/71 zur Großmacht aufschwang, eine transatlan- ner Arbeit befasst er sich mit den Themen Flucht- tische Wirtschaftsordnung, die ohne die größte Zwangsmigration ursachen, historische Hintergründe und Politik- der Geschichte gar nicht möglich geworden wäre. Im Rahmen die- kohärenz. U.a. kuratierte er die Ausstellung ses transatlantischen Versklavungssystems wurde eine beispiel- „Schwarz ist der Ozean“. lose Umverteilung initiiert, deren Folgen bis heute relevant sind. Die Gewinne aus diesem System waren immens und schoben auch die kapitalintensive Industrialisierung an. Über die Jahrhunderte dieses Versklavungssystems entstand auch ein ökonomisch moti- vierter Rassismus, der die Idee von ethnisch homogenen Nationen AUSSTELLUNGSTIPP ermöglichte. Die Industrialisierung schuf eine „globale Arbeitsteilung“, die im Kern bis heute besteht. Insbesondere Afrika war und ist betroffen. Der Reichtum an agrarischen und mineralischen Rohstoffen sorgte dafür, dass Afrika im Fokus externer Mächte blieb. Es entstand auf der einen Seite eine kapitalintensive, zunehmend diversifizierte weiterverarbeitende Industrie mit einer hohen Wertschöpfung. Auf der anderen Seite standen die Lieferanten nahezu vollstän- dig unverarbeiteter Rohstoffe. Dass dieses System relativ einfach Ausstellung: „Schwarz ist der Ozean – Was haben volle etabliert werden konnte, ist ohne die Jahrhunderte des transat- Flüchtlingsboote vor Europas Küsten mit der Geschichte lantischen Versklavungssystems nicht erklärbar: In dem Maße, in von Sklavenhandel und Kolonialismus zu tun.“ Weitere Infos dem die entstehende westliche Welt über zusätzliche Kapazitäten www.eine-welt-netz-nrw.de/ausstellungen/flucht verfügte, in dem Maße gingen sie Afrika verloren. Nur eine kleine 9
PARTNERSCHAFT AUF AUGENHÖHE? Afrika endlich ernst nehmen! Prof. Dr. Robert Kappel, Nico Beckert Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Nigerias Präsident Wir wollen an dieser Stelle für einen Paradigmenwechseln in Muhammadu Buhari schaut auf seinem Europabesuch für der deutschen Afrikapolitik werben: Weg vom Helfermodus 24 Stunden in Deutschland vorbei. Er diskutiert hier mit Bun- und der Vorstellung wir wüssten im Globalen Norden, wel- deskanzlerin Angela Merkel seine neusten Pläne gegen den cher exakter „Entwicklungszutaten“ es bedarf - hin zur Schaf- Dieselskandal und die zunehmende Kinderarmut. Zwei Mo- fung eines ermöglichenden internationalen Umfelds. Denn nate später stellt Nigerias Wirtschaftsminister seine Strate- die Erkenntnis von Entwicklungsexpert*innen ist ganz ein- gien zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa deutig: Entwicklung muss von innen vorangetrieben werden. vor. Die deutsche Politik würde höflich zuhören, aber beto- Sie kann von außen lediglich Unterstützung erfahren. Bei- nen, dass deutsche Politik in Deutschland gemacht wird. spielsweise sollte sich die deutsche Politik in den Bereichen Entwicklung, Handel und Finanzen darauf konzentrieren, auf Seit dem sogenannten Flüchtlingssommer von 2015 über- internationaler Ebene einen Rahmen zu setzen, der den afri- bieten sich deutsche Ministerien mit Afrikaplänen. Aus dem kanischen Staaten die notwendigen politischen Handlungs- BMZ kam der Marshallplan mit Afrika, aus dem Finanzmini- spielräume für ihre wirtschaftliche und infolge dessen auch sterium die Compacts with Africa, aus dem Wirtschaftsmi- soziale Entwicklung ermöglicht. nisterium die Initiative Pro! Africa und die Afrikastrategie des Bildungsministeriums wurde kürzlich erneuert. Zusätz- lich verabschiedete die Bundesregierung ein Eckpunktepa- Fairer Handel pier zur "Wirtschaftliche[n] Entwicklung Afrikas". Das Über- Die überfällige Reform der Handelspolitik der Europäischen winden von Fluchtursachen ist dabei zu einem Mantra in der Union erfordert die Aussetzung der sogenannten Wirt- deutschen Afrikapolitik geworden. schaftspartnerschaftsabkommen (WPA, engl. EPA) ) – Frei- 10
handelsabkommen, die Europa seit mittlerweile 16 Jahren mit afri- Entwicklungsfinanzierung kanischen Staaten verhandelt. Derzeit ist lediglich das regionale Auch bei der Entwicklungsfinanzierung drehen sich die Debatten WPA mit (einigen) Staaten der SADC-Region (Entwicklungsgemein- viel zu häufig darum, wie wir von außen helfen können. Das Ziel, schaft des südlichen Afrikas) in Kraft. Zudem gibt es mehrere In- 0,7 Prozent des deutschen Bruttonationaleinkommens für die Ent- terim-WPAs mit Einzelstaaten, beispielsweise mit Ghana, der El- wicklungszusammenarbeit aufzuwenden ist löblich. Die Politik fenbeinküste, Kamerun und Simbabwe, die schon vorläufig in Kraft sollte jedoch auch das internationale Umfeld so gestalten, dass getreten sind. afrikanische Staaten ihre Einnahmen eigenständig erhöhen kön- nen. Beispielsweise verlieren afrikanische Staaten jährlich eine ge- Die WPAs garantieren den afrikanischen Vertragsstaaten zollfreien schätzte Summe zwischen 30 und 100 Milliarden Euro an poten- Zugang zum EU-Markt (obwohl viele afrikanische Staaten diesen ziellen Staatseinnahmen infolge von Steuerflucht. zollfreien Zugang schon haben), verlangen aber einen Zollabbau auch auf afrikanischer Seite. Durch die von der EU-Kommission Auf internationaler Ebene dürfte Deutschland nicht mehr bei der verlangte Marktöffnung drohen afrikanische Unternehmen und Bekämpfung der Steuerflucht bremsen. Vielmehr sollte sich die Kleinbäuer*innen und -bauern durch Importe noch weiter margi- deutsche Politik für eine Einbeziehung der Länder des Südens im nalisiert zu werden. Zudem werden regionale Märkte zerstört. Ge- Kampf gegen die Steuerflucht einsetzen – also einer Verlagerung lingt es der EU, einen Staat zur Ratifizierung eines WPAs zu überre- dieses Themas von der OECD hin zur UN. Auch auf nationaler Ebe- den, können EU-Produkte über dieses „Einfallstor“ auch zollfrei in ne könnte Deutschland endlich afrikanische Länder am Informati- die Nachbarstaaten innerhalb eines regionalen Wirtschaftsbünd- onsaustausch über Steuerdaten teilhaben lassen, statt die Steuer- nisses exportiert werden. Dadurch drohen auch dort günstige eu- behörden Afrikas weiter im Dunkeln tappen zu. lassen. ropäische Produkte die Absatzchancen für einheimische, teurere Produkte zu zerstören. Deutschland und Europa als fairer Akteure Afrikanische Staaten, Gewerkschaften und NRO lehnen die WPA gegenüber Afrika in ihrer jetzigen Form größtenteils ab. So kritisierte beispielswei- Der gegenwärtige öffentliche Diskurs zur Afrikakooperation ist se Tansanias Präsident John Magufuli 2017 die Abkommen als eine stark von Flucht und Migration bestimmt. Flucht und Migration „neue Form des Kolonialismus“. Aufgrund dieser Ablehnung hat die sind nur Symptome tieferliegender Probleme: Daher brauchen EU in den Verhandlungen um die WPAs Druckmittel angewendet. wir dringend einen Paradigmenwechsel in unserer Afrikapolitik. Sie drohte damit, den zollfreien Zugang zum europäischen Markt Wir müssen weg von kleinteiligen Afrikaplänen, die Entwicklung für afrikanische Produkte einzuschränken, was gravierende Aus- von außen vorantreiben wollen. Stattdessen sollten wir Afrikas wirkungen für afrikanische Industrien hätte. Kenia beispielsweise Agenden zur Industrialisierung und zur Entwicklung ernst nehmen. hat sich diesem Druck gebeugt, da es Angst um seine Schnittblu- Wir sollten lernen zu antizipieren, wohin die große Transformation men- und Bohnenexporte hatte. in Afrika geht, d.h. Regionalisierungs- sowie Industrialisierungsbe- mühungen und afrikanische Entwicklungspläne durch ein ermögli- Viele afrikanische Staaten fordern, um sich entwickeln und wett- chendes internationales Umfeld unterstützen. bewerbsfähige Industrien und Agrarwirtschaften aufbauen zu können, einen Außenschutz. Damit möchten sie beispielsweise Infrastrukturdefizite, fehlende unternehmerische Wettbewerbs- Prof. Dr. Robert Kappel war von 1996-2004 fähigkeit oder geographische Herausforderungen (wie fehlende Professor am Institut für Afrikanistik der Meereszugänge) ausgleichen. Neben dem Zollschutz würden die Universität Leipzig; er leitete den Arbeits- afrikanischen Staaten bei Ratifizierung der WPAs weitere indus- bereich "Politik und Wirtschaft". Von 2004- triepolitische Instrumente verlieren. Sie könnten den Rohstoffex- 2011 ist Robert Kappel Präsident des GIGA port nicht mehr besteuern oder die Menge der Rohstoffexporte German Institute of Global and Area Stu- beschränken. Ebenso dürften sie ausländischen Investoren weni- dies in Hamburg gewesen. Im Oktober 2011 ger Vorgaben über die Nutzung afrikanischer Waren und Dienst- trat er in den Ruhestand. leistungen machen. Diese Maßnahmen könnten aber Anreize schaffen, um Rohstoffe im Förderland weiter zu verarbeiten und Nico Beckert ist freier Journalist und be- Arbeitsplätze zu schaffen. schäftigt sich mit Entwicklungspolitik mit Aufenthalten in Botswana und Namibia. Durch staatlich orchestrierte Schutz- und Unterstützungslei- Seine Schwerpunkte sind Handelspolitik, stungen für ihre einheimische Landwirtschaft und zum Aufbau von Steuervermeidung und die Analyse der Industrien würden die afrikanischen Staaten keinen Sonderweg deutschen Afrikapolitik. Über entwicklungs- einschlagen, sondern sich ein Beispiel an den erfolgreichen Indus- politische Themen berichtet er auch auf sei- trialisierungsprozessen in den USA, Deutschland, Japan, Südkorea nem Blog zebralogs.wordpress.com. oder jüngst China nehmen. Alle diese Staaten konnten erst ein- heimische Industrien aufbauen, bevor sie ihre Wirtschaft für den Weltmarkt geöffnet haben. Auch das Deutsche Institut für Entwick- lungspolitik (DIE) fordert in einem von Entwicklungsminister Mül- ler angefragten Papier, dass es den afrikanischen Staaten möglich sein müsse, „Teile der eigenen Wirtschaft vorübergehend vor dem übermächtigen internationalem Wettbewerb zu schützen“ (hier). 11
INTERVIEW Was richtig und was wichtig ist ... Pia Klemp (35) ist seit September 2017 in der Seenotrettung aktiv. Bevor sie mit der Sea-Watch 3 in See stach, war sie Kapitänin der Iuventa von Jugend Rettet. Sie ist eine von zehn Crewmitgliedern gegen die wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung in die EU ermittelt wird. Wie viele Menschen habt ihr bei euren Einsätzen aus Diese Boote geraten dann in Seenot. Trotzdem durf dem Mittelmeer gerettet? ten viele Schiffe der zivilen Seenotrettung in den letz ten Monaten die Häfen nicht verlassen. Wie steht es Sea-Watch war bis heute an der Rettung von über 37.000 um Dein Schiff? Menschen beteiligt. Vielen Menschen bleibt nichts anderes als die gefährliche Route über das zentrale Mittelmeer zu Die Sea-Watch 3 wurde über drei Monate unter fadenschei- wählen, um ihr Menschenrecht auf Asyl wahrnehmen zu nigsten Begründungen und durch Beamtenwillkür im Hafen können. Es gibt skandalöserweise keine legalen und sicheren von Valletta (Malta) festgehalten. Seit rund zwei Wochen ist Einreisewege in die EU. das Schiff jetzt wieder frei (Stand 14.11.18). Es ist nun in Kor- sika, um sich auf die nächste Mission vorzubereiten. Die Boote über das zentrale Mittelmeer legen von der liby- sche Küste ab. Wenn die Leute in Libyen ankommen, sind sie Wer rettet gerade die Menschen, die sich weiterhin in Menschenhändlern, Schmugglern und verschiedenen Mi- Schlauchboote setzen (müssen)? lizen ausgesetzt, die sie ausnehmen, foltern oder monate- lang in konzentrationslagerähnlichen, sogenannten Detenti- Im Moment ist es furchtbar im südlichen, zentralen Mittel- on Camps unterbringen, bevor sie sie auf die seeuntauglichen meer. Alle staatlichen Schiffe, seien es Küstenwächter oder Boote zwingen - teilweise unter Waffengewalt (s. Infobox). europäische Militärschiffe, haben ihre Positionen immer 12
weiter in den Norden verlagert. Sie wollen nicht in die Situation Es lässt sich eine Parallele ziehen zu dem weltweiten Phä kommen, Menschen aus der Seenot retten zu müssen. Die Han- nomen der „Shrinking Spaces“. Dabei gerät die Zivilgesell delsschifffahrt umgeht diese Route schon seit Längerem, vor allem schaft zunehmend durch Repressionen unter Druck. Wie nachdem die EU das Retten von Flüchtlingen und Migranten krimi- wehrt ihr euch gegen die Kriminalisierung? nalisierte. Wir hören vermehrt von Fällen, in denen Handelsschiffe absichtlich einen großen Bogen um Boote fahren, selbst wenn die- Wir stützen uns gegenseitig und versuchen die Motivation oben se offensichtlich in Seenot sind, um danach keinen Stress in euro- zu halten. Das alles bringt große Einschränkungen mit sich, sowohl päischen Häfen zu bekommen. persönlich als auch bei der Arbeit, die wir machen wollen. Wir ver- suchen den Kampfgeist zu behalten und weiter für das aufzuste- Gleichzeitig unterstützt die EU mit Abermillionen von Euros und hen, was richtig und was wichtig ist. Schiffen die sogenannte libysche Küstenwache. Das sind letztend- lich Milizen, die in Uniformen gesteckt werden. Sie werden von der Wie können euch Menschen unterstützen? EU dafür bezahlt, die Leute bereits in libyschen Gewässern abzu- fangen. Entgegen der Menschenrechte und entgegen der Genfer Jeder Mensch sollte politisch aktiv werden und auf die Straße ge- Konvention werden die Flüchtenden wieder zurück in die Lager in hen für etwas, was für uns alle wichtig sein sollte. Um uns konkret Libyen gesteckt. zu unterstützen, können die Leute auf unserer Website solidari- ty-at-sea.org gehen. Dort können sie sich über unseren Fall infor- In den letzten Monaten konnte man medial verfolgen, wie mieren und dort finden sie dann auch unser Spendenkonto. Leider der privaten Seenotrettung zunehmend Steine in den Weg kostet es viel Geld gegen diese Schikanen anzukämpfen und diesen gelegt wurden. Wie hast du diesen Prozess wahrgenom auch medial und politisch entgegen zu wirken. men? Was muss die europäische Politik tun, damit eure Arbeit Im August letzten Jahres war ich Kapitänin auf der Iuventa, als sie nicht mehr notwendig ist? in Lampedusa von den italienischen Behörden beschlagnahmt wurde. Alle sogenannten Beweise, die dafür benutzt worden sind, Sie muss zu ihren vielbeschworenen Menschenrechten und allem, waren komplett an den Haaren herbeigezogen und konnten mitt- was damit verbunden ist, stehen. So wie die europäische Politik lerweile widerlegt werden. Das Schiff ist aber immer noch be- gerade läuft, ist es ein Abschotten, ein Verleugnen von Rechten schlagnahmt. für Leute, denen man diese Rechte einfach nicht geben will. Aber Menschenrechte sind nur dann etwas wert, wenn sie wirklich für Auf meinen weiteren Missionen auf der Sea-Watch 3 wurde uns alle Menschen gelten und nicht nur für privilegierte EU-Pass-In die Arbeit schwer gemacht. Beispielsweise bekamen wir keine si- haber*innen. cheren Häfen genannt, sodass wir tagelang mit hunderten Men- schen im schlimmen Zustand auf See verbringen mussten. Wir Vielen Dank für dein Engagement und das Gespräch. konnten keinerlei Hilfe oder Kooperation von den europäischen Staaten erwarten. Gleichzeitig bin ich eine von zehn der Ex-Iuventa-Crew gegen die die italienische Staatsanwaltschaft wegen Beihilfe zur illegalen Ein- wanderung in die EU ermittelt. INFO Seenotrettung ist eine völkerrechtliche Pflicht. Was wird dir bzw. euch vorgeworfen? DETENTION CAMPS/CENTRES HAFTZENTREN Das zeigt, wie absurd und hanebüchen die Geschichte ist. Das See- recht ist das oberste Gesetz: Wenn jemand in Seenot ist, muss Nach libyschem Recht werden alle Menschen, er gerettet werden. Dann gibt es aber auch noch die Menschen- die illegal einreisen oder sich ohne Visum in Li rechte, das Internationale Völkerrecht und die Genfer Konventi- byen aufhalten, kriminalisiert, ohne Rücksicht on. Letztere besagt ganz klar, dass ein Mensch in einem sicheren auf Schutzbedürftigkeit nach internationalen Land Asyl beantragen darf. Im Gegenteil, es ist nach der Konventi- Abkommen. Somit werden auch Geflüchtete on sogar illegal, diesen Menschen woanders hinzubringen. Nichts- und Asylbewerber*innen in den Haftzentren destotrotz wird uns vorgeworfen, dass wir dazu beigetragen hät- auf unbestimmte Zeit festgehalten. ten, dass Menschen illegal in die EU eingereist sind. Was natürlich Dem Innenministerium von Libyen unterstehen nicht stimmt. bis zu 35 offizielle Haftzentren. UNHCR berich tete 2017 von unmenschlichen Zuständen in Das bedeutet für deinen Einsatz, dass Du auf deinen Ge den Lagern. Darüber hinaus gibt es inoffizielle richtsprozess warten musst? von Milizen geführte Einrichtungen, die nicht von internationalen Organisationen besucht Genau. Es geht aber nicht nur um uns zehn, gegen die dort ermit- werden dürfen. telt wird. Für uns ist das ein politischer Auftrag: Wir möchten zei- gen, was an den EU-Außengrenzen passiert. Wir kämpfen gegen Weitere Informationen: Amnesty Bericht ein faschistoides Europa, und für legale und sichere Einreisewege Libyen-EU-Migrationskooperation, 2017 für Menschen auf der Flucht. 13
VEN POSITION Sturmfestes Niedersachsen? Das Meer wird kommen. Was klingt wie der Titel eines schlechten Spielfilms wird aufgrund des Klimawandels bis Ende des Jahrhunderts an der Küste Niedersachsens eintreten. Der Weltklimarat IPPC prognostiziert bis Ende die- ses Jahrhunderts einen weltweiten Anstieg des Meeresspiegels zwischen 26 und 82 Zentimeter. Auch der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirt- agrarindustriell geprägt. Drei Viertel der Betriebe halten schaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) geht bereits jetzt Tiere. Die Dürre im vergangenen Sommer hat uns auch in bei der Genehmigung von Deicherbauten von einem Anstieg Niedersachsen vor Augen geführt, welche Herausforderung des mittleren Tidehochwassers von 50 cm aus. Im Jahr 2018 der Klimawandel bei der Nahrungsmittelproduktion birgt. gab das Land Niedersachsen 61,6 Millionen Euro für seinen Die Landwirtschaft ist aber nicht nur Leidtragende sondern Küstenschutz aus. Insgesamt gilt es mehr als 1.000 Kilome- auch Mitverursacherin des Klimawandels: Sie ist für 14 Pro- ter Deiche an den Küsten, an den Flussmündungen und auf zent der anthropogenen Treibhausgasemission verantwort- den Inseln zu sichern. Niedersachsen verfügt über finanzielle lich. So entsteht bei der Viehzucht Methan, und aus künstlich Mittel und die Technik, um das Wasser fernzuhalten. Anders gedüngten Böden entweicht Lachgas. Die meisten Emissi- sieht das im Globalen Süden aus. Bis 2050 könnten allein in onen aber sind eine Folge der Änderung der Landnutzung, Bangladesch laut IPPC 27 Millionen Menschen vom anstei- z. B für den Futtermittelanbau für die steigende Fleischpro- genden Meeresspiegel bedroht sein. duktion. Folgen des Klimawandels – wie Dürren bis hin zu Wüstenbil- Europas führender Importwarenhafen für Futtermittel liegt dung und Waldbränden, Starkregenfälle, Gletscherschmelze in Brake, Niedersachsen. Von hier gelangt ein großer Teil der und eben der Meeresspiegelanstieg – zwingen schon heute fast sieben Millionen Tonnen Sojaprodukte, die Deutschland Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Eine Studie der Welt- jährlich importiert, direkt in die Futtertröge der Massentier- bank schätzt, dass es in den nächsten 30 Jahren über 140 haltung der Weser-Ems-Region. Diese gigantischen Mengen Millionen Menschen in Südasien, Lateinamerika und Sub- kommen überwiegend aus Süd- und Nordamerika. In Argen- sahara-Afrika sein könnten. Auch wenn die Gründe für Mi- tinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay bauen große Unter- gration oft multikausal sind, belegen Studien, wie der Klima- nehmen Gen-Soja an. Dafür werden Regenwälder abgeholzt, wandel und andere Fluchtursachen zusammenhängen. So massenhaft Pestizide eingesetzt und Kleinproduzent*innen kann er zum Beispiel Konflikte zwischen Bevölkerungsgrup- vertrieben. Niedersächsische Exporte, wie Milchpulver oder pen und Staaten verschärfen und somit zum Ausbruch (von Geflügelteile, zerstören ebenfalls Existenzen von Kleinprodu- Bürger-)Kriegen beitragen. zent*innen in Westafrika. Die Prognosen der Klimaforscher*innen stützen sich auf Die Auswirkungen der hiesigen Landwirtschaft zeigen bei- Emissionsraten von Treibhausgasen, die einen erheblichen spielhaft, wie unsere Produktion, unser Konsum und unse- Einfluss auf die globale Erwärmung haben. Das Bundesum- re Politik in Niedersachsen sich auf Lebensbedingungen im weltministerium gab bekannt, dass in Deutschland 2017 nur Globalen Süden auswirken. Deshalb sieht der VEN die Lan- knapp 0,5 Prozent weniger Treibhausgase freigesetzt wurden despolitik in der Pflicht, globale Auswirkungen stärker in als im Vorjahr. Damit wird Deutschland das nationale Klima- den Blick zu nehmen und einen Beitrag zur Minimierung von schutzziel 2020 – seine Emissionen gegenüber 1990 um 40 Fluchtursachen zu leisten. Dafür sind ein Umdenken in Poli- Prozent zu senken - nicht einhalten können. Während die tik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie ein verantwortungs- Emissionen im Energiebereich sinken, steigt der CO2-Aus- bewussterer Umgang mit den natürlichen Ressourcen not- stoß des Verkehrs und die Emissionen der Landwirtschaft wendig. stagnieren. Niedersachsen hat die höchste landwirtschaftliche Pro- duktion in Deutschland. Dabei ist die Landwirtschaft stark 14
DER VEN FORDERT: • Wirtschafts-, Finanz-, Agrar-, Handels-, und Klimapolitik so zu gestal- • die Expertise von Migrant*innen und Geflüchteten in der Ent- ten, dass sie einen Beitrag zum Schutz der ökologischen und ökono- wicklungszusammenarbeit einzubeziehen, mischen Lebensgrundlagen aller Menschen leisten, z. B. durch • Entwicklungsgelder nicht für die Aufrüstung des Grenzschutzes – ein Moratorium der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen in Afrika zweckzuentfremden und die Zusammenarbeit mit Dik- mit afrikanischen Ländern, taturen und Unrechtsregimen zur „Migrationskontrolle“ sofort – ein ambitioniertes, internationales Vorgehen gegen zu beenden, Steuerflucht, – den Ausbau erneuerbarer Energien und nachhaltiger • Instrumente der zivilen Konfliktprävention und Demokratieför- Ressourcennutzung, Know-How- und Technologietransfer in derung zu unterstützen und Rüstungsexporte zu beschränken, die Länder des Globalen Südens und Stopp des Baus neuer Kohlekraftwerke, • legale und gefahrenfreie Wege nach Europa zu ermöglichen und – Förderung von Agrarökologie und Reduzierung von Seenotretter*innen nicht zu kriminalisieren, Fleischkonsum und -produktion, – Durchsetzung von Menschenrechten in globalen Lieferketten, • die Menschenrechte von Schutzsuchenden und Migrant*innen (vgl. auch VEN Positionen 1/2018) zu wahren, das individuelle Recht auf Asyl zu gewährleisten und – Maßnahmen gegen Ressourcenraub in Form von Landgrabbing ein gemeinsames europäisches Schutzsystem zu schaffen, in und Überfischung durch Staaten oder internationale Konzerne. dem rechtskonforme Asylverfahren, menschenwürdige Aufnah- me und innereuropäische Solidarität im Mittelpunkt stehen, • die Nachhaltigen Entwicklungsziele der UN (SDGs) auf allen poli- tischen Ebenen konsequent umzusetzen, Instrumente sind hierfür u. • die komplexen Zusammenhänge von globaler Ungleichheit und a. die Umsetzung und Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie Flucht in der öffentlichen Diskussion und der Bildung darzustel- sowie der Entwicklungspolitischen Leitlinien des Landes Niedersach- len und Rassismus und Diskriminierungstendenzen entgegenzu- sen sowie die Orientierung des Landeshaushaltes an den SDGs, wirken. • eine Partnerschaft auf Augenhöhe mit afrikanischen Ländern zu befördern und gemeinsam den Aufbau von Wertschöpfungsket- ten in Afrika voranzutreiben, 15
GEHT DIE RECHNUNG AUF? ‚Fluchtursachenbekämpfung‘ mit Entwicklungszusammenarbeit Dr. Benjamin Schraven, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik Spätestens seit dem Höhepunkt der sogenannten europä- von Autor*innen und Politiker*innen immer wieder das Bild ischen „Flüchtlingskrise“ 2015/2016 ist die „Bekämpfung“ einer „Völkerwanderung“ oder eines „Massenexodus“ be- der Ursachen von Flucht und irregulärer Migration breit dis- müht. Afrika wird gerne als Kontinent dargestellt, bei dem kutiert. Zu irregulärer Migration zählen zum Beispiel: „uner- ein Großteil der Bevölkerung nur auf die nächstbeste Gele- laubte“ Grenzübertritte, Menschenhandel oder abgelehnte genheit warte, nach Europa zu gelangen. Entgegen dieser Asylbewerber*innen, die ihrer Verpflichtung zur Ausreise Darstellung findet ein Großteil der Migration innerhalb von nicht nachkommen zählen. Vor allem der Entwicklungszu- Weltregionen statt. In Westafrika beträgt der Anteil intra- sammenarbeit wird dabei die Rolle zugeschrieben, für Men- regionaler Migration geradezu atemberaubende 86 Prozent. schen in Entwicklungsländern – vor allem in Afrika – eine Auch Flucht ist zum überwiegenden Teil eine Sache, die den soziale und wirtschaftliche Perspektive zu schaffen, die sie Globalen Süden betrifft, da sich weit über 80 Prozent der Ge- dann von einer Flucht in Richtung Europa abhält. Nur geht flüchteten in Entwicklungs- oder Schwellenländern aufhal- diese Idee überhaupt auf? Kann Entwicklungszusammenar- ten. Etwa zwei Drittel der Geflüchteten weltweit sind sogar beit Fluchtursachen bekämpfen? Binnenvertriebene, die auf ihrer Flucht noch nicht einmal eine internationale Grenze überschritten haben. Die öffentliche und politische Debatte um Flucht und irre- guläre Migration – insbesondere, wenn es um Afrika geht – Zweitens werden die Ursachen von Flucht und irregulärer ist von mindestens drei Motiven oder Narrativen durchzo- Migration in der öffentlichen Debatte oftmals als ziemlich gen, die durchaus hinterfragen werden müssen. Erstens wird monokausale Angelegenheit betrachtet: Vor allem werden 16
Armut, aber auch europäische Agrarsubventionen, internationa- ursachen wie Konflikten, Repression oder schwacher Staatlichkeit le Handelsstrukturen, korrupte Regierungen oder auch der Klima- mit all seinen negativen Begleiterscheinungen vermischen. Daher wandel als zentrale oder primäre Fluchtursache beschrieben. Bei ist selbstverständlich, dass in der Entwicklungszusammenarbeit einer kritischen Überprüfung von Seiten der Wissenschaft wird – aber auch darüber hinaus – weiterhin großen Wert auf Men- deutlich, dass die Ursachen von Flucht und irregulärer Migration schenrechte, Konfliktprävention, Demokratie und Good Governan- sehr vielschichtig und komplex sind, und es keinen Sinn macht, ein- ce gelegt wird. zelne Faktoren unabhängig von den anderen zu erklären. Gerade die Europäische Union und viele ihrer Aktivitäten im Be- Drittens – und dies ist wiederum die logische Konsequenz aus reich Sicherheitskooperation und Grenzsicherung stehen hier in den anderen beiden Narrativen – wird in der öffentlichen und der Kritik, eben dies nicht ausreichend zu berücksichtigen. So stell- politischen Auseinandersetzung parteiübergreifend betont, dass te die EU 2.5 Milliarden Euro für Projekte zur Bekämpfung irre- jetzt gehandelt werden müsse. „Fluchtursachenbekämpfung“ als gulärer Migration und zur Steuerung von Flucht- und Migrations- Jahrhundertaufgabe sozusagen. Die Entwicklungszusammenar- bewegungen zur Verfügung. Mit diesen Geldern werden sowohl beit müsse „Bleibeperspektiven“ schaffen, damit potentielle Mi- klassische entwicklungspolitische Projekte gefördert, aber auch grant*innen sich gar nicht erst auf den gefährlichen Weg Richtung Trainings- und Ausbildungsprogramme für Grenz- und Polizeikräf- Europa machen müssen. Dabei ist diese Idee und auch die Begriff- te sowie Maßnahmen zur Bekämpfung von sogenannten Schleu- lichkeit „Fluchtursachenbekämpfung“ gar nicht so neu. Bereits in sern. Ein Nachgeben bei Menschenrechten, Demokratie und Co. den frühen 1990er Jahren tauchten im Rahmen der damaligen für kurzfristige Erfolge bei der „Migrationsabwehr“ kann aber lang- Fluchtbewegungen Begriff und Konzept auf, verschwanden dann fristig genau das Gegenteil bewirken und die Flüchtlingskrisen von aber recht schnell wieder aus dem entwicklungspolitischen Diskurs morgen mit herbeiführen. analog zu den rasch sinkenden Flüchtlingszahlen in Deutschland nach dem sogenannten „Ayslkompromiss“ von 1993. Neue Möglichkeiten für Migration Die entwicklungspolitische Adressierung von Flucht und irregu- Die Stunde der Entwicklungspolitik? lärer Migration bedeutet aber auch, dass der Bereich regulärer Ohne Zweifel hat die Entwicklungspolitik in den letzten Jahren im Migration stärker in den Blick genommen wird. Deutschland und Kontext der Fluchtursachendebatte einen großen Bedeutungsge- andere europäische Länder werden bei ihrer Kooperation mit afri- winn erlebt. Der ehemalige Ministerialdirektor im Bundesministe- kanischen Ländern irgendwann nicht daran vorbeikommen, ein rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Stück weit neue Möglichkeiten bei der regulären Zuwanderung zu Michael Bohnet, sprach in diesem Zusammenhang einmal von der eröffnen. Und hier gilt es, diese Migrationsprozesse durch die Ent- „Stunde der Entwicklungspolitik“. Dieser Bedeutungsgewinn der wicklungszusammenarbeit mitzugestalten. Durch Qualifizierungs- Entwicklungspolitik hat der deutschen Entwicklungszusammenar- maßnahmen, Sprachförderung usw. kann die Entwicklungszusam- beit einen sehr deutlichen Mittelzuwachs beschert. Nachdem sie menarbeit einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass nicht nur vorher jahrlange eher stagnierten, sind nach OECD-Angaben die Deutschland als Zuwanderungsland von dringend benötigten Ar- deutschen Official Development Aid (ODA)-Mittel von 12.5 Mrd. beits- und Fachkräften profitiert, sondern auch die Migrant*innen, US$ im Jahr 2013 auf 23.8 Mrd US$ im Jahr 2017 angewachsen. ihre Familien und ihre Herkunftsländer. Zudem sollte die Entwick- Dies entspricht einem Wachstum von stolzen 91 Prozent. Im sel- lungspolitik sich verstärkt auch dem Thema der Süd-Süd-Migration ben Zeitraum sind die Gesamt-ODA-Mittel nur etwa um 19 Pro- widmen: Auch hier gilt es, negative Begleiterscheinungen von Mi- zent angestiegen. Allerdings werden von Deutschland und anderen gration (Menschenhandel, Arbeitsausbeutung, etc.) zu reduzieren Ländern durchaus hier auch die „inländischen“ Kosten der Flücht- und positive Aspekte (z.B. Finanz- und Knowhow-Transfers durch lingsversorgung hier mitangerechnet. Migrant*innen) zu fördern. Das (eigentliche) Ziel der Entwicklungszusammenarbeit war es schon immer, Lebensumstände der Menschen vor Ort zu ver- Dr. Benjamin Schraven ist Wissenschaftlicher bessern, um so einen Beitrag zu leisten, Flucht und irregulärer Mi- Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwick- gration – aber nicht Migration insgesamt – vorzubeugen. Jetzt ist lungspolitik. Seine Arbeitsgebiete sind Migrati- es sicherlich nicht notwendig, die bestehende Entwicklungszusam- on, Entwicklungspolitik, Umweltwandel, Migra- menarbeit komplett neu zu erfinden – das ist bei Betrachtung des tionsgovernance, ländliche Entwicklung sowie gegenwärtigen deutschen Portfolios auch gar nicht vorgesehen. Anpassung an den Klimawandel. Trotzdem müssen zwei wichtige Aspekte beachtet bzw. intensiviert werden: Der erste Aspekt findet sich glücklicherweise in der wohl wich- tigsten der deutschen Entwicklungs- bzw. Afrika-Initiativen wie- der, dem sogenannten „Marshall-Plan mit Afrika“. Dieser fußt ne- ben der Säule „Wirtschaft, Handel und Beschäftigung“ auch auf den Säulen „Frieden, Sicherheit und Stabilität“ sowie „Demokra- tie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte“. Die letzten beiden LESETIPP VEN-KOMMENTAR: Aspekte sind sehr wichtig und zu begrüßen, denn, wie oben be- reits erwähnt, sind die Ursachen für irreguläre Migration aus Afrika „Marshallplan mit Afrika“ – und auch aus anderen Erdteilen durchaus komplex. Meist handelt (K)ein Beginn einer neuen Partnerschaft? es sich um so genannte gemischte Wanderungen (englisch: mixed www.ven-nds.de/publikationen/ven-stellungnahmen migration), bei denen sich klassische Migrationsmotive wie etwa die Suche nach besseren wirtschaftlichen Aussichten mit Flucht- 17
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