FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN

Die Seite wird erstellt Rafael Zimmermann
 
WEITER LESEN
FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
FocusingJournal
Z e i t s c h r i f t   f ü r   K u lt u r   d e r   A c h t s a m k e i t
                                                              Heft 46/2021

Alles entspannt sich, wenn es liebevoll betrachtet wird
Das fastende Herz
Zu den Worten hin oder von der Sprache weg?
Wie man strukturgebundenes Verhalten bei Klienten erzeugt
Absichten in Wunschräume verwandeln, Teil II
Lockdown – außen und innen
Gene Gendlin: Zwei Felt Sense-Schnipsel
FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
FocusingJournal
Z e i t s c h r i f t f ü r K u lt u r d e r A c h t s a m k e i t
in der Psychotherapie, in Beratung und Coaching,
im eigenen Leben, in Partnerschaften und Teams,
in Organisationen und Politik ­­– und darüber hinaus

Inhalt
Themen

 2     Alles entspannt sich, wenn es liebevoll betrachtet wird
       i nt e r v i e w mit a n d r ea a u er - h u t z i n g e r

10     Das fastende Herz
       v on To ny Hof ma n n

15     Zu den Worten hin oder von der Sprache weg?
       v on pe t e r l in c o l n

28     Wie man strukturgebundenes Verhalten bei Klienten erzeugt
       v o n kat r i n t om -w i lt s c h k o

31     Absichten in Wunschräume verwandeln, Teil II
	aus e i ne m w eit er b il d u n g ssemin a r m i t J o h a n n e s W i lt s c h ko

38     Lockdown – außen und innen
       v on k ri m h il d k ö n ig

42     Gene Gendlin: Zwei Felt Sense-Schnipsel
       ge fu nde n a u f ein er a lten f est p l at t e v o n joh a n n e s w i lt s c h ko

Termine

 9	OFT: Online-Focusing-Time – kostenlos
20	Wasser, Wind und Wohlfühlspur
21     Focusing und ETC (Embodied Critical Thinking)
22     Die Weiterbildung Basis
22     Die Weiterbildungen in Prozessphilosophie
23     Die Weiterbildungen in Focusing-Therapie
24     40. Internationale Focusing Sommerschule 2021
44	Alle Aus- und Weiterbildungen auf einen Blick
FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,
vor einiger Zeit, auf einem Kongress, kam eine von mir sehr geschätzte Kollegin auf mich
                                                                                                    I mp r essu m
zu und sagte: »Die Beiträge in eurem Focusing-Journal sind mir angesichts der globalen
und nationalen Bedrohungen und Konflikte viel zu sehr auf die subjektiven Innenwelten               Herausgeber:
bezogen. Wo bleiben eure Aussagen zur drohenden Klimakatastrophe, zur AfD, zu all den               Prof. Dr. Johannes Wiltschko
Ungerechtigkeiten in der Welt?«                                                                     Die Akademie für Focusing,
                                                                                                    Focusing-Therapie und Prozess­
     Da hat sie bei mir ins Schwarze getroffen. Zunächst jedenfalls. Das Gefühl der Ohnmacht
                                                                                                    philosophie
gegenüber ökonomischen, dennoch von Menschen gemachten und bis aufs Blut verteidigten
                                                                                                    Wagnergasse 6, 83410 Laufen
Verhältnissen – globale Ausbeutung von Menschen und »Natur« aufgrund von angeblich                  www.daf-focusing-akademie.com
uns innewohnendem Wachstums- und Profitstreben, Konkurrenzverhalten und der Gier, die
niemals satt wird – führt auch bei mir gelegentlich zum Rückzug in biedermeierliche Kom-            Redaktion:
fortzonen und verträumte Innenwelten. Obwohl ich nie der Meinung war – auch wenn es mir             Redaktionelle Mitarbeit:
                                                                                                    Hans Neidhardt
als ehemaliger Adept C.G. Jungscher und fernöstlicher Lehren nahegelegt wurde –, dass eine
                                                                                                    Focusing International:
Veränderung der Verhältnisse nur durch innere Wandlung zu erreichen sei.                            Dr. Evelyn Fendler-Lee
     Focusing wird manchmal so verstanden, als würde es sich dabei um eine egozentri-               Internationale Publikationen:
sche Nabelschau handeln, die zu sozialer Entsolidarisierung und politischem Relativismus            Dr. Tony Hofmann
führe. So, als wäre es eine ausschließlich nach innen gerichtete und dort nur sich selbst           Textredaktion: Karin Schwind,
                                                                                                    Meggi Widmann
antreffende, kurz eine solipsistische Methode.
                                                                                                    Graphik und Bildbeschaffung:
     Warum ist das ein grundfalsches Verständnis? Schon wenn man bloß die ersten Seiten             Sigrun Lenk
von Gendlins »Ein Prozess-Modell« liest, löst sich dieses Missverständnis in Luft auf. Hier,        Layout und Satz: Regina Rilz
auf dieser Seite, genügt vielleicht schon der Hinweis, dass sich der Zentralbegriff »Felt           Schlussredaktion:
Sense« nicht auf ein »Ich« bezieht, sondern immer auf eine Situation, auf die Situation, in         Johannes Wiltschko

der sich jemand befindet. Gendlins Situationsbegriff schließ die Gesamtheit der um- und
                                                                                                    Bilddnachweis:
innerweltlichen »Faktoren« ein als eine spürbare Ganzheit. Na, und wenn man sich auf die-           Sigrun Lenk: Cover und Seite 17,
se wahrnehmbare Ganzheit unmittelbar bezieht, wird man auf viel mehr, auf viel, viel mehr           33, 34, 42
treffen als auf ein Ego, das nur an seinen Vorteilen interessiert ist.                              Elisa Hutzinger: 4
     Das, was man dann oft unerwarteterweise bemerkt – und um das man sich nicht mehr               Tony Hofmann: 13
                                                                                                    Katrin Tom-Wiltschko: 29
herumdrücken kann –, geht einen etwas an, berührt einen und drängt nach einem weiteren
                                                                                                    Krimhild König: 39
Schritt. Und es zeigt dessen Richtung auch schon an. Eine Richtung hinaus in die Welt. In
die Beziehungen, die man hat, in die Verhältnisse, in denen man lebt. Natürlich, man kann           Erscheinungsweise:
sich entscheiden, Einsichten, die gekommen sind, und Handlungsimpulsen, die sich richtig            zweimal jährlich (Juni, November)
anfühlen, nicht zu folgen. Die Freiheit, die in dieser Entscheidungsmöglichkeit liegt, zu
bemerken und zu würdigen, ist ein eminent politischer Akt. Ebenso wie das Bemerken und              Einzelpreis:
                                                                                                    als E-Paper: kostenlos
Ernstnehmen der Tatsache, dass das Nach-innen-Richten der Aufmerksamkeit ein nicht
                                                                                                    als Zeitschrift gedruckt und
nur gedachter, sondern leibhaft gespürter Zugang zur Welt ist, zu Mitmenschen, zu allem,            gebunden: € 15,–
was ist. Und in diesem sich Vorfinden in der je eigenen Mitwelt sind Solidarität, Verant-           inkl. Porto und Versand
wortung und Mitgefühl schon als gefühlt enthalten. Man muss sie nicht als moralische
Werte »lernen«, eingetrichtert kriegen und dann »befolgen«.                                         Den Link zu diesem Heft
                                                                                                    finden Sie auf
     Dass das so ist, setzt voraus, die Haltung und die Praxis zu leben, die zum Beispiel im
                                                                                                    www.daf-focusing-akademie.com
und mit Focusing aufgezeigt und ermöglicht werden. Haltung und Praxis schließen als
                                  conditio die Gleichwertigkeit aller Menschen (und aller           Ihre Beiträge mailen Sie bitte
                                  Lebewesen?) ein. Und da sage noch einer, dass Focusing als        als WORD-Datei an
                                  Praxis und als prozesshafte Philosophie unpolitisch sei!          jw@daf-focusing-akademie.com

                                       Felt Senses, also das Fühlen der Gesamtheit der (im-
                                                                                                    Redaktionsschluss:
                                  mer nur gegenwärtig existierenden) Situation impliziert           1. April und 1. Oktober
                                  eine ökonomisch, ökologisch und sozial auf Gerechtigkeit
                                  zielende, gewaltablehnende politische Haltung und ein             Erscheinungsdatum dieses
                                  ebensolches Verhalten inklusive der Freiheit, sich dafür auch     Heftes: Mai 2021
                                                                                                    ­
                                  tatkräftig zu engagieren.
                                                                                                    © DAF-AKADEMIE 2021
                                                                                                    ISSN 1861-6178
                                Herzliche Grüße
                                Johannes Wiltschko

                                                                                           focusing journal | heft 46/2021         1
FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
Themen

Alles entspannt sich, wenn es
liebevoll betrachtet wird
Cranio und Focusing – warum die Methoden so gut
zusammenpassen
■ ■ I n t e rview m it Andr ea Auer -Hutzin ger

                              Andrea Auer-Hutzinger praktiziert und unterrichtet Craniosacrale Biodynamik, eine beson-
                              ders sanfte Weiterentwicklung der Osteopathie. Zugleich arbeitet sie als Focusing-Beraterin.
                              Ihr Interesse gilt den Parallelen zwischen den beiden Methoden sowie möglichen Verbindun-
                              gen in der Praxis. Die Physiotherapeutin Anke Zillessen arbeitet ebenfalls mit Cranio und
                              Focusing und hat Andrea interviewt.

                              ANKE: »Cranio und Focusing lassen sich so            Beim Focusing ist es genauso. Im Sinne
                              gut kombinieren, weil beide Methoden auf        der Fortsetzungsordnung besteht nicht nur
                              ähnlichen Grundannahmen beruhen«, so            körperlich, sondern auch psychisch und
                              lese ich in deiner Seminarausschreibung für     seelisch die Tendenz, zu einem angemesse-
                              die Focusing-Sommerschule am Achberg.           neren Gleichgewicht zu kommen. Und auch
                              Magst du beschreiben, wo für dich die Ähn-      hier ist es das Allerwirkungsvollste, wenn
                              lichkeiten der beiden Methoden liegen?          die Focusing-Beraterin oder -Therapeu-
                                                                              tin gut eingestimmt mit sich selbst diesen
                              ANDREA: Ich fang mal mit Cranio an. Die         Focusing-Prozess begleitet. Da sehe ich die
                              wichtigste Grundannahme: In unserem             Parallelen – beides ist für mich ganz funda-
                              Körper sind Fähigkeiten angelegt, sich selbst   mental.
                              regulieren zu können, wenn die Umstände
                              gut sind. Es gibt also eine uns innewohnen-     ANKE:    Das passt auch gut zu den Texten auf
                              de Lebenskraft, die in Richtung Heilung,        deiner Website. Dort habe ich – mit Erstau-
                              Ganzheit, Balance tendiert. Was ich als Cra-    nen – folgende Sätze gelesen: »Craniosacrale
                              nio-Praktizierende im Wesentlichen tue: Ich     Körperarbeit unterstützt bei seelischen Pro-
                              gebe dieser Selbstregulation des Körpers,       zessen wie Veränderung und Entscheidung
                              dieser Lebenskraft Raum.                        (...)«. Und zu Focusing: »(…) die in uns an-
                                  Es gibt natürlich ganz viel Theorie, und    gelegten Selbstregulations- und Selbsthei-
                              man kann Cranio von so vielen Seiten aus        lungskräfte können uns von alten Zwängen
                              erklären: Über die Rhythmen – die soge-         und Mustern befreien.« Ich hätte es viel-
                              nannten craniosacralen Tides, über die          leicht genau andersherum formuliert.
                              Bewegung der Schädelknochen, über das
                              Nervensystem, über den Breath of Life, die      ANDREA:   Spannend, dass du mich darauf
                              dynamische Stille, … Doch das Wesentli-         ansprichst. Wenn ich es genau umgekehrt
                              che ist für mich die Grundidee, dass diese      geschrieben hätte, hätte es genauso ge-
                              Selbstregulation besonders gut funktioniert,    stimmt!
                              wenn ich sie als gut eingestimmte Praktike-         Es gibt ja so einen unglaublichen
                              rin begleite.                                   Dschungel von Methoden. Für mich ist es

2   focusing journal | heft 46/2021
FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
Themen

essenziell, dass für die Methoden, die ich        ANDREA:   Ja, es kann sein, dass das System
praktiziere, etwa Folgendes gilt: »Alles ent-     so reagiert: »Nein, nein, sicher nicht. Jetzt
spannt sich, wenn es da sein darf und wenn        nicht. Nein, das bleibt jetzt schön fest.« Und
es liebevoll betrachtet wird.« Das stimmt für     dann bleibt es erst mal so komprimiert, wie
Cranio hundertprozentig und für Focusing          es ist.
hundertprozentig!
                                                  ANKE:   Und dann? …
ANKE: Ja, es geht um die Haltung einer
wohlwollenden Zeugenschaft.                       ANDREA:   Dann bleibe ich mit einer offenen,
                                                  nicht wertenden Haltung dabei und denke:
ANDREA:    Ja, genau so – und es ist gut, dass    »Ah ja, es wird schon seinen Grund haben,
es Techniken und Vorschläge gibt – aber die       dass es fest ist. Es hat vielleicht seine Ge-
Basis ist für mich die Haltung. Ich finde, bei    schichte, warum es jetzt noch nicht aufma-
Cranio ist sehr viel Lauschen und Zuhören.        chen kann oder will …«
Das passt für mich so gut, weil wir beim Fo-
cusing ja auch das Listening haben. Das ist       ANKE: Wenn du das sagst, erinnere ich mich
bei Cranio das eingestimmte liebevolle Lau-       gerade an eine Focusing-Weiterbildung bei
schen im Prozess. Wahrnehmen, wie es ist,         Johannes Wiltschko – das liegt über 10 Jahre
verändert oft schon ganz viel.                    zurück. Da haben wir eine Übung im Zwei-
                                                  er-Setting gemacht. Mein mich begleitender
ANKE: Beim Focusing kennen wir ja auch            Übungspartner hat mir einen Vorschlag
das Guiding. Gibt es für dich in der Cranio-      nach dem anderen gemacht und sich so viel
sacralen Biodynamik etwas Entsprechen-            Mühe gegeben. Und ich habe es – in der
des?                                              Klientin-Rolle – nicht übers Herz gebracht,
                                                  ihm zu sagen, dass die Vorschläge leider alle
ANDREA:    Ja, in der Cranio wäre das Gui-        für mich nicht passen. Johannes hatte das
ding, wenn wir zu etwas einladen. Wie             offenbar von Weitem mitbekommen und
beim Focusing ist es während einer Cranio-        hat uns dann »erlöst«, indem er – mit einem
Behandlung so, dass ich lausche – lausche         Augenzwinkern – sagte: »Anke, du musst
– lausche … und dann zwischendurch Ein-           nicht jeden Käse, den man dir anbietet, es-
ladungen gebe. Als Beispiel: Ich spüre mit        sen.«
meinen Händen am Kopf der Klientin, dass
zwei Schädelknochen zu nah beieinander            (Beide lachen)
sind. Die Nähte, die die Schädelknochen
miteinander verbinden, fühlen sich kom-           ANDREA:   Ja, das kann ja auch etwas Krän-
primiert an, sie sind fest und gehen mit den      kendes für den Therapeuten haben, wenn
organischen Bewegungen nicht gut mit. Ich         die ganzen guten Ideen und Angebote nicht
habe dann vielleicht den inneren Impuls,          so gut ankommen.
einzuladen, im Sinne von »Könntest du hier
mehr Raum geben?«                                 ANKE: Oh ja – und gleichzeitig kann das
     Also ich spreche mit dem Knochen. Ich        für die Klientin ja Ausdruck ihrer Selbst-       Ich spreche mit
lade den Knochen ein … oder die Kontakt-          heilungskräfte sein, wenn sie sich den Vor-
stelle zwischen den beiden Knochen: »Wie          schlägen der Therapeutin oder des Thera-
                                                                                                   dem Knochen. Ich
wäre es denn für dich, weit zu werden?« –         peuten freundlich widersetzt …                   lade den Knochen
das ist noch ein bisschen dezenter gefragt.
                                                  ANDREA:   Jaja, genau! … Das ist schön, mit      ein …
ANKE:   Eine offenere Frage …?                    dir so darüber zu sprechen!

ANDREA:   Ja, weniger Aufforderung – mehr         ANKE: Wir sind anfangs gleich mit den
offene Frage. Und jetzt kann es sein, dass die-   Parallelen der beiden Methoden in unser
ser Körperbereich diese offene Frage bereit-      Interview eingestiegen. Vielleicht gibt es
willig annimmt, weil er quasi darauf gewar-       Leser*innen, die Cranio noch nicht kennen.
tet hat und nur eine Erinnerung brauchte:         Magst du beschreiben, was Craniosacrale
»Ah, es gibt auch so etwas wie weit werden.«      Biodynamik ist?

ANKE: Ja gut … – und was ist, wenn der Kör-       ANDREA:  Der Ausdruck »craniosacral«
per der Klientin das nicht will? …                kommt von den lateinischen Worten »crani-

                                                                                            focusing journal | heft 46/2021   3
FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
Themen

                                      Achtsamer Dialog: Die Hände lauschen den Bewe-
                                      gungen der Schädelknochen und »sprechen« mit
                                      ihnen.

                                      An- und abschwellende Cranio-Bewegungen sind
                                      im Zentrum und am gesamten Körper spürbar.

                                      Wie unglaublich viel Berührung ausmacht! Cranio-
                                      Praktizierende geben der Selbstregulierung Raum.

4   focusing journal | heft 46/2021
FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
Themen

um« – das ist der knöcherne Schädel – und       ANKE:  Und ist damit nicht auch eine Art
»sacrum« – das ist das Kreuzbein. Zwischen      überpersönlicher, quasi göttlicher Atem ge-
diesen beiden Polen befinden sich die zen-      meint, also eine spirituelle Dimension?
tralen Anteile des craniosacralen Systems.
Das sind bestimmte Knochen, Membrane,           ANDREA:    Ich persönlich beziehe mich auf       Ich persönlich be-
die Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit –        die Haltung, dass alles Leben, alle Phänome-
Liquor genannt – und das zentrale Nerven-       ne aus der Stille kommen. Aus einem großen
                                                                                                 ziehe mich auf die
system. Wir kontaktieren Rhythmen, also         Feld, einem Ort von Potential. Bei uns in der    Haltung, dass alles
an- und abschwellende Bewegungen, die           Biodynamik heißt es »dynamische Stille«. In
hier im Zentrum, aber auch am ganzen Kör-       anderen Zusammenhängen ist es so etwas           Leben, alle Phä-
per wahrnehmbar sind.                           wie die Schöpfungsebene, die Quelle. Für         nomene aus der
     Nun zum Wort Biodynamik. Ich finde,        mich ist das immer auch mit einem großen
es ist immer eine Herausforderung, das zu       Geheimnis verbunden – ich muss die Augen         Stille kommen. Aus
definieren. Biodynamik heißt ja eigentlich      schließen, wenn ich darüber spreche – mit        einem großen Feld,
»Dynamik des Lebendigen«, und das ist           einem großen Geheimnis und auch mit ei-
etwas so Großes, dass ich Scheu habe, das       nem Wunder, wie und warum Cranio wirkt.          einem Ort von
festzumachen. Ich erklär‘s mal so: Andrew       Egal, wie ich es erkläre und unterrichte und     Potential.
Lloyd Still gilt als der Begründer der Osteo-   praktiziere, es bleibt immer wie ein Wun-
pathie. Er war ein sehr naturverbundener        der. Etwas ganz großes Helles, das ich nicht
und spiritueller Mensch. Im Zentrum sei-        wirklich ganz mit Worten beschreiben kann.
ner Aufmerksamkeit stand, die Quellen der
Gesundheit zu finden und nicht primär die       ANKE:  Ja, das hat etwas Wunderbares, Un-
Quellen der Krankheit.                          fassbares. Das begegnet mir in meiner Pra-
     William Garner Sutherland, einer seiner    xis auch immer wieder. … Lass uns vielleicht
Schüler, hat die Rhythmen und Bewegun-          nochmal den Bogen zum Focusing schlagen.
gen des Körpers zunächst eher mechanisch        Hat Gene Gendlin nicht mal so etwas gesagt
erklärt: über den Druck und das Fließen         wie, dass wir immer eingebettet sind in ein
der Flüssigkeiten, die Hebelwirkungen der       »Mehr«, das antwortet? Gibt es also im Fo-
Knochen, die Zugspannungen der Häu-             cusing etwas vergleichbar Geheimnisvolles,
te und Membrane. Also eine mechanische          Wunderbares? Wie erlebst du das?
osteopathische Sichtweise. Mit zunehmen-
dem Alter hat sich Sutherlands Erklärung        ANDREA:    Hm …, meine spontane Antwort
der Phänomene, die er wahrgenommen hat,         ist: Ja. Und das hat für mich mit dem zu tun,
aber verändert. Er hat immer mehr von ei-       über das wir ganz zu Beginn gesprochen ha-
nem »Breath of Life«, dem Atem des Lebens,      ben: Da ist diese Kraft, die in uns Menschen
gesprochen, der so etwas wie der zündende       drin ist – oder uns gegeben ist. Dass wir uns
Funke und die Antriebskraft hinter den Be-      zu etwas Hellem oder zu einer Ganzheit hin
wegungen sei.                                   entwickeln wollen.
     Die craniosacralen Schulen, die sich             Und dann ist es so, dass wir als Focu-
nach Sutherland entwickelt haben, beziehen      sing-Begleiterin oder -Therapeutin das ja
sich entweder eher auf seine früheren Schaf-    nicht aussprechen müssen – wir müssen es
                                                den Menschen nicht vorher sagen. Es hat
                                                                                                 Ich verbinde mich
fenszeiten, das sind die biomechanischen,
oder auf seine späteren, das sind dann die      auch ganz viel mit der eigenen Haltung zu        mit dem Wissen
biodynamischen Richtungen, wie du und           tun. Man kann auch mit Leuten Cranio oder
ich sie praktizieren.                           Focusing machen, die nicht bewusst über          und der Zuver-
                                                eine spirituelle Anbindung nachgedacht ha-       sicht, dass es im
ANKE:   Magst du noch etwas zum »Breath of      ben – das ist überhaupt nicht Bedingung.
Life«, dem Atem des Lebens, sagen?              Weißt du, was ich meine?                         Menschen diese
                                                                                                 Kraft des Carrying
ANDREA:   »Breath of Life« ist eine Bezeich-    ANKE:    Ja, total! Das sehe und spüre ich ge-
nung für Lebenskraft – ein anderer Begriff      nauso.                                           forward gibt, also
für Chi oder Prana. Und wir finden das ja                                                        diese starke unaus-
auch in der älteren Sprache: Redewendun-        ANDREA: Und wenn ich das jetzt ein bisschen
gen wie »der Odem des Lebens« oder »Er          weiter fasse, verbinde ich mich als Begleite-    löschbare Tendenz,
hauchte sein Leben aus«. Damit sind das Le-     rin in einem Focusing-Prozess mit diesem,
                                                                                                 gesund zu werden
ben und die Lebenskraft gemeint.                ich will jetzt nicht sagen »Glauben«, aber
                                                mit dem Wissen und der Zuversicht, dass es       und zu wachsen.

                                                                                          focusing journal | heft 46/2021   5
FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
Themen

                              im Menschen diese Kraft des Carrying for-        ANDREA:    Diese sanfte Art, wie wir im Cra-
                              ward gibt, also diese starke unauslöschbare      nio berühren, die ist im besten Fall ja eine
                              Tendenz, gesund zu werden und zu wachsen         raumgebende Berührung, ein Container –
                              und – wie ich vorher gesagt habe – dass es       wie wir sagen –, also so etwas wie ein halt-
                              heller wird. Diese Haltung hat einen Einfluss    gebendes Gefäß. Und manchmal braucht es
                              auf den Prozess und auf das Beziehungsfeld       eine feste Berührung, so dass das Nerven-
                              zwischen Praktikerin und Klientin.               system die Ich-und-Du-Grenze spürt.
                                   Und wenn ich nochmal zur Craniosac-             Wenn ich in Cranio-Behandlungen die-
Ganz wunderbar ist            ralen Biodynamik hinschaue: Ganz wun-            se Anfangsübungen anbiete – an einen gu-
                              derbar ist ja der Berührungsaspekt – wie         ten Ort führen und erden –, dann frage ich
ja, wie unglaublich
                              unglaublich viel die Berührung ausmacht!         zurzeit viel mehr als sonst: »Ist es gut, wenn
viel die Berührung            Ich finde es immer so interessant, wenn man      ich dich jetzt berühre oder soll ich lieber
                              sich die Embryologie anschaut: Das Ner-          noch ein wenig neben dir sitzenbleiben?«
ausmacht!                     vensystem und die Haut, die sind aus dem         So dass ich die Klientin mit reinhole in diese
                              gleichen Keimblatt entstanden, aus dem Ek-       Frage. Manche sagen dann: »Ja, bitte berühr
                              toderm.                                          mich, ich warte schon seit fünf Minuten.«
                                   Oft wird die Haut ja nur als Hülle gese-    Da spüre ich dann auch eine große Unge-
                              hen. Es ist schön, sich bewusst zu machen,       duld. Andere Klientinnen sagen: »Nein, ich
                              dass der Tast- und Berührungs-Sinn der ers-      brauche noch ein bisschen, ich warte noch
                              te Sinn ist, den wir entwickelt haben – im       ein paar Minuten.« Ich sage dann: »Magst
                              Mutterleib. Über den waren wir in Kontakt        du einfach sagen, wann es geht – ich sitze
                              mit der Umgebung. Sobald wir berühren,           einfach hier und bin mal gut in Kontakt mit
                              sprechen wir also auch einen wichtigen Sinn      mir selbst – und auch mit dir, ohne dich zu
                              an und das Nervensystem. Das kann un-            berühren. Sag mir, wenn’s für dich passt und
                              glaublich nährend sein, verlangt aber auch       du berührt werden willst.«
                              Respekt. Die physische Berührung, das ist
                              etwas, das das Focusing nicht hat.               ANKE:   Ja, das Mitgestalten des Kontakts ist
                                                                               oft das Stimmigste! Und: Ja, auch ich erlebe
                              ANKE: Oh, doch! Ich schätze physische Be-        derzeit in meiner Praxis, dass in der Pande-
                              rührungen auch im Focusing als eine gute         mie-Situation die Themen rund um Kontakt
                              Möglichkeit des spontanen Prozess-Beglei-        und Trennung sehr in den Vordergrund
                              tens – neben anderen Möglichkeiten!              kommen.

                              ANDREA: Ich mach’s in meiner Praxis eigent-      ANDREA:    Man könnte sagen: Die frühen
                              lich so: Wenn Leute für Focusing kommen,         Bindungstraumata – es geht jetzt richtig
                              dann berühre ich sie eigentlich selten – inte-   ans Eingemachte. Von mir selber kann ich
                              ressanterweise. Dann ist es so, dass wir uns     sagen, dass ich Gott sei Dank in guten Le-
                              auf Sesseln gegenübersitzen. Was ich schon       bensumständen lebe, ich lebe in einer guten
                              mache: Dass ich die Leute – wenn es sich er-     Partnerschaft und liebe meinen Beruf. Und
                              gibt – einlade hinzuspüren, wo jetzt eine Be-    dennoch muss ich wirklich schauen, dass
                              rührung gut wäre. Und sich dann selbst dort      ich gut stabil bleibe – also es ist wirklich eine
                              zu berühren. Das hat oft eine überraschende      große Herausforderung.
                              Wirkung.
                                                                               ANKE: Ja, das ist es! Glücklicherweise kön-
                              ANKE:   Das stimmt, allein das Selbstberüh-      nen wir uns mit Cranio und Focusing ja
                              ren kann sehr wirkungsvoll sein! Mir geht        wunderbar nähren und stärken. Wirst du in
                              es inzwischen so, dass ich in meiner Pra-        deinem Seminar auf der Sommerschule dar-
                              xis seltener zwischen den hands-on- und          auf auch eingehen?
                              hands-off-Methoden unterscheide. Die
                              meisten meiner Klient*innen suchen eine          ANDREA:    Ja, das werde ich! Ich stell mir ein
                              Art körperorientierter Lebensbegleitung –        Setting vor, in dem wir uns spielerisch dem
                              also etwas Ergänzendes zu den gewohnten          craniosacralen Berühren und vor allem auch
                              Psychotherapie- oder Physiotherapie-Set-         dieser bestimmten inneren Haltung nähern.
                              tings. Sie erhoffen sich etwas Verbindendes,     Das kann im Liegen stattfinden oder auch
                              Integrierendes. Und das kann sich beispiels-     im Sitzen. Eine eingestimmte Berührung
                              weise während einer physischen Berührung         fördert ja die Selbstwahrnehmung sehr, das
                              ereignen.                                        heißt, über die Berührung durch einen an-

6   focusing journal | heft 46/2021
FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
Themen

deren Menschen kann ich mich selber bes-        sitze und du in Freiburg – das ist wie ein
ser spüren. Allein das stärkt schon gewaltig.   weites spürbares Feld. Ich weiß nicht, wie
Und unser Körper liebt es, berührt zu wer-      viele Kilometer das sind … Und das Feld
den, ohne dass von ihm etwas Bestimmtes         hat etwas Verbundenes für mich, auch dir
verlangt wird, also ohne Leistungsdruck.        gegenüber jetzt, aufgrund unseres Aus-
Mir fällt grad ein: Das ist Freiraum für den    tauschs. Vielleicht weil wir eine ähnliche
Körper!                                         Berufsrichtung haben? Das Feld hat auch
                                                noch eine andere Qualität: Es ist wirklich
ANKE: Könnte Freiraum für den Körper viel-      so weit! Für mich hört das Lernen nie auf.
leicht auch heißen, dass sich für mich eine     Es gibt immer noch andere Aspekte, die in-
Berührung im Moment gar nicht passend           teressant sind …
anfühlt – und ich lieber auf andere Weise in
Kontakt bin?                                    ANKE:   … und die wir jetzt vielleicht nur
                                                gestreift oder gar nicht benannt haben. Ich        Andrea
                                                                                                   Auer-Hutzinger
ANDREA:   Ja, natürlich, es gibt Momente        bin auch sehr berührt davon, was wir beide
                                                                                                   ist Craniosacral-Therapeutin,
oder Phasen, wo es ganz stimmig ist, ohne       Kostbares miteinander austauschen können.          Lehrende und Mitglied im
physische Berührung in Kontakt zu sein.         Wenn ich mich auf dieses weite Beziehungs-         Leitungsteam an der Wiener
Damit werden wir im Seminar auch expe-          und Methoden-Feld einlasse, spüre ich so           Schule für Craniosacrale Biody-
rimentieren.                                    eine Zuversicht, dass darin alles eingebettet      namik; diplomierte psychologi-
                                                ist, was wir miteinander teilen – und was          sche Beraterin und Focusing-
                                                                                                   Beraterin (DAF); seit 30 Jahren
ANKE: Klingt gut, das wird bestimmt ein er-     wir nicht miteinander teilen konnten. Alles,       in den Bereichen Körperarbeit,
holsames und nährendes Seminar! Gibt es         was wir benannt haben und was wir nicht            Stressrelease, Selbstregulation
denn zum Schluss unseres Gesprächs noch         benannt haben. Es ist alles eingebettet – und      und psychologische Prozess-
etwas, das wir bisher nicht angesprochen        im Grunde ist es im Großen und Ganzen gut          begleitung tätig.
haben? Etwas, das dir besonders am Herzen       aufgehoben!                                        www.behandlungs-raum.at
liegt?
                                                ANDREA:    Ja, schön. Das spricht mich an,
ANDREA: Also jetzt gerade taucht nichts wei-    im Sinne dieser wirklich positiven Grund-
ter auf. Es ist eher so wie eine große ruhige   haltung, die ich Menschen gegenüber habe.
Ebene, wie so ein weites Feld. … Irgendwie      Das erinnert mich jetzt an das, wo wir vor-
taucht noch das Wort »Beziehungsfeld« auf,      her mal waren, dass der Körper die Kraft
was beim Focusing ja genauso existiert wie      hat, in Richtung Ganzheit und Helligkeit zu
bei der Craniosacralen Biodynamik. Ich fin-     tendieren – dass er eingebettet ist. Ja, das ist
de grad noch nicht die Worte dafür …            sehr rund so!

ANKE: Mir kommt dazu eine Idee. Du könn-        ANKE:   Andrea, ich danke dir sehr für die
test ja auch nochmal hinhorchen, wie es sich    Zeit, dein Dasein und deine Präsenz!
jetzt gerade anfühlt – hier, wir beide im Ge-
spräch vor unseren Bildschirmen. Wir kön-       ANDREA:   Und danke, Anke, dass du die
nen ja auch unsere Interview-Beziehungs-        Idee zu diesem Interview hattest und mich
                                                                                                   Anke Zillessen
ebene zum Thema machen.                         gefragt hast! … Dann winke ich aus Wien            lebt in Freiburg und arbeitet
                                                – Ciao!                                            dort in eigener Praxis als
ANDREA:  Ja, damit hat es etwas zu tun! Es                                                         Physiotherapeutin, Cranio-
spricht mich so an, dass ich hier in Wien       ANKE:   … und ich aus Freiburg – Tschüss!          sacral-Praktizierende (CSVD),
                                                                                                   Focusing-Therapeutin (DAF)
                                                                                                   und Systemaufstellerin (DGfS).
                                                                                                   Als Germanistin M.A. schreibt
                                                                                                   sie auch Texte und führt gerne
                                                                                                   Interviews. Mehr zu ihrer Arbeit:
                                                                                                   www.ankezillessen.de,
                                                                                                   kontakt@ankezillessen.de

                                                                                           focusing journal | heft 46/2021        7
FOCUSINGJOURNAL - ANKE ZILLESSEN
Andrea Auer-Hutzinger

                      wird auf der diesjährigen Internationalen Focusing Sommerschule das Seminar

    Cranio + Focusing: achtsames Berühren und focusingorientiertes Begleiten

                                               anbieten. Sie schreibt dazu:

    »Craniosacrale Biodynamik ist eine aus der Osteopathie entstandene sanfte und gleichzeitig tiefgehende manuelle
    Körperarbeit, die die Selbstheilungskräfte anregt und tiefsitzende Blockaden lösen kann.
        Dieses Seminar wird einen Einblick in die interessante Welt der inneren Craniobewegungen und in die Haltung
    dieser Berührungs-Arbeit geben.
        Wir ›reparieren‹ kein System, das aus dem Lot gekommen ist, sondern tragen mit unserer inneren Ausrichtung
    dazu bei, dass sich Körper, Geist und Seele ›von selbst‹, von innen heraus im eigenen Tempo in einen Regenera-
    tions-, Wachstums- und Entwicklungsprozess begeben können.«

    Teilnahmevoraussetzung: Grundkenntnisse in Focusing und Freude an Berührung

Anzeige

                                               Gut durch den Tag
                         Ulrike Pilz-Kusch
                         60 Impulskarten
                         Kraftvoll durch den Tag
                         2017 | € 34,95 D
                         ISBN 978-3-407-36639-9

                                                      Ulrike Pilz-Kusch
                                                      Burnout: Frühsignale erkennen –
                                                      Kraft gewinnen
                                                      Mit E-Book inside
                                                      2020 | 216 Seiten | € 34,95 D
                                                      ISBN 978-3-407-36714-3
                                                      Auch als E-Book erhältlich

                    Ulrike Pilz-Kusch                                                   Ulrike Pilz-Kusch
                    8 Schlüssel gegen Stress und Burnout                                Abschalten, entspannen und auftanken
                    Focusing-Übungen für mehr Kraft am Ar-                              Achtsam und stark durch den Tag mit einfa-
                    beitsplatz. Audio-Ratgeber mit Übungen.                             chen Focusing-Übungen. Audio-Ratgeber
                    Gelesen von Ulrike Pilz-Kusch.                                      mit Übungen. Gelesen von Ulrike Pilz-
                    Laufzeit 80 Minuten.                                                Kusch. Laufzeit 80 Minuten
                    2017 | € 22,99 D                                                    2017 | € 22,99 D
                    ISBN 978-3-407-36653-5                                              ISBN 978-3-407-36654-2

                                         Das komplette Beltz
                                         Coaching-Programm:
                                                                                                           beltz.de/coaching

8    focusing journal | heft 46/2021
Termine

oft:
                Online-Focusing-Time – kostenlos

 Aussteigen aus dem Alltag – Einsteigen in die Welt des Focusing
 In dieser Lockdown-Zeit mit sich selbst eine kreative und heilsame Zeit verbringen

 OFT ist die Gelegenheit, Focusing kennenzulernen und/oder an Focusing dranzubleiben – für alle, die Lust dazu ha-
 ben und die neugierig sind, ob Focusing auch für sie etwas sein könnte. Und natürlich auch für Focusing-Erfahrene,
 die sich eine begleitete Focusing-Runde gönnen möchten. Mit OFT nimmst du dir eine Auszeit, in der sich innerlich
 wieder alles ordnet und sich Wesentliches von Unwesentlichem scheidet. Und du kannst dabei …
              … wieder auftanken
              … den »Focusing-Faden« nicht verlieren bzw. wiederfinden
              … DozentInnen der DAF-AKADEMIE und
              … neue Leute für Partnerschaftliches Focusing kennenlernen

 Ablauf einer OFT-Session: Themeninput – Gruppenfocusing – Sharing (Möglichkeit, sich mitzuteilen und auszutau-
 schen). Anschließend gibt es für die, die Focusing schon können, Gelegenheit, im Partnerschaftlichen Focusing mit
 einer anderen TeilnehmerIn persönliche Themen zu fokussieren.
 Wir folgen der inneren Wohlfühlspur! Steig mit ein!

 Anmeldung ist nicht erforderlich!
 OFT wird es in den nächsten Wochen oft geben, und zwar mittwochs von 18:00 bis ca. 18:45 Uhr.

             Termin: 		 Mittwoch, 12.05.2021, 18:00 Uhr – ca. 18:45 Uhr
             Thema:     Focusingorientierte Selbstfürsorge
             Leitung: 	Katrin Tom-Wiltschko

             Termin: 		 Mittwoch, 09.06.2021, 18:00 Uhr – ca. 18:45 Uhr
             Thema: 	Mit-Sein
             Leitung:   Johannes Wiltschko

             Termin: 		 Mittwoch, 30.06.2021, 18:00 Uhr – ca. 18:40 Uhr
             Thema: 	Humor (diesmal ohne Partnerschaftliches Focusing)
             Leitung: 	Karin Mayer

             Termin: 		 Mittwoch, 21.07.2021, 18:00 Uhr – ca. 18:45 Uhr
             Thema:     Focusing und Gebet: »Ich-bin-ich-bin-da«
             Leitung: 	Martha Hellinger

                 Weitere Termine mit weiteren Dozent*innen und Themen und den Zugangslinks siehe
                             www.daf-focusing-akademie.com/online-focusing-time-oft/

             Wir freuen uns über einen freiwilligen Beitrag zur Finanzierung ermäßigter Ausbildungsplätze:
                               DAF-AKADEMIE, IBAN: DE85 7105 0000 0020 4688 23

                                                                                      focusing journal | heft 46/2021   9
Themen

Das fastende Herz
Kann Zen Focusing vorantragen? Überlegungen
am Beispiel der künstlerischen Fotografie
■ ■ V o n T o n y H ofm ann

                               I  ch gebe Büchern manchmal neue Namen.
                                  Dadurch versuche ich, mir einen eigenen
                                Reim auf das zu machen, was ich lese. Diese
                                                                                 direkt. Er schreibt zunächst aus philosophi-
                                                                                 scher Sicht über verschiedene Zen-Themen,
                                                                                 die auch in der westlichen Philosophie eine
                                Titel passen dann meinem subjektiven Emp-        Rolle spielen. Dann kontrastiert er diese
                                finden nach besser zu dem, was ein Buch          Inhalte mit Zen. Im Wesentlichen läuft das
                                für mich bedeutet, als der Original-Titel.       einfach darauf hinaus, dass er immer wieder
                                Byung-Chul Hans kleiner Einführung in            auf andere Weise sagt »… und das ist auch
                                die Philosophie des Zen-Buddhismus habe          nicht Zen«. Er dekliniert dabei die Klassiker
                                ich den Alternativtitel »Das fastende Herz«      durch – Descartes, Heidegger, Fichte, Buber
                                verpasst. Diese Formulierung verwendet           – und immer wieder deutet er von deren
                                der Autor selbst an einer Stelle seines Texts.   Verneinung aus auf das eigentlich Unsagba-
                                Sie steht für mich stellvertretend für das ge-   re des Zens hin.
                                samte Buch. Das fastende Herz eines Zen-              Auf diese Weise findet er dann doch
                                Buddhisten, einer Zen-Buddhistin macht           Worte für das, was eigentlich gar nicht
                                sich ganz leer, so, wie der Wanderer Bashô       sagbar ist. Er spricht dabei meistens in
                                dies auf seinen Reisen tut: Sein »ständiges      Metaphern. So spricht er z.B. von einer ar-
                                Wandern ist eine Äußerung seines fasten-         chaischen Freundlichkeit, von einer De-
                                den Herzens, das sich an nichts klammert,        zentrierung (einer Mitte also, die überall
                                sich an nichts festbeißt«1. Bashôs Herz öff-     zugleich ist), und eben auch von einem fas-
                                net sich also auf freundliche Weise für das,     tenden Herzen. Das Fasten, das er hier be-
                                was gerade ist, ohne etwas damit anstellen,      schreibt, ist jedoch nichts Tragisches, es hat
                                ohne etwas daraus machen zu wollen.              nichts mit einem traurigen Verzicht zu tun.
                                     Diese Haltung ist uns auch aus dem          Sondern es geschieht in großer, freiwilliger
                                Focusing wohl vertraut. In diesem Artikel        Leichtigkeit: »Yüe-Shan lacht jedes Begeh-
                                möchte ich zeigen, wie Zen über die klas-        ren, jedes Streben, jede Erstarrung und jede
                                sische Focusing-Haltung, wie ich sie bisher      Versteifung weg, befreit sich in eine schran-
                                verstand, hinausweisen könnte – und am           kenlose Offenheit, die von nichts begrenzt
                                Ende darin (für mich) doch wieder nach           oder behindert ist. Er lacht sein Herz leer.
                                Hause gelangt. Damit es nicht bei rein the-      Das mächtige Lachen entströmt dem ent-
                                oretisierenden Überlegungen bleibt, entfalte     grenzten, ent-leerten und ent-innerlichten
                                ich meine Gedanken am Beispiel der künst-        Geist.«2
                                lerischen Fotografie und der Wirkung der              Die Leere, die Han dabei referenziert,
                                therapeutischen Bildkarten, die als deren        ist also nicht dasselbe wie die Leere einer
                                »Nebenprodukte« aus diesem Schaffenspro-         Depression: »Sie stellt vielmehr eine äußers-
                                zess herausfallen.                               te Bejahung des Seins dar«3. Man lebt also,
                                                                                 tritt man in die Leere des Zens ein, in einem
                                Das Lächeln des Buddha                           durchaus mit Materie und Sinn erfüllten
 1   Han, 2002, S. 84
 2   ebd., S. 34
                                Eigentlich kann man ja über Zen gar nicht        Raum, der aber etwas anderes ist, als die Ver-
 3   ebd., S. 51                schreiben. Weil Zen jenseits der Worte liegt.    haltensräume der Tiere es sind. Es ist auch
                                Han jedoch wagt es trotzdem, und zwar in-        nicht der mit einem (kognitiv verstehba-

10    focusing journal | heft 46/2021
Themen

ren) Sinn erfüllte symbolische Beziehungs-        Methode verstehe, noch gar nicht zu seiner       Der Focusing-Raum
raum der Menschen (Kultur, Gesellschaft,          vollen Blüte gebracht. Kann ich mir ein kon-
Vereinbarungen, Werte und Normen). Der            sequent focusingorientiert gelebtes Leben
                                                                                                   ist jedoch für mich
Raum der Leere ist ein Mehr-als-all-das. Es       vorstellen wie einen stetig voran fließenden     nicht dasselbe wie
ist das Loslassen-von-Allem. Dies zeigt sich      Improvisationsprozess?
auch im heimatlosen Umherwandern der                   Ich habe lange mit der Improvisations-      die Leere des Zen,
Mönche. Es ist ein Loslassen, das zugleich        künstlerin Beatrice Theiler darüber gespro-      weil auch der gro-
ein täglich neues Zu-Hause-Ankommen ist:          chen, wie sich eine Haltung beschreiben
»Das Nirgends-Wohnen stellt keine Welt-           ließe, die ein solches Leben verwirklicht. Be-   ße, offene Raum bei
flucht dar.«4 Da ist dann nur der Pflaumen-       atrice nennt das »Raumern«. Es gibt, wenn        Gendlin stets noch
baum und dieser ist eine Realität, die keine      man raumernd lebt, keine gordischen Kno-
dahinter liegende, keine verborgene oder          ten mehr, die gelöst oder zerschlagen wer-       neue Symbolik
irgendwie noch zu erreichende (Ziel-)Ebene        den müssten. Focusing im klassischen Sinne
                                                                                                   gebiert.
mehr kennt: »Die Welt ist ganz da in einer        wäre dann gar nicht mehr nötig, da ohne-
Pflaumenblüte.«5                                  hin alles im Fluss wäre. Der Übergang vom
                                                  konventionellen Denken, Leben und Han-
Geht Zen über Focusing hinaus?                    deln hin zum raumernden Denken, Leben
Wenn ich Han richtig verstehe, geht Zen so-       und Handeln fühlt sich für mich an wie ein
gar noch über die vorantragende Kreativität       Durch-den-Hochnebel-Wandern: Ich lasse
des Focusing hinaus. Mir war schon immer          mich von meinem Gespür leiten und laufe
vage bewusst, dass mir in den philosophi-         immer ungefähr dorthin, wo die Sonne he-
schen Denkstrukturen, in denen ich mich           rauskommt. Hat man diesen Nebel einmal
bisher bewegte, etwas gefehlt hat. Gendlin        durchwandert, so ist fast überall nur noch
hat beispielsweise im Prozessmodell kei-          Sonne, wie ein leuchtendes, strömendes Da-
ne eigene Begrifflichkeit für diese spezielle     rüberhinaus, in dem ich mich lebendig zu
Art von zen-artig gefüllter Leere. Das Mo-        Hause fühlen kann. Probleme erscheinen in
dell endet zwar beim großen offenen Raum6.        dieser raumernden, sonnendurchströmten
Wenn wir Focusing betreiben, begeben wir          Welt wie schöne Ressourcen, die mir Kraft
uns in diesen kreativen Raum. Der Focu-           geben, da sie die Komplexität und damit die
sing-Raum ist jedoch für mich nicht das-          Fülle meines Lebens anreichern. Je diffiziler
selbe wie die Leere des Zen, weil auch der        ein Problem ist, das ich lösen kann, desto       Ich werde zum
große, offene Raum bei Gendlin stets noch         interessanter wird das Leben, das ich lebe.
neue Symbolik gebiert. Er biegt sich gewis-       Aber ich nehme es dann gar nicht mehr als        Künstler, der sich
sermaßen wie ein Pfeil zurück, in die Welt        Problem wahr, sondern da sind einfach nur        über alles gleicher-
der symbolischen Beziehungen hinein, und          noch viele intrikate Muster, die mich neu-
ändert diese dann auf vorantragende Weise.        gierig machen. Ich werde zum Künstler, der       maßen freuen kann,
Wenn wir unseren Felt Sense, unser ganz-          sich über alles gleichermaßen freuen kann,       was mir begegnet
heitliches Gespür zu einer bestimmten Situ-       was mir begegnet – Problemthemen genau-
ation, befragen, weil wir ein Thema bearbei-      so wie freudige Themen, schwierige und           – Problemthemen
ten wollen, bekommen wir ja immer neue            herausfordernde Situationen genauso wie          genauso wie freudi-
Begriffe, innere Bilder, emotionale Impulse       das, was im Bayrischen »a g’mahte Wiesn«
usw. zurück. Diese können wir dann in die         genannt wird.                                    ge Themen.
symbolischen Welten, in denen wir leben,               Vielleicht würde auch eine echte Zen-
einflechten oder einkreuzen. Wir treffen          Meisterin über uns lachen, wenn wir Prob-
außerdem auch klare Entscheidungen, wir           leme zu lösen versuchen, da sie von vorn-
handeln, ändern etwas im Leben. Die Leere         herein in einer »erfüllte[n], gelassene[n]
des Zens jedoch nimmt derartige Entschei-         Gegenwart«7 lebt: »Diese gelassene Zeit lässt
dungen gar nicht mehr so richtig ernst. Sie       die Zeit der Sorge hinter sich.«8 Oder anders
erkennt sie zwar an, aber sie geht noch einen     gesagt: Da ist noch immer sehr viel »Ego«
Schritt weiter. Sie lässt wirklich los.           im Focusing, wie ich es bisher verstand, mit
     Fehlt diese absolute, freundliche Leere      drin. Was wäre also, wenn ich auch über
dem Focusing, wie ich es bisher verstan-          dieses Ich noch lachen würde und mich
den habe? Vielleicht beschäftige ich mich         noch mehr in die offene Freundlichkeit hi-        4   ebd., S. 93
im Focusing noch viel zu oft mit konkreten        nauswagte, die das Haben von Problemen            5   ebd., S. 24
Problemen, die gelöst werden müssen. Viel-        überflüssig macht? Was wäre, wenn ich mir         6   vgl. Gendlin 2015, Kapitel 8
                                                                                                    7   Han, 2002, S. 112
leicht ist Focusing, wenn ich es als eine abge-   erlauben würde, noch mehr über das Ha-            8   ebd.
grenzte, erlernbare und in sich geschlossene      ben-Können-von-Problemen als solches zu

                                                                                          focusing journal | heft 46/2021          11
Themen

                                lachen? Was wäre, wenn ich die Focusing-              Diese Freundlichkeit ist für Han »älter
                                praxis, wie ich sie bisher kenne, noch mehr      als das ›Gute‹, älter als jedes moralische Ge-
                                mit dem Zen-Spirit anreichern würde? Was         setz«10. Es wertet nicht. Manchmal gelingt
                                wäre, wenn ich raumernder leben würde?           es mir, einen Schimmer dieses archaischen
                                Vielleicht würden meine Alltags-Interaktio-      Nicht-Wertens auch auf meinen Fotografien
                                nen dann weicher, fließender werden: »Das        erlebbar werden zu lassen. Dann bin nicht
                                Lachen entspringt jener Ungezwungenheit,         mehr ich hier und mein Motiv ist dort drü-
                                die das Ich aus seiner Starre befreit.«9 Viel-   ben, sondern wir sind, obwohl wir noch im-
                                leicht entstünde dann eine Art von Leben,        mer getrennt sind, zugleich auch ein inein-
                                das noch mehr im alltäglichen Sein der vo-       anderfließendes Ganzes. Wir sind zwei und
                                ran fließenden Prozesse ankommt, sich we-        eins zugleich. Und das scheint mir fast so et-
                                niger auf fest umrissene Aufgaben begrenzt,      was wie ein Erfolgsrezept zu sein. Ein Rezept
                                die zu lösen oder zu erledigen sind. Ein         jedoch, das man nicht intentional befolgen
                                Leben, das diese Aufgaben zwar noch im-          kann. Die wirklich guten Fotos können nur
                                mer zu erledigen versucht und dies auch tut      dann entstehen, wenn es mir gelingt, mein
                                – und sich zugleich darüber kaputtlachen         Motiv wirklich loszulassen, so, wie ein Zen-
                                kann, dass sie überhaupt vorhanden sind.         Mönch sein Begehren loslässt. Ich mache
                                                                                 mich selbst zum Niemand, so, wie der Zen-
                                Zen in einer Kameralinse                         Maler, den Han beschreibt: Dieser »spiegelt
                                Ich weiß nicht, ob ich das, was die Zen-         die Landschaft niemandig in sich. Die Land-
                                Buddhisten meinen, wirklich verstehe. Ich        schaft malt die Landschaft«11.
                                habe mein Leben ja nicht im Kloster ver-              Wenn ich fotografiere, versuche ich also
                                bracht. Zwar meditiere ich regelmäßig, aber      nicht, eine bestimmte, vorab bereits durch-
                                dennoch lebe ich ein weltliches Leben. Viel-     dachte Botschaft, die mir wichtig ist, in das
                                leicht muss man, um Zen wirklich verstehen       Bild einzubetten. Der Sinn eines guten Fo-
                                zu können, mit Haut und Haaren in dessen         tos ist nicht vorab in mir gegeben, als etwas
                                Praxis eintauchen. Zen ist eben kein begriff-    bereits Fertiges oder Vorhandenes. Es ist
                                liches Gedankengebäude, sondern das durch        vielmehr so, dass ich versuche, dem, was an
                                und durch zen-artig gelebte Leben selbst.        einem Ort spürbar ist – ja, dem Ort selbst –
                                Und auch die oben beschriebenen Überle-          auf dem Bild einfach einen freien Raum zu
                                gungen könnte man als weltfremd bezeich-         schenken. Vielleicht mag Ihnen diese Aus-
Manchmal, wenn                  nen. Wenn Probleme da sind, dann sind sie        drucksweise etwas ungewohnt vorkommen.
                                nun mal da und schmerzen. Um diese Tatsa-        Es ist auch für mich etwas ungewohnt, den
ich, mit der Kamera             che komme ich erstmal nicht herum.               magischen, sensiblen, oft auch zerbrechli-
in der Hand, den                     Vielleicht ist es deshalb sinnvoll, meine   chen Augenblick, in dem ein gutes Foto ent-
                                Gedanken zunächst mal nur probehalber            steht, in verstehbare Worte zu fassen. Viel-
Nebel da draußen                auf einem eng umrissenen Gebiet auszutes-        leicht könnte man es so ausdrücken: Der Ort
am Fluss betrachte,             ten. Nicht, um dort völlig ernst zu machen       darf sich auf dem Foto selbst ausdrücken,
                                mit dem Zen, sondern um, wie ein empiri-         ich stelle ihm hierfür nur einen Rahmen zur
spüre ich tief in mir           scher Wissenschaftler, Erfahrungen zu sam-       Verfügung. Ich erlaube ihm, ja lade ihn re-
                                meln und Schlussfolgerungen zu ziehen.           gelrecht ein, sich mir gegenüber verletzlich
eine tiefe, alte
                                Dies möchte ich in den nächsten Abschnit-        zu zeigen.
Resonanz.                       ten versuchen.
                                     Das Gebiet, auf dem ich am ehesten in       Freiraum als Vorbedingung
                                eine zen-artige Leere eintauche, ist für mich    Damit dies gelingen kann, brauche ich eine
                                die Fotografie. Manchmal, wenn ich, mit der      bestimmte innere Haltung, die uns aus dem
                                Kamera in der Hand, den Nebel da drau-           Focusing wohlvertraut ist. Ich versuche,
                                ßen am Fluss betrachte, spüre ich tief in mir    mich ganz leer zu machen, leer von dem,
                                eine tiefe, alte Resonanz. Ich werde erinnert    was mich gerade beschäftigt im Leben:
                                an etwas, was ich längst vergessen glaubte.      Projekte, an denen ich arbeite, Konflikte,
                                Wenn Han in seinem Buch von der »archa-          die ungeklärt sind, Aufgaben, Beziehungs-
                                ischen Freundlichkeit« des Zens spricht,         themen und so weiter. All das gehört zwar
                                so fühlt sich das für mich ganz ähnlich an,      auch noch zu meinem Leben dazu, wenn ich
                                wie das, was ich dort am Fluss erlebe. Dann      auf Foto-Tour bin. Dennoch gelingt es mir
  9 ebd., S. 115
                                ahne auch ich eine archaisch-freundliche         oft ganz gut, einen künstlerischen Freiraum
 10 ebd., S. 121
 11 ebd., S. 75                 Verwandtschaft von mir mit den Bäumen,           zwischen mir und dem Alltag zu erschaffen.
                                die da still im Nebel stehen.                    Das heißt: Ich stelle diese Alltags-Inhalte im

12    focusing journal | heft 46/2021
Themen

Moment des künstlerischen Schaffens aus                zu betreiben. Ich halte dann den Sucher-
meinem Bewusstsein hinaus. Oder, um es in              ausschnitt als Ganzes in meinem Gewahr-
Hans Worten zu sagen: Ich lasse mein Herz              sein und spüre es, wenn alle Proportionen
vom Alltag fasten. Dann wird ein Freiraum,             ungefähr gleich gewichtet sind. Ein Felt
eine mit dem Motiv erfüllbare Leere spürbar.           Sense, mein Gespür für Stimmigkeit also,
     Das, was ich durch die Kamera betrach-            leitet mich. Ich befrage dieses Gespür dar-
te, ist dann kaum noch direkt beeinflusst              über, was ich wie tun kann – so würde ich
von aktuellen Themen, und auch von Inten-              beispielsweise nicht auslösen, wenn ich das
tionen und Vorstellungen davon, wie etwas              Gefühl hätte, dass die rechte Bildhälfte sich
»richtig« dargestellt werden sollte. Ich denke         »schwerer« anfühlt als die linke, dass mehr
auch nicht darüber nach, für wen ich diese             Gewicht, mehr Intensität, mehr Inhalt nur
Fotos mache und wofür ich sie verwenden                einseitig vorhanden ist oder dass bestimmte
könnte. All das spielt dann keine Rolle mehr.          Bildteile unterrepräsentiert sind.
Nur das, was da ist, zählt. Man könnte dies
auch als eine Haltung der Demut vor dem                Das Was ist egal, das Wie nicht
Motiv beschreiben. Nicht ich entscheide,               Was ich darstelle, ist somit letztlich fast egal.
sondern das Motiv bestimmt, wie es sich                Vermutlich lässt sich alles so fotografieren,
mir zeigt. Was einzig leitend wirkt, bevor ich         dass es interessant wird, wenn ich ihm in
den Auslöser betätige, ist mein Gespür für             dieser Haltung der Demut begegne. Das
Ästhetik. Erst an dieser Stelle kommt mein             Offene, das ich in Hans Zeilen über Zen er-
»Ich« wieder mit herein. Erst hier beginne             kenne, ist auch auf meinen Fotos »zwischen
ich, ganz im klassischen Sinne, Focusing               den Zeilen« ahnbar. Ich glaube, Menschen,

Foto 1:
Aufnahme vor dem innerlichen Loslassen (d.h.
ohne »Zen-Spirit«): Das Bild wirkt insgesamt un-
ruhiger, die einzelnen Bildelemente sind nicht klar
aufeinander bezogen, sondern wirken ähnlich wie
»Mikadostäbchen« einfach lose aufs Bild gewor-
fen. Zwar wirkt dies auch irgendwie interessant,
besonders aufgrund der bunten Farben, jedoch
bleibt es für mich eher ein »Allerweltsbild«.

Foto 2:
Aufnahme nach dem innerlichen Loslassen (d.h.
mit »Zen-Spirit«): Das Bild wirkt insgesamt ruhiger,
die einzelnen Bildelemente sind ein in sich kon-
sistentes komplexes Ganzes. Insgesamt enthält
es weniger Bildelemente als Bild 1, d.h. auf den
ersten Blick wirkt es etwas langweiliger …, wenn
ich jedoch mit dem Foto verweile, entfaltet es eine
Art von Sog …, es zieht mich in sich hinein.

                                                                                                  focusing journal | heft 46/2021   13
Themen

                                die meine Bilder betrachten, spüren intu-            kleinen Schmerz, diese kleine Enttäuschung
 12 ebd., S. 84
                                itiv, dass die Dinge nicht so eng sind, wie          zulasse, mich auch ihr gegenüber verletz-
                                sie zunächst scheinen. Sie bemerken, dass            lich mache, beginnt mein Motiv zu mir zu
                                alles in Veränderung begriffen, dass eben            sprechen. Es mag sein, dass Menschen, die
                                alles prozesshaft-lebendig ist. Das, was ich         meine Bilder betrachten, genau deshalb im
                                selbst im Moment des Auslösens sehe, und             Betrachten auch ihre eigene Verletzlichkeit
                                meine eigene Lebendigkeit, die ich dabei             leichter annehmen können.
                                empfinde, wenn sich ein Ort mir öffnet –                  Die Fotografie ist für mich reine Medita-
                                all das wird im abgelichteten Motiv als ein          tionspraxis. Ich lasse mein Herz fasten, hän-
                                visuelles Ganzes zusammengeführt. Meine              ge es nicht an die Dinge, die ich ablichten
                                eigene Berührbarkeit, die zugleich auch die          will. Wenn es mir gelingt, mich ganz leer zu
                                Verletzlichkeit des Motivs ist, wird im Mo-          machen, so werde ich reich beschenkt. Die
                                ment des Auslösens in Farben und Formen              Bilder, die dabei entstehen, rühren vielleicht
                                gegossen. Das mag einer der Gründe dafür             auch an die große Leere der Betrachterinnen
                                sein, warum meine Bilder in Therapie- und            und Betrachter, eine Leere, die eine unend-
                                Beratungsprozessen so gut funktionieren.             liche Fülle impliziert. Vielleicht enthalten
                                Menschen erkennen ihre eigene innere                 sie eine frohe Botschaft: Hab keine Angst
                                Empfindsamkeit »dort draußen«, in den                davor, deinen Schmerz anzuschauen und
                                Bildern, wieder. Etwas in meinen Bildern             loszulassen. Schmerzlich erlebte Probleme
                                resoniert mit dem, was psychisch in einer            sind nichts anderes als symbolische Realitä-
                                Betrachterin vor sich geht. Diese Erfahrung          ten. Es gibt ein Mehr, das größer und offener
                                habe ich schon sehr oft gemacht, viele Rück-         ist als das, worin du gerade feststeckst. Du
                                meldungen von Menschen, die die Karten               darfst ins Fließen, in Bewegung kommen.
                                professionell einsetzen, bestätigen es.              Hab den Mut, auch dich selbst ganz leer zu
                                     Ich mache mich, wenn ich fotografiere,          machen und das anzuerkennen, was ist – so,
                                dem Ort gegenüber verletzlich, und der Ort           wie es eben ist. So kann es sich denn, wenn
                                antwortet mir mit einer Öffnung. Wenn ich            es das wirklich möchte, auch verändern.
                                davon spreche, dass er sich zeigt, so bedeu-              Dies sage ich als (noch) Focusing-Mann.
                                tet dies, dass ich alle Vorurteile beiseite lasse,   Als Zen-Meditierender jedoch erkenne ich
                                um den Ort so zu sehen, wie er wirklich ist.         zugleich (schon), dass es irgendwie auch
                                Das überträgt sich vermutlich auch auf die           egal ist, ob es das tut. Und auch die Worte
                                Betrachter der Fotografien – sie erkennen            dieses Artikels sind (aus einer Zen-Haltung
                                sich und ihre Themen in den Bildern so, wie          heraus gesprochen) für mich nichts ande-
                                sie eigentlich sind: ungeschminkt und pur.           res als symbolische Realitäten, die es wie-
                                Wenn ich beim Fotografieren vorher glaubte           der loszulassen gilt. Wenn sie veröffentlicht
                                zu wissen, was ich sehe, öffnet sich vor mei-        sind, dann ist es vielleicht ein bisschen so,
                                nem Auge nun eine Realität, die realer ist als       als hätten sie gar nicht existiert, als hätte ich
Dr. Tony Hofmann                meine Erwartung von dem, was ich zu se-              eigentlich gar nichts gesagt12:
Dipl.-Psychologe
                                hen bekommen würde. Ich sehe dann nicht
Psychotherapeut (HP)
Lehrbeauftragter Universität
                                nur das, was meinen Stereotypen entspricht                     Selbst wenn ich spräche,
Würzburg                        (z.B. die typisch idyllische Blumenwiese),                     die kalten Lippen wären
97072 Würzburg                  sondern ich sehe auch den liegengelassenen                     nur Wind des Herbstes.
mail@tonyhofmann.de             Müll am Wegesrand. Erst wenn ich diesen                                  Bashô

14    focusing journal | heft 46/2021
Themen

Zu den Worten hin oder
von der Sprache weg?
Focusing und Meditation im Vergleich
■ ■ V o n Pe t e r Li ncoln

N     eulich schickte mir ein Freund folgen-
      den Cartoon: Zwei Hunde schauen
aus dem Fenster und beobachten die Leute,
                                                  sie einen gemeinsamen Vorteil – ich kann
                                                  sie allein praktizieren, und das ist in Zeiten
                                                  der »social isolation« schon sehr wertvoll.
die vorbeigehen. Einer fragt den anderen:         Aber welche Techniken bieten sie an, mich
»Warum tragen all diese Menschen plötzlich        dem zu stellen, was in mir in der Stille hoch-
Maulkörbe?«, und bekommt als Antwort:             kommt? Zu welchen Ebenen in mir nehme
»Weil sie den Befehl ›Sitz und Bleib‹ nicht       ich bei den beiden Wegen Kontakt auf? Geht
verstehen!« Der Philosoph Blaise Pascal hat       es hier um zwei völlig unterschiedliche Ziel-
im 17. Jahrhundert Ähnliches festgestellt:        richtungen oder gibt es Überschneidungen?
»Ich habe es oft gesagt: Das ganze Unglück        Könnten sie sich sogar gegenseitig ergän-        »Ich habe es oft
der Menschen kommt daher, dass sie nicht          zen?
ruhig in einem Zimmer bleiben können.«
                                                                                                   gesagt: Das ganze
Nun hat uns die Ansteckungsgefahr dazu            Gemeinsame Ausgangslage                          Unglück der Men-
gezwungen, mehr Zeit in den eigenen vier          Fangen wir bei den Ähnlichkeiten an. Zuerst
Wänden zu verbringen – und dabei erlebe           ist festzuhalten, dass die beiden Methoden       schen kommt da-
ich manchmal aus erster Hand, was daran           oft eine gemeinsame Ausgangsfrage haben,         her, dass sie nicht
so schwierig ist. Pascal formuliert es radikal:   nämlich: Wie komme ich zur Ruhe, wenn
»Nichts ist dem Menschen so unerträglich,         alles in mir und um mich herum dagegen           ruhig in einem Zim-
als wenn er sich in vollkommener Ruhe be-         arbeitet? Bei der Meditation, zum Beispiel,      mer bleiben kön-
findet, ohne Leidenschaften, ohne Beschäfti-      nehme ich mir vor, zwanzig Minuten oder
gungen, ohne Zerstreuungen, ohne Betrieb-         mehr in der Stille zu sitzen, und erlebe, wie    nen.«
samkeit. Dann fühlt er seine Nichtigkeit,         am Anfang dieser Zeit mein Kopf von Sor-
seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit,      gen und ängstlichen Gedanken gefüllt ist,
seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine         die mich gar nicht in Ruhe lassen. Wie hoch
Leere. Sogleich werden vom Grunde sei-            war gestern die Infektionsrate und wie groß
ner Seele die Langeweile, der Trübsinn, die       die Chancen, dass ich dieses Virus bekom-
Traurigkeit, der Kummer, der Verdruss und         me? Wie lange noch soll die Kontaktsper-
die Verzweiflung aufsteigen.« Beim Schrei-        re bestehen? Wie werde ich das überhaupt
ben dieses Zitats kommt bei mir der Gedan-        aushalten? Und dazu kommen natürlich die
ke: Wenn nur die Hälfte davon stimmt, kann        Probleme und Themen, die ich sonst noch
ich doch dankbar sein, dass wir Internet,         habe! Um dem allen nicht hoffnungslos aus-
Smartphone und Netflix haben, um uns vor          geliefert zu sein, bieten an dieser Stelle die
dem schwarzen Loch zu schützen!                   verschiedenen Traditionen der Meditation
    Oder, anstatt wieder die verlockenden         bestimmte Techniken an. In diesem Arti-
Fluchtwege zu suchen, könnte ich die Ge-          kel wird der Schwerpunkt bei den christli-
legenheit nutzen, um zwei Methoden prak-          chen Meditationsformen liegen, aber in der
tisch miteinander zu vergleichen, die mir         Praxis gibt es bei der Vielfalt der religiösen
bisher immer wieder geholfen haben – Me-          Traditionen viele Gemeinsamkeiten: durch
ditation und Focusing. Ohne Zweifel haben         die Wahrnehmung der Sitzhaltung und den

                                                                                          focusing journal | heft 46/2021   15
Sie können auch lesen