FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
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FocusingJournal Z e i t s c h r i f t f ü r K u lt u r d e r A c h t s a m k e i t Heft 46/2021 Alles entspannt sich, wenn es liebevoll betrachtet wird Das fastende Herz Zu den Worten hin oder von der Sprache weg? Wie man strukturgebundenes Verhalten bei Klienten erzeugt Absichten in Wunschräume verwandeln, Teil II Lockdown – außen und innen Gene Gendlin: Zwei Felt Sense-Schnipsel
FocusingJournal Z e i t s c h r i f t f ü r K u lt u r d e r A c h t s a m k e i t in der Psychotherapie, in Beratung und Coaching, im eigenen Leben, in Partnerschaften und Teams, in Organisationen und Politik – und darüber hinaus Inhalt Themen 2 Alles entspannt sich, wenn es liebevoll betrachtet wird i nt e r v i e w mit a n d r ea a u er - h u t z i n g e r 10 Das fastende Herz v on To ny Hof ma n n 15 Zu den Worten hin oder von der Sprache weg? v on pe t e r l in c o l n 28 Wie man strukturgebundenes Verhalten bei Klienten erzeugt v o n kat r i n t om -w i lt s c h k o 31 Absichten in Wunschräume verwandeln, Teil II aus e i ne m w eit er b il d u n g ssemin a r m i t J o h a n n e s W i lt s c h ko 38 Lockdown – außen und innen v on k ri m h il d k ö n ig 42 Gene Gendlin: Zwei Felt Sense-Schnipsel ge fu nde n a u f ein er a lten f est p l at t e v o n joh a n n e s w i lt s c h ko Termine 9 OFT: Online-Focusing-Time – kostenlos 20 Wasser, Wind und Wohlfühlspur 21 Focusing und ETC (Embodied Critical Thinking) 22 Die Weiterbildung Basis 22 Die Weiterbildungen in Prozessphilosophie 23 Die Weiterbildungen in Focusing-Therapie 24 40. Internationale Focusing Sommerschule 2021 44 Alle Aus- und Weiterbildungen auf einen Blick
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, vor einiger Zeit, auf einem Kongress, kam eine von mir sehr geschätzte Kollegin auf mich I mp r essu m zu und sagte: »Die Beiträge in eurem Focusing-Journal sind mir angesichts der globalen und nationalen Bedrohungen und Konflikte viel zu sehr auf die subjektiven Innenwelten Herausgeber: bezogen. Wo bleiben eure Aussagen zur drohenden Klimakatastrophe, zur AfD, zu all den Prof. Dr. Johannes Wiltschko Ungerechtigkeiten in der Welt?« Die Akademie für Focusing, Focusing-Therapie und Prozess Da hat sie bei mir ins Schwarze getroffen. Zunächst jedenfalls. Das Gefühl der Ohnmacht philosophie gegenüber ökonomischen, dennoch von Menschen gemachten und bis aufs Blut verteidigten Wagnergasse 6, 83410 Laufen Verhältnissen – globale Ausbeutung von Menschen und »Natur« aufgrund von angeblich www.daf-focusing-akademie.com uns innewohnendem Wachstums- und Profitstreben, Konkurrenzverhalten und der Gier, die niemals satt wird – führt auch bei mir gelegentlich zum Rückzug in biedermeierliche Kom- Redaktion: fortzonen und verträumte Innenwelten. Obwohl ich nie der Meinung war – auch wenn es mir Redaktionelle Mitarbeit: Hans Neidhardt als ehemaliger Adept C.G. Jungscher und fernöstlicher Lehren nahegelegt wurde –, dass eine Focusing International: Veränderung der Verhältnisse nur durch innere Wandlung zu erreichen sei. Dr. Evelyn Fendler-Lee Focusing wird manchmal so verstanden, als würde es sich dabei um eine egozentri- Internationale Publikationen: sche Nabelschau handeln, die zu sozialer Entsolidarisierung und politischem Relativismus Dr. Tony Hofmann führe. So, als wäre es eine ausschließlich nach innen gerichtete und dort nur sich selbst Textredaktion: Karin Schwind, Meggi Widmann antreffende, kurz eine solipsistische Methode. Graphik und Bildbeschaffung: Warum ist das ein grundfalsches Verständnis? Schon wenn man bloß die ersten Seiten Sigrun Lenk von Gendlins »Ein Prozess-Modell« liest, löst sich dieses Missverständnis in Luft auf. Hier, Layout und Satz: Regina Rilz auf dieser Seite, genügt vielleicht schon der Hinweis, dass sich der Zentralbegriff »Felt Schlussredaktion: Sense« nicht auf ein »Ich« bezieht, sondern immer auf eine Situation, auf die Situation, in Johannes Wiltschko der sich jemand befindet. Gendlins Situationsbegriff schließ die Gesamtheit der um- und Bilddnachweis: innerweltlichen »Faktoren« ein als eine spürbare Ganzheit. Na, und wenn man sich auf die- Sigrun Lenk: Cover und Seite 17, se wahrnehmbare Ganzheit unmittelbar bezieht, wird man auf viel mehr, auf viel, viel mehr 33, 34, 42 treffen als auf ein Ego, das nur an seinen Vorteilen interessiert ist. Elisa Hutzinger: 4 Das, was man dann oft unerwarteterweise bemerkt – und um das man sich nicht mehr Tony Hofmann: 13 Katrin Tom-Wiltschko: 29 herumdrücken kann –, geht einen etwas an, berührt einen und drängt nach einem weiteren Krimhild König: 39 Schritt. Und es zeigt dessen Richtung auch schon an. Eine Richtung hinaus in die Welt. In die Beziehungen, die man hat, in die Verhältnisse, in denen man lebt. Natürlich, man kann Erscheinungsweise: sich entscheiden, Einsichten, die gekommen sind, und Handlungsimpulsen, die sich richtig zweimal jährlich (Juni, November) anfühlen, nicht zu folgen. Die Freiheit, die in dieser Entscheidungsmöglichkeit liegt, zu bemerken und zu würdigen, ist ein eminent politischer Akt. Ebenso wie das Bemerken und Einzelpreis: als E-Paper: kostenlos Ernstnehmen der Tatsache, dass das Nach-innen-Richten der Aufmerksamkeit ein nicht als Zeitschrift gedruckt und nur gedachter, sondern leibhaft gespürter Zugang zur Welt ist, zu Mitmenschen, zu allem, gebunden: € 15,– was ist. Und in diesem sich Vorfinden in der je eigenen Mitwelt sind Solidarität, Verant- inkl. Porto und Versand wortung und Mitgefühl schon als gefühlt enthalten. Man muss sie nicht als moralische Werte »lernen«, eingetrichtert kriegen und dann »befolgen«. Den Link zu diesem Heft finden Sie auf Dass das so ist, setzt voraus, die Haltung und die Praxis zu leben, die zum Beispiel im www.daf-focusing-akademie.com und mit Focusing aufgezeigt und ermöglicht werden. Haltung und Praxis schließen als conditio die Gleichwertigkeit aller Menschen (und aller Ihre Beiträge mailen Sie bitte Lebewesen?) ein. Und da sage noch einer, dass Focusing als als WORD-Datei an Praxis und als prozesshafte Philosophie unpolitisch sei! jw@daf-focusing-akademie.com Felt Senses, also das Fühlen der Gesamtheit der (im- Redaktionsschluss: mer nur gegenwärtig existierenden) Situation impliziert 1. April und 1. Oktober eine ökonomisch, ökologisch und sozial auf Gerechtigkeit zielende, gewaltablehnende politische Haltung und ein Erscheinungsdatum dieses ebensolches Verhalten inklusive der Freiheit, sich dafür auch Heftes: Mai 2021 tatkräftig zu engagieren. © DAF-AKADEMIE 2021 ISSN 1861-6178 Herzliche Grüße Johannes Wiltschko focusing journal | heft 46/2021 1
Themen Alles entspannt sich, wenn es liebevoll betrachtet wird Cranio und Focusing – warum die Methoden so gut zusammenpassen ■ ■ I n t e rview m it Andr ea Auer -Hutzin ger Andrea Auer-Hutzinger praktiziert und unterrichtet Craniosacrale Biodynamik, eine beson- ders sanfte Weiterentwicklung der Osteopathie. Zugleich arbeitet sie als Focusing-Beraterin. Ihr Interesse gilt den Parallelen zwischen den beiden Methoden sowie möglichen Verbindun- gen in der Praxis. Die Physiotherapeutin Anke Zillessen arbeitet ebenfalls mit Cranio und Focusing und hat Andrea interviewt. ANKE: »Cranio und Focusing lassen sich so Beim Focusing ist es genauso. Im Sinne gut kombinieren, weil beide Methoden auf der Fortsetzungsordnung besteht nicht nur ähnlichen Grundannahmen beruhen«, so körperlich, sondern auch psychisch und lese ich in deiner Seminarausschreibung für seelisch die Tendenz, zu einem angemesse- die Focusing-Sommerschule am Achberg. neren Gleichgewicht zu kommen. Und auch Magst du beschreiben, wo für dich die Ähn- hier ist es das Allerwirkungsvollste, wenn lichkeiten der beiden Methoden liegen? die Focusing-Beraterin oder -Therapeu- tin gut eingestimmt mit sich selbst diesen ANDREA: Ich fang mal mit Cranio an. Die Focusing-Prozess begleitet. Da sehe ich die wichtigste Grundannahme: In unserem Parallelen – beides ist für mich ganz funda- Körper sind Fähigkeiten angelegt, sich selbst mental. regulieren zu können, wenn die Umstände gut sind. Es gibt also eine uns innewohnen- ANKE: Das passt auch gut zu den Texten auf de Lebenskraft, die in Richtung Heilung, deiner Website. Dort habe ich – mit Erstau- Ganzheit, Balance tendiert. Was ich als Cra- nen – folgende Sätze gelesen: »Craniosacrale nio-Praktizierende im Wesentlichen tue: Ich Körperarbeit unterstützt bei seelischen Pro- gebe dieser Selbstregulation des Körpers, zessen wie Veränderung und Entscheidung dieser Lebenskraft Raum. (...)«. Und zu Focusing: »(…) die in uns an- Es gibt natürlich ganz viel Theorie, und gelegten Selbstregulations- und Selbsthei- man kann Cranio von so vielen Seiten aus lungskräfte können uns von alten Zwängen erklären: Über die Rhythmen – die soge- und Mustern befreien.« Ich hätte es viel- nannten craniosacralen Tides, über die leicht genau andersherum formuliert. Bewegung der Schädelknochen, über das Nervensystem, über den Breath of Life, die ANDREA: Spannend, dass du mich darauf dynamische Stille, … Doch das Wesentli- ansprichst. Wenn ich es genau umgekehrt che ist für mich die Grundidee, dass diese geschrieben hätte, hätte es genauso ge- Selbstregulation besonders gut funktioniert, stimmt! wenn ich sie als gut eingestimmte Praktike- Es gibt ja so einen unglaublichen rin begleite. Dschungel von Methoden. Für mich ist es 2 focusing journal | heft 46/2021
Themen essenziell, dass für die Methoden, die ich ANDREA: Ja, es kann sein, dass das System praktiziere, etwa Folgendes gilt: »Alles ent- so reagiert: »Nein, nein, sicher nicht. Jetzt spannt sich, wenn es da sein darf und wenn nicht. Nein, das bleibt jetzt schön fest.« Und es liebevoll betrachtet wird.« Das stimmt für dann bleibt es erst mal so komprimiert, wie Cranio hundertprozentig und für Focusing es ist. hundertprozentig! ANKE: Und dann? … ANKE: Ja, es geht um die Haltung einer wohlwollenden Zeugenschaft. ANDREA: Dann bleibe ich mit einer offenen, nicht wertenden Haltung dabei und denke: ANDREA: Ja, genau so – und es ist gut, dass »Ah ja, es wird schon seinen Grund haben, es Techniken und Vorschläge gibt – aber die dass es fest ist. Es hat vielleicht seine Ge- Basis ist für mich die Haltung. Ich finde, bei schichte, warum es jetzt noch nicht aufma- Cranio ist sehr viel Lauschen und Zuhören. chen kann oder will …« Das passt für mich so gut, weil wir beim Fo- cusing ja auch das Listening haben. Das ist ANKE: Wenn du das sagst, erinnere ich mich bei Cranio das eingestimmte liebevolle Lau- gerade an eine Focusing-Weiterbildung bei schen im Prozess. Wahrnehmen, wie es ist, Johannes Wiltschko – das liegt über 10 Jahre verändert oft schon ganz viel. zurück. Da haben wir eine Übung im Zwei- er-Setting gemacht. Mein mich begleitender ANKE: Beim Focusing kennen wir ja auch Übungspartner hat mir einen Vorschlag das Guiding. Gibt es für dich in der Cranio- nach dem anderen gemacht und sich so viel sacralen Biodynamik etwas Entsprechen- Mühe gegeben. Und ich habe es – in der des? Klientin-Rolle – nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass die Vorschläge leider alle ANDREA: Ja, in der Cranio wäre das Gui- für mich nicht passen. Johannes hatte das ding, wenn wir zu etwas einladen. Wie offenbar von Weitem mitbekommen und beim Focusing ist es während einer Cranio- hat uns dann »erlöst«, indem er – mit einem Behandlung so, dass ich lausche – lausche Augenzwinkern – sagte: »Anke, du musst – lausche … und dann zwischendurch Ein- nicht jeden Käse, den man dir anbietet, es- ladungen gebe. Als Beispiel: Ich spüre mit sen.« meinen Händen am Kopf der Klientin, dass zwei Schädelknochen zu nah beieinander (Beide lachen) sind. Die Nähte, die die Schädelknochen miteinander verbinden, fühlen sich kom- ANDREA: Ja, das kann ja auch etwas Krän- primiert an, sie sind fest und gehen mit den kendes für den Therapeuten haben, wenn organischen Bewegungen nicht gut mit. Ich die ganzen guten Ideen und Angebote nicht habe dann vielleicht den inneren Impuls, so gut ankommen. einzuladen, im Sinne von »Könntest du hier mehr Raum geben?« ANKE: Oh ja – und gleichzeitig kann das Also ich spreche mit dem Knochen. Ich für die Klientin ja Ausdruck ihrer Selbst- Ich spreche mit lade den Knochen ein … oder die Kontakt- heilungskräfte sein, wenn sie sich den Vor- stelle zwischen den beiden Knochen: »Wie schlägen der Therapeutin oder des Thera- dem Knochen. Ich wäre es denn für dich, weit zu werden?« – peuten freundlich widersetzt … lade den Knochen das ist noch ein bisschen dezenter gefragt. ANDREA: Jaja, genau! … Das ist schön, mit ein … ANKE: Eine offenere Frage …? dir so darüber zu sprechen! ANDREA: Ja, weniger Aufforderung – mehr ANKE: Wir sind anfangs gleich mit den offene Frage. Und jetzt kann es sein, dass die- Parallelen der beiden Methoden in unser ser Körperbereich diese offene Frage bereit- Interview eingestiegen. Vielleicht gibt es willig annimmt, weil er quasi darauf gewar- Leser*innen, die Cranio noch nicht kennen. tet hat und nur eine Erinnerung brauchte: Magst du beschreiben, was Craniosacrale »Ah, es gibt auch so etwas wie weit werden.« Biodynamik ist? ANKE: Ja gut … – und was ist, wenn der Kör- ANDREA: Der Ausdruck »craniosacral« per der Klientin das nicht will? … kommt von den lateinischen Worten »crani- focusing journal | heft 46/2021 3
Themen Achtsamer Dialog: Die Hände lauschen den Bewe- gungen der Schädelknochen und »sprechen« mit ihnen. An- und abschwellende Cranio-Bewegungen sind im Zentrum und am gesamten Körper spürbar. Wie unglaublich viel Berührung ausmacht! Cranio- Praktizierende geben der Selbstregulierung Raum. 4 focusing journal | heft 46/2021
Themen um« – das ist der knöcherne Schädel – und ANKE: Und ist damit nicht auch eine Art »sacrum« – das ist das Kreuzbein. Zwischen überpersönlicher, quasi göttlicher Atem ge- diesen beiden Polen befinden sich die zen- meint, also eine spirituelle Dimension? tralen Anteile des craniosacralen Systems. Das sind bestimmte Knochen, Membrane, ANDREA: Ich persönlich beziehe mich auf Ich persönlich be- die Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit – die Haltung, dass alles Leben, alle Phänome- Liquor genannt – und das zentrale Nerven- ne aus der Stille kommen. Aus einem großen ziehe mich auf die system. Wir kontaktieren Rhythmen, also Feld, einem Ort von Potential. Bei uns in der Haltung, dass alles an- und abschwellende Bewegungen, die Biodynamik heißt es »dynamische Stille«. In hier im Zentrum, aber auch am ganzen Kör- anderen Zusammenhängen ist es so etwas Leben, alle Phä- per wahrnehmbar sind. wie die Schöpfungsebene, die Quelle. Für nomene aus der Nun zum Wort Biodynamik. Ich finde, mich ist das immer auch mit einem großen es ist immer eine Herausforderung, das zu Geheimnis verbunden – ich muss die Augen Stille kommen. Aus definieren. Biodynamik heißt ja eigentlich schließen, wenn ich darüber spreche – mit einem großen Feld, »Dynamik des Lebendigen«, und das ist einem großen Geheimnis und auch mit ei- etwas so Großes, dass ich Scheu habe, das nem Wunder, wie und warum Cranio wirkt. einem Ort von festzumachen. Ich erklär‘s mal so: Andrew Egal, wie ich es erkläre und unterrichte und Potential. Lloyd Still gilt als der Begründer der Osteo- praktiziere, es bleibt immer wie ein Wun- pathie. Er war ein sehr naturverbundener der. Etwas ganz großes Helles, das ich nicht und spiritueller Mensch. Im Zentrum sei- wirklich ganz mit Worten beschreiben kann. ner Aufmerksamkeit stand, die Quellen der Gesundheit zu finden und nicht primär die ANKE: Ja, das hat etwas Wunderbares, Un- Quellen der Krankheit. fassbares. Das begegnet mir in meiner Pra- William Garner Sutherland, einer seiner xis auch immer wieder. … Lass uns vielleicht Schüler, hat die Rhythmen und Bewegun- nochmal den Bogen zum Focusing schlagen. gen des Körpers zunächst eher mechanisch Hat Gene Gendlin nicht mal so etwas gesagt erklärt: über den Druck und das Fließen wie, dass wir immer eingebettet sind in ein der Flüssigkeiten, die Hebelwirkungen der »Mehr«, das antwortet? Gibt es also im Fo- Knochen, die Zugspannungen der Häu- cusing etwas vergleichbar Geheimnisvolles, te und Membrane. Also eine mechanische Wunderbares? Wie erlebst du das? osteopathische Sichtweise. Mit zunehmen- dem Alter hat sich Sutherlands Erklärung ANDREA: Hm …, meine spontane Antwort der Phänomene, die er wahrgenommen hat, ist: Ja. Und das hat für mich mit dem zu tun, aber verändert. Er hat immer mehr von ei- über das wir ganz zu Beginn gesprochen ha- nem »Breath of Life«, dem Atem des Lebens, ben: Da ist diese Kraft, die in uns Menschen gesprochen, der so etwas wie der zündende drin ist – oder uns gegeben ist. Dass wir uns Funke und die Antriebskraft hinter den Be- zu etwas Hellem oder zu einer Ganzheit hin wegungen sei. entwickeln wollen. Die craniosacralen Schulen, die sich Und dann ist es so, dass wir als Focu- nach Sutherland entwickelt haben, beziehen sing-Begleiterin oder -Therapeutin das ja sich entweder eher auf seine früheren Schaf- nicht aussprechen müssen – wir müssen es den Menschen nicht vorher sagen. Es hat Ich verbinde mich fenszeiten, das sind die biomechanischen, oder auf seine späteren, das sind dann die auch ganz viel mit der eigenen Haltung zu mit dem Wissen biodynamischen Richtungen, wie du und tun. Man kann auch mit Leuten Cranio oder ich sie praktizieren. Focusing machen, die nicht bewusst über und der Zuver- eine spirituelle Anbindung nachgedacht ha- sicht, dass es im ANKE: Magst du noch etwas zum »Breath of ben – das ist überhaupt nicht Bedingung. Life«, dem Atem des Lebens, sagen? Weißt du, was ich meine? Menschen diese Kraft des Carrying ANDREA: »Breath of Life« ist eine Bezeich- ANKE: Ja, total! Das sehe und spüre ich ge- nung für Lebenskraft – ein anderer Begriff nauso. forward gibt, also für Chi oder Prana. Und wir finden das ja diese starke unaus- auch in der älteren Sprache: Redewendun- ANDREA: Und wenn ich das jetzt ein bisschen gen wie »der Odem des Lebens« oder »Er weiter fasse, verbinde ich mich als Begleite- löschbare Tendenz, hauchte sein Leben aus«. Damit sind das Le- rin in einem Focusing-Prozess mit diesem, gesund zu werden ben und die Lebenskraft gemeint. ich will jetzt nicht sagen »Glauben«, aber mit dem Wissen und der Zuversicht, dass es und zu wachsen. focusing journal | heft 46/2021 5
Themen im Menschen diese Kraft des Carrying for- ANDREA: Diese sanfte Art, wie wir im Cra- ward gibt, also diese starke unauslöschbare nio berühren, die ist im besten Fall ja eine Tendenz, gesund zu werden und zu wachsen raumgebende Berührung, ein Container – und – wie ich vorher gesagt habe – dass es wie wir sagen –, also so etwas wie ein halt- heller wird. Diese Haltung hat einen Einfluss gebendes Gefäß. Und manchmal braucht es auf den Prozess und auf das Beziehungsfeld eine feste Berührung, so dass das Nerven- zwischen Praktikerin und Klientin. system die Ich-und-Du-Grenze spürt. Und wenn ich nochmal zur Craniosac- Wenn ich in Cranio-Behandlungen die- Ganz wunderbar ist ralen Biodynamik hinschaue: Ganz wun- se Anfangsübungen anbiete – an einen gu- derbar ist ja der Berührungsaspekt – wie ten Ort führen und erden –, dann frage ich ja, wie unglaublich unglaublich viel die Berührung ausmacht! zurzeit viel mehr als sonst: »Ist es gut, wenn viel die Berührung Ich finde es immer so interessant, wenn man ich dich jetzt berühre oder soll ich lieber sich die Embryologie anschaut: Das Ner- noch ein wenig neben dir sitzenbleiben?« ausmacht! vensystem und die Haut, die sind aus dem So dass ich die Klientin mit reinhole in diese gleichen Keimblatt entstanden, aus dem Ek- Frage. Manche sagen dann: »Ja, bitte berühr toderm. mich, ich warte schon seit fünf Minuten.« Oft wird die Haut ja nur als Hülle gese- Da spüre ich dann auch eine große Unge- hen. Es ist schön, sich bewusst zu machen, duld. Andere Klientinnen sagen: »Nein, ich dass der Tast- und Berührungs-Sinn der ers- brauche noch ein bisschen, ich warte noch te Sinn ist, den wir entwickelt haben – im ein paar Minuten.« Ich sage dann: »Magst Mutterleib. Über den waren wir in Kontakt du einfach sagen, wann es geht – ich sitze mit der Umgebung. Sobald wir berühren, einfach hier und bin mal gut in Kontakt mit sprechen wir also auch einen wichtigen Sinn mir selbst – und auch mit dir, ohne dich zu an und das Nervensystem. Das kann un- berühren. Sag mir, wenn’s für dich passt und glaublich nährend sein, verlangt aber auch du berührt werden willst.« Respekt. Die physische Berührung, das ist etwas, das das Focusing nicht hat. ANKE: Ja, das Mitgestalten des Kontakts ist oft das Stimmigste! Und: Ja, auch ich erlebe ANKE: Oh, doch! Ich schätze physische Be- derzeit in meiner Praxis, dass in der Pande- rührungen auch im Focusing als eine gute mie-Situation die Themen rund um Kontakt Möglichkeit des spontanen Prozess-Beglei- und Trennung sehr in den Vordergrund tens – neben anderen Möglichkeiten! kommen. ANDREA: Ich mach’s in meiner Praxis eigent- ANDREA: Man könnte sagen: Die frühen lich so: Wenn Leute für Focusing kommen, Bindungstraumata – es geht jetzt richtig dann berühre ich sie eigentlich selten – inte- ans Eingemachte. Von mir selber kann ich ressanterweise. Dann ist es so, dass wir uns sagen, dass ich Gott sei Dank in guten Le- auf Sesseln gegenübersitzen. Was ich schon bensumständen lebe, ich lebe in einer guten mache: Dass ich die Leute – wenn es sich er- Partnerschaft und liebe meinen Beruf. Und gibt – einlade hinzuspüren, wo jetzt eine Be- dennoch muss ich wirklich schauen, dass rührung gut wäre. Und sich dann selbst dort ich gut stabil bleibe – also es ist wirklich eine zu berühren. Das hat oft eine überraschende große Herausforderung. Wirkung. ANKE: Ja, das ist es! Glücklicherweise kön- ANKE: Das stimmt, allein das Selbstberüh- nen wir uns mit Cranio und Focusing ja ren kann sehr wirkungsvoll sein! Mir geht wunderbar nähren und stärken. Wirst du in es inzwischen so, dass ich in meiner Pra- deinem Seminar auf der Sommerschule dar- xis seltener zwischen den hands-on- und auf auch eingehen? hands-off-Methoden unterscheide. Die meisten meiner Klient*innen suchen eine ANDREA: Ja, das werde ich! Ich stell mir ein Art körperorientierter Lebensbegleitung – Setting vor, in dem wir uns spielerisch dem also etwas Ergänzendes zu den gewohnten craniosacralen Berühren und vor allem auch Psychotherapie- oder Physiotherapie-Set- dieser bestimmten inneren Haltung nähern. tings. Sie erhoffen sich etwas Verbindendes, Das kann im Liegen stattfinden oder auch Integrierendes. Und das kann sich beispiels- im Sitzen. Eine eingestimmte Berührung weise während einer physischen Berührung fördert ja die Selbstwahrnehmung sehr, das ereignen. heißt, über die Berührung durch einen an- 6 focusing journal | heft 46/2021
Themen deren Menschen kann ich mich selber bes- sitze und du in Freiburg – das ist wie ein ser spüren. Allein das stärkt schon gewaltig. weites spürbares Feld. Ich weiß nicht, wie Und unser Körper liebt es, berührt zu wer- viele Kilometer das sind … Und das Feld den, ohne dass von ihm etwas Bestimmtes hat etwas Verbundenes für mich, auch dir verlangt wird, also ohne Leistungsdruck. gegenüber jetzt, aufgrund unseres Aus- Mir fällt grad ein: Das ist Freiraum für den tauschs. Vielleicht weil wir eine ähnliche Körper! Berufsrichtung haben? Das Feld hat auch noch eine andere Qualität: Es ist wirklich ANKE: Könnte Freiraum für den Körper viel- so weit! Für mich hört das Lernen nie auf. leicht auch heißen, dass sich für mich eine Es gibt immer noch andere Aspekte, die in- Berührung im Moment gar nicht passend teressant sind … anfühlt – und ich lieber auf andere Weise in Kontakt bin? ANKE: … und die wir jetzt vielleicht nur gestreift oder gar nicht benannt haben. Ich Andrea Auer-Hutzinger ANDREA: Ja, natürlich, es gibt Momente bin auch sehr berührt davon, was wir beide ist Craniosacral-Therapeutin, oder Phasen, wo es ganz stimmig ist, ohne Kostbares miteinander austauschen können. Lehrende und Mitglied im physische Berührung in Kontakt zu sein. Wenn ich mich auf dieses weite Beziehungs- Leitungsteam an der Wiener Damit werden wir im Seminar auch expe- und Methoden-Feld einlasse, spüre ich so Schule für Craniosacrale Biody- rimentieren. eine Zuversicht, dass darin alles eingebettet namik; diplomierte psychologi- ist, was wir miteinander teilen – und was sche Beraterin und Focusing- Beraterin (DAF); seit 30 Jahren ANKE: Klingt gut, das wird bestimmt ein er- wir nicht miteinander teilen konnten. Alles, in den Bereichen Körperarbeit, holsames und nährendes Seminar! Gibt es was wir benannt haben und was wir nicht Stressrelease, Selbstregulation denn zum Schluss unseres Gesprächs noch benannt haben. Es ist alles eingebettet – und und psychologische Prozess- etwas, das wir bisher nicht angesprochen im Grunde ist es im Großen und Ganzen gut begleitung tätig. haben? Etwas, das dir besonders am Herzen aufgehoben! www.behandlungs-raum.at liegt? ANDREA: Ja, schön. Das spricht mich an, ANDREA: Also jetzt gerade taucht nichts wei- im Sinne dieser wirklich positiven Grund- ter auf. Es ist eher so wie eine große ruhige haltung, die ich Menschen gegenüber habe. Ebene, wie so ein weites Feld. … Irgendwie Das erinnert mich jetzt an das, wo wir vor- taucht noch das Wort »Beziehungsfeld« auf, her mal waren, dass der Körper die Kraft was beim Focusing ja genauso existiert wie hat, in Richtung Ganzheit und Helligkeit zu bei der Craniosacralen Biodynamik. Ich fin- tendieren – dass er eingebettet ist. Ja, das ist de grad noch nicht die Worte dafür … sehr rund so! ANKE: Mir kommt dazu eine Idee. Du könn- ANKE: Andrea, ich danke dir sehr für die test ja auch nochmal hinhorchen, wie es sich Zeit, dein Dasein und deine Präsenz! jetzt gerade anfühlt – hier, wir beide im Ge- spräch vor unseren Bildschirmen. Wir kön- ANDREA: Und danke, Anke, dass du die nen ja auch unsere Interview-Beziehungs- Idee zu diesem Interview hattest und mich Anke Zillessen ebene zum Thema machen. gefragt hast! … Dann winke ich aus Wien lebt in Freiburg und arbeitet – Ciao! dort in eigener Praxis als ANDREA: Ja, damit hat es etwas zu tun! Es Physiotherapeutin, Cranio- spricht mich so an, dass ich hier in Wien ANKE: … und ich aus Freiburg – Tschüss! sacral-Praktizierende (CSVD), Focusing-Therapeutin (DAF) und Systemaufstellerin (DGfS). Als Germanistin M.A. schreibt sie auch Texte und führt gerne Interviews. Mehr zu ihrer Arbeit: www.ankezillessen.de, kontakt@ankezillessen.de focusing journal | heft 46/2021 7
Andrea Auer-Hutzinger wird auf der diesjährigen Internationalen Focusing Sommerschule das Seminar Cranio + Focusing: achtsames Berühren und focusingorientiertes Begleiten anbieten. Sie schreibt dazu: »Craniosacrale Biodynamik ist eine aus der Osteopathie entstandene sanfte und gleichzeitig tiefgehende manuelle Körperarbeit, die die Selbstheilungskräfte anregt und tiefsitzende Blockaden lösen kann. Dieses Seminar wird einen Einblick in die interessante Welt der inneren Craniobewegungen und in die Haltung dieser Berührungs-Arbeit geben. Wir ›reparieren‹ kein System, das aus dem Lot gekommen ist, sondern tragen mit unserer inneren Ausrichtung dazu bei, dass sich Körper, Geist und Seele ›von selbst‹, von innen heraus im eigenen Tempo in einen Regenera- tions-, Wachstums- und Entwicklungsprozess begeben können.« Teilnahmevoraussetzung: Grundkenntnisse in Focusing und Freude an Berührung Anzeige Gut durch den Tag Ulrike Pilz-Kusch 60 Impulskarten Kraftvoll durch den Tag 2017 | € 34,95 D ISBN 978-3-407-36639-9 Ulrike Pilz-Kusch Burnout: Frühsignale erkennen – Kraft gewinnen Mit E-Book inside 2020 | 216 Seiten | € 34,95 D ISBN 978-3-407-36714-3 Auch als E-Book erhältlich Ulrike Pilz-Kusch Ulrike Pilz-Kusch 8 Schlüssel gegen Stress und Burnout Abschalten, entspannen und auftanken Focusing-Übungen für mehr Kraft am Ar- Achtsam und stark durch den Tag mit einfa- beitsplatz. Audio-Ratgeber mit Übungen. chen Focusing-Übungen. Audio-Ratgeber Gelesen von Ulrike Pilz-Kusch. mit Übungen. Gelesen von Ulrike Pilz- Laufzeit 80 Minuten. Kusch. Laufzeit 80 Minuten 2017 | € 22,99 D 2017 | € 22,99 D ISBN 978-3-407-36653-5 ISBN 978-3-407-36654-2 Das komplette Beltz Coaching-Programm: beltz.de/coaching 8 focusing journal | heft 46/2021
Termine oft: Online-Focusing-Time – kostenlos Aussteigen aus dem Alltag – Einsteigen in die Welt des Focusing In dieser Lockdown-Zeit mit sich selbst eine kreative und heilsame Zeit verbringen OFT ist die Gelegenheit, Focusing kennenzulernen und/oder an Focusing dranzubleiben – für alle, die Lust dazu ha- ben und die neugierig sind, ob Focusing auch für sie etwas sein könnte. Und natürlich auch für Focusing-Erfahrene, die sich eine begleitete Focusing-Runde gönnen möchten. Mit OFT nimmst du dir eine Auszeit, in der sich innerlich wieder alles ordnet und sich Wesentliches von Unwesentlichem scheidet. Und du kannst dabei … … wieder auftanken … den »Focusing-Faden« nicht verlieren bzw. wiederfinden … DozentInnen der DAF-AKADEMIE und … neue Leute für Partnerschaftliches Focusing kennenlernen Ablauf einer OFT-Session: Themeninput – Gruppenfocusing – Sharing (Möglichkeit, sich mitzuteilen und auszutau- schen). Anschließend gibt es für die, die Focusing schon können, Gelegenheit, im Partnerschaftlichen Focusing mit einer anderen TeilnehmerIn persönliche Themen zu fokussieren. Wir folgen der inneren Wohlfühlspur! Steig mit ein! Anmeldung ist nicht erforderlich! OFT wird es in den nächsten Wochen oft geben, und zwar mittwochs von 18:00 bis ca. 18:45 Uhr. Termin: Mittwoch, 12.05.2021, 18:00 Uhr – ca. 18:45 Uhr Thema: Focusingorientierte Selbstfürsorge Leitung: Katrin Tom-Wiltschko Termin: Mittwoch, 09.06.2021, 18:00 Uhr – ca. 18:45 Uhr Thema: Mit-Sein Leitung: Johannes Wiltschko Termin: Mittwoch, 30.06.2021, 18:00 Uhr – ca. 18:40 Uhr Thema: Humor (diesmal ohne Partnerschaftliches Focusing) Leitung: Karin Mayer Termin: Mittwoch, 21.07.2021, 18:00 Uhr – ca. 18:45 Uhr Thema: Focusing und Gebet: »Ich-bin-ich-bin-da« Leitung: Martha Hellinger Weitere Termine mit weiteren Dozent*innen und Themen und den Zugangslinks siehe www.daf-focusing-akademie.com/online-focusing-time-oft/ Wir freuen uns über einen freiwilligen Beitrag zur Finanzierung ermäßigter Ausbildungsplätze: DAF-AKADEMIE, IBAN: DE85 7105 0000 0020 4688 23 focusing journal | heft 46/2021 9
Themen Das fastende Herz Kann Zen Focusing vorantragen? Überlegungen am Beispiel der künstlerischen Fotografie ■ ■ V o n T o n y H ofm ann I ch gebe Büchern manchmal neue Namen. Dadurch versuche ich, mir einen eigenen Reim auf das zu machen, was ich lese. Diese direkt. Er schreibt zunächst aus philosophi- scher Sicht über verschiedene Zen-Themen, die auch in der westlichen Philosophie eine Titel passen dann meinem subjektiven Emp- Rolle spielen. Dann kontrastiert er diese finden nach besser zu dem, was ein Buch Inhalte mit Zen. Im Wesentlichen läuft das für mich bedeutet, als der Original-Titel. einfach darauf hinaus, dass er immer wieder Byung-Chul Hans kleiner Einführung in auf andere Weise sagt »… und das ist auch die Philosophie des Zen-Buddhismus habe nicht Zen«. Er dekliniert dabei die Klassiker ich den Alternativtitel »Das fastende Herz« durch – Descartes, Heidegger, Fichte, Buber verpasst. Diese Formulierung verwendet – und immer wieder deutet er von deren der Autor selbst an einer Stelle seines Texts. Verneinung aus auf das eigentlich Unsagba- Sie steht für mich stellvertretend für das ge- re des Zens hin. samte Buch. Das fastende Herz eines Zen- Auf diese Weise findet er dann doch Buddhisten, einer Zen-Buddhistin macht Worte für das, was eigentlich gar nicht sich ganz leer, so, wie der Wanderer Bashô sagbar ist. Er spricht dabei meistens in dies auf seinen Reisen tut: Sein »ständiges Metaphern. So spricht er z.B. von einer ar- Wandern ist eine Äußerung seines fasten- chaischen Freundlichkeit, von einer De- den Herzens, das sich an nichts klammert, zentrierung (einer Mitte also, die überall sich an nichts festbeißt«1. Bashôs Herz öff- zugleich ist), und eben auch von einem fas- net sich also auf freundliche Weise für das, tenden Herzen. Das Fasten, das er hier be- was gerade ist, ohne etwas damit anstellen, schreibt, ist jedoch nichts Tragisches, es hat ohne etwas daraus machen zu wollen. nichts mit einem traurigen Verzicht zu tun. Diese Haltung ist uns auch aus dem Sondern es geschieht in großer, freiwilliger Focusing wohl vertraut. In diesem Artikel Leichtigkeit: »Yüe-Shan lacht jedes Begeh- möchte ich zeigen, wie Zen über die klas- ren, jedes Streben, jede Erstarrung und jede sische Focusing-Haltung, wie ich sie bisher Versteifung weg, befreit sich in eine schran- verstand, hinausweisen könnte – und am kenlose Offenheit, die von nichts begrenzt Ende darin (für mich) doch wieder nach oder behindert ist. Er lacht sein Herz leer. Hause gelangt. Damit es nicht bei rein the- Das mächtige Lachen entströmt dem ent- oretisierenden Überlegungen bleibt, entfalte grenzten, ent-leerten und ent-innerlichten ich meine Gedanken am Beispiel der künst- Geist.«2 lerischen Fotografie und der Wirkung der Die Leere, die Han dabei referenziert, therapeutischen Bildkarten, die als deren ist also nicht dasselbe wie die Leere einer »Nebenprodukte« aus diesem Schaffenspro- Depression: »Sie stellt vielmehr eine äußers- zess herausfallen. te Bejahung des Seins dar«3. Man lebt also, tritt man in die Leere des Zens ein, in einem Das Lächeln des Buddha durchaus mit Materie und Sinn erfüllten 1 Han, 2002, S. 84 2 ebd., S. 34 Eigentlich kann man ja über Zen gar nicht Raum, der aber etwas anderes ist, als die Ver- 3 ebd., S. 51 schreiben. Weil Zen jenseits der Worte liegt. haltensräume der Tiere es sind. Es ist auch Han jedoch wagt es trotzdem, und zwar in- nicht der mit einem (kognitiv verstehba- 10 focusing journal | heft 46/2021
Themen ren) Sinn erfüllte symbolische Beziehungs- Methode verstehe, noch gar nicht zu seiner Der Focusing-Raum raum der Menschen (Kultur, Gesellschaft, vollen Blüte gebracht. Kann ich mir ein kon- Vereinbarungen, Werte und Normen). Der sequent focusingorientiert gelebtes Leben ist jedoch für mich Raum der Leere ist ein Mehr-als-all-das. Es vorstellen wie einen stetig voran fließenden nicht dasselbe wie ist das Loslassen-von-Allem. Dies zeigt sich Improvisationsprozess? auch im heimatlosen Umherwandern der Ich habe lange mit der Improvisations- die Leere des Zen, Mönche. Es ist ein Loslassen, das zugleich künstlerin Beatrice Theiler darüber gespro- weil auch der gro- ein täglich neues Zu-Hause-Ankommen ist: chen, wie sich eine Haltung beschreiben »Das Nirgends-Wohnen stellt keine Welt- ließe, die ein solches Leben verwirklicht. Be- ße, offene Raum bei flucht dar.«4 Da ist dann nur der Pflaumen- atrice nennt das »Raumern«. Es gibt, wenn Gendlin stets noch baum und dieser ist eine Realität, die keine man raumernd lebt, keine gordischen Kno- dahinter liegende, keine verborgene oder ten mehr, die gelöst oder zerschlagen wer- neue Symbolik irgendwie noch zu erreichende (Ziel-)Ebene den müssten. Focusing im klassischen Sinne gebiert. mehr kennt: »Die Welt ist ganz da in einer wäre dann gar nicht mehr nötig, da ohne- Pflaumenblüte.«5 hin alles im Fluss wäre. Der Übergang vom konventionellen Denken, Leben und Han- Geht Zen über Focusing hinaus? deln hin zum raumernden Denken, Leben Wenn ich Han richtig verstehe, geht Zen so- und Handeln fühlt sich für mich an wie ein gar noch über die vorantragende Kreativität Durch-den-Hochnebel-Wandern: Ich lasse des Focusing hinaus. Mir war schon immer mich von meinem Gespür leiten und laufe vage bewusst, dass mir in den philosophi- immer ungefähr dorthin, wo die Sonne he- schen Denkstrukturen, in denen ich mich rauskommt. Hat man diesen Nebel einmal bisher bewegte, etwas gefehlt hat. Gendlin durchwandert, so ist fast überall nur noch hat beispielsweise im Prozessmodell kei- Sonne, wie ein leuchtendes, strömendes Da- ne eigene Begrifflichkeit für diese spezielle rüberhinaus, in dem ich mich lebendig zu Art von zen-artig gefüllter Leere. Das Mo- Hause fühlen kann. Probleme erscheinen in dell endet zwar beim großen offenen Raum6. dieser raumernden, sonnendurchströmten Wenn wir Focusing betreiben, begeben wir Welt wie schöne Ressourcen, die mir Kraft uns in diesen kreativen Raum. Der Focu- geben, da sie die Komplexität und damit die sing-Raum ist jedoch für mich nicht das- Fülle meines Lebens anreichern. Je diffiziler selbe wie die Leere des Zen, weil auch der ein Problem ist, das ich lösen kann, desto Ich werde zum große, offene Raum bei Gendlin stets noch interessanter wird das Leben, das ich lebe. neue Symbolik gebiert. Er biegt sich gewis- Aber ich nehme es dann gar nicht mehr als Künstler, der sich sermaßen wie ein Pfeil zurück, in die Welt Problem wahr, sondern da sind einfach nur über alles gleicher- der symbolischen Beziehungen hinein, und noch viele intrikate Muster, die mich neu- ändert diese dann auf vorantragende Weise. gierig machen. Ich werde zum Künstler, der maßen freuen kann, Wenn wir unseren Felt Sense, unser ganz- sich über alles gleichermaßen freuen kann, was mir begegnet heitliches Gespür zu einer bestimmten Situ- was mir begegnet – Problemthemen genau- ation, befragen, weil wir ein Thema bearbei- so wie freudige Themen, schwierige und – Problemthemen ten wollen, bekommen wir ja immer neue herausfordernde Situationen genauso wie genauso wie freudi- Begriffe, innere Bilder, emotionale Impulse das, was im Bayrischen »a g’mahte Wiesn« usw. zurück. Diese können wir dann in die genannt wird. ge Themen. symbolischen Welten, in denen wir leben, Vielleicht würde auch eine echte Zen- einflechten oder einkreuzen. Wir treffen Meisterin über uns lachen, wenn wir Prob- außerdem auch klare Entscheidungen, wir leme zu lösen versuchen, da sie von vorn- handeln, ändern etwas im Leben. Die Leere herein in einer »erfüllte[n], gelassene[n] des Zens jedoch nimmt derartige Entschei- Gegenwart«7 lebt: »Diese gelassene Zeit lässt dungen gar nicht mehr so richtig ernst. Sie die Zeit der Sorge hinter sich.«8 Oder anders erkennt sie zwar an, aber sie geht noch einen gesagt: Da ist noch immer sehr viel »Ego« Schritt weiter. Sie lässt wirklich los. im Focusing, wie ich es bisher verstand, mit Fehlt diese absolute, freundliche Leere drin. Was wäre also, wenn ich auch über dem Focusing, wie ich es bisher verstan- dieses Ich noch lachen würde und mich den habe? Vielleicht beschäftige ich mich noch mehr in die offene Freundlichkeit hi- 4 ebd., S. 93 im Focusing noch viel zu oft mit konkreten nauswagte, die das Haben von Problemen 5 ebd., S. 24 Problemen, die gelöst werden müssen. Viel- überflüssig macht? Was wäre, wenn ich mir 6 vgl. Gendlin 2015, Kapitel 8 7 Han, 2002, S. 112 leicht ist Focusing, wenn ich es als eine abge- erlauben würde, noch mehr über das Ha- 8 ebd. grenzte, erlernbare und in sich geschlossene ben-Können-von-Problemen als solches zu focusing journal | heft 46/2021 11
Themen lachen? Was wäre, wenn ich die Focusing- Diese Freundlichkeit ist für Han »älter praxis, wie ich sie bisher kenne, noch mehr als das ›Gute‹, älter als jedes moralische Ge- mit dem Zen-Spirit anreichern würde? Was setz«10. Es wertet nicht. Manchmal gelingt wäre, wenn ich raumernder leben würde? es mir, einen Schimmer dieses archaischen Vielleicht würden meine Alltags-Interaktio- Nicht-Wertens auch auf meinen Fotografien nen dann weicher, fließender werden: »Das erlebbar werden zu lassen. Dann bin nicht Lachen entspringt jener Ungezwungenheit, mehr ich hier und mein Motiv ist dort drü- die das Ich aus seiner Starre befreit.«9 Viel- ben, sondern wir sind, obwohl wir noch im- leicht entstünde dann eine Art von Leben, mer getrennt sind, zugleich auch ein inein- das noch mehr im alltäglichen Sein der vo- anderfließendes Ganzes. Wir sind zwei und ran fließenden Prozesse ankommt, sich we- eins zugleich. Und das scheint mir fast so et- niger auf fest umrissene Aufgaben begrenzt, was wie ein Erfolgsrezept zu sein. Ein Rezept die zu lösen oder zu erledigen sind. Ein jedoch, das man nicht intentional befolgen Leben, das diese Aufgaben zwar noch im- kann. Die wirklich guten Fotos können nur mer zu erledigen versucht und dies auch tut dann entstehen, wenn es mir gelingt, mein – und sich zugleich darüber kaputtlachen Motiv wirklich loszulassen, so, wie ein Zen- kann, dass sie überhaupt vorhanden sind. Mönch sein Begehren loslässt. Ich mache mich selbst zum Niemand, so, wie der Zen- Zen in einer Kameralinse Maler, den Han beschreibt: Dieser »spiegelt Ich weiß nicht, ob ich das, was die Zen- die Landschaft niemandig in sich. Die Land- Buddhisten meinen, wirklich verstehe. Ich schaft malt die Landschaft«11. habe mein Leben ja nicht im Kloster ver- Wenn ich fotografiere, versuche ich also bracht. Zwar meditiere ich regelmäßig, aber nicht, eine bestimmte, vorab bereits durch- dennoch lebe ich ein weltliches Leben. Viel- dachte Botschaft, die mir wichtig ist, in das leicht muss man, um Zen wirklich verstehen Bild einzubetten. Der Sinn eines guten Fo- zu können, mit Haut und Haaren in dessen tos ist nicht vorab in mir gegeben, als etwas Praxis eintauchen. Zen ist eben kein begriff- bereits Fertiges oder Vorhandenes. Es ist liches Gedankengebäude, sondern das durch vielmehr so, dass ich versuche, dem, was an und durch zen-artig gelebte Leben selbst. einem Ort spürbar ist – ja, dem Ort selbst – Und auch die oben beschriebenen Überle- auf dem Bild einfach einen freien Raum zu gungen könnte man als weltfremd bezeich- schenken. Vielleicht mag Ihnen diese Aus- Manchmal, wenn nen. Wenn Probleme da sind, dann sind sie drucksweise etwas ungewohnt vorkommen. nun mal da und schmerzen. Um diese Tatsa- Es ist auch für mich etwas ungewohnt, den ich, mit der Kamera che komme ich erstmal nicht herum. magischen, sensiblen, oft auch zerbrechli- in der Hand, den Vielleicht ist es deshalb sinnvoll, meine chen Augenblick, in dem ein gutes Foto ent- Gedanken zunächst mal nur probehalber steht, in verstehbare Worte zu fassen. Viel- Nebel da draußen auf einem eng umrissenen Gebiet auszutes- leicht könnte man es so ausdrücken: Der Ort am Fluss betrachte, ten. Nicht, um dort völlig ernst zu machen darf sich auf dem Foto selbst ausdrücken, mit dem Zen, sondern um, wie ein empiri- ich stelle ihm hierfür nur einen Rahmen zur spüre ich tief in mir scher Wissenschaftler, Erfahrungen zu sam- Verfügung. Ich erlaube ihm, ja lade ihn re- meln und Schlussfolgerungen zu ziehen. gelrecht ein, sich mir gegenüber verletzlich eine tiefe, alte Dies möchte ich in den nächsten Abschnit- zu zeigen. Resonanz. ten versuchen. Das Gebiet, auf dem ich am ehesten in Freiraum als Vorbedingung eine zen-artige Leere eintauche, ist für mich Damit dies gelingen kann, brauche ich eine die Fotografie. Manchmal, wenn ich, mit der bestimmte innere Haltung, die uns aus dem Kamera in der Hand, den Nebel da drau- Focusing wohlvertraut ist. Ich versuche, ßen am Fluss betrachte, spüre ich tief in mir mich ganz leer zu machen, leer von dem, eine tiefe, alte Resonanz. Ich werde erinnert was mich gerade beschäftigt im Leben: an etwas, was ich längst vergessen glaubte. Projekte, an denen ich arbeite, Konflikte, Wenn Han in seinem Buch von der »archa- die ungeklärt sind, Aufgaben, Beziehungs- ischen Freundlichkeit« des Zens spricht, themen und so weiter. All das gehört zwar so fühlt sich das für mich ganz ähnlich an, auch noch zu meinem Leben dazu, wenn ich wie das, was ich dort am Fluss erlebe. Dann auf Foto-Tour bin. Dennoch gelingt es mir 9 ebd., S. 115 ahne auch ich eine archaisch-freundliche oft ganz gut, einen künstlerischen Freiraum 10 ebd., S. 121 11 ebd., S. 75 Verwandtschaft von mir mit den Bäumen, zwischen mir und dem Alltag zu erschaffen. die da still im Nebel stehen. Das heißt: Ich stelle diese Alltags-Inhalte im 12 focusing journal | heft 46/2021
Themen Moment des künstlerischen Schaffens aus zu betreiben. Ich halte dann den Sucher- meinem Bewusstsein hinaus. Oder, um es in ausschnitt als Ganzes in meinem Gewahr- Hans Worten zu sagen: Ich lasse mein Herz sein und spüre es, wenn alle Proportionen vom Alltag fasten. Dann wird ein Freiraum, ungefähr gleich gewichtet sind. Ein Felt eine mit dem Motiv erfüllbare Leere spürbar. Sense, mein Gespür für Stimmigkeit also, Das, was ich durch die Kamera betrach- leitet mich. Ich befrage dieses Gespür dar- te, ist dann kaum noch direkt beeinflusst über, was ich wie tun kann – so würde ich von aktuellen Themen, und auch von Inten- beispielsweise nicht auslösen, wenn ich das tionen und Vorstellungen davon, wie etwas Gefühl hätte, dass die rechte Bildhälfte sich »richtig« dargestellt werden sollte. Ich denke »schwerer« anfühlt als die linke, dass mehr auch nicht darüber nach, für wen ich diese Gewicht, mehr Intensität, mehr Inhalt nur Fotos mache und wofür ich sie verwenden einseitig vorhanden ist oder dass bestimmte könnte. All das spielt dann keine Rolle mehr. Bildteile unterrepräsentiert sind. Nur das, was da ist, zählt. Man könnte dies auch als eine Haltung der Demut vor dem Das Was ist egal, das Wie nicht Motiv beschreiben. Nicht ich entscheide, Was ich darstelle, ist somit letztlich fast egal. sondern das Motiv bestimmt, wie es sich Vermutlich lässt sich alles so fotografieren, mir zeigt. Was einzig leitend wirkt, bevor ich dass es interessant wird, wenn ich ihm in den Auslöser betätige, ist mein Gespür für dieser Haltung der Demut begegne. Das Ästhetik. Erst an dieser Stelle kommt mein Offene, das ich in Hans Zeilen über Zen er- »Ich« wieder mit herein. Erst hier beginne kenne, ist auch auf meinen Fotos »zwischen ich, ganz im klassischen Sinne, Focusing den Zeilen« ahnbar. Ich glaube, Menschen, Foto 1: Aufnahme vor dem innerlichen Loslassen (d.h. ohne »Zen-Spirit«): Das Bild wirkt insgesamt un- ruhiger, die einzelnen Bildelemente sind nicht klar aufeinander bezogen, sondern wirken ähnlich wie »Mikadostäbchen« einfach lose aufs Bild gewor- fen. Zwar wirkt dies auch irgendwie interessant, besonders aufgrund der bunten Farben, jedoch bleibt es für mich eher ein »Allerweltsbild«. Foto 2: Aufnahme nach dem innerlichen Loslassen (d.h. mit »Zen-Spirit«): Das Bild wirkt insgesamt ruhiger, die einzelnen Bildelemente sind ein in sich kon- sistentes komplexes Ganzes. Insgesamt enthält es weniger Bildelemente als Bild 1, d.h. auf den ersten Blick wirkt es etwas langweiliger …, wenn ich jedoch mit dem Foto verweile, entfaltet es eine Art von Sog …, es zieht mich in sich hinein. focusing journal | heft 46/2021 13
Themen die meine Bilder betrachten, spüren intu- kleinen Schmerz, diese kleine Enttäuschung 12 ebd., S. 84 itiv, dass die Dinge nicht so eng sind, wie zulasse, mich auch ihr gegenüber verletz- sie zunächst scheinen. Sie bemerken, dass lich mache, beginnt mein Motiv zu mir zu alles in Veränderung begriffen, dass eben sprechen. Es mag sein, dass Menschen, die alles prozesshaft-lebendig ist. Das, was ich meine Bilder betrachten, genau deshalb im selbst im Moment des Auslösens sehe, und Betrachten auch ihre eigene Verletzlichkeit meine eigene Lebendigkeit, die ich dabei leichter annehmen können. empfinde, wenn sich ein Ort mir öffnet – Die Fotografie ist für mich reine Medita- all das wird im abgelichteten Motiv als ein tionspraxis. Ich lasse mein Herz fasten, hän- visuelles Ganzes zusammengeführt. Meine ge es nicht an die Dinge, die ich ablichten eigene Berührbarkeit, die zugleich auch die will. Wenn es mir gelingt, mich ganz leer zu Verletzlichkeit des Motivs ist, wird im Mo- machen, so werde ich reich beschenkt. Die ment des Auslösens in Farben und Formen Bilder, die dabei entstehen, rühren vielleicht gegossen. Das mag einer der Gründe dafür auch an die große Leere der Betrachterinnen sein, warum meine Bilder in Therapie- und und Betrachter, eine Leere, die eine unend- Beratungsprozessen so gut funktionieren. liche Fülle impliziert. Vielleicht enthalten Menschen erkennen ihre eigene innere sie eine frohe Botschaft: Hab keine Angst Empfindsamkeit »dort draußen«, in den davor, deinen Schmerz anzuschauen und Bildern, wieder. Etwas in meinen Bildern loszulassen. Schmerzlich erlebte Probleme resoniert mit dem, was psychisch in einer sind nichts anderes als symbolische Realitä- Betrachterin vor sich geht. Diese Erfahrung ten. Es gibt ein Mehr, das größer und offener habe ich schon sehr oft gemacht, viele Rück- ist als das, worin du gerade feststeckst. Du meldungen von Menschen, die die Karten darfst ins Fließen, in Bewegung kommen. professionell einsetzen, bestätigen es. Hab den Mut, auch dich selbst ganz leer zu Ich mache mich, wenn ich fotografiere, machen und das anzuerkennen, was ist – so, dem Ort gegenüber verletzlich, und der Ort wie es eben ist. So kann es sich denn, wenn antwortet mir mit einer Öffnung. Wenn ich es das wirklich möchte, auch verändern. davon spreche, dass er sich zeigt, so bedeu- Dies sage ich als (noch) Focusing-Mann. tet dies, dass ich alle Vorurteile beiseite lasse, Als Zen-Meditierender jedoch erkenne ich um den Ort so zu sehen, wie er wirklich ist. zugleich (schon), dass es irgendwie auch Das überträgt sich vermutlich auch auf die egal ist, ob es das tut. Und auch die Worte Betrachter der Fotografien – sie erkennen dieses Artikels sind (aus einer Zen-Haltung sich und ihre Themen in den Bildern so, wie heraus gesprochen) für mich nichts ande- sie eigentlich sind: ungeschminkt und pur. res als symbolische Realitäten, die es wie- Wenn ich beim Fotografieren vorher glaubte der loszulassen gilt. Wenn sie veröffentlicht zu wissen, was ich sehe, öffnet sich vor mei- sind, dann ist es vielleicht ein bisschen so, nem Auge nun eine Realität, die realer ist als als hätten sie gar nicht existiert, als hätte ich Dr. Tony Hofmann meine Erwartung von dem, was ich zu se- eigentlich gar nichts gesagt12: Dipl.-Psychologe hen bekommen würde. Ich sehe dann nicht Psychotherapeut (HP) Lehrbeauftragter Universität nur das, was meinen Stereotypen entspricht Selbst wenn ich spräche, Würzburg (z.B. die typisch idyllische Blumenwiese), die kalten Lippen wären 97072 Würzburg sondern ich sehe auch den liegengelassenen nur Wind des Herbstes. mail@tonyhofmann.de Müll am Wegesrand. Erst wenn ich diesen Bashô 14 focusing journal | heft 46/2021
Themen Zu den Worten hin oder von der Sprache weg? Focusing und Meditation im Vergleich ■ ■ V o n Pe t e r Li ncoln N eulich schickte mir ein Freund folgen- den Cartoon: Zwei Hunde schauen aus dem Fenster und beobachten die Leute, sie einen gemeinsamen Vorteil – ich kann sie allein praktizieren, und das ist in Zeiten der »social isolation« schon sehr wertvoll. die vorbeigehen. Einer fragt den anderen: Aber welche Techniken bieten sie an, mich »Warum tragen all diese Menschen plötzlich dem zu stellen, was in mir in der Stille hoch- Maulkörbe?«, und bekommt als Antwort: kommt? Zu welchen Ebenen in mir nehme »Weil sie den Befehl ›Sitz und Bleib‹ nicht ich bei den beiden Wegen Kontakt auf? Geht verstehen!« Der Philosoph Blaise Pascal hat es hier um zwei völlig unterschiedliche Ziel- im 17. Jahrhundert Ähnliches festgestellt: richtungen oder gibt es Überschneidungen? »Ich habe es oft gesagt: Das ganze Unglück Könnten sie sich sogar gegenseitig ergän- »Ich habe es oft der Menschen kommt daher, dass sie nicht zen? ruhig in einem Zimmer bleiben können.« gesagt: Das ganze Nun hat uns die Ansteckungsgefahr dazu Gemeinsame Ausgangslage Unglück der Men- gezwungen, mehr Zeit in den eigenen vier Fangen wir bei den Ähnlichkeiten an. Zuerst Wänden zu verbringen – und dabei erlebe ist festzuhalten, dass die beiden Methoden schen kommt da- ich manchmal aus erster Hand, was daran oft eine gemeinsame Ausgangsfrage haben, her, dass sie nicht so schwierig ist. Pascal formuliert es radikal: nämlich: Wie komme ich zur Ruhe, wenn »Nichts ist dem Menschen so unerträglich, alles in mir und um mich herum dagegen ruhig in einem Zim- als wenn er sich in vollkommener Ruhe be- arbeitet? Bei der Meditation, zum Beispiel, mer bleiben kön- findet, ohne Leidenschaften, ohne Beschäfti- nehme ich mir vor, zwanzig Minuten oder gungen, ohne Zerstreuungen, ohne Betrieb- mehr in der Stille zu sitzen, und erlebe, wie nen.« samkeit. Dann fühlt er seine Nichtigkeit, am Anfang dieser Zeit mein Kopf von Sor- seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, gen und ängstlichen Gedanken gefüllt ist, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine die mich gar nicht in Ruhe lassen. Wie hoch Leere. Sogleich werden vom Grunde sei- war gestern die Infektionsrate und wie groß ner Seele die Langeweile, der Trübsinn, die die Chancen, dass ich dieses Virus bekom- Traurigkeit, der Kummer, der Verdruss und me? Wie lange noch soll die Kontaktsper- die Verzweiflung aufsteigen.« Beim Schrei- re bestehen? Wie werde ich das überhaupt ben dieses Zitats kommt bei mir der Gedan- aushalten? Und dazu kommen natürlich die ke: Wenn nur die Hälfte davon stimmt, kann Probleme und Themen, die ich sonst noch ich doch dankbar sein, dass wir Internet, habe! Um dem allen nicht hoffnungslos aus- Smartphone und Netflix haben, um uns vor geliefert zu sein, bieten an dieser Stelle die dem schwarzen Loch zu schützen! verschiedenen Traditionen der Meditation Oder, anstatt wieder die verlockenden bestimmte Techniken an. In diesem Arti- Fluchtwege zu suchen, könnte ich die Ge- kel wird der Schwerpunkt bei den christli- legenheit nutzen, um zwei Methoden prak- chen Meditationsformen liegen, aber in der tisch miteinander zu vergleichen, die mir Praxis gibt es bei der Vielfalt der religiösen bisher immer wieder geholfen haben – Me- Traditionen viele Gemeinsamkeiten: durch ditation und Focusing. Ohne Zweifel haben die Wahrnehmung der Sitzhaltung und den focusing journal | heft 46/2021 15
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