Forum für soziale Psychiatrie 2 - 3 August - Kerbe - Forum für soziale Psychiatrie
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ISSN 07245165 Kerbe Forum für 3 August 2020 September soziale Psychiatrie Oktober 38. Jahrgang THEMENSCHWERPUNKT Depression – erschöpftes Macht Arbeit Corona-Krise als Herausforderung Selbst, erschöpfte Gesellschaft? wirklich krank? für die Sozialpsychiatrie
I N H A LT K E R B E 3 | 2020 3 Editorial 4 Themenschwerpunkt Was bewegt Depressive – Sport und Depression Depressives Erleben als Robyn Cody, Markus Gerber, Verlust sozialer Freiheiten Jan-Niklas Kreppke, Oliver Faude, Martin Heinze/Samuel Thoma, Seite 4 Seite 35 Die Depression - Krankheit Antidepressiva gegen und gesellschaftliches Phänomen Depressionen Stefan Weinmann, Seite 8 Aktuelle Kontroversen um Nutzen und Risiken, Macht Arbeit wirklich krank? Michael P. Hengartner, Seite 38 Fokus Arbeit: Das sollten Sie wissen! Karsten Groth, Seite 10 Depression als Begleiterkran- kung somatischer Erkrankungen Depression – systemisch Steve Truöl, Seite 41 verstehen und behandeln Gerhard Dieter Ruf, Seite 14 44 Spectrum Gut getarnt ist halb gewon- Was fehlt, wenn nen? Depression bei Männern die Arbeit fehlt? Anne Maria Möller-Leimkühler, S.16 Corona-Epidemie - Herausforderun- gen für die Teilhabe an Arbeit, Depression im sehr hohen Alter Irmgard Plößl, Seite 44 Daniela S. Jopp, Seite 18 Die Corona-Epidemie - Leben mit depressivem Partner Herausforderungen in Ulrike Borst, Seite 20 Psychiatrie und Gemeinde 2 Stefan Weinmann, Seite 46 Therapeutische Beziehungsgestaltung 49 Nachrichten Relevanz für die individualisierte Psychotherapie der Depression, 50 Leserbriefe Simon Bollmann, Isabel Schamong und Eva-Lotta Brakemeier, Seite 22 52 Termine Online-Coach moodgym Wirksame Unterstützung für Men- schen mit depressiver Symptomatik, Titelfoto: Lisa/pixelio Janine Quittschalle, Margrit Löbner und Steffi G. Riedel-Heller, Seite 25 Melancholie und Depression in der Literatur Miriam Zeh, Seite 27 Suizidalität und Depressionen Hintergründe, Anzeichen, Umgang, Prävention, Johanna Baumgardt, Mareike Dreier und Sarah Liebherz, Seite 29 Mit geballter PR-Power gegen das Depressions-Stigma, Julia Schmidt, Seite 33
E D I TO R I A L Liebe Leserin, lieber Leser Die Depression ist vermutlich von allen Diese Ausgabe der Kerbe versucht ei- nach, wie die therapeutische Beziehung, psychischen Erkrankungen diejenige, nen anderen, verstehenden Blick auf die ja bei allen Psychotherapieverfahren über die in der Öffentlichkeit am meisten das Phänomen Depression zu werfen. von zentraler Bedeutung ist, eigentlich bekannt ist und über die häufig und viel Martin Heinze und Samuel Thoma ge- wirkt. Online-Therapieangebote sind berichtet wird. Sie scheint auch von allen hen zunächst der Frage nach, ob Trauer, vielfach erst durch die Corona-Pandemie Krankheitsbildern das am wenigsten stig- Rückzug und Niedergeschlagenheit denn bekannt geworden, es gibt sie aber schon matisierende zu sein. Eine Depression ist nicht einfach zum Leben dazu gehören. länger und sie sind begleitend zu einer etwas, wozu man stehen kann, worüber Sie kommen zu dem Ergebnis, dass De- Psychotherapie oder während der Warte- man anscheinend offen sprechen kann. pressivität nur in einem konkreten sozi- zeit auf einen Therapieplatz ein wichtiger Es kann jeden treffen und nahezu jeder alen Bezug verstehbar und überwindbar Baustein. Steffi Riedel-Heller, Margrit kennt jemanden, der bereits unter einer ist. Stefan Weinmann setzt sich kritisch Löbner und Janine Quittschalle stellen Depression gelitten hat. Die Krankheit mit der Depression als gesellschaftlichem mit Moodgym ein solches Angebot vor. gilt als gut behandelbar, Medikamente Phänomen auseinander und damit, ob Die Depression ist ein sehr altes Phäno- helfen scheinbar ebenso wie Psychothe- die Depression eine Erkrankung ist, die men, mit dem sich nicht nur Ärzte und rapie. Lange Zeit ging man davon aus, „gerade herumgeht“. Auf jeden Fall geht Psychologen auseinandergesetzt haben, man müsse die Erkrankung nur sehr viel der Burnout herum – aber ist Burnout sondern auch Schriftsteller über die Jahr- häufiger und früher entdecken und dann einfach der kleine Bruder der Depression hunderte. Miriam Zeh gibt uns einen konsequent zumindest medikamentös und ist die Arbeit tatsächlich an allem Überblick über Melancholie und Depres- behandeln, dann würde die Depression schuld? Karsten Groth klärt uns auf, sion in der Literatur. erfolgreich eingedämmt. Allerdings trat wann Arbeit wirklich krank macht und Depression kann tödlich sein – die das Gegenteil ein: immer mehr diagnosti- was wir wissen sollten, um gesund zu Wahrscheinlichkeit eines Suizids ist bei zierte Depressionen, immer mehr Antide- bleiben. Depressiven deutlich erhöht. Über die pressiva-Verschreibungen – aber warum? Kann man allein auf einer einsamen Insel Depression wird viel gesprochen und eigentlich depressiv sein? Gerhard Ruf geschrieben, Suizidalität wird aber nach beschreibt, wie aus systemischer Sicht wie vor zu wenig thematisiert. Johanna die Depression auch in Beziehungen und Baumgardt, Mareike Dreier und Sarah 3 im sozialen System Familie entsteht und Liebherz ändern das mit ihrem Beitrag aufrechterhalten wird und wie ein De- und informieren uns über Fakten zur pressionskreislauf entstehen kann. Dabei Suizidalität und darüber, wie es gelingen gilt es mittlerweile als Binsenweisheit, kann, am Leben zu bleiben. Das ist auch dass Frauen sehr viel häufiger depressiv das Ziel des Vereins „Freunde fürs Le- sind als Männer. Oder stehen Männer nur ben“, den Julia Schmidt uns vorstellt. einfach nicht zu ihrer Depression? „Gut Was bewegt Depressive? Die Gruppe um getarnt ist halb gewonnen“ lässt Anne- Markus Gerber geht der Frage nach, wa- Maria Möller-Leimköhler ihre Antwort rum Sport als äußerst wirksames Antide- auf diese Frage bereits im Titel ihres Bei- pressivum so wenig genutzt wird und wa- trags anklingen. rum Bewegung oft so schwer fällt. Antide- Auf Bildern zum Thema Depression ist pressiva in Tablettenform werden dagegen häufig ein einsamer, trauriger älterer häufig eingesetzt und galten lange Zeit Mensch dargestellt. Denn eine wei- als sehr wirksame Behandlungsmethode. tere Binsenweisheit besteht darin, dass Michael Hengartner wirft einen kritischen Depression im Alter besonders häufig Blick darauf, was wir heute über die Wir- vorkommt. Daniela Jopp hat genauer kung von Antidepressiva und über ihre hingeschaut: sie beantwortet die Frage, Langzeitfolgen wissen. Steve Truöl erläu- warum Hochbetagte oft eine erstaunliche tert die Depression als komorbide Erkran- Resilienz haben und nicht depressiv wer- kung, denn sehr häufig tritt die Depression den. Ulrike Borst beleuchtet die andere eher als begleitendes Phänomen bei einer Seite der Depression: Was bedeutet es, anderen Erkrankung auf. mit einem depressiven Angehörigen zu Und schließlich kann natürlich auch leben? Denn auch die Angehörigen von dieses Heft nicht am Thema Corona vor- Depressiven leiden mitunter sehr und beigehen. Wir beschreiben die Auswir- sind sich zugleich unsicher, ob sie durch kungen dieser einschneidenden Verände- ihr Verhalten die Depression verschlim- rungen im klinischen Bereich und bei der mern bzw. wie sie helfen könnten, sie zu Teilhabe am Arbeitsleben. Wir wünschen überwinden. Ihnen viel Freude beim Lesen! Simon Bollmann, Isabel Schamong und Irmgard Plößl Eva-Maria Brakemeier gehen der Frage Stefan Weinmann
THEMENSCHWERPUNKT Depressives Erleben als Verlust sozialer Freiheiten1 Von Martin Heinze und Samuel Thoma „Die Trauer kommt und geht ganz damit viele unterschiedliche Diszip- ohne Grund. Und man ist angefüllt mit linen an der Interpretation der Daten nichts als Leere. Man ist nicht krank, beteiligt sind. Denn trotz mancher und ist auch nicht gesund. Es ist, als Studien über die vergleichsweise hohe ob die Seele unwohl wäre …“ Lebenszufriedenheit in der gegenwär- Erich Kästner tigen Gesellschaft (Raffelhüschen und Krieg 2017) bekommt man den Ein- druck, dass das Reden über Depression Einleitung auf ein problematisches Verhältnis der Menschen zu dieser Gesellschaft Epidemiologische Daten zu depres- hindeutet. Mit Axel Honneth lässt sich Martin Heinze Samuel Thoma siven Störungsbildern belegen vor- in diesem Zusammenhang von einem Professor für Psychiat- Assistenzarzt an der geblich eine Zunahme der Inzidenz „richtungslosen Unbehagen“ sprechen rie und Psychotherapie Immanuel Klinik an der Hochschulklinik Rüdersdorf; aktu- dieser Störungsbilder. Zu nennen ist (Honneth 2017, 15ff.). Richtungslos für Psychiatrie und ell Promotion in etwa die vielfach festgestellte Zu- ist dieses Unbehagen nach Honneth, Psychotherapie der Philosophie an der nahme von depressionsbedingten weil wir uns zwar der problematischen Medizinischen Hoch- Universität Heidel- Krankheitstagen (Knieps und Pfaff sozialen Verhältnisse, in denen wir schule Brandenburg berg; Forschung zu 2017). Solche Daten sind aber inter- leben, bewusst seien, aber doch keine (MHB) und Leitender Sozialpsychiatrie und Chefarzt der Immanuel anthropologischer pretationsbedürftig: es könnte sich Lösung für sie erkennen können. Aus Klinik Rüdersdorf Psychiatrie 4 um die tatsächliche Zunahme eines psychiatrischer Sicht deutet die Zu- Krankheitsgeschehens handeln. Es nahme depressiver Verstimmungen in könnte sein, dass viele depressive der klinischen Versorgung auf dieses Depression durch Überforderung? Krankheitsbilder bisher übersehen Unbehagen hin. Ob sich in der ge- wurden oder keine ausreichende Be- nannten Zunahme der Krankheitstage Psychopathologisch ist zunächst zu handlung fanden, wegen ihrer Stig- wirklich eine gesteigerte Inzidenz de- unterscheiden zwischen schweren, frü- matisierung z.B. Es könnte sein, dass pressiver Erkrankungen spiegelt oder her als endogen bezeichneten, und eher wir heute die Diagnose zu häufig stel- eher eine gesteigerte Sensibilität für leichten, neurotischen Depressionen. len und es zu einer „Überdiagnostik“ dieses Thema bzw. auch eine verän- Schwere Depressionen unterscheiden im Rahmen einer Psychiatrisierung derte Selbstwahrnehmung Einzelner in sich qualitativ vor allem durch eine kommt (Beeker und Thoma 2019). der Gesellschaft, muss hier der Sache ausgeprägte Antriebshemmung und das Viele andere denkbare Erklärungen nach offen bleiben. tiefgreifende Gefühl der Gefühllosigkeit wären möglich. von leichten Depressionen, in denen Wir wollen hier nur der These nachge- sich lediglich eine depressive Verstim- Es handelt sich bei der Frage nach der hen, dass depressives Leiden Ausdruck mung, d.h. eine niedergeschlagene und Zunahme depressiver Erkrankungen des Verlustes sozialer Freiheiten ist. freudlose affektive Beziehung des Men- also um eine höchst komplexe Frage. Neoliberalismus als Ideologie unserer schen zu seiner Umwelt zeigt. Im Fol- Dazu kommt, dass auch andere ge- Zeit führt unter anderem dazu, dass genden befassen wir uns vor allem mit sellschaftspolitische Erklärungsmuster Menschen ihre individuelle Freiheit als der Zunahme der Depressionen vom zu Rate gezogen werden können und absolut und losgelöst von ihren so- letzteren Typus. zialen Bedingungen verstehen. Damit Die öffentliche Diskussion über die Zu- sind neoliberale Freiheiten oft Schein- nahme depressiver Störungen verbindet 1 Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fas- freiheiten, denen auf der Seite sozialer sich mit der These, dass unsere Lebens- sung des Aufsatzes: Heinze, H., & Beziehungen häufig der Ausschluss aus bedingungen möglicherweise pathogen Thoma, S. (2018). Soziale Freiheit und sozialen Prozessen entspricht, so dass seien und das Individuum überfordern. Depressivität. In L. Iwer, T. Fuchs, der Verlust sozialer Freiheiten sogar An Erklärungsmodellen fehlt es in der & S. Micali (Hrsg.), Das überforderte unbemerkt bleibt. Praktisch folgern wir aktuellen Debatte nicht. So rechnet Subjekt (S. 344–367). Berlin: Suhr- daraus, dass psychiatrische Therapie Hartmut Rosa das Burn-out ebenso kamp. Auf vertiefende anthropologisch- vor allem die konkreten Bedingungen wie das ADHS zu den „geschwindig- psychiatrische Überlegungen kann hier individueller Freiheit in den Blick neh- keitsinduzierten Krankheiten“, die auf nicht eingegangen werden, dagegen men sollte, um so neue Möglichkeits- die technische Beschleunigung gesell- werden die sozialpsychiatrischen Impli- räume gemeinschaftlichen Handelns zu schaftlicher Prozesse und allgemeiner kationen ergänzend dargestellt. schaffen. die Beschleunigung des sozialen Wan-
Kerbe 3 | 2020 Themenschwerpunkt dels zurückzuführen sind (Rosa 2005, stellungen sich beim Einzelnen bezüg- näher die eingangs nur vage skizzierte 362ff.). Die Handlungs- und Erlebnis- lich seiner eigenen Individualität ein- „Haltlosigkeit“ von Menschen in unse- episoden pro Zeiteinheit nähmen zu, stellen. Die Logik dieser Mechanismen rer gesellschaftlichen Wirklichkeit. ebenso die Veränderungsgeschwindig- wiederum entspringt einer Gesellschaft, Das moderne Individuum missversteht keit, verbunden mit zunehmender Er- deren Konstruktion von Individualität seine Selbstentwicklung und Selbstver- wartungsunsicherheit und der subjekti- sich in erster Linie an der Verwertbar- antwortung nämlich im Sinne einsei- ven Erfahrung von Zeitnot und Stress. keit des Einzelnen orientiert. tiger Autonomie oder „Freiheit-von“. Die Erlebnisse blieben episodisch, ohne Der Versuch, individuelle Depressivität Eine eigentlich freie Selbstverwirkli- nachhaltige Erinnerungsspuren, resul- und gesellschaftliche Phänomene zu- chung dagegen würde die Verankerung tierend in einem allgemeinen Schwund sammenzudenken, stellt uns somit vor im Sozialen betonen: Wir verwirklichen von Erfahrung. allem vor die Aufgabe, den Vermitt- uns nur in und durch unsere Sozialität, Überforderung besteht aber aus unserer lungszusammenhang von Einzelnem von der unabhängig zu sein oder zu Sicht nicht allein darin, dass äußere und Allgemeinem angemessen begriff- werden, uns als fälschliche Aufgabe Ansprüche unvermittelt „zu viel“ für lich zu erfassen. Statt nur vorgegeben wird. Ohne einen Einzelnen sind. Vielmehr ist die die Überforderung in den Die Unterwerfung der diese Verankerung hin- Anfälligkeit für Überforderung und de- Blick zu nehmen, erscheint menschlichen Lebens- gegen wird der Einzelne pressive Verstimmung im Wechselspiel es angemessener, von vollzüge unter die schließlich „müde“ oder des Einzelnen mit seiner sozialen Um- einer zugrundeliegenden Zweckrationalität des „erschöpft“, weil ihm welt und damit letztlich in der Sozia- „Haltlosigkeit“ bei der Systems erzeugt eine seine Machtlosigkeit lisation und dem damit verbundenen eigenen Persönlichkeits- Individualität, die aufgrund fehlender Verständnis der Menschen von sich entwicklung zu sprechen. gerade nicht mehr im Teilhabemöglichkeiten selbst zu suchen. Diese Begriffe verweisen emphatischen Sinne an sozialen Prozessen Zum Verständnis dieser Sozialisation, dann auf eine andere Di- Individualität ist, son- sehr wohl bewusst ist. scheint eine sich rein auf die techni- mension der Betrachtung, dern Konformismus. Dementsprechend sieht schen und ökonomischen Entwick- nämlich die der Entfaltung Honneth in Depres- lungen fokussierende Argumentation der eigenen Biographie, deren Gelingen sionen (und Süchten) emblematische nicht hinreichend zu sein. Der ständige nicht zuletzt Orientierung und feste Erkrankungen des gegenwärtigen Ka- Wechsel von Betriebssystemen oder die Ankerpunkte erfordert. pitalismus und der damit verknüpften Umstellung auf Smartphones scheinen Wir plädieren nun dafür, psychische Paradoxien der Individualisierung die meisten Menschen nicht an die Störungen vor allem als Verlust von (Honneth 2002/2012). Einerseits be- 5 Grenze ihrer Belastbarkeit zu bringen. Freiheitsmöglichkeiten zu deuten, und deutet diese Individualisierung näm- Wenig plausibel ist auch die Annahme, zwar nicht der Freiheit von Zwängen lich Emanzipation des Einzelnen von dass ein Zuviel an Informationen dazu oder von der Gesellschaft, sondern traditionellen Bindungen, andererseits führt, dass man sie irgendwann nicht einer sozialen Freiheit, d.h. einer Frei- aber doch eine zunehmende Konfor- mehr verarbeiten kann. Solche land- heit für bzw. zur Gesellschaft und zu mität. Denn die „Ansprüche auf indi- läufigen Annahmen suggerieren, dass sozialem Handeln (vgl. Wolfgang Blan- viduelle Selbstverwirklichung“ seien der Mensch wie ein Computer funkti- kenburg 1989, S. 82). Wir vertreten mittlerweile zu einem „institutionali- oniere, dessen Festplatte irgendwann somit die These, dass die Überforde- sierten Erwartungsmuster der sozialen voll sei. Aus neurowissenschaftlicher rung des Einzelnen in einem durch die Reproduktion“ geworden, das vom Sicht gibt es jedoch Hinweise, dass der Entwicklung der Moderne entstandenen Individuum jedoch umso schwerer als Mensch sich an eine Zunahme an In- Missverständnis wurzelt – im Nicht- ein solches erkannt werde (ebd., 68). formationen durchaus anpassen kann. wahrnehmen oder Leugnen der primä- Eben auf diesen Widerspruch führt Sinnvoller erscheint uns demgegenüber ren Sozialität des Menschen, und in Honneth das verbreitete Auftreten von die These, dass es durch den beschleu- der negativen Auffassung der eigenen Erfahrungen innerer Leere, eigener nigten sozialen Wandel zum drohenden Freiheit als nur „Freiheit-von“. Überflüssigkeit und „Orientierungslo- oder tatsächlichen Ausschluss von sigkeit“ zurück. Damit eröffnet sich Individuen aus bestimmten Sphären Individualität als Verdinglichung eine Perspektive auf die Frage nach der Gesellschaft kommt. Zumindest ist und Verwertbarkeit der Pathogenität der gesellschaftlichen empirisch belegbar, dass die Unsicher- Organisation: Die Unterwerfung der heit von Arbeitsverhältnissen zu einer Die heutige Form der Individualisie- menschlichen Lebensvollzüge unter die erhöhten Inzidenz von depressiven rung spiegelt die Widersprüche unse- Zweckrationalität des Systems erzeugt Verstimmungen führt (Stankunas et al. rer Gesellschaftsordnung wider: die eine Individualität, die gerade nicht 2006; Norström et al. 2014). Es geht Vorstellung einer Selbstverantwortung mehr im emphatischen Sinne Indivi- somit weniger um gesellschaftliche ebenso wie die Vorstellung, jeder sei dualität ist, sondern Konformismus. Anforderungen als um die Ein- und für seine psychische Stabilität selbst Dies führt zu einer Vielzahl von neuen, Ausschlussprozesse bezüglich der Teil- verantwortlich, ohne dass er ein äuße- sowohl materiellen wie psychischen habe am gesellschaftlichen Leben. In res Gerüst dafür brauche. Überfordert Formen des sozialen Leidens (ebd.). einem nächsten Schritt gilt es dann zu zu sein aufgrund eines Verlusts der Honneth sieht das kapitalistische Frei- bestimmen, wie diese Ex- und Inklu- Gemeinschaftserfahrung oder, mit He- heitsverständnis privat-egoistisch auf sionsmechanismen bereits die Art und gel gesprochen, als nicht ausreichend eine nur individuelle negative Freiheit Weise bedingen, wie sich individuelle gelingende Besonderung der sozial ver- verengt, im Gegensatz zu einer „sozia- Biografien ausformen, und welche Vor- mittelten Individuation bestimmt nun len Freiheit“, in der zugleich Gleichheit
Kerbe 3 | 2020 T hem enschwerpunkt und Brüderlichkeit verwirklicht werde Assoziativität als „Therapie“ (Mit-)Bestimmung der gesellschaftlichen (Honneth 2017). Das Leiden der Indi- Wirklichkeit durch die eigene Lebens- viduen werde dann durch gesellschaft- Angesichts dieser gesellschaftlichen form. Mehr noch: Je stärker die soziale liche und kulturelle Muster herbeige- Tendenzen der Entfremdung stellt sich Teilhabe ist, desto größer die Möglich- führt, die im Verlauf der Sozialisation die Frage nach einer möglichen Alter- keiten der individuellen „Freiheit-zu“, soweit internalisiert werden, dass das native. Was wären positive Freiheits- die eine Bejahung des Anderen ist. Sie Subjekt selbst die Ursache seines Lei- möglichkeiten eines Menschen, d.h. bedeutet die Bejahung der Anderen „als dens nicht mehr verorten könne, also seine Freiheit, die vom Einzelnen unter Anderen, gleichzeitig aber auch die Er- „verblendet“ sei. Der Individualismus seinen sozialen und historischen Be- weiterung meiner Geborgenheit in der wird damit zu einer eigentümlich dingungen konkret gelebt wird? Diese Welt“ (Prucha 1987, 77). missbrauchten Produktivkraft der positive „Freiheit-zu“ kann nur in der Auch wenn dies zunächst abstrakt kapitalistischen Modernisierung: Die Interaktion mit anderen Menschen voll- klingt, lassen sich hieraus unmittelbar Instrumentalisierung der Selbstverwirk- zogen werden. Sie ist vieldimensional sozialpsychiatrische Konsequenzen lichung macht das Individuum zum und zeigt sich in allen ableiten: Prinzipiell kreativen Unternehmer seiner selbst. menschlichen Fähigkeiten Jedes therapeutische sollte sich jedes thera- Das Ideal der Selbstverwirklichung zum Erleben und Handeln. Bemühen sollte sich des peutische Bemühen des habe sich, so Honneth, zu Ideologie Um diese positive Freiheit gegenwärtigen, neoli- gegenwärtigen, neoli- und Produktivkraft eines deregulier- zu verstehen, bietet sich beralen soziokulturellen beralen soziokulturellen ten Wirtschaftssystems entwickelt: das Konzept der Assozi- Rahmens bewusst sein Rahmens bewusst sein Die Ansprüche, die die Subjekte zuvor ativität bei Milan Prucha und die Schwächung der und darauf achten, herausgebildet hatten, als sie ihr Leben an. Mit dem Begriff der sozialen Institutionen die in diesem Aufsatz als einen experimentellen Prozess der Assoziativität sucht Prucha nicht weiter nähren. beschriebene Vernach- Selbstfindung zu interpretieren began- den Gedanken solidari- lässigung der Sozialität nen, kehren nun in diffuser Weise als scher sozialer Beziehungen hin zur und die Schwächung der durch den äußere Forderung an sie zurück, sodass Verwirklichung von Freiheit weiterzu- Neoliberalismus bedrohten sozialen In- sie verdeckt oder offen zu einem steten entwickeln (Prucha 1983). Assoziativer stitutionen nicht weiter zu nähren. An- Offenhalten ihrer biografischen Ent- Beziehungen als Ermöglichungsgrund sonsten droht Therapie, allein zweckra- scheidung und Ziele angehalten wer- individueller Freiheit bedürfe es da- tional im Sinne der Wiederherstellung den. (Honneth 2002/2012, 77) bei nicht nur gegenüber den Anderen, der Arbeitsfähigkeit als Rehabilitati- 6 Was dabei allerdings verloren gehe, sei sondern vielmehr auch gegenüber dem onsmaßnahme zu sein. Sie ist dann im die soziale Sicherheit, Eingebundenheit Anderen, nämlich der Natur. Eman- falschen Sinne reparativ. Therapie muss und die diese garantierenden gesell- zipation beruhe auf der Bejahung der neben der individuellen Behandlung schaftlichen Institutionen; es vollzieht Rechte Anderer, aber auch auf der öko- dementsprechend besonders soziale Be- sich eine „schleichende Vermarktli- logischen Einsicht in die Eigenrechte ziehungen stärken. Dies kann letztlich chung der Gesamtgesellschaft“ (Hon- aller Daseienden. Freie Entfaltung von nur außerhalb des Arztzimmers und neth 2002/2012, 77). Die Formen des menschlicher Subjektivität bedeutet so- außerhalb der exklusiven Zweierbezie- Leidens unter dieser Entwicklung sind mit die Fähigkeit zur Gemeinschaft mit hung zwischen Therapeutin und Pati- aber Honneth zufolge Anderem und Anderen ent geschehen, die Erich Wulff (1972) gerade deshalb nicht Freiheit realisiert sich und deren Anerkennung einmal kritisch mit einer „Ideologie der deutlich erkennbar, weil nicht unabhängig von als gleichberechtigt, wo- Bipersonalität“ verband. Außerhalb des sie – und das generiert sozialen Prozessen. Es hingegen eine bloße Ob- Therapiezimmers muss psychiatrische das „Unbehagen“ – in zeigt sich kein Gegen- jektivierung der Anderen Hilfe die Möglichkeiten individueller den Bereich der psy- satz von Individuum und des Anderen proble- Freiheiten-zu von Einzelnen stärken chischen Erkrankungen und Sozialität, sondern matisch ist und auf sich und deren Fähigkeit zur Erschaffung verlagert werden. Der eine Entfaltung des Ichs selbst zurückfällt. Im po- freier Verhältnisse im Sinne der As- psychiatrische Diskurs und eine (Mit-)Bestim- sitiven Fall werden dann soziativität befördern. Durch psych- läuft Gefahr, das eigent- mung der gesellschaftli- auch Freiheitsmöglichkei- iatrisches Denken und Handeln sind liche Leiden zu verde- chen Wirklichkeit. ten nicht nur verkürzt als demnach letztlich neue Möglichkeits- cken, indem er es auf „Freiheit-von“, sondern räume gemeinschaftlichen Handelns zu individuelle Krankheitssymptome redu- als weiterreichende „Freiheit-zu“ ver- schaffen, in denen Teilhabe an sozialen ziert. Es scheint unserer gegenwärtigen standen. Dies hat einen emanzipatori- Prozessen ermöglicht wird. Gesellschaftsformation durchaus zu- schen Charakter im Sinne der Verwirk- Konkret könnte für dieses emanzipa- passzukommen, dass Menschen sich im lichung individueller und kollektiver torische Ziel an das Empowerment- Sinne einer nicht mehr konkretisier- Selbstbestimmung unter Bejahung ihrer konzept gedacht werden. Betroffenen baren Individualität selbst entwerfen, sozialen und natürlichen Ermögli- soll ermöglicht werden, ihre Interessen um damit produktiver und verwertba- chungsbedingungen. Freiheit realisiert wieder eigenmächtig, selbstbestimmt rer zu werden (Mensen 2014). Bernd sich nicht unabhängig von sozialen und in eigener Verantwortung wahr- Heiter (2008, S. 235) führt dazu aus: Vermittlungsprozessen, sondern nur zunehmen. Aber oft wird übersehen, „Die Ironie des neoliberalen Freiheits- in ihnen. Es zeigt sich kein Gegensatz dass auch hier Selbstbestimmung ver- dispositivs besteht darin, den Leuten von Individuum und Sozialität, sondern bunden sein muss mit einem Bezug glaubhaft zu machen, es ginge um ihre im gelingenden Fall eine Entfaltung zur Gemeinschaft, mit einer Beschrän- Freiheit“. des eigenen Ichs und gleichzeitig eine kung der nur eigenen Bedürfnisse im
Kerbe 3 | 2020 Themenschwerpunkt Blankenburg, W. (1989). „Futur-II-Perspektive Abgleich mit jenen der es tragenden nen, sozialen Freiheit-zu. in ihrer Bedeutung für die Erschließung der Gemeinschaft. Die Strategie, in einer Zuletzt sind entsprechende, emanzipa- Lebensgeschichte des Patienten“. In ders. individuellen, „empowernden“ Psycho- torische und am Sozialen orientierte Biographie und Krankheit, 76-84. Stuttgart: therapie Menschen sozusagen fit oder Therapieansätze auch mit einer von Thieme. weniger vulnerabel für die Heraus- assoziativer Freiheit gekennzeichneten Heiter, B. (2008). „Leute zurechtmachen. Über forderungen ihres Lebens zu machen, Forschungspraxis in der Psychiatrie ge- Praktiken neoliberaler Gouvernementalität“. In Selbst und Selbstverlust. Psychopathologische, würde nur dann erfolgreich sein, wenn kennzeichnet: Psychiatrische Forschung neurowissenschaftliche und kulturphiloso- sie erneut das Gesamt der Beziehungen selbst muss auch die Freiheit der Be- phische Perspektiven, herausgegeben von D. der Wirklichkeit, in denen Menschen troffenen miteinbeziehen, indem diese Quadflieg, 219-237. Berlin: Parodos. stehen, reflektiert – ebenso wie das zu aktiven Teilnehmerinnen und Ge- Honneth, A. (2012). „Organisierte Selbstver- Gesamt der Beziehung zur Wirklichkeit staltern dieser Forschung werden. Dies wirklichung. Paradoxien der Individualisie- der Therapeutin, und dies auch unter geschieht zunehmend durch partizipa- rung“. In Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, herausgegeben dem Blickwinkel der herrschenden Ge- tive und nutzerkontrollierte Forschung von C. Menke und J. Rebentisch, 63-80. Berlin: sellschaftsorganisation. in Deutschland (Vgl. Sozialpsychiatri- Kadmos. (Erstausgabe 2002) Dies wiederum ist besonders durch sche Informationen, 02/2017) Honneth, A. (2017). Die Idee des Sozialismus. sozialtherapeutische Ansätze möglich, Versuch einer Aktualisierung. Berlin: Suhrkamp. die unmittelbar im sozialen Kontext Fazit Kal, D. (2010). Gastfreundschaft: Das nieder- der Patientinnen und Patienten situiert ländische Konzept Kwartiermaken als Antwort sind und diesen notwendig mitbehan- Wir haben dafür argumentiert, dass de- auf die Ausgrenzung psychiatrieerfahrener deln. Zu denken ist etwa an Dortje Kals pressives Leiden und Überforderungs- Menschen, hg. von Robin Boerma, übers. von Rita Schlusemann, Neumünster: Die Brücke „Buddy-Konzept“ (Kal 2010, S. 74 ff), erleben in unserer Gesellschaft letztlich Neumünster. bei dem die Betroffenen bei der Teil- aus einem Verlust von sozialer Freiheit Knieps, F. und H. Pfaff, Hgg. (2017). Digitale habe an sozialen Institutionen ihres der konkreten Person resultiert, wobei Arbeit. Digitale Gesundheit. Essen: Medizinisch Lebensumfelds (etwa Sportverein oder wir uns kritisch mit dem herrschenden Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Kirchengemeinde) durch Helferinnen neoliberalen Freiheitsverständnis aus- Landesverband Psychiatrie-Erfahrener NRW, und Helfer unterstützt werden. Ein einandergesetzt haben. Soziale Freiheit (2020), http://www.psychiatrie-erfahrene-nrw. ähnliches Konzept stellen sogenannte verstanden wir diesem gegenüber als de/downloads/200331_Bochumer_Krisenzim- mer_Online_Einzelseiten.pdf, angerufen am Job-Coaches dar, die eine Vermitt- „Freiheit-zu“, die sich im Gemein- 30.05.2020 lungsposition zwischen den Betrof- schaftsbezug realisiert. Mensen, U. (2014). „Das depressive Subjekt als fenen und der Arbeitswelt darstellen Durch psychiatrisches Denken und Stütze des neoliberalen Systems. Die soziale 7 und sich u.a. für die Anpassung der Handeln können und sollten neue Funktion einer individualisierten Dysfunktion“. Arbeitsbedingungen des jeweiligen Ar- Möglichkeitsräume gemeinschaftlichen psychosozial 135 (37): 109-125. beitsplatzes einsetzen. Von besonderer Handelns entstehen, in denen von De- Norström, F., P. Virtanen, A. Hammarström, Rolle sind außerdem diverse Formen pressivität Betroffenen ermöglicht wird, P. E. Gustafsson und U. Janlert. (2014). „How der Selbsthilfe innerhalb und außer- ihre Interessen wieder selbstbestimmt Does Unemployment Affect Self-Assessed Health? A Systematic Review Focusing on Sub- halb des psychiatrischen Hilfesystems. und in eigener Verantwortung wahr- group Effects“. BMC Public Health 14 (1): 1310. Zu nennen sind etwa psychiatrie- und zunehmen. Oft wird dabei übersehen, Prucha, M. (1983). „Freie Assoziation oder krisenerfahrene Mitarbeiter, die als dass auch diese Selbstbestimmung höchstes Wesen“. In Marxismus und Chris- Peers im stationären wie ambulanten letztlich nur solidarisch mit einer Be- tentum, herausgegeben von F. Reisinger, G. Rahmen Patientinnen und Patienten schränkung der eigenen Bedürfnisse Rombold und I. Fetscher, 33-53. Linz: OLV. unterstützen und als Fürsprecherinnen und im Abgleich mit jenen der sie tra- Prucha, M. (1987). „Zu den Möglichkeiten einer für sie in der psychiatrischen Institu- genden Gemeinschaft zu gestalten ist. philosophischen Auseinandersetzung mit der tion fungieren. Für andere kann jedoch Dies wiederum ist besonders durch so- gegenwärtigen Gewalteskalation“. In Frie- densinitiative Philosophie: Um Kopf und Krieg. auch die ausschließlich selbstorgani- zialtherapeutische Ansätze möglich, die Widersprüche, herausgegeben von C. Schulte, sierte Unterstützung durch Erfahrungs- im sozialen Kontext der Patientinnen 61-78. Darmstadt: dtv. und Leidensgenossinnen hilfreicher und Patienten situiert sind und diesen Raffelhüschen, B. und O. Krieg. (2017). Glücks- sein. Diese solidarische, assoziative mitbehandeln. atlas. München: Knaus. Unterstützung auf Basis gemeinsamer Zu guter Letzt sollen die Überlegungen Rosa, H. (2005). Beschleunigung. Die Verän- (oder zumindest ähnlicher), leidvoller dieses Aufsatzes andeuten, dass depres- derung der Zeitstrukturen in der Moderne. Erfahrungen in der Gesellschaft kann sives Erleben wie jedes andere psychi- Frankfurt a. M.: Suhrkamp. in vielen Fällen weitaus heilsamer sein, sche Leid des Einzelnen nur aus dessen Sozialpsychiatrische Informationen (2017). So- als die vom psychiatrischen System konkret gelebter Sozialität und seiner zialpsychiatrische Forschung – von der Evidenz zur besseren Praxis? Themenschwerpunkt 47 (2). angebotene Hilfe. Hieraus ergibt sich besonderen Realisierung von Freiheit Köln: Psychiatrie Verlag. beispielsweise der Hilfsansatz eines verstehbar und schließlich auch thera- Stankunas, M., R. Kalediene, S. Starkuviene betroffenenkontrollierten, antipsychi- pierbar ist. und V. Kapustinskiene. (2006). „Duration of Un- atrischen Projekts (z.B. die Bochumer employment and Depression. A Cross-Sectional Krisenzimmer, vgl. Landesverband Survey in Lithuania“. BMC Public Health 6: 174. Psychiatrie-Erfahrener NRW, 2020). Literatur Wulff, E. (1972). „Kritische Sozialpsychiatrie Insgesamt ermöglicht die Kritik an Beeker, T., & Thoma, S. (2019). Die digitale in der Bundesrepublik“. In Sozialpsychiatrie. Psychiatrie zwischen User-Empowerment und Psychisches Leiden zwischen Integration und Missständen der Gesellschaft und der Psychiatrisierung. Suizidprophylaxe, 46(3), Emanzipation, herausgegeben von K. Dörner Psychiatrie als kollektive Praxis die und U. Plog, 137-148. Berlin: Luchterhand. 82–98. Wiederherstellung einer zuvor verlore-
Kerbe 3 | 2020 T hem enschwerpunkt Die Depression - Krankheit und gesellschaftliches Phänomen Von Stefan Weinmann Einleitung rum auch nicht. Denn es ist keineswegs klar, ob sich alles zum besseren wenden Stefan Weinmann Depressivität ist universell. Römische und würde, wenn nur alle Menschen wüssten, Psychiater, Psychothe- griechische Autoren schon beschrieben was die Experten wissen, und wenn wir rapeut und Gesund- heitswissenschaftler, Zustände, die denen, welche Psychiater täten, was die Experten raten. Und dann Oberarzt am Vivantes heute als Depression, Melancholie oder wiederum: welche Experten? Klinikum Am Urban in bipolare Erkrankung bezeichnen, glei- Berlin und Redakti- chen. Menschen in allen Zeitperioden Depressionen im Laufe der Zeit onsmitglied der Kerbe: und Kulturen haben unter Depressionen stefan.weinmann@ yahoo.de gelitten, so wie unsere Zeitgenossen dies Es scheint nie so viele Depressionen ge- heute tun. Diese offensichtliche Universa- geben zu haben wie heute. Ob depressive lität des Phänomens wurde früher („Un- Zustände in der Moderne oder der Post- gleichgewicht der Säfte“) als auch heute moderne wirklich häufiger geworden sind in einer gegebenen Bevölkerung mittler- („Neurotransmitter-Ungleichgewicht“) von oder nicht, bleibt weiterhin umstritten. weile über 10 Prozent eine Depression Therapeuten, Forschern und Schreibern Aber was messen wir eigentlich mit der bekommen. Mehr als jeder Fünfte in den herangezogen, um von einer Störung der Depression? Die Häufigkeit von Symp- USA soll mindestens einmal im Leben Seele oder des Gehirns, von einer Erkran- tomen? Welche? Das Ausmaß des Leids? eine Depression entwickeln (Hasin u. a. kung, einer Stimmung oder einfach nur Wenn wir uns der Epidemiologie der 2018). Die Hälfte davon soll «schwer« von einem mehr oder weniger länger an- Depression nähern wollen, müssen wir sein. Nach den Daten der Weltgesund- dauernden psychischen Zustand zu spre- uns immer bewusst sein, dass wir keine heitsorganisation sollen gegenwärtig 300 8 chen. Heutzutage, nach Hunderten von objektive Wissenschaft vor uns haben: Millionen weltweit von Depressionen Jahren Beschäftigung mit der Depression, Wir messen Bewertungen! Der Leidende betroffen sein – mithin 4–5 Prozent der besteht wenig Zweifel, dass der depressive spürt etwas und bewertet es als Nieder- gesamten Weltbevölkerung und über 6 Zustand durch eine Kombination bioche- geschlagenheit, Melancholie, Insuffizienz, Prozent aller Erwachsenen! mischer und psychologischer Prozesse Hemmung, Trauer oder einfach nur kör- In den letzten hundert Jahren nahm erklärbar ist, die zu einem Leiden führt, perlichem Unwohlsein – oder eben als der Anteil der jungen Menschen, die welches durch Medikamente oder Psy- Erkrankung Depression. Das Benennen im Laufe ihres Lebens eine Depression chotherapie behandelt werden kann. Was einer Depression ist das Ergebnis einer entwickelten, deutlich zu. Eine große kann eine Betrachtung der Gesellschaft, Reihe von Bewertungen, die auch anders US-amerikanische Studie mit über 70.000 der Kultur hier also noch beitragen? aussehen könnten. Und wie in der Infek- Schülern und Studenten fand beispiels- Das Bild ist nicht so klar, wie es er- tionsmedizin bekommen wir eben das, weise heraus, dass im Jahre 2007 junge scheint. Und die Bilder, die das Wort De- was „gerade herumgeht“. Und die Depres- Erwachsene ein 6- bis 8-fach höheres pression in unseren Köpfen hervorrufen, sion geht gerade herum. Risiko hatten, an einer klinisch bedeut- sind sehr divers und geprägt von eigenen In den letzten zwei Jahrzehnten haben samen Depression zu erkranken als Erfahrungen und Selbstbeobachtung, von wir von Psychiatern, Epidemiologen Gleichaltrige im Jahre 1938 (Twenge u. Medien, Beobachtungen in Familie und und anderen Fachleuten Warnungen a. 2010). Seit den 1950er Jahren – also Freundeskreis, Weltbildern und (bewuss- vor der erheblichen und zunehmenden seitdem es Antidepressiva gibt – wurde ten und unbewussten) Verbreitung und den oft auch in Europa die Depression häufiger. kulturellen Vorstellungen. In den letzten hundert chronischen Verläufen der So war das Risiko, eine Depression zu Und trotz jahrzehntelan- Jahren nahm der Anteil Depression gehört. Das haben, bei jungen erwachsenen Schwe- ger Forschung bleibt der der jungen Menschen, war früher meist anders den zwischen 1957 und 1972 zehnfach Ursprung der Depression, die im Laufe ihres Lebens – die Depression galt als höher als zwischen 1947 und 1957 (Hag- das, was im Gehirn, in der eine Depression entwi- gutartige Erkrankung, die nell u. a. 1994). Auch in Kanada war die Psyche und im gesamten ckelten, deutlich zu. (mit oder ohne Behand- Häufigkeit der Depression im Zeitraum Körper passiert, weitest- lung) auch wieder vorbei zwischen 1970 und 1992 um 5 Prozent- gehend im Verborgenen. Wir hören uns geht. Die Depression, so hört man heute, punkte höher als zwischen 1952 - 1970 aber weiterhin die Ausführungen ärztli- sei gar nicht so milde und harmlos, man (Murphy u. a. 2000). Diese Studien nutz- cher oder psychologischer Depressions- müsse alles tun, um die Menschen rasch ten einheitliche Diagnosesysteme und Erklärer an, die immer wieder auf die zu und vollständig aus der Krankheitsphase können nicht als grundsätzlich verfälscht geringen Entdeckungsraten, die zu gerin- zu holen. Eine Chronifizierung des Ver- angesehen werden. Die Epidemie der De- gen Behandlungsraten, vielleicht die zu laufs muss mit allen Mitteln verhindert pression ist also nicht vollständig durch geringen Behandlungserfolge hinweisen. werden (Angst u. a. 1996). In einem Zeit- eine verbesserte «Wahrnehmung» und Das alles ist wahr und vielleicht wiede- raum von 12 Monaten sollen heutzutage Erkennung der Depression bedingt.
Kerbe 3 | 2020 Themenschwerpunkt Gründe für die Zunahme Kulturen ist Depressivität prima vista psychiatrischen Agenda ist noch ein der Depression nicht Symptom einer Erkrankung. weitgehend unentdecktes Forschungs- gebiet, das vorsichtig und mutig und Also ist es doch der Stress, der zuge- Depressionen und Kultur ohne verschwörungstheoretischen Im- nommen hat? Ist es die Moderne mit petus angegangen werden muss. ihren Herausforderungen (gibt es doch In „Crazy like us“ beschreibt Watters, deutlich weniger Depressionen in nicht- wie die Depression vom Westen in an- Das depressive Wesen westlichen Ländern)? Ist es die Zunahme dere Kulturen exportiert wurde. Das von Ungleichheit in der Gesellschaft große Projekt der West-Vereinheitli- Die Depression als belastenden und zu (Wilkinson 2009), die Zunahme von chung der Welt unter US-amerikani- behandelnden Zustand anzuerkennen, Übergewicht, Veränderungen der Ernäh- scher Führung hat dazu geführt, dass bedeutet nicht, gesellschaftliche Fakto- rung mit mehr industrieller Nahrung, ist die Welt die menschliche Seele und den ren, die bei ihrer Entstehung mitwirken, es der Bewegungs- und Schlafmangel, menschlichen Geist anders versteht als auszublenden. Aber genau letzteres ist es, eine Zunahme von Wettbewerb, Einsam- in vorigen Jahrhunderten: kulturelle was in der allgemeinen psychiatrischen keit (in der Masse) und Individualisie- Vorstellungen über Symptome und Ver- Diskussion oft unterlassen wird – und rung? Oder ist es nur die «Bewertung» lauf psychischer Erkrankung sind oft dazu geführt hat, dass wir mit unseren der eigenen Situation? Das letzte Wort Prophezeiungen, die sich selbst erfül- Präventionsstrategien so wenig erfolg- ist hier noch nicht gesprochen. Auch len. Der Export solcher Vorstellungen reich waren. Der Focus auf Behandlung warum wir eine Zunahme chronischer verändert die Wahrnehmung und auch und „Awareness“ hat dazu geführt, dass (therapieresistenter) Depressionen in den Emotionen und Kognitionen. wir kein Verständnis für die gesellschaft- letzten Jahren sehen, dafür finden Ex- Watters nennt das bedenkliche Beispiel lichen Wurzeln des depressiven „Defek- perten bisher keine Erklärung. Vielleicht des Exports eines Krankheitskonstruktes tes“, der depressiven Hemmung und Er- hat es mit dem Umgang mit den Symp- nach Japan: Als der US-amerikanische schöpfung und anderer Dimensionen des tomen, vielleicht sogar mit der Behand- Pharmakonzern Glaxo-Smith-Kline Depressiv-Seins entwickelt haben. lung zu tun. sein Antidepressivum Paxil in Japan Wie der französische Soziologe Ehren- Denn paradoxerweise stehen dem Druck, vermarkten wollte, erkannte er, dass berg eindrücklich gezeigt hat, ist die rasch zu behandeln und eine »Remis- er zuerst das Konzept der Depression Depression weiterhin eine Erkrankung der sion«, also ein Verschwinden der Symp- vermarkten musste. Denn die Japaner Moderne (Ehrenberg 2004): Wir leben tome, zu erreichen und den weit höhe- verbanden mit der Melancholie traditio- weiterhin in einer Zeit der Dekontextu- ren Behandlungsraten im Vergleich zu nell Einsicht und Erleuchtung und nicht alisierung und Dekonfliktualisierung des 9 allen anderen Zeitepochen viel mehr und Pathologie und Krankheit. Und in dieser Sozialen. Konflikte und Kämpfe zwischen auch viel chronischer ver- Logik bedurfte es auch Gruppen (soziale Schichten, Ethnien, An- laufende Depressionen ge- Der Focus auf Behand- keiner „Behandlung“. Im gehörige verschiedener Weltanschauung genüber. Mehr Krankheit lung und „Awareness“ Jahre 2000 entwickelte etc.) werden meist nicht offen ausgetra- trotz Behandlung? Wie hat dazu geführt, dass die Firma, fleißig unter- gen. An ihre Stelle trat die individuelle passt dies zusammen? wir kein Verständnis für stützt von Experten für Konkurrenz. Man muss immer aktiv Die Studien zur Depres- die gesellschaftlichen Kultur und Krankheit, und initiativ sein. Während der Träger sion sind belastet durch Wurzeln haben. eine Strategie zur Ver- der früheren Neurose (die mit der Zeit konzeptionelle Probleme. änderung dieser kultu- „untergegangen“ ist) unter der Kultur Dies hat Auswirkungen auf die Daten rellen Sichtweise. Melancholie wurde des Verbotes und des Gehorsams (dem zur Epidemiologie, zur Ursachenfor- als Depression umgedeutet (reframing), Freud‘schen Konstrukt des „Überichs“) schung als auch zur Wirksamkeitsfor- pathologisiert und als häufige, aber litt und an den rigiden Bedingungen der schung von Therapien. Depression ist (z.B. mit Paxil) behandelbare Erkran- Zivilisation scheiterte, leidet der heutige eine vorübergehende Emotion oder ein kung präsentiert. Um Nachfrage nach Depressive an der fehlenden Energie in Gefühlszustand, der von allen Menschen ihrem Produkt zu schüren, finanzierte einer Kultur des Leistungsdruckes, des mehrmals im Leben erlebt wird. Es ist Glaxo-Smith-Kline Artikel zu Depres- Wettbewerbs und der Selbstdarstellung. auch ein Symptom bei einer Vielzahl sion und Paxil und bezahlte Mediziner Energieausfälle können laut Ehrenberg psychiatrischer Erkrankungen (Angster- dafür, dass sie ihren Namen und akade- teuer zustehen kommen: „..weil man fort- krankungen, Psychosen, Zwangser- mischen Ruf unter die Artikel setzten. während auf der Höhe der Zeit sein muss, krankungen) und kann auch durch Sie veröffentlichen nur selektiv die ist Gehemmtheit eine Funktionsstörung, Medikamente oder Stoffwechselprobleme positiven Ergebnisse ihrer mäßig erfolg- eine Unzulänglichkeit.“ hervorgerufen werden. Eine Depression reichen Studien. Diese Strategien sind Unser modernes Leben ist von teils un- kann kurz oder lange andauern, sich nur bekannt: Selektives Publizieren, Mani- überbrückbaren Polaritäten geprägt: in körperlichen Beschwerden, Schmerzen pulation von Studien und ghostwriting Globalisierung und Individualisierung, oder Druck äußern oder nur in psychi- sind mittlerweile zum Allgemeingut Allmacht (der Wissenschaft, der Technik) schen Beschwerden. Es gibt primäre oder der Psychiatriegeschichte geworden und Ohnmacht (vgl. die COVID19-Epide- sekundäre Depressionen und solche, die (Goetzsche 2016). Auch die Verschie- mie und die Finanzkrise), Grenzenlosig- in Manien umschlagen. Anthropologi- bung der Grenzen des Normalen wird keit bzw. Unbegrenztheit der Möglich- sche Evidenz zeigt uns aber nicht nur kritisch diskutiert (Frances 2013). Aber keiten und Anpassungsdruck, psychische Unterscheide in der Ausprägung und der das Korrumpieren von Kulturen und Befreiung und Zwang zur persönlichen Wahrnehmung von Depressivität, son- Gesellschaften durch Firmen, Experten Initiative, Unsicherheit der Identität und dern auch im Symptom selbst. In vielen und Institutionen mit einer bestimmten absoluter Individualismus. Die Depression
Kerbe 3 | 2020 T hem enschwerpunkt kann daher als Ausdruck einer moder- nen Ambivalenz verstanden werden, als Orientierungslosigkeit und Gegenstück Macht Arbeit zur Entfaltung persönlicher Energie: De- pression als Gegenstück zu den „Normen unserer Sozialisation“. wirklich krank? Wir werden weiter in einer Zeit der Aus- weitung der Depression leben, wenn wir Fokus Arbeit: Das sollten Sie wissen! uns der sozialen Funktion von Depres- sivität nicht nähern. Hinzu kommt die Therapie, namentlich die medikamentöse Von Karsten Groth Therapie: Alles wird zur Depression, weil Antidepressiva alles behandeln können. Die künstliche Veränderung unserer Neu- rotransmitter durch Medikamente wurde Dieser Beitrag entsteht zu einem Zeit- lange Zeit gepriesen als Durchbruch. Heute punkt, der für die meisten von uns Karsten Groth entsteht eine immer größeres Bewusstsein zumindest befremdlich, wenn nicht be- Psychologischer für die Problematik der Banalisierung ängstigend oder bedrohlich ist. Zu einem Psychotherapeut, Psychische Gesundheit der Verordnung von Antidepressiva: Sie Zeitpunkt, zu dem unsere Regierungen am Arbeitsplatz e.V. sind keineswegs frei von Nebenwirkun- Unsummen in die Hand nehmen, um den (psygesa) gen (körperlichen als auch psychischen sozialen Frieden zu sichern und unsere und sozialen): Negative Auswirkungen Gesundheitssysteme und ökonomischen auf das Gedächtnis, Schwierigkeiten des Grundlagen funktionstüchtig zu erhal- Absetzens, so dass man von körperlicher ten. Zu diesen Grundlagen gehört auch Gewöhnung sprechen muss, Erhöhung der unsere tägliche Arbeit und die Art und Suizidalität, Chronifizierung des Verlaufs Weise, wie wir sie verrichten. Davon der Depression, Störungen des vegetativen hatten wir vor diesem gewaltigen Ein- digitalisierten, hoch kontrollierten und Nervensystems und des Herz-Kreislauf- schnitt in unser Leben ein mehr oder globalisierten Arbeitswelten sowohl leis- Systems. Aber sie sind neben den lang- weniger konsistentes Bild. Ein je unter- tungssteigernd und motivierend, aber 10 wierigen, aber wirksamen Psychotherapien schiedliches zwar, aber wir konnten uns auch verletzend, überfordernd und eben eben das, was wir haben. schon darüber verständigen, worüber wir „stressig“ auf die arbeitenden Menschen Depression ist sowohl Krankheit als auch sprechen. Heute weiß ich nicht mehr, ob auswirken1. kulturelles Phänomen. Biologie und Ge- das, was ich hier schreibe, morgen noch sellschaft haben ihren Anteil. Allerdings von Bedeutung sein wird. Zu unsicher Arbeitslosigkeit macht krank werden wir, was die Prävention von bin ich mir über die Konsequenzen, die durch die Depression hervorgerufenem diese ökonomische und soziokulturelle Aus der Arbeitslosenforschung kön- Leid angeht, nicht wesentlich weiter- Erschütterung auf unser Arbeiten oder nen wir gut ableiten, dass Arbeit, auch kommen, wenn wir gesellschaftliche Ent- eben auf unser Nicht- oder Andersarbei- Erwerbs- und Lohnarbeit, vor allem wicklungen aus dem Auge verlieren. Zu ten haben wird. Spekuliert wird an der salutogenetische Auswirkungen auf die solchen gehören auch die zunehmende Börse, ich schreibe hier noch aus der Menschen bereithält. Ein wesentlicher soziale Ungleichheit, die Verlagerung der Sicht der Vor-Corona-Zeit. Da kenne ich Bestandteil psychiatrischer Behandlun- Verantwortung von Misserfolg auf die so- mich besser aus. gen und rehabilitativer Maßnahmen zial Schwächsten, die ungelöste Frage der zielt auf diese gesundheitsförderlichen sozialen und weltweiten Konkurrenz, die Arbeitswissenschaften Aspekte ab und nutzt die ja schon von Suche nach Identitäten für bedeutende und Stressforschung Marie Jahoda so trefflich beschriebenen Teile der Bevölkerung, das Unwohlsein latenten Funktionen der Erwerbsarbeit, in einer Globalisierung, die Nutzen und Gesichertes Wissen über die postulierten, welche die Arbeit neben ihrer Funktion Risken mit sich bringt, und die Schaffung dabei aber nicht unwidersprochenen Zu- als Erbringerin von Waren und Dienst- von Räumen für die Aushandlung von sammenhänge von (Lohn- und Erwerbs-) leistungen und zur Sicherstellung des kollektiver Gerechtigkeit. Diese Fragen Arbeit und dem Aufkommen psychischer Lebensunterhaltes eben auch bereithält: sind dringlich und ungelöst. Sie spielen Erkrankungen wie Depressionen und Sie schafft eine Zeitstruktur über den in die Begegnung mit dem depressiven Angststörungen ist rar. Die Arbeitswis- Tag, stellt regelmäßige gemeinsame Er- Menschen hinein. Als Therapeuten, als senschaften schließen diese Lücke ein fahrungen und Kontakte mit Menschen Begleiter in der Depression können wir wenig, indem sie verschiedene Formen außerhalb der Familie sicher, garantiert sie kaum ändern. Aber wir können versu- psychischer Belastungen durch die Art Teilhabe an (kollektiven) Zielen und chen, sie nicht auszublenden. Die Depres- der Arbeit gut beschreiben. Monotonie, Zwecken, die über den persönlichen sion kann nicht den Therapeuten alleine Unterforderung, fehlende Handlungs- Rahmen hinausgehen, legt Aspekte des überlassen werden. spielräume bei der Arbeit und andere sozialen Status und der Identität fest Einwirkungen durch die Arbeitsumge- und erzwingt letztendlich Aktivität2. Was Literatur bungen sind gut und hinreichend be- also fehlt, wenn die Arbeit fehlt? Für Ausführliche Literaturangaben zu schrieben. Verschiedene Stressmodelle die Arbeitslosen entfällt der Zugang zu diesem Beitrag unter www.kerbe.info geben Hinweise, wie sich die modernen, den mit der Erwerbsarbeit verbundenen
Kerbe 3 | 2020 Themenschwerpunkt Erfahrungskategorien. Erwerbslose erle- der Arbeitslosigkeit verschwinden – zu- der „Managerkrankheit“. Damit wurden ben in jedem dieser Erfahrungsbereiche mindest weitgehend – sobald eine neue zu einem Zeitpunkt, als ein Stresskon- eine psychologische Verarmung. Ohne – gesellschaftlich anerkannte – Arbeit zept in den deutschsprachigen Ländern Zeitstruktur werden die Tage zu lang. gefunden ist. Arbeit allerdings, mit der noch nicht verbreitet war, Überarbei- Ohne Teilnahme an kollektiven Zwecken keine wirkliche oder dauerhafte Teilhabe tung, Anpassungsdruck, Erkrankung und kommt man sich überflüssig vor. Ohne an den positiven Aspekten von Arbeit Todesfälle unter Männern in leitenden den Kontakt mit Kolleg*innen ist man einhergeht, hat tendenziell dieselben Positionen thematisiert. Und offen- isoliert. Ohne Arbeit gibt es keinen Sta- negativen Auswirkungen wie Arbeitslo- sichtlich auch dramatisiert: Fern jeder tus und die soziale Identität ist in Frage sigkeit; zumindest stellen sie sich nach belegten Datenlage wurde sogar vorm gestellt. Und ohne Aktivität werden die Auslaufen entsprechender Maßnahmen „Wegsterben der Eliten“ gewarnt. Der Menschen lustlos und passiv3. „Die Be- sofort wieder ein.“5 Ein Befund, der ganz Begriff der „Managerkrankheit“ bot sich deutung der Arbeitslosigkeit liegt sehr aktuell vom Bundesarbeitsministerium an, so Patrick Kury, Professor am Histo- viel tiefer als in der Lohntüte, sie liegt bestätigt wird: „Personen in atypischen rischen Institut der Universität Bern, um in der sozialen Isolierung der arbeits- Beschäftigungsformen weisen einen die damaligen Belastungserfahrungen losen Menschen“, kommentiert Jahoda schlechteren psychischen Gesundheits- medizinisch zu interpretieren7. Auch hier denn auch später. Nicht umsonst, und zustand auf als Normalbeschäftigte“. finden wir Parallelen zur Verwendung das wird in der Debatte über die Zusam- Vor allem Leiharbeiter seien „häufiger des Burnout-Begriffes heute. Und zu menhänge von Arbeit und psychischer von Beeinträchtigungen der allgemeinen Beginn der 60er Jahre verschwand dann Erkrankung in der Regel nur nachrangig Gesundheit, von Burnout sowie Depres- auch die Managerkrankheit genauso wie erwähnt, finden wir die Mehrzahl de- sionen betroffen“. Längsschnittstudien die Neurasthenie sowohl aus der medizi- pressiver Störungen und Angsterkran- weisen darauf hin, dass es sich dabei nischen als auch aus der populärwissen- kungen vor allem im Kreise der Lang- tatsächlich um kausale Zusammenhänge schaftlichen Literatur. zeitarbeitslosen, der von Arbeitslosigkeit handeln könnte.6 bedrohten Menschen sowie der Hochrisi- Burnout als Erosion kogruppe der alleinerziehenden Frauen. Burnout - historisch der menschlichen Seele Wir wissen schon lange, dass bereits sowohl eine drohende bevorstehende be- Auch wenn man bei der gewaltigen An- So wie wir ihn lange verstanden haben, triebliche Veränderung als auch ein dro- zahl jüngster Veröffentlichungen um das wurde der Begriff Burnout erstmals 1974 hender Arbeitsplatzverlust erheblich aufs „Burnout“ den Eindruck gewinnen kann, in den USA von dem Psychoanalytiker Gemüt schlagen können. Eine finnische dass man es mit einem gänzlich neuen Herbert J. Freudenberger eingeführt8. Er 11 Studie aus dem Bereich der Arbeitswis- und unbekannten Phänomen in der bezeichnete zunächst den psychischen senschaften4, der die Daten von 15.000 Arbeitswelt zu tun hat, stimmt das so und physischen Abbau der meist ehren- befragten Personen zugrunde liegen, nicht. Es gibt nämlich 2 Vorgängerinnen amtlichen Mitarbeiter sog. „alternativer“ zeigt, dass vor allem eine mit geringem des Burnout, die jeweils eng mit der so- Hilfsorganisationen, wie zum Beispiel Einkommen verbundene Arbeitslosigkeit zioökonomischen Entwicklung ihrer Zeit Free Clinics, therapeutischer Wohnge- (vgl. AlG II bzw. Grundsicherung) ein verknüpft waren: Die „Neurasthenie“ meinschaften, Frauenhäuser oder Krisen- hohes Gesundheitsrisiko darstellt und zum Ende des 19. Jahrhunderts und die interventionszentren. Burnout ist „...eine sich das Risiko für Män- sog. „Managerkrankheit“ Erosion der Werte, der Würde, des Geis- ner, an einer Depression Mitte der 50er Jahre, der 50er Jahre. tes und des Willens – eine Erosion der zu erkranken, verdrei- nach dem 2. Weltkrieg, George Beard beschreibt menschlichen Seele. Es ist ein Leiden, facht. Der medizinische inmitten von Wieder- als amerikanischer Arzt das sich schrittweise und ständig aus- Status verschlechtert sich aufbau und Wirtschafts- 1880 als erster die Neu- breitet und Menschen in eine Abwärts- im Verhältnis zur unbe- wachstum, entstand rasthenie. Die Nerven- spirale zieht, aus der das Entkommen fristeten festen Beschäf- dann der Begriff der schwäche manifestiere schwer ist“9. tigung um das Doppelte „Managerkrankheit“. sich u.a. in den Symp- Farber beschreibt diese klassischen Aus- und das subjektive Ge- tomen Kopfschmerzen, brenner der 60er, 70er und 80er Jahre sundheitsempfinden um das Zweiein- Ohrengeräusche, krankhafte Reizbarkeit, des letzten Jahrhunderts, die durch die halbfache. Hoffnungslosigkeit, krankhafte Furcht, gesellschaftskritische Haltung jener Arbeitslosigkeit führt allerdings nicht Rastlosigkeit, Schlafstörungen, nervöse Jahre geprägt sind, als Menschen, die an immer zu diesen negativen Effekten. Verdauungsstörungen, sexuelle Probleme unrealistisch hohen altruistischen Ziel- So treten sie z.B. dann nicht ein, wenn und Schwächegefühle. Die Parallelen zur setzungen scheiterten. Auch viele von Menschen davon ausgehen, bald wie- Beschreibung heutiger Stresssymptome den Älteren unter uns haben schmerz- der eine neue Arbeitsstelle zu finden. sind nicht zu übersehen. Und Beard haft lernen müssen, dass der Enthusias- „Mitunter kommt es gar zu paradoxen hat auch das gleiche Problem mit der mus, mit dem wir ungerechte Verhält- Effekten: So erleben manche Menschen Neurasthenie, wie wir es heute mit dem nisse ändern, Benachteiligte befreien die ersten Wochen der Arbeitslosigkeit Burnout haben: Es fehlt eine klare Ab- und Schwache retten wollten, in bösarti- geradezu als Urlaub. (…) Bei Langzeit- grenzbarkeit des Krankheitsbildes! gen Zynismus, in innere Leere und Hoff- arbeitslosigkeit verdoppeln sich dann Mitte der 50er Jahre, nach dem 2. Welt- nungslosigkeit umkippen konnte. Hier allerdings die negativen Effekte.“ Und, krieg, inmitten von Wiederaufbau und werden wir anknüpfen können, wenn interessant für die Liebhaber befriste- Wirtschaftswachstum, entstand dann in wir Erklärungen für das aktuelle Wieder- ter Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Bundesrepublik, in Österreich und erwachen der Burnout-Symptomatik zu jeglicher Art: „Die negativen Effekte später auch in der Schweiz der Begriff verstehen suchen werden.
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