Forum für soziale Psychiatrie 2 - 3 August - Kerbe - Forum für soziale Psychiatrie

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ISSN 07245165

Kerbe
              Forum für
                                                          3
                                                                      August
                                                               2020
                                                                      September

              soziale Psychiatrie                                     Oktober
                                                                      38. Jahrgang

 THEMENSCHWERPUNKT

Depression – erschöpftes           Macht Arbeit      Corona-Krise als Herausforderung
Selbst, erschöpfte Gesellschaft?   wirklich krank?   für die Sozialpsychiatrie
I N H A LT K E R B E 3 | 2020

    3 Editorial

    4		Themenschwerpunkt                            Was bewegt Depressive –
                                                 Sport und Depression
        Depressives Erleben als                  Robyn Cody, Markus Gerber,
      Verlust sozialer Freiheiten                Jan-Niklas Kreppke, Oliver Faude,
      Martin Heinze/Samuel Thoma, Seite 4        Seite 35

         Die Depression - Krankheit                Antidepressiva gegen
      und gesellschaftliches Phänomen            Depressionen
      Stefan Weinmann, Seite 8                   Aktuelle Kontroversen
                                                 um Nutzen und Risiken,
        Macht Arbeit wirklich krank?             Michael P. Hengartner, Seite 38
      Fokus Arbeit: Das sollten Sie wissen!
      Karsten Groth, Seite 10                       Depression als Begleiterkran-
                                                 kung somatischer Erkrankungen
        Depression – systemisch                  Steve Truöl, Seite 41
      verstehen und behandeln
      Gerhard Dieter Ruf, Seite 14            44 Spectrum

        Gut getarnt ist halb gewon-                 Was fehlt, wenn
      nen? Depression bei Männern                die Arbeit fehlt?
      Anne Maria Möller-Leimkühler, S.16         Corona-Epidemie - Herausforderun-
                                                 gen für die Teilhabe an Arbeit,
        Depression im sehr hohen Alter           Irmgard Plößl, Seite 44
      Daniela S. Jopp, Seite 18
                                                    Die Corona-Epidemie -
         Leben mit depressivem Partner           Herausforderungen in
      Ulrike Borst, Seite 20                     Psychiatrie und Gemeinde
2                                                Stefan Weinmann, Seite 46
         Therapeutische
      Beziehungsgestaltung                    49 Nachrichten
      Relevanz für die individualisierte
      Psychotherapie der Depression,          50 Leserbriefe
      Simon Bollmann, Isabel Schamong
      und Eva-Lotta Brakemeier, Seite 22      52 Termine

         Online-Coach moodgym
      Wirksame Unterstützung für Men-
      schen mit depressiver Symptomatik,      Titelfoto: Lisa/pixelio
      Janine Quittschalle, Margrit Löbner
      und Steffi G. Riedel-Heller, Seite 25

         Melancholie und Depression
      in der Literatur
      Miriam Zeh, Seite 27

         Suizidalität und Depressionen
      Hintergründe, Anzeichen, Umgang,
      Prävention,
      Johanna Baumgardt, Mareike Dreier
      und Sarah Liebherz, Seite 29

         Mit geballter PR-Power
      gegen das Depressions-Stigma,
      Julia Schmidt, Seite 33
E D I TO R I A L

Liebe Leserin,
lieber Leser

Die Depression ist vermutlich von allen      Diese Ausgabe der Kerbe versucht ei-          nach, wie die therapeutische Beziehung,
psychischen Erkrankungen diejenige,          nen anderen, verstehenden Blick auf           die ja bei allen Psychotherapieverfahren
über die in der Öffentlichkeit am meisten    das Phänomen Depression zu werfen.            von zentraler Bedeutung ist, eigentlich
bekannt ist und über die häufig und viel     Martin Heinze und Samuel Thoma ge-            wirkt. Online-Therapieangebote sind
berichtet wird. Sie scheint auch von allen   hen zunächst der Frage nach, ob Trauer,       vielfach erst durch die Corona-Pandemie
Krankheitsbildern das am wenigsten stig-     Rückzug und Niedergeschlagenheit denn         bekannt geworden, es gibt sie aber schon
matisierende zu sein. Eine Depression ist    nicht einfach zum Leben dazu gehören.         länger und sie sind begleitend zu einer
etwas, wozu man stehen kann, worüber         Sie kommen zu dem Ergebnis, dass De-          Psychotherapie oder während der Warte-
man anscheinend offen sprechen kann.         pressivität nur in einem konkreten sozi-      zeit auf einen Therapieplatz ein wichtiger
Es kann jeden treffen und nahezu jeder       alen Bezug verstehbar und überwindbar         Baustein. Steffi Riedel-Heller, Margrit
kennt jemanden, der bereits unter einer      ist. Stefan Weinmann setzt sich kritisch      Löbner und Janine Quittschalle stellen
Depression gelitten hat. Die Krankheit       mit der Depression als gesellschaftlichem     mit Moodgym ein solches Angebot vor.
gilt als gut behandelbar, Medikamente        Phänomen auseinander und damit, ob            Die Depression ist ein sehr altes Phäno-
helfen scheinbar ebenso wie Psychothe-       die Depression eine Erkrankung ist, die       men, mit dem sich nicht nur Ärzte und
rapie. Lange Zeit ging man davon aus,        „gerade herumgeht“. Auf jeden Fall geht       Psychologen auseinandergesetzt haben,
man müsse die Erkrankung nur sehr viel       der Burnout herum – aber ist Burnout          sondern auch Schriftsteller über die Jahr-
häufiger und früher entdecken und dann       einfach der kleine Bruder der Depression      hunderte. Miriam Zeh gibt uns einen
konsequent zumindest medikamentös            und ist die Arbeit tatsächlich an allem       Überblick über Melancholie und Depres-
behandeln, dann würde die Depression         schuld? Karsten Groth klärt uns auf,          sion in der Literatur.
erfolgreich eingedämmt. Allerdings trat      wann Arbeit wirklich krank macht und          Depression kann tödlich sein – die
das Gegenteil ein: immer mehr diagnosti-     was wir wissen sollten, um gesund zu          Wahrscheinlichkeit eines Suizids ist bei
zierte Depressionen, immer mehr Antide-      bleiben.                                      Depressiven deutlich erhöht. Über die
pressiva-Verschreibungen – aber warum?       Kann man allein auf einer einsamen Insel      Depression wird viel gesprochen und
                                             eigentlich depressiv sein? Gerhard Ruf        geschrieben, Suizidalität wird aber nach
                                             beschreibt, wie aus systemischer Sicht        wie vor zu wenig thematisiert. Johanna
                                             die Depression auch in Beziehungen und        Baumgardt, Mareike Dreier und Sarah           3
                                             im sozialen System Familie entsteht und       Liebherz ändern das mit ihrem Beitrag
                                             aufrechterhalten wird und wie ein De-         und informieren uns über Fakten zur
                                             pressionskreislauf entstehen kann. Dabei      Suizidalität und darüber, wie es gelingen
                                             gilt es mittlerweile als Binsenweisheit,      kann, am Leben zu bleiben. Das ist auch
                                             dass Frauen sehr viel häufiger depressiv      das Ziel des Vereins „Freunde fürs Le-
                                             sind als Männer. Oder stehen Männer nur       ben“, den Julia Schmidt uns vorstellt.
                                             einfach nicht zu ihrer Depression? „Gut       Was bewegt Depressive? Die Gruppe um
                                             getarnt ist halb gewonnen“ lässt Anne-        Markus Gerber geht der Frage nach, wa-
                                             Maria Möller-Leimköhler ihre Antwort          rum Sport als äußerst wirksames Antide-
                                             auf diese Frage bereits im Titel ihres Bei-   pressivum so wenig genutzt wird und wa-
                                             trags anklingen.                              rum Bewegung oft so schwer fällt. Antide-
                                             Auf Bildern zum Thema Depression ist          pressiva in Tablettenform werden dagegen
                                             häufig ein einsamer, trauriger älterer        häufig eingesetzt und galten lange Zeit
                                             Mensch dargestellt. Denn eine wei-            als sehr wirksame Behandlungsmethode.
                                             tere Binsenweisheit besteht darin, dass       Michael Hengartner wirft einen kritischen
                                             Depression im Alter besonders häufig          Blick darauf, was wir heute über die Wir-
                                             vorkommt. Daniela Jopp hat genauer            kung von Antidepressiva und über ihre
                                             hingeschaut: sie beantwortet die Frage,       Langzeitfolgen wissen. Steve Truöl erläu-
                                             warum Hochbetagte oft eine erstaunliche       tert die Depression als komorbide Erkran-
                                             Resilienz haben und nicht depressiv wer-      kung, denn sehr häufig tritt die Depression
                                             den. Ulrike Borst beleuchtet die andere       eher als begleitendes Phänomen bei einer
                                             Seite der Depression: Was bedeutet es,        anderen Erkrankung auf.
                                             mit einem depressiven Angehörigen zu          Und schließlich kann natürlich auch
                                             leben? Denn auch die Angehörigen von          dieses Heft nicht am Thema Corona vor-
                                             Depressiven leiden mitunter sehr und          beigehen. Wir beschreiben die Auswir-
                                             sind sich zugleich unsicher, ob sie durch     kungen dieser einschneidenden Verände-
                                             ihr Verhalten die Depression verschlim-       rungen im klinischen Bereich und bei der
                                             mern bzw. wie sie helfen könnten, sie zu      Teilhabe am Arbeitsleben. Wir wünschen
                                             überwinden.                                   Ihnen viel Freude beim Lesen!
                                             Simon Bollmann, Isabel Schamong und                                        Irmgard Plößl
                                             Eva-Maria Brakemeier gehen der Frage                                   Stefan Weinmann
THEMENSCHWERPUNKT

    Depressives Erleben als
    Verlust sozialer Freiheiten1
    Von Martin Heinze und Samuel Thoma

    „Die Trauer kommt und geht ganz           damit viele unterschiedliche Diszip-
    ohne Grund. Und man ist angefüllt mit     linen an der Interpretation der Daten
    nichts als Leere. Man ist nicht krank,    beteiligt sind. Denn trotz mancher
    und ist auch nicht gesund. Es ist, als    Studien über die vergleichsweise hohe
    ob die Seele unwohl wäre …“               Lebenszufriedenheit in der gegenwär-
    Erich Kästner                             tigen Gesellschaft (Raffelhüschen und
                                              Krieg 2017) bekommt man den Ein-
                                              druck, dass das Reden über Depression
    Einleitung                                auf ein problematisches Verhältnis
                                              der Menschen zu dieser Gesellschaft
    Epidemiologische Daten zu depres-         hindeutet. Mit Axel Honneth lässt sich     Martin Heinze             Samuel Thoma
    siven Störungsbildern belegen vor-        in diesem Zusammenhang von einem           Professor für Psychiat-   Assistenzarzt an der
    geblich eine Zunahme der Inzidenz         „richtungslosen Unbehagen“ sprechen        rie und Psychotherapie    Immanuel Klinik
                                                                                         an der Hochschulklinik    Rüdersdorf; aktu-
    dieser Störungsbilder. Zu nennen ist      (Honneth 2017, 15ff.). Richtungslos
                                                                                         für Psychiatrie und       ell Promotion in
    etwa die vielfach festgestellte Zu-       ist dieses Unbehagen nach Honneth,         Psychotherapie der        Philosophie an der
    nahme von depressionsbedingten            weil wir uns zwar der problematischen      Medizinischen Hoch-       Universität Heidel-
    Krankheitstagen (Knieps und Pfaff         sozialen Verhältnisse, in denen wir        schule Brandenburg        berg; Forschung zu
    2017). Solche Daten sind aber inter-      leben, bewusst seien, aber doch keine      (MHB) und Leitender       Sozialpsychiatrie und
                                                                                         Chefarzt der Immanuel     anthropologischer
    pretationsbedürftig: es könnte sich       Lösung für sie erkennen können. Aus
                                                                                         Klinik Rüdersdorf         Psychiatrie
4   um die tatsächliche Zunahme eines         psychiatrischer Sicht deutet die Zu-
    Krankheitsgeschehens handeln. Es          nahme depressiver Verstimmungen in
    könnte sein, dass viele depressive        der klinischen Versorgung auf dieses       Depression durch Überforderung?
    Krankheitsbilder bisher übersehen         Unbehagen hin. Ob sich in der ge-
    wurden oder keine ausreichende Be-        nannten Zunahme der Krankheitstage         Psychopathologisch ist zunächst zu
    handlung fanden, wegen ihrer Stig-        wirklich eine gesteigerte Inzidenz de-     unterscheiden zwischen schweren, frü-
    matisierung z.B. Es könnte sein, dass     pressiver Erkrankungen spiegelt oder       her als endogen bezeichneten, und eher
    wir heute die Diagnose zu häufig stel-    eher eine gesteigerte Sensibilität für     leichten, neurotischen Depressionen.
    len und es zu einer „Überdiagnostik“      dieses Thema bzw. auch eine verän-         Schwere Depressionen unterscheiden
    im Rahmen einer Psychiatrisierung         derte Selbstwahrnehmung Einzelner in       sich qualitativ vor allem durch eine
    kommt (Beeker und Thoma 2019).            der Gesellschaft, muss hier der Sache      ausgeprägte Antriebshemmung und das
    Viele andere denkbare Erklärungen         nach offen bleiben.                        tiefgreifende Gefühl der Gefühllosigkeit
    wären möglich.                                                                       von leichten Depressionen, in denen
                                              Wir wollen hier nur der These nachge-      sich lediglich eine depressive Verstim-
    Es handelt sich bei der Frage nach der    hen, dass depressives Leiden Ausdruck      mung, d.h. eine niedergeschlagene und
    Zunahme depressiver Erkrankungen          des Verlustes sozialer Freiheiten ist.     freudlose affektive Beziehung des Men-
    also um eine höchst komplexe Frage.       Neoliberalismus als Ideologie unserer      schen zu seiner Umwelt zeigt. Im Fol-
    Dazu kommt, dass auch andere ge-          Zeit führt unter anderem dazu, dass        genden befassen wir uns vor allem mit
    sellschaftspolitische Erklärungsmuster    Menschen ihre individuelle Freiheit als    der Zunahme der Depressionen vom
    zu Rate gezogen werden können und         absolut und losgelöst von ihren so-        letzteren Typus.
                                              zialen Bedingungen verstehen. Damit        Die öffentliche Diskussion über die Zu-
                                              sind neoliberale Freiheiten oft Schein-    nahme depressiver Störungen verbindet
    1
     Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fas-    freiheiten, denen auf der Seite sozialer   sich mit der These, dass unsere Lebens-
    sung des Aufsatzes: Heinze, H., &         Beziehungen häufig der Ausschluss aus      bedingungen möglicherweise pathogen
    Thoma, S. (2018). Soziale Freiheit und    sozialen Prozessen entspricht, so dass     seien und das Individuum überfordern.
    Depressivität. In L. Iwer, T. Fuchs,      der Verlust sozialer Freiheiten sogar      An Erklärungsmodellen fehlt es in der
    & S. Micali (Hrsg.), Das überforderte     unbemerkt bleibt. Praktisch folgern wir    aktuellen Debatte nicht. So rechnet
    Subjekt (S. 344–367). Berlin: Suhr-       daraus, dass psychiatrische Therapie       Hartmut Rosa das Burn-out ebenso
    kamp. Auf vertiefende anthropologisch-    vor allem die konkreten Bedingungen        wie das ADHS zu den „geschwindig-
    psychiatrische Überlegungen kann hier     individueller Freiheit in den Blick neh-   keitsinduzierten Krankheiten“, die auf
    nicht eingegangen werden, dagegen         men sollte, um so neue Möglichkeits-       die technische Beschleunigung gesell-
    werden die sozialpsychiatrischen Impli-   räume gemeinschaftlichen Handelns zu       schaftlicher Prozesse und allgemeiner
    kationen ergänzend dargestellt.           schaffen.                                  die Beschleunigung des sozialen Wan-
Kerbe 3 | 2020 Themenschwerpunkt

dels zurückzuführen sind (Rosa 2005,      stellungen sich beim Einzelnen bezüg-        näher die eingangs nur vage skizzierte
362ff.). Die Handlungs- und Erlebnis-     lich seiner eigenen Individualität ein-      „Haltlosigkeit“ von Menschen in unse-
episoden pro Zeiteinheit nähmen zu,       stellen. Die Logik dieser Mechanismen        rer gesellschaftlichen Wirklichkeit.
ebenso die Veränderungsgeschwindig-       wiederum entspringt einer Gesellschaft, Das moderne Individuum missversteht
keit, verbunden mit zunehmender Er-       deren Konstruktion von Individualität        seine Selbstentwicklung und Selbstver-
wartungsunsicherheit und der subjekti-    sich in erster Linie an der Verwertbar-      antwortung nämlich im Sinne einsei-
ven Erfahrung von Zeitnot und Stress.     keit des Einzelnen orientiert.               tiger Autonomie oder „Freiheit-von“.
Die Erlebnisse blieben episodisch, ohne   Der Versuch, individuelle Depressivität      Eine eigentlich freie Selbstverwirkli-
nachhaltige Erinnerungsspuren, resul-     und gesellschaftliche Phänomene zu-          chung dagegen würde die Verankerung
tierend in einem allgemeinen Schwund      sammenzudenken, stellt uns somit vor         im Sozialen betonen: Wir verwirklichen
von Erfahrung.                            allem vor die Aufgabe, den Vermitt-          uns nur in und durch unsere Sozialität,
Überforderung besteht aber aus unserer    lungszusammenhang von Einzelnem              von der unabhängig zu sein oder zu
Sicht nicht allein darin, dass äußere     und Allgemeinem angemessen begriff-          werden, uns als fälschliche Aufgabe
Ansprüche unvermittelt „zu viel“ für      lich zu erfassen. Statt nur                                   vorgegeben wird. Ohne
einen Einzelnen sind. Vielmehr ist die    die Überforderung in den        Die Unterwerfung der          diese Verankerung hin-
Anfälligkeit für Überforderung und de-    Blick zu nehmen, erscheint menschlichen Lebens-               gegen wird der Einzelne
pressive Verstimmung im Wechselspiel      es angemessener, von            vollzüge unter die            schließlich „müde“ oder
des Einzelnen mit seiner sozialen Um-     einer zugrundeliegenden         Zweckrationalität des         „erschöpft“, weil ihm
welt und damit letztlich in der Sozia-    „Haltlosigkeit“ bei der         Systems erzeugt eine          seine Machtlosigkeit
lisation und dem damit verbundenen        eigenen Persönlichkeits-        Individualität, die           aufgrund fehlender
Verständnis der Menschen von sich         entwicklung zu sprechen.        gerade nicht mehr im          Teilhabemöglichkeiten
selbst zu suchen.                         Diese Begriffe verweisen        emphatischen Sinne            an sozialen Prozessen
Zum Verständnis dieser Sozialisation,     dann auf eine andere Di-        Individualität ist, son-      sehr wohl bewusst ist.
scheint eine sich rein auf die techni-    mension der Betrachtung,        dern Konformismus.            Dementsprechend sieht
schen und ökonomischen Entwick-           nämlich die der Entfaltung                                    Honneth in Depres-
lungen fokussierende Argumentation        der eigenen Biographie, deren Gelingen sionen (und Süchten) emblematische
nicht hinreichend zu sein. Der ständige   nicht zuletzt Orientierung und feste         Erkrankungen des gegenwärtigen Ka-
Wechsel von Betriebssystemen oder die     Ankerpunkte erfordert.                       pitalismus und der damit verknüpften
Umstellung auf Smartphones scheinen       Wir plädieren nun dafür, psychische          Paradoxien der Individualisierung
die meisten Menschen nicht an die         Störungen vor allem als Verlust von          (Honneth 2002/2012). Einerseits be-         5
Grenze ihrer Belastbarkeit zu bringen.    Freiheitsmöglichkeiten zu deuten, und        deutet diese Individualisierung näm-
Wenig plausibel ist auch die Annahme,     zwar nicht der Freiheit von Zwängen          lich Emanzipation des Einzelnen von
dass ein Zuviel an Informationen dazu     oder von der Gesellschaft, sondern           traditionellen Bindungen, andererseits
führt, dass man sie irgendwann nicht      einer sozialen Freiheit, d.h. einer Frei-    aber doch eine zunehmende Konfor-
mehr verarbeiten kann. Solche land-       heit für bzw. zur Gesellschaft und zu        mität. Denn die „Ansprüche auf indi-
läufigen Annahmen suggerieren, dass       sozialem Handeln (vgl. Wolfgang Blan- viduelle Selbstverwirklichung“ seien
der Mensch wie ein Computer funkti-       kenburg 1989, S. 82). Wir vertreten          mittlerweile zu einem „institutionali-
oniere, dessen Festplatte irgendwann      somit die These, dass die Überforde-         sierten Erwartungsmuster der sozialen
voll sei. Aus neurowissenschaftlicher     rung des Einzelnen in einem durch die        Reproduktion“ geworden, das vom
Sicht gibt es jedoch Hinweise, dass der   Entwicklung der Moderne entstandenen Individuum jedoch umso schwerer als
Mensch sich an eine Zunahme an In-        Missverständnis wurzelt – im Nicht-          ein solches erkannt werde (ebd., 68).
formationen durchaus anpassen kann.       wahrnehmen oder Leugnen der primä-           Eben auf diesen Widerspruch führt
Sinnvoller erscheint uns demgegenüber     ren Sozialität des Menschen, und in          Honneth das verbreitete Auftreten von
die These, dass es durch den beschleu-    der negativen Auffassung der eigenen         Erfahrungen innerer Leere, eigener
nigten sozialen Wandel zum drohenden      Freiheit als nur „Freiheit-von“.             Überflüssigkeit und „Orientierungslo-
oder tatsächlichen Ausschluss von                                                      sigkeit“ zurück. Damit eröffnet sich
Individuen aus bestimmten Sphären         Individualität als Verdinglichung            eine Perspektive auf die Frage nach
der Gesellschaft kommt. Zumindest ist     und Verwertbarkeit                           der Pathogenität der gesellschaftlichen
empirisch belegbar, dass die Unsicher-                                                 Organisation: Die Unterwerfung der
heit von Arbeitsverhältnissen zu einer    Die heutige Form der Individualisie-         menschlichen Lebensvollzüge unter die
erhöhten Inzidenz von depressiven         rung spiegelt die Widersprüche unse-         Zweckrationalität des Systems erzeugt
Verstimmungen führt (Stankunas et al.     rer Gesellschaftsordnung wider: die          eine Individualität, die gerade nicht
2006; Norström et al. 2014). Es geht      Vorstellung einer Selbstverantwortung        mehr im emphatischen Sinne Indivi-
somit weniger um gesellschaftliche        ebenso wie die Vorstellung, jeder sei        dualität ist, sondern Konformismus.
Anforderungen als um die Ein- und         für seine psychische Stabilität selbst       Dies führt zu einer Vielzahl von neuen,
Ausschlussprozesse bezüglich der Teil-    verantwortlich, ohne dass er ein äuße-       sowohl materiellen wie psychischen
habe am gesellschaftlichen Leben. In      res Gerüst dafür brauche. Überfordert        Formen des sozialen Leidens (ebd.).
einem nächsten Schritt gilt es dann zu    zu sein aufgrund eines Verlusts der          Honneth sieht das kapitalistische Frei-
bestimmen, wie diese Ex- und Inklu-       Gemeinschaftserfahrung oder, mit He-         heitsverständnis privat-egoistisch auf
sionsmechanismen bereits die Art und      gel gesprochen, als nicht ausreichend        eine nur individuelle negative Freiheit
Weise bedingen, wie sich individuelle     gelingende Besonderung der sozial ver-       verengt, im Gegensatz zu einer „sozia-
Biografien ausformen, und welche Vor-     mittelten Individuation bestimmt nun         len Freiheit“, in der zugleich Gleichheit
Kerbe 3 | 2020 T hem enschwerpunkt

    und Brüderlichkeit verwirklicht werde        Assoziativität als „Therapie“                (Mit-)Bestimmung der gesellschaftlichen
    (Honneth 2017). Das Leiden der Indi-                                                      Wirklichkeit durch die eigene Lebens-
    viduen werde dann durch gesellschaft-        Angesichts dieser gesellschaftlichen         form. Mehr noch: Je stärker die soziale
    liche und kulturelle Muster herbeige-        Tendenzen der Entfremdung stellt sich        Teilhabe ist, desto größer die Möglich-
    führt, die im Verlauf der Sozialisation      die Frage nach einer möglichen Alter-        keiten der individuellen „Freiheit-zu“,
    soweit internalisiert werden, dass das       native. Was wären positive Freiheits-        die eine Bejahung des Anderen ist. Sie
    Subjekt selbst die Ursache seines Lei-       möglichkeiten eines Menschen, d.h.           bedeutet die Bejahung der Anderen „als
    dens nicht mehr verorten könne, also         seine Freiheit, die vom Einzelnen unter      Anderen, gleichzeitig aber auch die Er-
    „verblendet“ sei. Der Individualismus        seinen sozialen und historischen Be-         weiterung meiner Geborgenheit in der
    wird damit zu einer eigentümlich             dingungen konkret gelebt wird? Diese         Welt“ (Prucha 1987, 77).
    missbrauchten Produktivkraft der             positive „Freiheit-zu“ kann nur in der       Auch wenn dies zunächst abstrakt
    kapitalistischen Modernisierung: Die         Interaktion mit anderen Menschen voll- klingt, lassen sich hieraus unmittelbar
    Instrumentalisierung der Selbstverwirk- zogen werden. Sie ist vieldimensional             sozialpsychiatrische Konsequenzen
    lichung macht das Individuum zum             und zeigt sich in allen                                       ableiten: Prinzipiell
    kreativen Unternehmer seiner selbst.         menschlichen Fähigkeiten        Jedes therapeutische          sollte sich jedes thera-
    Das Ideal der Selbstverwirklichung           zum Erleben und Handeln.        Bemühen sollte sich des peutische Bemühen des
    habe sich, so Honneth, zu Ideologie          Um diese positive Freiheit      gegenwärtigen, neoli-         gegenwärtigen, neoli-
    und Produktivkraft eines deregulier-         zu verstehen, bietet sich       beralen soziokulturellen      beralen soziokulturellen
    ten Wirtschaftssystems entwickelt:           das Konzept der Assozi-         Rahmens bewusst sein          Rahmens bewusst sein
    Die Ansprüche, die die Subjekte zuvor        ativität bei Milan Prucha       und die Schwächung der und darauf achten,
    herausgebildet hatten, als sie ihr Leben     an. Mit dem Begriff der         sozialen Institutionen        die in diesem Aufsatz
    als einen experimentellen Prozess der        Assoziativität sucht Prucha nicht weiter nähren.              beschriebene Vernach-
    Selbstfindung zu interpretieren began-       den Gedanken solidari-                                        lässigung der Sozialität
    nen, kehren nun in diffuser Weise als        scher sozialer Beziehungen hin zur           und die Schwächung der durch den
    äußere Forderung an sie zurück, sodass Verwirklichung von Freiheit weiterzu-              Neoliberalismus bedrohten sozialen In-
    sie verdeckt oder offen zu einem steten entwickeln (Prucha 1983). Assoziativer            stitutionen nicht weiter zu nähren. An-
    Offenhalten ihrer biografischen Ent-         Beziehungen als Ermöglichungsgrund           sonsten droht Therapie, allein zweckra-
    scheidung und Ziele angehalten wer-          individueller Freiheit bedürfe es da-        tional im Sinne der Wiederherstellung
    den. (Honneth 2002/2012, 77)                 bei nicht nur gegenüber den Anderen,         der Arbeitsfähigkeit als Rehabilitati-
6   Was dabei allerdings verloren gehe, sei      sondern vielmehr auch gegenüber dem          onsmaßnahme zu sein. Sie ist dann im
    die soziale Sicherheit, Eingebundenheit Anderen, nämlich der Natur. Eman-                 falschen Sinne reparativ. Therapie muss
    und die diese garantierenden gesell-         zipation beruhe auf der Bejahung der         neben der individuellen Behandlung
    schaftlichen Institutionen; es vollzieht     Rechte Anderer, aber auch auf der öko-       dementsprechend besonders soziale Be-
    sich eine „schleichende Vermarktli-          logischen Einsicht in die Eigenrechte        ziehungen stärken. Dies kann letztlich
    chung der Gesamtgesellschaft“ (Hon-          aller Daseienden. Freie Entfaltung von       nur außerhalb des Arztzimmers und
    neth 2002/2012, 77). Die Formen des          menschlicher Subjektivität bedeutet so-      außerhalb der exklusiven Zweierbezie-
    Leidens unter dieser Entwicklung sind        mit die Fähigkeit zur Gemeinschaft mit       hung zwischen Therapeutin und Pati-
    aber Honneth zufolge                                        Anderem und Anderen           ent geschehen, die Erich Wulff (1972)
    gerade deshalb nicht         Freiheit realisiert sich       und deren Anerkennung         einmal kritisch mit einer „Ideologie der
    deutlich erkennbar, weil     nicht unabhängig von           als gleichberechtigt, wo-     Bipersonalität“ verband. Außerhalb des
    sie – und das generiert      sozialen Prozessen. Es         hingegen eine bloße Ob-       Therapiezimmers muss psychiatrische
    das „Unbehagen“ – in         zeigt sich kein Gegen-         jektivierung der Anderen      Hilfe die Möglichkeiten individueller
    den Bereich der psy-         satz von Individuum            und des Anderen proble-       Freiheiten-zu von Einzelnen stärken
    chischen Erkrankungen        und Sozialität, sondern        matisch ist und auf sich      und deren Fähigkeit zur Erschaffung
    verlagert werden. Der        eine Entfaltung des Ichs       selbst zurückfällt. Im po-    freier Verhältnisse im Sinne der As-
    psychiatrische Diskurs       und eine (Mit-)Bestim-         sitiven Fall werden dann      soziativität befördern. Durch psych-
    läuft Gefahr, das eigent-    mung der gesellschaftli- auch Freiheitsmöglichkei- iatrisches Denken und Handeln sind
    liche Leiden zu verde-       chen Wirklichkeit.             ten nicht nur verkürzt als demnach letztlich neue Möglichkeits-
    cken, indem er es auf                                       „Freiheit-von“, sondern       räume gemeinschaftlichen Handelns zu
    individuelle Krankheitssymptome redu- als weiterreichende „Freiheit-zu“ ver-              schaffen, in denen Teilhabe an sozialen
    ziert. Es scheint unserer gegenwärtigen standen. Dies hat einen emanzipatori-             Prozessen ermöglicht wird.
    Gesellschaftsformation durchaus zu-          schen Charakter im Sinne der Verwirk-        Konkret könnte für dieses emanzipa-
    passzukommen, dass Menschen sich im lichung individueller und kollektiver                 torische Ziel an das Empowerment-
    Sinne einer nicht mehr konkretisier-         Selbstbestimmung unter Bejahung ihrer        konzept gedacht werden. Betroffenen
    baren Individualität selbst entwerfen,       sozialen und natürlichen Ermögli-            soll ermöglicht werden, ihre Interessen
    um damit produktiver und verwertba-          chungsbedingungen. Freiheit realisiert       wieder eigenmächtig, selbstbestimmt
    rer zu werden (Mensen 2014). Bernd           sich nicht unabhängig von sozialen           und in eigener Verantwortung wahr-
    Heiter (2008, S. 235) führt dazu aus:        Vermittlungsprozessen, sondern nur           zunehmen. Aber oft wird übersehen,
    „Die Ironie des neoliberalen Freiheits-      in ihnen. Es zeigt sich kein Gegensatz       dass auch hier Selbstbestimmung ver-
    dispositivs besteht darin, den Leuten        von Individuum und Sozialität, sondern bunden sein muss mit einem Bezug
    glaubhaft zu machen, es ginge um ihre im gelingenden Fall eine Entfaltung                 zur Gemeinschaft, mit einer Beschrän-
    Freiheit“.                                   des eigenen Ichs und gleichzeitig eine       kung der nur eigenen Bedürfnisse im
Kerbe 3 | 2020 Themenschwerpunkt

                                                                                          Blankenburg, W. (1989). „Futur-II-Perspektive
Abgleich mit jenen der es tragenden        nen, sozialen Freiheit-zu.                     in ihrer Bedeutung für die Erschließung der
Gemeinschaft. Die Strategie, in einer      Zuletzt sind entsprechende, emanzipa-          Lebensgeschichte des Patienten“. In ders.
individuellen, „empowernden“ Psycho-       torische und am Sozialen orientierte           Biographie und Krankheit, 76-84. Stuttgart:
therapie Menschen sozusagen fit oder       Therapieansätze auch mit einer von             Thieme.
weniger vulnerabel für die Heraus-         assoziativer Freiheit gekennzeichneten         Heiter, B. (2008). „Leute zurechtmachen. Über
forderungen ihres Lebens zu machen,        Forschungspraxis in der Psychiatrie ge-        Praktiken neoliberaler Gouvernementalität“. In
                                                                                          Selbst und Selbstverlust. Psychopathologische,
würde nur dann erfolgreich sein, wenn      kennzeichnet: Psychiatrische Forschung         neurowissenschaftliche und kulturphiloso-
sie erneut das Gesamt der Beziehungen      selbst muss auch die Freiheit der Be-          phische Perspektiven, herausgegeben von D.
der Wirklichkeit, in denen Menschen        troffenen miteinbeziehen, indem diese          Quadflieg, 219-237. Berlin: Parodos.
stehen, reflektiert – ebenso wie das       zu aktiven Teilnehmerinnen und Ge-             Honneth, A. (2012). „Organisierte Selbstver-
Gesamt der Beziehung zur Wirklichkeit      staltern dieser Forschung werden. Dies         wirklichung. Paradoxien der Individualisie-
der Therapeutin, und dies auch unter       geschieht zunehmend durch partizipa-           rung“. In Kreation und Depression. Freiheit im
                                                                                          gegenwärtigen Kapitalismus, herausgegeben
dem Blickwinkel der herrschenden Ge-       tive und nutzerkontrollierte Forschung
                                                                                          von C. Menke und J. Rebentisch, 63-80. Berlin:
sellschaftsorganisation.                   in Deutschland (Vgl. Sozialpsychiatri-         Kadmos. (Erstausgabe 2002)
Dies wiederum ist besonders durch          sche Informationen, 02/2017)                   Honneth, A. (2017). Die Idee des Sozialismus.
sozialtherapeutische Ansätze möglich,                                                     Versuch einer Aktualisierung. Berlin: Suhrkamp.
die unmittelbar im sozialen Kontext        Fazit                                          Kal, D. (2010). Gastfreundschaft: Das nieder-
der Patientinnen und Patienten situiert                                                   ländische Konzept Kwartiermaken als Antwort
sind und diesen notwendig mitbehan-        Wir haben dafür argumentiert, dass de-         auf die Ausgrenzung psychiatrieerfahrener
deln. Zu denken ist etwa an Dortje Kals    pressives Leiden und Überforderungs-           Menschen, hg. von Robin Boerma, übers. von
                                                                                          Rita Schlusemann, Neumünster: Die Brücke
„Buddy-Konzept“ (Kal 2010, S. 74 ff),      erleben in unserer Gesellschaft letztlich      Neumünster.
bei dem die Betroffenen bei der Teil-      aus einem Verlust von sozialer Freiheit
                                                                                          Knieps, F. und H. Pfaff, Hgg. (2017). Digitale
habe an sozialen Institutionen ihres       der konkreten Person resultiert, wobei         Arbeit. Digitale Gesundheit. Essen: Medizinisch
Lebensumfelds (etwa Sportverein oder       wir uns kritisch mit dem herrschenden          Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
Kirchengemeinde) durch Helferinnen         neoliberalen Freiheitsverständnis aus-         Landesverband Psychiatrie-Erfahrener NRW,
und Helfer unterstützt werden. Ein         einandergesetzt haben. Soziale Freiheit        (2020), http://www.psychiatrie-erfahrene-nrw.
ähnliches Konzept stellen sogenannte       verstanden wir diesem gegenüber als            de/downloads/200331_Bochumer_Krisenzim-
                                                                                          mer_Online_Einzelseiten.pdf, angerufen am
Job-Coaches dar, die eine Vermitt-         „Freiheit-zu“, die sich im Gemein-
                                                                                          30.05.2020
lungsposition zwischen den Betrof-         schaftsbezug realisiert.
                                                                                          Mensen, U. (2014). „Das depressive Subjekt als
fenen und der Arbeitswelt darstellen       Durch psychiatrisches Denken und               Stütze des neoliberalen Systems. Die soziale      7
und sich u.a. für die Anpassung der        Handeln können und sollten neue                Funktion einer individualisierten Dysfunktion“.
Arbeitsbedingungen des jeweiligen Ar-      Möglichkeitsräume gemeinschaftlichen           psychosozial 135 (37): 109-125.
beitsplatzes einsetzen. Von besonderer     Handelns entstehen, in denen von De-           Norström, F., P. Virtanen, A. Hammarström,
Rolle sind außerdem diverse Formen         pressivität Betroffenen ermöglicht wird,       P. E. Gustafsson und U. Janlert. (2014). „How
der Selbsthilfe innerhalb und außer-       ihre Interessen wieder selbstbestimmt          Does Unemployment Affect Self-Assessed
                                                                                          Health? A Systematic Review Focusing on Sub-
halb des psychiatrischen Hilfesystems.     und in eigener Verantwortung wahr-             group Effects“. BMC Public Health 14 (1): 1310.
Zu nennen sind etwa psychiatrie- und       zunehmen. Oft wird dabei übersehen,
                                                                                          Prucha, M. (1983). „Freie Assoziation oder
krisenerfahrene Mitarbeiter, die als       dass auch diese Selbstbestimmung               höchstes Wesen“. In Marxismus und Chris-
Peers im stationären wie ambulanten        letztlich nur solidarisch mit einer Be-        tentum, herausgegeben von F. Reisinger, G.
Rahmen Patientinnen und Patienten          schränkung der eigenen Bedürfnisse             Rombold und I. Fetscher, 33-53. Linz: OLV.
unterstützen und als Fürsprecherinnen      und im Abgleich mit jenen der sie tra-         Prucha, M. (1987). „Zu den Möglichkeiten einer
für sie in der psychiatrischen Institu-    genden Gemeinschaft zu gestalten ist.          philosophischen Auseinandersetzung mit der
tion fungieren. Für andere kann jedoch     Dies wiederum ist besonders durch so-          gegenwärtigen Gewalteskalation“. In Frie-
                                                                                          densinitiative Philosophie: Um Kopf und Krieg.
auch die ausschließlich selbstorgani-      zialtherapeutische Ansätze möglich, die        Widersprüche, herausgegeben von C. Schulte,
sierte Unterstützung durch Erfahrungs-     im sozialen Kontext der Patientinnen           61-78. Darmstadt: dtv.
und Leidensgenossinnen hilfreicher         und Patienten situiert sind und diesen         Raffelhüschen, B. und O. Krieg. (2017). Glücks-
sein. Diese solidarische, assoziative      mitbehandeln.                                  atlas. München: Knaus.
Unterstützung auf Basis gemeinsamer        Zu guter Letzt sollen die Überlegungen         Rosa, H. (2005). Beschleunigung. Die Verän-
(oder zumindest ähnlicher), leidvoller     dieses Aufsatzes andeuten, dass depres-        derung der Zeitstrukturen in der Moderne.
Erfahrungen in der Gesellschaft kann       sives Erleben wie jedes andere psychi-         Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
in vielen Fällen weitaus heilsamer sein,   sche Leid des Einzelnen nur aus dessen         Sozialpsychiatrische Informationen (2017). So-
als die vom psychiatrischen System         konkret gelebter Sozialität und seiner         zialpsychiatrische Forschung – von der Evidenz
                                                                                          zur besseren Praxis? Themenschwerpunkt 47 (2).
angebotene Hilfe. Hieraus ergibt sich      besonderen Realisierung von Freiheit           Köln: Psychiatrie Verlag.
beispielsweise der Hilfsansatz eines       verstehbar und schließlich auch thera-         Stankunas, M., R. Kalediene, S. Starkuviene
betroffenenkontrollierten, antipsychi-     pierbar ist.                                   und V. Kapustinskiene. (2006). „Duration of Un-
atrischen Projekts (z.B. die Bochumer                                                     employment and Depression. A Cross-Sectional
Krisenzimmer, vgl. Landesverband                                                          Survey in Lithuania“. BMC Public Health 6: 174.
Psychiatrie-Erfahrener NRW, 2020).         Literatur                                      Wulff, E. (1972). „Kritische Sozialpsychiatrie
Insgesamt ermöglicht die Kritik an         Beeker, T., & Thoma, S. (2019). Die digitale   in der Bundesrepublik“. In Sozialpsychiatrie.
                                           Psychiatrie zwischen User-Empowerment und      Psychisches Leiden zwischen Integration und
Missständen der Gesellschaft und der
                                           Psychiatrisierung. Suizidprophylaxe, 46(3),    Emanzipation, herausgegeben von K. Dörner
Psychiatrie als kollektive Praxis die                                                     und U. Plog, 137-148. Berlin: Luchterhand.
                                           82–98.
Wiederherstellung einer zuvor verlore-
Kerbe 3 | 2020 T hem enschwerpunkt

    Die Depression - Krankheit und
    gesellschaftliches Phänomen
    Von Stefan Weinmann

    Einleitung                                    rum auch nicht. Denn es ist keineswegs
                                                  klar, ob sich alles zum besseren wenden                           Stefan Weinmann
    Depressivität ist universell. Römische und    würde, wenn nur alle Menschen wüssten,                            Psychiater, Psychothe-
    griechische Autoren schon beschrieben         was die Experten wissen, und wenn wir                             rapeut und Gesund-
                                                                                                                    heitswissenschaftler,
    Zustände, die denen, welche Psychiater        täten, was die Experten raten. Und dann
                                                                                                                    Oberarzt am Vivantes
    heute als Depression, Melancholie oder        wiederum: welche Experten?                                        Klinikum Am Urban in
    bipolare Erkrankung bezeichnen, glei-                                                                           Berlin und Redakti-
    chen. Menschen in allen Zeitperioden           Depressionen im Laufe der Zeit                                   onsmitglied der Kerbe:
    und Kulturen haben unter Depressionen                                                                           stefan.weinmann@
                                                                                                                    yahoo.de
    gelitten, so wie unsere Zeitgenossen dies      Es scheint nie so viele Depressionen ge-
    heute tun. Diese offensichtliche Universa- geben zu haben wie heute. Ob depressive
    lität des Phänomens wurde früher („Un-         Zustände in der Moderne oder der Post-
    gleichgewicht der Säfte“) als auch heute       moderne wirklich häufiger geworden sind      in einer gegebenen Bevölkerung mittler-
    („Neurotransmitter-Ungleichgewicht“) von oder nicht, bleibt weiterhin umstritten.           weile über 10 Prozent eine Depression
    Therapeuten, Forschern und Schreibern          Aber was messen wir eigentlich mit der       bekommen. Mehr als jeder Fünfte in den
    herangezogen, um von einer Störung der         Depression? Die Häufigkeit von Symp-         USA soll mindestens einmal im Leben
    Seele oder des Gehirns, von einer Erkran- tomen? Welche? Das Ausmaß des Leids?              eine Depression entwickeln (Hasin u. a.
    kung, einer Stimmung oder einfach nur          Wenn wir uns der Epidemiologie der           2018). Die Hälfte davon soll «schwer«
    von einem mehr oder weniger länger an-         Depression nähern wollen, müssen wir         sein. Nach den Daten der Weltgesund-
    dauernden psychischen Zustand zu spre-         uns immer bewusst sein, dass wir keine       heitsorganisation sollen gegenwärtig 300
8   chen. Heutzutage, nach Hunderten von           objektive Wissenschaft vor uns haben:        Millionen weltweit von Depressionen
    Jahren Beschäftigung mit der Depression, Wir messen Bewertungen! Der Leidende               betroffen sein – mithin 4–5 Prozent der
    besteht wenig Zweifel, dass der depressive spürt etwas und bewertet es als Nieder-          gesamten Weltbevölkerung und über 6
    Zustand durch eine Kombination bioche-         geschlagenheit, Melancholie, Insuffizienz,   Prozent aller Erwachsenen!
    mischer und psychologischer Prozesse           Hemmung, Trauer oder einfach nur kör-        In den letzten hundert Jahren nahm
    erklärbar ist, die zu einem Leiden führt,      perlichem Unwohlsein – oder eben als         der Anteil der jungen Menschen, die
    welches durch Medikamente oder Psy-            Erkrankung Depression. Das Benennen          im Laufe ihres Lebens eine Depression
    chotherapie behandelt werden kann. Was         einer Depression ist das Ergebnis einer      entwickelten, deutlich zu. Eine große
    kann eine Betrachtung der Gesellschaft,        Reihe von Bewertungen, die auch anders       US-amerikanische Studie mit über 70.000
    der Kultur hier also noch beitragen?           aussehen könnten. Und wie in der Infek-      Schülern und Studenten fand beispiels-
    Das Bild ist nicht so klar, wie es er-         tionsmedizin bekommen wir eben das,          weise heraus, dass im Jahre 2007 junge
    scheint. Und die Bilder, die das Wort De-      was „gerade herumgeht“. Und die Depres-      Erwachsene ein 6- bis 8-fach höheres
    pression in unseren Köpfen hervorrufen,        sion geht gerade herum.                      Risiko hatten, an einer klinisch bedeut-
    sind sehr divers und geprägt von eigenen       In den letzten zwei Jahrzehnten haben        samen Depression zu erkranken als
    Erfahrungen und Selbstbeobachtung, von wir von Psychiatern, Epidemiologen                   Gleichaltrige im Jahre 1938 (Twenge u.
    Medien, Beobachtungen in Familie und           und anderen Fachleuten Warnungen             a. 2010). Seit den 1950er Jahren – also
    Freundeskreis, Weltbildern und (bewuss-        vor der erheblichen und zunehmenden          seitdem es Antidepressiva gibt – wurde
    ten und unbewussten)                                           Verbreitung und den oft      auch in Europa die Depression häufiger.
    kulturellen Vorstellungen.      In den letzten hundert         chronischen Verläufen der    So war das Risiko, eine Depression zu
    Und trotz jahrzehntelan-        Jahren nahm der Anteil         Depression gehört. Das       haben, bei jungen erwachsenen Schwe-
    ger Forschung bleibt der        der jungen Menschen,           war früher meist anders      den zwischen 1957 und 1972 zehnfach
    Ursprung der Depression,        die im Laufe ihres Lebens – die Depression galt als         höher als zwischen 1947 und 1957 (Hag-
    das, was im Gehirn, in der eine Depression entwi-              gutartige Erkrankung, die    nell u. a. 1994). Auch in Kanada war die
    Psyche und im gesamten          ckelten, deutlich zu.          (mit oder ohne Behand-       Häufigkeit der Depression im Zeitraum
    Körper passiert, weitest-                                      lung) auch wieder vorbei     zwischen 1970 und 1992 um 5 Prozent-
    gehend im Verborgenen. Wir hören uns           geht. Die Depression, so hört man heute,     punkte höher als zwischen 1952 - 1970
    aber weiterhin die Ausführungen ärztli-        sei gar nicht so milde und harmlos, man      (Murphy u. a. 2000). Diese Studien nutz-
    cher oder psychologischer Depressions-         müsse alles tun, um die Menschen rasch       ten einheitliche Diagnosesysteme und
    Erklärer an, die immer wieder auf die zu       und vollständig aus der Krankheitsphase      können nicht als grundsätzlich verfälscht
    geringen Entdeckungsraten, die zu gerin-       zu holen. Eine Chronifizierung des Ver-      angesehen werden. Die Epidemie der De-
    gen Behandlungsraten, vielleicht die zu        laufs muss mit allen Mitteln verhindert      pression ist also nicht vollständig durch
    geringen Behandlungserfolge hinweisen.         werden (Angst u. a. 1996). In einem Zeit-    eine verbesserte «Wahrnehmung» und
    Das alles ist wahr und vielleicht wiede-       raum von 12 Monaten sollen heutzutage        Erkennung der Depression bedingt.
Kerbe 3 | 2020 Themenschwerpunkt

Gründe für die Zunahme                     Kulturen ist Depressivität prima vista       psychiatrischen Agenda ist noch ein
der Depression                             nicht Symptom einer Erkrankung.              weitgehend unentdecktes Forschungs-
                                                                                        gebiet, das vorsichtig und mutig und
Also ist es doch der Stress, der zuge-       Depressionen und Kultur                    ohne verschwörungstheoretischen Im-
nommen hat? Ist es die Moderne mit                                                      petus angegangen werden muss.
ihren Herausforderungen (gibt es doch        In „Crazy like us“ beschreibt Watters,
deutlich weniger Depressionen in nicht-      wie die Depression vom Westen in an-       Das depressive Wesen
westlichen Ländern)? Ist es die Zunahme dere Kulturen exportiert wurde. Das
von Ungleichheit in der Gesellschaft         große Projekt der West-Vereinheitli-       Die Depression als belastenden und zu
(Wilkinson 2009), die Zunahme von            chung der Welt unter US-amerikani-         behandelnden Zustand anzuerkennen,
Übergewicht, Veränderungen der Ernäh-        scher Führung hat dazu geführt, dass       bedeutet nicht, gesellschaftliche Fakto-
rung mit mehr industrieller Nahrung, ist     die Welt die menschliche Seele und den     ren, die bei ihrer Entstehung mitwirken,
es der Bewegungs- und Schlafmangel,          menschlichen Geist anders versteht als     auszublenden. Aber genau letzteres ist es,
eine Zunahme von Wettbewerb, Einsam- in vorigen Jahrhunderten: kulturelle               was in der allgemeinen psychiatrischen
keit (in der Masse) und Individualisie-      Vorstellungen über Symptome und Ver-       Diskussion oft unterlassen wird – und
rung? Oder ist es nur die «Bewertung»        lauf psychischer Erkrankung sind oft       dazu geführt hat, dass wir mit unseren
der eigenen Situation? Das letzte Wort       Prophezeiungen, die sich selbst erfül-     Präventionsstrategien so wenig erfolg-
ist hier noch nicht gesprochen. Auch         len. Der Export solcher Vorstellungen      reich waren. Der Focus auf Behandlung
warum wir eine Zunahme chronischer           verändert die Wahrnehmung und auch         und „Awareness“ hat dazu geführt, dass
(therapieresistenter) Depressionen in den    Emotionen und Kognitionen.                 wir kein Verständnis für die gesellschaft-
letzten Jahren sehen, dafür finden Ex-       Watters nennt das bedenkliche Beispiel     lichen Wurzeln des depressiven „Defek-
perten bisher keine Erklärung. Vielleicht    des Exports eines Krankheitskonstruktes    tes“, der depressiven Hemmung und Er-
hat es mit dem Umgang mit den Symp-          nach Japan: Als der US-amerikanische       schöpfung und anderer Dimensionen des
tomen, vielleicht sogar mit der Behand-      Pharmakonzern Glaxo-Smith-Kline            Depressiv-Seins entwickelt haben.
lung zu tun.                                 sein Antidepressivum Paxil in Japan        Wie der französische Soziologe Ehren-
Denn paradoxerweise stehen dem Druck, vermarkten wollte, erkannte er, dass              berg eindrücklich gezeigt hat, ist die
rasch zu behandeln und eine »Remis-          er zuerst das Konzept der Depression       Depression weiterhin eine Erkrankung der
sion«, also ein Verschwinden der Symp-       vermarkten musste. Denn die Japaner        Moderne (Ehrenberg 2004): Wir leben
tome, zu erreichen und den weit höhe-        verbanden mit der Melancholie traditio-    weiterhin in einer Zeit der Dekontextu-
ren Behandlungsraten im Vergleich zu         nell Einsicht und Erleuchtung und nicht    alisierung und Dekonfliktualisierung des      9
allen anderen Zeitepochen viel mehr und Pathologie und Krankheit. Und in dieser         Sozialen. Konflikte und Kämpfe zwischen
auch viel chronischer ver-                                  Logik bedurfte es auch      Gruppen (soziale Schichten, Ethnien, An-
laufende Depressionen ge- Der Focus auf Behand-             keiner „Behandlung“. Im     gehörige verschiedener Weltanschauung
genüber. Mehr Krankheit        lung und „Awareness“         Jahre 2000 entwickelte      etc.) werden meist nicht offen ausgetra-
trotz Behandlung? Wie          hat dazu geführt, dass       die Firma, fleißig unter-   gen. An ihre Stelle trat die individuelle
passt dies zusammen?           wir kein Verständnis für     stützt von Experten für     Konkurrenz. Man muss immer aktiv
Die Studien zur Depres-        die gesellschaftlichen       Kultur und Krankheit,       und initiativ sein. Während der Träger
sion sind belastet durch       Wurzeln haben.               eine Strategie zur Ver-     der früheren Neurose (die mit der Zeit
konzeptionelle Probleme.                                    änderung dieser kultu-      „untergegangen“ ist) unter der Kultur
Dies hat Auswirkungen auf die Daten          rellen Sichtweise. Melancholie wurde       des Verbotes und des Gehorsams (dem
zur Epidemiologie, zur Ursachenfor-          als Depression umgedeutet (reframing),     Freud‘schen Konstrukt des „Überichs“)
schung als auch zur Wirksamkeitsfor-         pathologisiert und als häufige, aber       litt und an den rigiden Bedingungen der
schung von Therapien. Depression ist         (z.B. mit Paxil) behandelbare Erkran-      Zivilisation scheiterte, leidet der heutige
eine vorübergehende Emotion oder ein         kung präsentiert. Um Nachfrage nach        Depressive an der fehlenden Energie in
Gefühlszustand, der von allen Menschen ihrem Produkt zu schüren, finanzierte            einer Kultur des Leistungsdruckes, des
mehrmals im Leben erlebt wird. Es ist        Glaxo-Smith-Kline Artikel zu Depres-       Wettbewerbs und der Selbstdarstellung.
auch ein Symptom bei einer Vielzahl          sion und Paxil und bezahlte Mediziner      Energieausfälle können laut Ehrenberg
psychiatrischer Erkrankungen (Angster-       dafür, dass sie ihren Namen und akade-     teuer zustehen kommen: „..weil man fort-
krankungen, Psychosen, Zwangser-             mischen Ruf unter die Artikel setzten.     während auf der Höhe der Zeit sein muss,
krankungen) und kann auch durch              Sie veröffentlichen nur selektiv die       ist Gehemmtheit eine Funktionsstörung,
Medikamente oder Stoffwechselprobleme positiven Ergebnisse ihrer mäßig erfolg-          eine Unzulänglichkeit.“
hervorgerufen werden. Eine Depression        reichen Studien. Diese Strategien sind     Unser modernes Leben ist von teils un-
kann kurz oder lange andauern, sich nur bekannt: Selektives Publizieren, Mani-          überbrückbaren Polaritäten geprägt:
in körperlichen Beschwerden, Schmerzen pulation von Studien und ghostwriting            Globalisierung und Individualisierung,
oder Druck äußern oder nur in psychi-        sind mittlerweile zum Allgemeingut         Allmacht (der Wissenschaft, der Technik)
schen Beschwerden. Es gibt primäre oder der Psychiatriegeschichte geworden              und Ohnmacht (vgl. die COVID19-Epide-
sekundäre Depressionen und solche, die       (Goetzsche 2016). Auch die Verschie-       mie und die Finanzkrise), Grenzenlosig-
in Manien umschlagen. Anthropologi-          bung der Grenzen des Normalen wird         keit bzw. Unbegrenztheit der Möglich-
sche Evidenz zeigt uns aber nicht nur        kritisch diskutiert (Frances 2013). Aber   keiten und Anpassungsdruck, psychische
Unterscheide in der Ausprägung und der das Korrumpieren von Kulturen und                Befreiung und Zwang zur persönlichen
Wahrnehmung von Depressivität, son-          Gesellschaften durch Firmen, Experten      Initiative, Unsicherheit der Identität und
dern auch im Symptom selbst. In vielen       und Institutionen mit einer bestimmten     absoluter Individualismus. Die Depression
Kerbe 3 | 2020 T hem enschwerpunkt

     kann daher als Ausdruck einer moder-
     nen Ambivalenz verstanden werden, als
     Orientierungslosigkeit und Gegenstück
                                                  Macht Arbeit
     zur Entfaltung persönlicher Energie: De-
     pression als Gegenstück zu den „Normen
     unserer Sozialisation“.
                                                  wirklich krank?
     Wir werden weiter in einer Zeit der Aus-
     weitung der Depression leben, wenn wir       Fokus Arbeit: Das sollten Sie wissen!
     uns der sozialen Funktion von Depres-
     sivität nicht nähern. Hinzu kommt die
     Therapie, namentlich die medikamentöse       Von Karsten Groth
     Therapie: Alles wird zur Depression, weil
     Antidepressiva alles behandeln können.
     Die künstliche Veränderung unserer Neu-
     rotransmitter durch Medikamente wurde        Dieser Beitrag entsteht zu einem Zeit-
     lange Zeit gepriesen als Durchbruch. Heute   punkt, der für die meisten von uns                              Karsten Groth
     entsteht eine immer größeres Bewusstsein     zumindest befremdlich, wenn nicht be-                           Psychologischer
     für die Problematik der Banalisierung        ängstigend oder bedrohlich ist. Zu einem                        Psychotherapeut,
                                                                                                                  Psychische Gesundheit
     der Verordnung von Antidepressiva: Sie       Zeitpunkt, zu dem unsere Regierungen
                                                                                                                  am Arbeitsplatz e.V.
     sind keineswegs frei von Nebenwirkun-        Unsummen in die Hand nehmen, um den                             (psygesa)
     gen (körperlichen als auch psychischen       sozialen Frieden zu sichern und unsere
     und sozialen): Negative Auswirkungen         Gesundheitssysteme und ökonomischen
     auf das Gedächtnis, Schwierigkeiten des      Grundlagen funktionstüchtig zu erhal-
     Absetzens, so dass man von körperlicher      ten. Zu diesen Grundlagen gehört auch
     Gewöhnung sprechen muss, Erhöhung der        unsere tägliche Arbeit und die Art und
     Suizidalität, Chronifizierung des Verlaufs   Weise, wie wir sie verrichten. Davon
     der Depression, Störungen des vegetativen    hatten wir vor diesem gewaltigen Ein-       digitalisierten, hoch kontrollierten und
     Nervensystems und des Herz-Kreislauf-        schnitt in unser Leben ein mehr oder        globalisierten Arbeitswelten sowohl leis-
     Systems. Aber sie sind neben den lang-       weniger konsistentes Bild. Ein je unter-    tungssteigernd und motivierend, aber
10   wierigen, aber wirksamen Psychotherapien     schiedliches zwar, aber wir konnten uns     auch verletzend, überfordernd und eben
     eben das, was wir haben.                     schon darüber verständigen, worüber wir     „stressig“ auf die arbeitenden Menschen
     Depression ist sowohl Krankheit als auch     sprechen. Heute weiß ich nicht mehr, ob     auswirken1.
     kulturelles Phänomen. Biologie und Ge-       das, was ich hier schreibe, morgen noch
     sellschaft haben ihren Anteil. Allerdings    von Bedeutung sein wird. Zu unsicher        Arbeitslosigkeit macht krank
     werden wir, was die Prävention von           bin ich mir über die Konsequenzen, die
     durch die Depression hervorgerufenem         diese ökonomische und soziokulturelle       Aus der Arbeitslosenforschung kön-
     Leid angeht, nicht wesentlich weiter-        Erschütterung auf unser Arbeiten oder       nen wir gut ableiten, dass Arbeit, auch
     kommen, wenn wir gesellschaftliche Ent-      eben auf unser Nicht- oder Andersarbei-     Erwerbs- und Lohnarbeit, vor allem
     wicklungen aus dem Auge verlieren. Zu        ten haben wird. Spekuliert wird an der      salutogenetische Auswirkungen auf die
     solchen gehören auch die zunehmende          Börse, ich schreibe hier noch aus der       Menschen bereithält. Ein wesentlicher
     soziale Ungleichheit, die Verlagerung der    Sicht der Vor-Corona-Zeit. Da kenne ich     Bestandteil psychiatrischer Behandlun-
     Verantwortung von Misserfolg auf die so-     mich besser aus.                            gen und rehabilitativer Maßnahmen
     zial Schwächsten, die ungelöste Frage der                                                zielt auf diese gesundheitsförderlichen
     sozialen und weltweiten Konkurrenz, die      Arbeitswissenschaften                       Aspekte ab und nutzt die ja schon von
     Suche nach Identitäten für bedeutende        und Stressforschung                         Marie Jahoda so trefflich beschriebenen
     Teile der Bevölkerung, das Unwohlsein                                                    latenten Funktionen der Erwerbsarbeit,
     in einer Globalisierung, die Nutzen und      Gesichertes Wissen über die postulierten,   welche die Arbeit neben ihrer Funktion
     Risken mit sich bringt, und die Schaffung    dabei aber nicht unwidersprochenen Zu-      als Erbringerin von Waren und Dienst-
     von Räumen für die Aushandlung von           sammenhänge von (Lohn- und Erwerbs-)        leistungen und zur Sicherstellung des
     kollektiver Gerechtigkeit. Diese Fragen      Arbeit und dem Aufkommen psychischer        Lebensunterhaltes eben auch bereithält:
     sind dringlich und ungelöst. Sie spielen     Erkrankungen wie Depressionen und           Sie schafft eine Zeitstruktur über den
     in die Begegnung mit dem depressiven         Angststörungen ist rar. Die Arbeitswis-     Tag, stellt regelmäßige gemeinsame Er-
     Menschen hinein. Als Therapeuten, als        senschaften schließen diese Lücke ein       fahrungen und Kontakte mit Menschen
     Begleiter in der Depression können wir       wenig, indem sie verschiedene Formen        außerhalb der Familie sicher, garantiert
     sie kaum ändern. Aber wir können versu-      psychischer Belastungen durch die Art       Teilhabe an (kollektiven) Zielen und
     chen, sie nicht auszublenden. Die Depres-    der Arbeit gut beschreiben. Monotonie,      Zwecken, die über den persönlichen
     sion kann nicht den Therapeuten alleine      Unterforderung, fehlende Handlungs-         Rahmen hinausgehen, legt Aspekte des
     überlassen werden.                           spielräume bei der Arbeit und andere        sozialen Status und der Identität fest
                                                  Einwirkungen durch die Arbeitsumge-         und erzwingt letztendlich Aktivität2. Was
     Literatur                                    bungen sind gut und hinreichend be-         also fehlt, wenn die Arbeit fehlt? Für
     Ausführliche Literaturangaben zu             schrieben. Verschiedene Stressmodelle       die Arbeitslosen entfällt der Zugang zu
     diesem Beitrag unter www.kerbe.info          geben Hinweise, wie sich die modernen,      den mit der Erwerbsarbeit verbundenen
Kerbe 3 | 2020 Themenschwerpunkt

Erfahrungskategorien. Erwerbslose erle-      der Arbeitslosigkeit verschwinden – zu-     der „Managerkrankheit“. Damit wurden
ben in jedem dieser Erfahrungsbereiche       mindest weitgehend – sobald eine neue       zu einem Zeitpunkt, als ein Stresskon-
eine psychologische Verarmung. Ohne          – gesellschaftlich anerkannte – Arbeit      zept in den deutschsprachigen Ländern
Zeitstruktur werden die Tage zu lang.        gefunden ist. Arbeit allerdings, mit der    noch nicht verbreitet war, Überarbei-
Ohne Teilnahme an kollektiven Zwecken keine wirkliche oder dauerhafte Teilhabe           tung, Anpassungsdruck, Erkrankung und
kommt man sich überflüssig vor. Ohne         an den positiven Aspekten von Arbeit        Todesfälle unter Männern in leitenden
den Kontakt mit Kolleg*innen ist man         einhergeht, hat tendenziell dieselben       Positionen thematisiert. Und offen-
isoliert. Ohne Arbeit gibt es keinen Sta-    negativen Auswirkungen wie Arbeitslo-       sichtlich auch dramatisiert: Fern jeder
tus und die soziale Identität ist in Frage   sigkeit; zumindest stellen sie sich nach    belegten Datenlage wurde sogar vorm
gestellt. Und ohne Aktivität werden die      Auslaufen entsprechender Maßnahmen          „Wegsterben der Eliten“ gewarnt. Der
Menschen lustlos und passiv3. „Die Be-       sofort wieder ein.“5 Ein Befund, der ganz   Begriff der „Managerkrankheit“ bot sich
deutung der Arbeitslosigkeit liegt sehr      aktuell vom Bundesarbeitsministerium        an, so Patrick Kury, Professor am Histo-
viel tiefer als in der Lohntüte, sie liegt   bestätigt wird: „Personen in atypischen     rischen Institut der Universität Bern, um
in der sozialen Isolierung der arbeits-      Beschäftigungsformen weisen einen           die damaligen Belastungserfahrungen
losen Menschen“, kommentiert Jahoda          schlechteren psychischen Gesundheits-       medizinisch zu interpretieren7. Auch hier
denn auch später. Nicht umsonst, und         zustand auf als Normalbeschäftigte“.        finden wir Parallelen zur Verwendung
das wird in der Debatte über die Zusam- Vor allem Leiharbeiter seien „häufiger           des Burnout-Begriffes heute. Und zu
menhänge von Arbeit und psychischer          von Beeinträchtigungen der allgemeinen      Beginn der 60er Jahre verschwand dann
Erkrankung in der Regel nur nachrangig Gesundheit, von Burnout sowie Depres-             auch die Managerkrankheit genauso wie
erwähnt, finden wir die Mehrzahl de-         sionen betroffen“. Längsschnittstudien      die Neurasthenie sowohl aus der medizi-
pressiver Störungen und Angsterkran-         weisen darauf hin, dass es sich dabei       nischen als auch aus der populärwissen-
kungen vor allem im Kreise der Lang-         tatsächlich um kausale Zusammenhänge        schaftlichen Literatur.
zeitarbeitslosen, der von Arbeitslosigkeit   handeln könnte.6
bedrohten Menschen sowie der Hochrisi-                                                   Burnout als Erosion
kogruppe der alleinerziehenden Frauen.       Burnout - historisch                        der menschlichen Seele
Wir wissen schon lange, dass bereits
sowohl eine drohende bevorstehende be- Auch wenn man bei der gewaltigen An-              So wie wir ihn lange verstanden haben,
triebliche Veränderung als auch ein dro-     zahl jüngster Veröffentlichungen um das     wurde der Begriff Burnout erstmals 1974
hender Arbeitsplatzverlust erheblich aufs „Burnout“ den Eindruck gewinnen kann,          in den USA von dem Psychoanalytiker
Gemüt schlagen können. Eine finnische        dass man es mit einem gänzlich neuen        Herbert J. Freudenberger eingeführt8. Er     11
Studie aus dem Bereich der Arbeitswis-       und unbekannten Phänomen in der             bezeichnete zunächst den psychischen
senschaften4, der die Daten von 15.000       Arbeitswelt zu tun hat, stimmt das so       und physischen Abbau der meist ehren-
befragten Personen zugrunde liegen,          nicht. Es gibt nämlich 2 Vorgängerinnen     amtlichen Mitarbeiter sog. „alternativer“
zeigt, dass vor allem eine mit geringem      des Burnout, die jeweils eng mit der so-    Hilfsorganisationen, wie zum Beispiel
Einkommen verbundene Arbeitslosigkeit        zioökonomischen Entwicklung ihrer Zeit      Free Clinics, therapeutischer Wohnge-
(vgl. AlG II bzw. Grundsicherung) ein        verknüpft waren: Die „Neurasthenie“         meinschaften, Frauenhäuser oder Krisen-
hohes Gesundheitsrisiko darstellt und        zum Ende des 19. Jahrhunderts und die       interventionszentren. Burnout ist „...eine
sich das Risiko für Män-                                     sog. „Managerkrankheit“     Erosion der Werte, der Würde, des Geis-
ner, an einer Depression       Mitte der 50er Jahre,         der 50er Jahre.             tes und des Willens – eine Erosion der
zu erkranken, verdrei-         nach dem 2. Weltkrieg,        George Beard beschreibt     menschlichen Seele. Es ist ein Leiden,
facht. Der medizinische        inmitten von Wieder-          als amerikanischer Arzt     das sich schrittweise und ständig aus-
Status verschlechtert sich     aufbau und Wirtschafts- 1880 als erster die Neu-          breitet und Menschen in eine Abwärts-
im Verhältnis zur unbe-        wachstum, entstand            rasthenie. Die Nerven-      spirale zieht, aus der das Entkommen
fristeten festen Beschäf-      dann der Begriff der          schwäche manifestiere       schwer ist“9.
tigung um das Doppelte         „Managerkrankheit“.           sich u.a. in den Symp-      Farber beschreibt diese klassischen Aus-
und das subjektive Ge-                                       tomen Kopfschmerzen,        brenner der 60er, 70er und 80er Jahre
sundheitsempfinden um das Zweiein-           Ohrengeräusche, krankhafte Reizbarkeit,     des letzten Jahrhunderts, die durch die
halbfache.                                   Hoffnungslosigkeit, krankhafte Furcht,      gesellschaftskritische Haltung jener
Arbeitslosigkeit führt allerdings nicht      Rastlosigkeit, Schlafstörungen, nervöse     Jahre geprägt sind, als Menschen, die an
immer zu diesen negativen Effekten.          Verdauungsstörungen, sexuelle Probleme      unrealistisch hohen altruistischen Ziel-
So treten sie z.B. dann nicht ein, wenn      und Schwächegefühle. Die Parallelen zur     setzungen scheiterten. Auch viele von
Menschen davon ausgehen, bald wie-           Beschreibung heutiger Stresssymptome        den Älteren unter uns haben schmerz-
der eine neue Arbeitsstelle zu finden.       sind nicht zu übersehen. Und Beard          haft lernen müssen, dass der Enthusias-
„Mitunter kommt es gar zu paradoxen          hat auch das gleiche Problem mit der        mus, mit dem wir ungerechte Verhält-
Effekten: So erleben manche Menschen         Neurasthenie, wie wir es heute mit dem      nisse ändern, Benachteiligte befreien
die ersten Wochen der Arbeitslosigkeit       Burnout haben: Es fehlt eine klare Ab-      und Schwache retten wollten, in bösarti-
geradezu als Urlaub. (…) Bei Langzeit-       grenzbarkeit des Krankheitsbildes!          gen Zynismus, in innere Leere und Hoff-
arbeitslosigkeit verdoppeln sich dann        Mitte der 50er Jahre, nach dem 2. Welt-     nungslosigkeit umkippen konnte. Hier
allerdings die negativen Effekte.“ Und,      krieg, inmitten von Wiederaufbau und        werden wir anknüpfen können, wenn
interessant für die Liebhaber befriste-      Wirtschaftswachstum, entstand dann in       wir Erklärungen für das aktuelle Wieder-
ter Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen             der Bundesrepublik, in Österreich und       erwachen der Burnout-Symptomatik zu
jeglicher Art: „Die negativen Effekte        später auch in der Schweiz der Begriff      verstehen suchen werden.
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