MENSCHEN MACHEN MEDIEN - Fotojournalismus Die Krux mit den Bildern - Bespuckt und bedroht Journalisten mehr schützen
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mmm.verdi.de E 2814 Jahrgang 69 MENSCHEN MACHEN Bespuckt und bedroht MEDIEN Journalisten mehr schützen Vernetzung in Leipzig Medienpolitisches ver.di-Magazin Dez. 2020 Nr. 4 Haus für Selbstständige Fotojournalismus Die Krux mit den Bildern
INHALT IM FOKUS: FOTOJOURNALISMUS MEINUNG INTERNATIONAL 12 DIGITAL STORYTELLING 4 BILDKRITIK 28 SÜDAFRIKA: IST EIN MINDSET, Hat Zuwanderung eine NEUES PRINT-PRODUKT KEINE TECHNIK Hautfarbe? GESTARTET Gespräch mit Michael Online-Medium Daily Ma- Hauri, Agentur 2470.media 5 ADEL VERPFLICHTET? verick in Partnerschaft mit großer Super-Marktkette Foto: imago/Baering 14 GEGEN VISUELLEN GEDÄCHTNISVERLUST MEDIENWIRTSCHAFT 29 AKTION FÜR SOLAFA Fotoarchive sammeln MAGDY, ÄGYPTEN zeithistorische Doku- Haltlose Terrorvorwürfe mente, doch wohin mit 22 DAS RADIO SEIT DER gegen Journalistin 6 DIE KRUX MIT DEN den Bildern? FUNK-STUNDE BERLIN BILDERN Eine beeindruckende Von Felix Koltermann 16 DIE „UBERISIERUNG“ Ausstellung über VER.DI UNTERWEGS DER FOTOGRAFIE 100 Jahre Hörfunk 9 BUCHTIPP Internet-Plattformen BFF-Praxishandbuch für Akquise begleitet von 30 AB 2021 Foto: Museumsstiftung Post und Fotorecht Preisverwerfungen OHNE SPRACHROHR Nach 30 Jahren gibt es Telekommunikation 10 QUO VADIS 18 UNVERFROREN BILDER eine weitere gedruckte BILDREDAKTEUR*IN? VERFÄLSCHT Zeitung weniger Veränderte Strukturen Hohe Geldzahlung wegen und Verantwortlichkeiten Urheberrechtsverletzung 30 NETFLIX: Vergütung für mit dem Gang ins Netz Filmschaffende 20 AN DIE ALTERSVORSORGE GEDACHT? BERUF 30 TARIFABSCHLUSS: Höhere Ein Mix aus gesetzlicher Honorare und Gehälter bei Foto: F.A.Z./Wolfgang Eilmes Rente und Zusatzangebo- der Deutschen Welle ten kann sinnvoll sein 24 BESPUCKT UND BEDROHT Höchste Zeit, Journa- 31 PERSONALIEN: 21 BUCHTIPP list*innen bei der Arbeit Neue Verantwortlichkeiten Bilder stehen nicht allein ausreichend zu schützen bei Medien und Publizistik 26 EIN HAUS FÜR 31 DEUTSCHLANDRADIO: SELBSTSTÄNDIGE Freienstatut beschlossen Angebot zur Vernetzung JEDEN MONAT EIN NEUER und Bildung in Leipzig 31 RECHERCHE: Presse PODCAST AUF M ONLINE ausweis 2012 für Profis 27 SCHON ENTDECKT? MEDIENBLOG BLIQ 31 IMPRESSUM IM NOVEMBER: KREML-MEDIEN IN DEUTSCHLAND Alle M-Podcast unter https://mmm.verdi.de/podcast/ 2 M 4.2020
XXXXXXXXXXXXXXX Karikatur: Klaus Stuttmann XXXXXXXXXXXXXXX Kein Stillstand trotz Corona n v. Polentz Das Jahr 2020 geht zu Ende. Als Schaltjahr gönnt es uns einen Tag mehr. Aber was ist ein Tag mehr in einem Jahr, in dem die Zeit überschattet von Corona abläuft? Pläne zerplatzten, Durchhalten oder auch Neuorientierung waren angesagt. Dennoch, getreu der Devise „Carpe Diem“ wurde mit Krea- Foto: Christia tivität und Engagement von den Menschen in der Medien- und Kulturbranche so einiges gestemmt. ver.di setzte sich für Kurzarbeitergeld, Soforthilfen und Unterstützungsgelder ein. Der zu erfüllende Beratungsbedarf der Mitglieder war enorm. Herausfordernd auch die Tarifverhandlungen, beispiels- weise im Öffentlichen Dienst mit Bravour gemeistert. Oder die Vereinbarung zwischen ver.di, dem Schauspielverband BFFS und Netflix, durch die Urheber*innen von deutschen Netflix-Serien in Zukunft EIN BLICK INS an deren weltweiten kommerziellen Erfolgen beteiligt werden – ein Novum. VER.DI-NETZ LOHNT: Fotograf*innen gehören zu jenen, die die Wucht der Pandemie mit der Absage von Veranstaltungen jeg- licher Art zu spüren bekamen. Aber sie haben auch jenseits von Ausnahmezuständen mehr Aufmerksam- https:// keit verdient, als das bisher der Fall war. Deshalb fokussierte sich M 2020 auf diesen Beruf, der zumeist selbststaendige.verdi.de/ von Selbstständigen ausgeübt wird. Neben der „Bildkritik“ (S. 4) in jedem gedruckten Magazin gab es in M online eine Reihe Interviews zur Arbeit mit Fotos in den Medien. Die vorliegende aktuelle Ausgabe https://dju.verdi.de legt ihren Schwerpunkt auf die Verschränkung von Fotojournalismus und digitalem Publizieren, auf die https://rundfunk.verdi.de digitale Netzwerkkommunikation und die Bildwirtschaft sowie auf aktuelle politische Debatten über das journalistische Bild (S. 6 – 21). Und wenn die Erde sich erneut auf den Weg um die Sonne begibt, sollten wir zuversichtlich sein, auch wenn uns Corona noch eine ganze Weile in Schach halten wird. Das ersehnte Miteinander bei Treffen vor Ort wird noch warten müssen, aber der Journalismustag findet statt: am 23. Januar – virtuell, versteht sich (S. 32). Das Thema Fotografie wird M im Blick behalten – ebenso wie das Schaffen Zehntausender Selbst- ständiger in den Medien und beim Film. Zum Positiven dieses Jahres zählt dabei das unter anderem von ver.di geführte Haus der Selbstständigen in Leipzig. Es ging Anfang September an den Start, plant ein brei- tes „Vernetzungs-, Stärkungs- und Bildungsangebot“ (S. 26 – 27). M wünscht allen Leser*innen trotz allem eine ruhige Weihnachtszeit und einen guten Start ins neue Jahr – vor allem: Gesund bleiben! Karin Wenk, verantwortliche Redakteurin 4.2020 M 3
MEINUNG Bildkritik Bildkritik ist die neue Kolumne von Menschen Machen Medien. Der Journalist und Kommunikations- wissenschaftler Felix Koltermann diskutiert dort in regelmäßigen Ab- Screenshot: Felix Koltermann ständen den Umgang publizistischer Medien mit fotografischen Bildern. Hat Zuwanderung eine Hautfarbe? E s gibt Rubriken und Themen, deren Bebilderung Foto Schwarze Menschen gibt, die nicht zugewandert sind bzw. Zuwande- redakteur*innen zur Verzweiflung treiben. Wie dabei rer die weiß sind. auch gesellschaftliche Klischees – vermutlich unge- wollt – bestärkt werden können, zeigt die Visualisie- Da das Problematische der Botschaft vor allem eine Folge der Kon- rung eines Kommentars in der Tageszeitung Welt. textualisierung ist, lohnt ein differenzierterer Blick auf das Bild. Denn das lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven lesen. Dazu gehört Am 24. Oktober 2020 veröffentlichte die Welt einen Gastkommentar theoretisch eine inklusive, auf Vielfalt ausgerichtete Perspektive, zu- von Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, unter dem Titel mindest wenn man davon absieht, dass die weiße Frau im Hinter- „Gerade in Corona-Zeiten brauchen wir Zuwanderung“. Der Autor grund auch als Vorgesetzte und damit aus einem Hierarchieverhält- macht sich darin für eine konsequente Umsetzung des Einwande- nis gelesen werden kann. Die von der Welt ausgesuchte Fotografie ge- rungsgesetzes stark, um die Fortschritte der letzten Jahre in der Mig- hört zu einem von der Berliner Agentur „Hinterhaus Productions“ rationspolitik nicht zu verspielen. Als Aufmacherbild platzierte die produzierten Konvolut an Stockfotografien, in dem Gesundheits- und Redaktion eine Fotografie, die zwei Frauen in einem Labor zeigt, eine Medizinthemen mit weiblichen Models verschiedener Hautfarben vi- von ihnen Schwarz. Als Bildquelle ist angegeben „Getty Images/Di- sualisiert werden. Stockfotografie bedeutet, dass Bilder zu bestimm- gital Vision/Hinterhaus Productions“. In der Bildunterzeile heißt es: ten Themenbereichen auf Vorrat produziert werden, die in allen mög- „Gute Arbeitsbedingungen machen ein Land für ausländische Fach- lichen Kontexten eingesetzt werden dürfen. kräfte auch attraktiver, schreibt Gastautor Jörg Dräger“. Aber was, so fragt man sich, hat eine Schwarze Laborangestellte mit ausländischen Die übergeordnete Debatte, in die die hier kritisierte Visualisierung Fachkräften zu tun? der Welt eingeordnet werden muss, ist das gesellschaftliche Verständ- nis dessen, wer die Menschen sind, die migrieren und wie diese aus- Für die textliche Botschaft, die durch Überschrift, Bildunterschrift sehen. Dabei ist klar, dass ganz grundsätzlich eine Herausforderung und Teaser kreiert wird, sind vor allem die Begriffe „Zuwanderung“, darin besteht, ein solch abstraktes Thema zu visualisieren. Aber die „ausländische“, „Fachkraft“ sowie „Migrationspolitik“ entscheidend. Gleichsetzung von Migration, Zuwanderung und ausländisch mit Für die bildliche Ebene ist einerseits die Laborsituation prägend, an- Schwarz ist leider ein viel zu oft benutztes gesellschaftliches Klischee. dererseits die Hautfarbe und das Geschlecht der beiden dargestellten Es negiert auf der einen Seite bestehende gesellschaftliche Vielfalt, Personen. Der Begriff „Fachkraft“ korrespondiert mit der Laborsitua- auf der anderen Seite weist es Menschen nicht-weißer Hautfarbe klare tion und des dafür notwendigen qualifizierten Personals. Dagegen Rollen zu. So verwundert es nicht, dass eine Studie des Sachverstän- verweisen die Begriffe „Zuwanderung“, „ausländisch“ und „Migrati- digenrates für Integration und Migration 2018 feststellte, dass zwi- onspolitik“ auf die Hautfarbe der Schwarzen Protagonistin des Bildes. schen phänotypischer Differenz (Unterschiede in Hautfarbe, ...) und Zuwanderung mit Hautfarbe bzw. Aussehen zu konnotieren ist ein Diskriminierungserfahrung ein Zusammenhang besteht. Umso wich- klassisches Klischee in – vermeintlich – homogenen Gesellschaften tiger ist es, Zuschreibungen, wie sie durch diese Bebilderung vorge- wie in Deutschland. Im Umkehrschluss wird negiert, dass es auch nommen wurden, zukünftig zu vermeiden. Felix Koltermann ‹‹ 4 M 4.2020
MEINUNG Adel verpflichtet? M assives juristisches Vorgehen gegen In mindestens 120 Fällen ist Prinz von Preußen juris- Medien und die, die sie machen – ein tisch gegen Medien, Journalist*innen, Historiker*in- Thema, mit dem wir uns schon jetzt nen und Organisationen wie uns vorgegangen. Die und auch künftig verstärkt ausein Vorwürfe waren vielfältig. Nach eigenen Angaben auf andersetzen müssen. Nicht nur für der Website preussen.de habe die Familie der Hohen- unsere Mitglieder, die sich zunehmend Abmahnun- zollern sich damit „ausschließlich gegen Falschmel- gen und Klagen gegenübersehen, sondern auch, weil dungen zur Wehr gesetzt“ und daher mit diesem Vor- wir selbst von einem solchen Fall betroffen sind. gehen „einen Beitrag für die Öffentlichkeit geleistet“. Das ist in unseren Augen absurd. Im Sommer ereilten uns zwei Abmahnungen mit bei- gefügten Unterlassungsverpflichtungserklärungen, für Ein Beitrag für die Öffentlichkeit wäre es, die mediale jeweils eine Formulierung in einer Pressemitteilung und geschichtswissenschaftliche Debatte über die der dju in ver.di und im Text eines freien Autors auf Resti tutionsverhandlungen der Hohenzollern mit „M Online“. Absender der Schriftstücke war Georg Brandenburg, Berlin und dem Bund sowie damit ver- Friedrich Prinz von Preußen, Oberhaupt des Hauses bunden die Frage nach der Rolle des Adelshauses wäh- Hohenzollern und Ururenkel des letzten deutschen rend des Nationalsozialismus zu fördern. Stattdessen Monique Hofmann Kaisers. Das Verrückte an der Sache: Beide Texte steht zu befürchten, dass die Abmahn- und Klagewelle Bundesgeschäftsführerin der gaben bekannt, die dju in ver.di unterstütze den „Prin- Prinz von Preußens zu einer Erstickung dieser Debatte Deutschen Journalistinnen- zenfonds“, einen von FragDenStaat ins Leben gerufe- führt. Ein freier und unbefangener Diskurs ist unter und Journalisten-Union in nen Rechtshilfefonds für Historiker*innen und Jour- diesen Umständen nicht mehr möglich. ver.di nalist*innen, die von eben jenem Prinz von Preußen abgemahnt und verklagt werden. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung mit Blick auf die Pressefreiheit, auch über den konkreten Fall Unterschrieben haben wir nichts. Und so stellte uns der Hohenzollern hinaus. Nur die wenigsten Medien das Landgericht (LG) Berlin auf Antrag des Kaiser- können oder wollen es auf eine juristische Auseinan- Nachfahren eine Einstweilige Verfügung zu. Unser dersetzung ankommen lassen, ganz zu schweigen von Widerspruch dagegen wurde in einer mündlichen Ver- einem Ritt durch die Instanzen. Am längeren Hebel Foto: Martha Richards handlung im November zurückgewiesen – von der sitzt offenbar, wer über die besseren Mittel verfügt. gleichen Kammer, die die Einstweilige Verfügung aus- Sollte ein solches Vorgehen Schule machen, droht die gestellt hatte. Wir werden Berufung beim Kammerge- Pressefreiheit großen Schaden zu nehmen. richt einlegen. Monique Hofmann ‹‹ Anzeige MEDIENPREIS HIVAIDS EIN PREIS DER DEUTSCHEN AIDS-STIFTUNG 2019/20 Die Deutsche AIDS-Stiftung nimmt für ihren Medienpreis Formlose Bewerbung (3-fache Ausfertigung) an: Beiträge zum Thema HIV/AIDS aus allen Mediensparten Deutsche AIDS-Stiftung an. Die Beiträge müssen im Jahr 2019 oder 2020 erst- Münsterstraße 18 / 53111 Bonn mals in deutscher Sprache veröffentlicht worden sein. medienpreis@aids-stiftung.de www.medienpreis-hiv.de Preisgeld: insgesamt 15.000 Euro Einsendeschluss: 15. Januar 2021 Förderer: 4.2020 M 5
IM FOKUS Ist das goldene Zeitalter des Fotojournalismus vorbei? Sollen wir einstimmen in den Abgesang auf das Metier, der in den letzten Jahren immer wieder erklang? Nein, im Gegenteil – der Blick richtet sich auf die Verschränkung von Fotojourna- lismus und digitalem Publizieren, auf die digitale Netzwerkkommunikation und die Bildwirtschaft sowie aktuelle politische Debatten über das journalistische Bild im Jahr 2020. Die Krux mit den Bildern Von Felix Koltermann I m Jahr 2020 ist laut dem Reuters Digital News Report Von Fotojournalismus, sei es als Nachrichten- oder das Smartphone in Deutschland zum ersten Mal das Dokumentarfotografie, lässt sich immer dann spre- wichtigste Gerät für den Konsum von Nachrichten. chen, wenn professionelle Akteure Bilder zum Zwecke Einen ähnlichen Trend gibt es bezüglich der Quelle journalistischer Kommunikation anfertigen, verbrei- von Nachrichten. Zum ersten Mal ist der Online- ten und veröffentlichen. Und hier ist die Krux: viele Konsum (inklusive der sozialen Netzwerke) gleich- der Bilder, die heute in journalistischen Medien auf mit dem Fernsehen. Das wichtigste soziale Netz- kursieren, sind keine fotojournalistischen Bilder. Es werk, so der Report weiter, ist Facebook, gefolgt von finden sich PR-Bilder, Stockfotografien oder Amateur- YouTube und Instagram. bilder. Und immer öfter mischt sich alles mit allem. Foto: picture alliance/SZ Photo/Jürgen Heinrich Diese digitale Medienöffentlichkeit ist durch eine sehr Glaubwürdigkeit und Fake News große Bildlastigkeit gekennzeichnet. Kein Artikel kommt ohne Bild aus, sei es um Aufmerksamkeit zu Zu denken gibt aber vor allem eine weitere Entwick- erzeugen, eine Nachricht zu visualisieren oder zum lung und zwar das rückläufige Vertrauen in Nachrich- Zweck des Clickbaiting. Damit stellt sich die Frage, ob ten. Laut dem Reuters Digital News Report liegt es nur und wo wir es in dieser digitalen Medienin- noch bei 45 Prozent. Während von den be- frastruktur überhaupt noch mit Fotojour- fragten User*innen immerhin noch 59 nalismus zu tun haben bzw. wie sich der Prozent den von ihnen genutzten Fotojournalismus dort zeigt. 6 M 4.2020
FOTOJOURNALISMUS Medien Glauben schenken, liegt das allgemeine Ver- plette Handel online abgewickelt wird und Mikro- trauen in Nachrichten aus den sozialen Netzwerken payment-Systeme für Cent-Beträge möglich sind. nur bei 14 Prozent. In Zeiten von Lügenpresse- und Cloudbasierte Datenbanken und Systeme wie Pic- Fake News-Vorwürfen ist das nicht verwunderlich und turemaxx ermöglichen es auch einzelnen Foto- verweist neben der Polarisierung gesellschaftlicher De- graf*innen, als „One-Person“-Agenturen auf- batten auf den vermehrten Einsatz einer hinter Fake- zutreten. News Vorwürfen versteckten politisierten Medienkri- tik, die auch vor dem Fotojournalismus nicht Halt Visuelle Trends macht. Wenn es um Bildästhetik und Inno- Die grundsätzliche Herausforderung der Fotografie be- vationen geht, führt kein Weg an steht darin, dass ihr auf der einen Seite ein vereinfach- Instagram vorbei. Dort werden ter Vertrauensvorschuss im Sinne einer eins-zu-eins- Trends gesetzt und visuelle Inno- Realitätsabbildung mitgegeben wird. Auf der anderen vationen ausprobiert. Das beein- Seite sieht sich das Medium wie kaum ein anderes mit flusst auch den Fotojournalismus. einer heftigen Repräsentationskritik konfrontiert. Bei- Aber lassen sich in sozialen Me- dem liegt der Trugschluss zu Grunde, nur über das Bild dien erfolgreiche Bildsprachen ließe sich ermitteln, ob eine dargestellte Szene „wahr“ ohne weiteres im Fotojournalis- sei oder nicht. Dabei sind Fotografien immer kontext- mus einsetzen? Auf jeden Fall gebunden und es liegt an der Vertrauenswürdigkeit gibt es Unterschiede. Wäh- der Produktionsbedingungen und Verarbeitungs rend sich eher feuilletonis- mechanismen, ob diese glaubwürdig sind oder nicht. tisch orientierte Bildredak- Die Glaubwürdigkeit und Transparenz dieser Proto- tionen wie etwa bei der Zeit kolle sind entscheidend dafür, ob der Fotojournalis- Experimente erlauben, ist das Bildver- mus unbeschadet aus der Fake News-Krise heraus- ständnis im tagesaktuellen Journalismus kommt und sich als Medium der Weltvermittlung be- bis heute eher traditionell. Aber deswegen haupten kann. nicht unbedingt schlechter. Die Herausfor- derung liegt auch in den jeweiligen Struktu- Bildermarkt immer prekärer ren, der redaktionellen Organisation wie den verfügbaren Budgets. Dazu gehört die Frage, wer Während Bilder immer wichtiger werden, wird der Bil- eigentlich Bilder auswählt und über deren Publi- dermarkt seit Jahren immer prekärer. Laut der von Pro- kation entscheidet (siehe „Quo Vadis, Bildredak- fessor Lars Bauernschmitt von der Hochschule Han- teur?“ Seite 10 – 11). nover in Kooperation mit verschiedenen Verbänden durchgeführten Erhebung „image market 2020“ stel- Geschickt greifen auch Agenturen in die Debatte ein, len ungefähr 80 Prozent der befragten Agenturen und die nicht für journalistische Inhalte bekannt sind, wie Fotograf*innen sinkende oder stagnierende Honorare etwa das Berliner Start-Up EyeEM (siehe S. 16 – 17). Ge- fest. Besonders schlecht ist die Situation auf dem jour- surft wird dabei vor allem auf der Storytelling-Welle, Foto: imago images/imagebroker nalistischen Bildermarkt. So kamen Fotograf*innen die auch im Journalismus um sich greift. EyeEM wirbt mit redaktionellem Schwerpunkt 2019 im Mittel nur damit, Redakteur*innen und visuelle Entscheider*in- auf einen jährlichen Netto-Honorarumsatz von 27.014 nen dabei zu unterstützen, qualitativ hochwertiges Euro, während er im werblichen Bereich bei 53.909 Storytelling zu finden, ohne beim Publikum Anstoß lag. Interessant ist, dass Urheber*innen und Agentu- zu erregen. Die EyeEm Visual Trends 2020 benennen ren dennoch ihre Vertriebskonzepte nicht in Frage dafür unter anderem produzierten Realismus („Produ- stellen. ced Realism“) und Bürgeraktivismus („Citizen Acti- vism”). Es sind geschickt gewählte Stichworte, die Klar ist, dass Bilder heute eine globale Handelsware durchaus Anknüpfungspunkte an Debatten im auf einem Markt sind, der extrem stark von Zentrali- Fotojournalismus bieten und Teil eines noncha- sierungstendenzen gekennzeichnet ist. Nirgendwo lanten Versuchs sind, die visuelle Content-Pro- wird dies deutlicher als an der Marktmacht des Kon- duktion über den Journalismus zu stülpen. zerns Getty Images, der durch internationale Zukäufe sein Portfolio ständig erweitert. Die Digitalisierung hat Journalistische Medien versorgen heute ne- die Bildwirtschaft rasant verändert, seit fast der kom- ben ihren gedruckten Produkten und den 4.2020 M 7
IM FOKUS Online-Ausgaben auch verschiedene Social Media- list*innen über Bildredakteur*innen bis hin zu Foto- Plattformen. Vor allem auf bildlastigen Assistent*innen – zu verbessern, eine Debatte über in- Plattformen wie Instagram stellt sich die klusivere Arbeitsbedingungen anzustoßen und die Pri- Frage, ob es dort noch um die Vermitt- vilegien Weißer Männer im Business herauszufordern. lung von Nachrichten oder eher das Branding des Verlags oder einer Medi- Kontrovers wurde in Facebook-Gruppen sowie auf ein- enmarke geht. Die Facebook- und In- schlägigen Webseiten wie Petapixel vor allem der Vor- stagram-Feeds unterscheiden nicht, vom schlag diskutiert, von den Fotografierten jedes Mal wem die Inhalte kommen, seien es Profis eine Zustimmung („Informed Consent“) einzuholen. oder Amateure, Scharlatane oder Medien- Altgediente Fotojournalist*innen witterten dahinter nutzer*innen. Professionelle Fotograf*in- den Versuch der Zensur, andere sahen es als in der Pra- nen sind wie andere auch, Konsu- xis nicht umsetzbar an, vor allem wenn es um De- ment*innen, Produzent*innen und monstrationen und Krisensituationen geht. Erst Distributor*innen in einem. Was unterzeichner wie Jovelle Tamayo konterten, es ginge wichtig ist, entscheiden Algo- um die Formulierung eines Ideals und das Anstoßen rithmen, die die Nutzer*innen einer Debatte. durch ihr Klickverhalten beein- flussen. Das heißt aber auch, je- Neue Medien, ethische Fragen des Bild ist gleich und Journalis- mus nicht per se mehr wert, als Denn, sind Bilder einmal publiziert und in der Welt, Celebrity oder PR. Für die Vermitt- stehen sie allen zur Verfügung und können zu vielfäl- lung visueller Inhalte eine immense Heraus- tigsten Zwecken genutzt werden. Dazu gehört auch forderung. Deswegen warnt Michael Hauri: staatliche Überwachung und Repression. Nie war es „Ich würde Fotograf*innen nicht raten, sich einfacher, über Gesichtserkennung fotojournalistische als Influencer*innen zu versuchen, weil da- Dokumente zur Strafverfolgung oder zur Diskreditie- bei die Grenzen zur Werbung automatisch rung des politischen Gegners zu nutzen. In einer glo- verwischt werden“ (siehe Interview Seite balen Medienöffentlichkeit, die eine Folge digitalen 12 – 13). Publizierens im Internet und sozialer Netzwerke ist, stellen sich klassische bild- und medienethische Fra- Wer böse wäre, könnte vermuten, dass ei- gen völlig neu. genständige journalistische Inhalte in so- zialen Netzwerken auch gar nicht so zent- Während der Nachhall auf diesen Aufruf in Deutsch- ral sind. Denn im digitalen Neusprech dreht land bis heute quasi inexistent ist, schaffte es die De- sich alles um „Content“. Und da wird kaum ein batte um den Umgang der Fotografenagentur Mag- Unterschied gemacht, ob dieser von Unterneh- num mit einer Arbeit ihres Mitglieds David Harvey men oder Verlagen stammt, redaktioneller oder aus den 80er Jahren bis auf die deutschen Feuilleton- werblicher Natur ist. Es ist oft eine oberflächliche seiten. Die Kritik entzündete sich vor allem an der ten- Livestyle Welt, die man erfährt, wenn man bei den denziösen Verschlagwortung einer Reportage über Inhalten der Social Media-Kanäle verbleibt. Dies minderjährige Sexarbeiter*innen in Thailand. Mag- verweist auf die Notwendigkeit einer Debatte da- num entschloss sich nach einer eingehenden Prüfung, rüber, ob seriöser Journalismus in sozialen Medien die Bilder aus dem Archiv zu nehmen. Vor allem überhaupt möglich ist und welche Rolle die Foto- rechtskonservative Autor*innen sahen hier einen Fall Foto: Shutterstock / Teodor Lazarev grafie dabei spielen soll. Vor allem aufgrund der von „Cancel Culture“ und politisierten damit die De- großen Bedeutung sozialer Medien für den Nach- batte weiter. richtenkonsum junger Menschen ist dies wichtig. Das – zumindest theoretisch – bestehende Poten- Aber es gibt auch positive Veränderungen. So über- zial, hochwertige fotojournalistische Inhalte für raschte im Oktober viele in der Branche die Nachricht, soziale Netzwerke zu produzieren, ist dabei bei dass die bis dato inhabergeführte Fotoagentur Focus weitem nicht ausgeschöpft. von einer Gruppe Fotograf*innen übernommen wird. Die Gruppe ist zwar stark Weiß und männlich domi- Eine Welle der Politisierung niert, setzt aber an anderer Stelle politisch Akzente. So wurde nachhaltige Entwicklung als Leitprinzip aus- Gepusht durch die Corona-Krise haben sich im gerufen. Dazu sollen etwa „Maßnahmen zur Bekämp- Frühsommer in den USA verschiedene Instituti- fung des Klimawandels und seiner Auswirkungen“ er- onen wie das Authority Collective, das Netzwerk griffen werden und Maßnahmen wie „zum Beispiel Women Photographer und die National Press klimaneutrale Reisen, Übernachtungen, Strom- Photographers Association zusammengetan, um anbieter“ gehören, so die Selbstdarstellung der eine „Photo Bill of Rights“ zu verabschieden. Ziel Agentur. ist die Arbeitsbedingungen sogenannter „lens ba- sed workers“ – also aller Berufsgruppen, die vor Und die Kolleg*innen des Fotografenver- und hinter der Linse arbeiten, von Fotojourna- bandes FREELENS beauftragten die Sozio- 8 M 4.2020
FOTOJOURNALISMUS login Renate Ruhne mit einer Studie über „Gender und Fotografie“, deren Ergebnisse im kommenden Buchtipp Jahr vorliegen sollen. Die Kölner Fotojournalistin Ju- liane Herrmann hingegen machte sich mit der dritten BFF-Praxishandbuch Ausgabe ihres im Eigenverlag publizierten Beyond Ma- Fotorecht gazin auf die Suche nach einer (post)kolonialen Ge- genwart. Ihre in der Tradition der humanistischen Fo- W tografie verortete Magazinreihe möchte mit der aktu- enn eine Publikation die Attribute Praxis, Handbuch und ellen Ausgabe „einen Diskurs zu kolonialen Struktu- Basiswissen verdient, dann das „BFF-Praxishandbuch Foto- ren in der Fotografie, zur Macht der Bilder unserer recht – Basiswissen und Verträge für Fotografen“. Zugegeben, Gegenwart und zu den Bedingungen der Bildproduk- 109 Euro scheinen ein stolzer Preis zu sein. Die Investition tion in einer globalisierten Welt eröffnen“, wie auf lohnt sich aber für alle, die sich als professionelle Foto- Herrmanns Webseite zu lesen ist. graf*innen verstehen. Der Preis wird sicherlich schnell kompensiert. Eine Steuererklärung, Einsparungen bei Sozialversicherungen, vermiedene Kosten Die Welt des Fotojournalismus ist komplex. Auch für Nachverfolgung von Urheberrechtsverletzungen – es rentiert sich. wenn sie das schon immer war, sind die Herausforde- rungen so groß wie nie. Im Jahr 2020, nach #metoo Manch eine journalistisch arbeitende Fotograf*in mag sich fragen, was ha- und #blacklivesmatter, stellen sich viele Fragen, die ben wir mit dem BFF zu tun? Der Berufsverband Freie Fotografen und Film- ein „Weiter so“ im Fotojournalismus nicht mehr mög- schaffender repräsentiert nicht nur werblich orientierte, sondern auch viele lich machen. Sie betreffen alle in diesem Feld Tätigen, journalistisch, dokumentarisch arbeitende Fotograf*innen. Das wird im zwei- von den einzelnen Fotojournalist*innen über die ten Teil im BFF-Praxishandbuch Fotorecht deutlich. Agenturen und Redaktionen bis zu Studiengängen, Festivals und Verbänden. Selten gab es so viel Bewe- Der Autorin Dorothe Lanc, Nachfolgerin des 2014 verstorbenen Dr. Wolfgang gung in diesem Berufsfeld. Dazu gehört, dass alte Ge- Maaßen, ist es gelungen, dessen „BFF Handbuch Basiswissen“ und „BFF Hand- wissheiten in Frage gestellt werden, aber es bietet auch buch Verträge“ in aktueller Form neu zu strukturieren. Man merkt dem Buch Chancen für Veränderungen und vor allem eine poli- an, dass Dorothe Lanc nicht nur Fachanwältin für Urheber-und Medienrecht tische Diskussion darüber, welche Form von Visuali- und Justiziarin des BFF ist, sondern auch an verschiedenen Hochschulen als tät der Journalismus heute braucht, welche Rolle da- Dozentin gearbeitet hat und weiterhin an der Fachschule Dortmund Studie- bei der Fotojournalismus spielt und wer dies bezahlen rende auf das Berufsleben vorbereitet. Herausgekommen ist ein Kompen- soll. ‹‹ dium von über 700 Seiten, das tatsächlich alle Bereiche der Berufsfotografie selbst bei rechtlichen Fragen praxisnah begleitet. Das Buch ist für Berufsanfänger wie für „alte Hasen“ gleichermaßen hilfreich. Vom Businessplan über Management und Organisation des eigenen Business werden im ersten Teil die Gesellschaftsform des Unternehmens, Steuerrecht- liches wie die immer wieder von den Finanzämtern gestellte Frage Kunst oder Gewerbe, Verantwortlichkeiten zur eigenen Website auch im Sinn der DSGVO, Foto: Christian von Polentz Versicherungen, Kalkulation, und Akquise, Verträge für mögliche Mitarbei- ter*innen und vieles mehr angesprochen. Mit Checklisten und Mustern wird Hilfe aufgezeigt. Für Berufseinsteiger*innen ein Muss, für gestanden Profis eine Quelle, ihr Businessmodell zu überprüfen und anzupassen. Der zweite Teil beschäftigt sich ausführlich mit den typischen rechtlichen Fra- gen, mit denen sich selbstständige Fotograf*innen täglich auseinandersetzen müssen. Verschiedene Lizenzmodelle, Vermarktungsoptionen, Vertragsmus- ter mit Bildagenturen oder Verlagen, die Rolle der VG Bild Kunst und das kom- merzielle Handling künstlerischer Fotografie mit Galerien und Kunden wer- den ebenso übersichtlich wie ausführlich und verständlich dargestellt. Natürlich werden auch Auftragsabwicklung von Erstellung eines Kosten voranschlags bis zum Forderungsmanagement bei säumigen Kunden erklärt. Typische Freigabeerklärungen für Models oder Locations fehlen ebensowenig. Dorothe Lanc hat mit dem Handbuch Fotorecht tatsächlich ein alltagstaug liches, übersichtliches Nachschlagewerk geschaffen, das sich jede Fotograf*in leisten sollte. Die Investition lohnt sich. Sabine Pallaske ‹‹ BFF-Praxishandbuch Fotorecht Basiswissen und Verträge für Fotografen ISBN 978-3-933989-58-1 4.2020 M 9
IM FOKUS Quo Vadis Bildredakteur*in? Veränderte Strukturen und Verantwortlichkeiten mit dem Gang ins Netz J ournalismus ohne Bilder ist heute Berufsbild klarer beschreiben nicht mehr vorstellbar. Damit braucht es auch Akteur*innen, die sie aus Die Herausforderung fängt bereits bei der Tätig- wählen. Aber wer macht das? Was keitsbezeichnung an. Denn auch wenn die Begriffe treibt sie an und was sind die Rah Bildredakteur*in und Fotoredakteur*in oft synonym menbedingungen ihrer Arbeit? Felix Koltermann mit verwendet werden, bestehen in der Praxis doch einer Annäherung an ein viel zu lange vernachlässig Unterschiede. So werden im Lokaljournalismus die tes Berufsfeld. Redaktionsfotograf*innen oft als Fotoredakteur*innen geführt. Wobei ihr Tätigkeitsschwerpunkt meist die Im Februar dieses Jahres schockierte die Nachricht, Bildproduktion und nicht die Bildauswahl ist. Dazu dass der Berliner Tagesspiegel seine Fotoredaktion auf- kommen Überschneidungen bildredaktioneller Tätig- löst, die Journalismus-Community. Für kurze Zeit lag keiten zu anderen Positionen, wie etwa den Produk In der Bildredak damit das mediale Schlaglicht auf den Bild- bzw. tionsredakteur*innen oder den Art-Direktor*innen. tion der Frankfurter Fotoredakteur*innen und den Strukturen, in denen Klar ist für Kevin Mertens, der mit der von ihm auf- Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) Foto: F.A.Z./Wolfgang Eilmes sie arbeiten. Aus der Nachricht könnte man ableiten, gebauten emerge Akademie Bildredakteur*innen aus- in Frankfurt am Main werden dass eigenständige Bildressorts bzw. Bildredaktionen und weiterbildet, dass Bildredaktion eine redaktionelle an sieben Tagen in der Woche in deutschen Medienhäusern zum Standard gehören. und damit auch journalistische Aufgabe ist. Ein Fak- Fotos für die verschiedenen Aber weit gefehlt. Konkrete, belastbare Zahlen existie- tor, der nicht nur für das Selbstverständnis, sondern Publikationen und Kanäle der ren nicht, weder bei den Arbeitgebern, etwa beim Bun- auch für die tarifliche Eingruppierung entscheidend F.A.Z. beauftragt, gesichtet desverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger ist. und ausgewählt. (BDZV), noch bei den Arbeitnehmer*innen, bei den Täglich laufen mehr als 15.000 Verbänden dju in ver.di, DJV oder FREELENS. Die Grundqualifikation für Bildredakteur*innen be- Fotos aus ganz unterschied steht dabei laut Kevin Mertens in einem Gespür für lichen Quellen ein. Während zumindest die überregionalen Tageszeitun- Fotografie und der Fähigkeit, Bildmaterial einzuord- gen und Nachrichtenmagazine über eigenständige nen und auszuwählen, sowie einem Interesse für die Bildredaktionen mit mehreren Mitarbeiter*innen ver- Themen der jeweiligen Publikation. Dazu kommen fügen, kommen etwa viele Lokalzeitungen und die Organisationsfähigkeit und Zeitmanagement sowie Zentralredaktion des Redaktionsnetzwerks Deutsch- zunehmend Kenntnisse in der Webentwicklung und land gänzlich ohne Bildredakteur*innen aus. Gleich- der Analyse von Nutzer*innenverhalten. „Noch sind zeitig wurden in den letzten Jahren an anderer Stelle wir in einer Übergangsphase von Print zu Online“, auch bildredaktionelle Strukturen ausgebaut. So schuf meint Mertens. Und bei Mobile und Digital First etwa Deutschlandfunk Kultur eine komplett neue braucht es andere Herangehensweisen, was sich etwa Bildredaktion. Noch größer sind die Veränderungen bei der Bildauswahl zeigt. Es brauche „Bilder, die so- in anderen Bereichen wie den Public-Relations. Selbst wohl hoch, quer als auch im Quadrat funktionieren große deutsche NGOs wie Greenpeace oder Brot für und nicht zu kleinteilig sind“. Ein Grundproblem ist die Welt beschäftigen heute Bildredakteur*innen. der Zeitfaktor, nicht die Verfügbarkeit von Material. „Schon 15 Minuten mehr Zeit wären ein echter Qua- Und spätestens seit dem Einzug der „Online First“- litätsgewinn“, so Mertens. Dies macht neue Software- Strategien in die Redaktionen ist klar: ohne Bild kein lösungen und Programme zur Zeitoptimierung so in- Artikel. Denn nicht mehr nur Print- und Online teressant und wichtig. publikationen brauchen Bilder, auch das Radio und das Fernsehen vermarkten ihre Beiträge auf Social-Me- Freienarbeit mit Vor- und Nachteilen dia-Kanälen und Apps, was Teaserbilder unumgäng- lich macht. Die Konsequenz ist, dass damit immer Die Historikerin Miriam Zlobinski ist feste Freie in der auch bildredaktionelle Arbeit nötig ist. Die Frage ist Bildredaktion des Deutschlandfunks Kultur in Köln, die nur durch wen: durch spezialisierte Bildredakteur*in- ausschließlich aus freien Mitarbeiter*innen besteht. nen, KI-gesteuerte Algorithmen oder als Nebentätig- Für sie hat die Arbeit als Freie Vor- und Nachteile. „Ein keit von Text- und Produktionsredakteur*innen. Problem ist das Wissensmanagement innerhalb der Redaktionen“, so Zlobinski, während umgekehrt eine 10 M 4.2020
FOTOJOURNALISMUS überredaktionelle Diskus- Images gelaunchte Portal Panels, welches das Hoch sion erleichtert werde. Ke- laden von Texten ermöglichte, denen über die KI vin Mertens kritisiert, Schlagwörter und Bildvorschläge zugeordnet wurden, dass die Honorarstruktu- nach kurzer Zeit wieder vom Markt. Aber es ist nur ren oft nicht die Besten eine Frage der Zeit, bis andere Angebote kommen. Die sind und keine stabilen Fehleranfälligkeit rein automatisierter Prozesse musste Arbeitsverhältnisse exis- im Juni diesen Jahres Microsoft eingestehen. Die für tieren. Gleichzeitig er- die Bildauswahl beim Nachrichtenportal MSN.com zu- mögliche gerade dies ständige KI hatte zwei Musikerinnen verwechselt. auch flexibles Arbeiten, was vor allem Berufsein- Während die Komplexität bildredaktioneller Arbeit in steigern*innen schätzten, der aktuellen digitalisierten Medienwelt augenschein- so Mertens. Es sind vor al- lich ist, ist es umso erstaunlicher, dass die Berufs- lem Fotojournalist*innen, gruppe der Bildredakteur*innen bisher kaum organi- die ein zweites Standbein ne- siert in Erscheinung tritt. Es gibt weder einen eigenen ben der eigenen fotografi- Verband, der ihre Interessen vertritt, noch eine mit schen Tätigkeit benötigen und dem Thema befasste Kommission innerhalb der ver- deshalb auch als Bildredakteur*in- schiedenen Verbände. Auch schriftliche Dokumente nen arbeiten. oder Richtlinien bezüglich der journalistischen Rah- menbedingungen bildredaktioneller Arbeit existieren Über die Rahmenbedingungen bildredak- kaum. Einzelne Vorhaben, wie etwa die Initiative zur tioneller Arbeit lässt sich nicht sprechen, ohne Kennzeichnungspflicht manipulierter Fotos, an dem über Geld zu reden. „Je nach Medium, ist das Bud- der ver.di-Vorgänger IG Medien mitwirkte, konnten get ein entscheidender Faktor“, so Kevin Mertens. So sich in der Praxis nie wirklich durchsetzen. Und auch sind es auf der einen Seite die starren redaktionellen der so gern zitierte Pressekodex verweist nur an sehr Vorgaben hinsichtlich der Budgets für Bildmaterial, wenigen Stellen explizit auf das Bild. Konkret wird es was die Abonnements der Nachrichtenagenturen so nur mit der Richtlinie 2.2. zum Symbolbild. interessant macht und Zugriffsmöglichkeiten auf an- i dere Quellen beschränkt. Und auch das nebenbei fo- Vom Picture Editor tografierte – und meist günstigere – Material der Text- zum Visual Journalist nfo redakteur*innen wird gerne genommen. Auf der an- deren Seite flutet das erstarkende Segment der Stock- Gefragt nach der Zukunft der Bildredaktionen, fotoagenturen und der Fotoamateur*innen den Markt wünscht sich Miriam Zlobinski, dass sich diese zu ei- Weiterbildungen mit billigem Bildmaterial oder gar Gratisbildern und ner innerredaktionellen Fachinstanz Richtung Fakt- im Bereich Bildredaktion leistet einer Symbolbildoptik Vorschub. checking und Bildrecht entwickeln. Darüber hinaus sollten Bildredakteur*innen bei der Selbstbildentwick- Eine 1-jährige berufsbeglei- Auch ein Blick auf die Redaktionsorganisation ist loh- lung der Medien eine größere Rolle spielen. Und Ke- tende Weiterbildung bietet nend. Denn selbst wenn die Bildauswahl in den Hän- vin Mertens fordert, dass Bildredakteur*innen zu ei- die private Ostkreuzschule den eines eigenen Ressorts liegt, wird der Handlungs- nem früheren Zeitpunkt in Projekte eingebunden und in Berlin an (Start im März). spielraum oft an anderen Stellen beschränkt: So wer- an der konzeptionellen Arbeit beteiligt werden. Seine An der Emerge Akademie für den die Bildunterschriften häufig von Textkolleg*in- Vision ist, dass sich deren Rolle vom „Picture Editor visuellen Journalismus gibt nen oder im Produktionsbereich formuliert. Auch das zum Visual Journalist“ wandelt, der mit breiten Kom- es die Workshops „Grundla- Bespielen von sozialen Netzwerken übernehmen oft petenzen im Team multimedial Inhalte plant und um- gen der Bildredaktion“ und andere und damit auch die Entscheidungen für die setzt. Dafür wären seiner Ansicht nach jedoch mehr „Visual Story Production”. Bilder auf diesen Ausspielkanälen. Eine weitere Hürde spezialisierte Volontariate notwendig. ist die – in vielen Redaktionen noch bestehende – Weitere Angebote gibt es bei Trennung von Print- und Online. Auch wenn hier viel Einiges zu tun also, um die Qualität (bild-)redaktio- der Hamburger Akademie in Bewegung ist, heißt das noch lange nicht, dass da- neller Arbeit zu steigern und bessere Arbeitsbedingun- für Publizistik mit den Work- mit der Status von Bildredakteur*innen klarer definiert gen für Bildredakteur*innen zu schaffen. Aber ob sich shops „Bildauswahl” und oder gar besser würde. dies in der Breite durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. „Bildrechte”, der Akademie Denn vor allem im Lokaljournalismus geht der Trend der bayrischen Presse mit KI noch fehleranfällig schon lange zur Allrounder*in. Von den Kolleg*innen dem Workshop „Bildsprache dort wird neben dem Texten ganz selbstverständlich und Fotoauswahl“, dem Köl- Veränderungen – oder möglicherweise auch Bedro- das Fotografieren, sowie die Produktion von multime- ner Mibeg Institut mit dem hungen – gibt es auch von anderer Seite: der Künstli- dialen Inhalten verlangt. Man kann dies als Gefahr se- Workshop “Bildredaktion” chen Intelligenz. Eine Reihe von Start-Ups ist auf die- hen oder als Chance, dass weniger die Form als der In- und bei Pro Content (ehemals sem Feld ebenso aktiv (siehe S. 16 – 17) wie die großen halt wichtig ist. Gleichwohl funktioniert dies nur, Journalistenschule Ruhr). Bildagenturen und Digitalkonzerne. Längst ist es Stan- wenn auch die Kompetenzen breiter aufgestellt sind, dard, dass Algorithmen Fotograf*innen Schlagworte womit die Vision eines Visual Journalist vielleicht beim Hochladen von Bildern in eine Datenbank vor- doch Wirklichkeit wird. ‹‹ schlagen. Zwar verschwand das 2018 von Getty 4.2020 M 11
IM FOKUS Digital Storytelling ist ein Mindset, keine Technik E s waren die in Tageszeitungen abgedruckten Ein Das finde ich eine gute Beobachtung. Ich glaube, es hat tatsächlich zelbilder und die mehrseitigen Fotoreportagen in etwas damit zu tun, ebenso wie mit der Frage, ob man bereit oder ge- Nachrichtenmagazinen, die dem Fotojournalismus wohnt ist, in einem Team zu arbeiten. Wenn ich jeden Tag als Einzel- zu seiner gesellschaftlichen Relevanz verholfen ha kämpfer*in durch die Gegend ziehe, fehlt mir in gewisser Weise eine ben. Im Zeitalter digitaler Medienkommunikation ist Art Korrektiv, in dem man gemeinsam über Geschichten nachdenkt. die Fotografie nur noch ein Element unter vielen und muss sich stän Das ist tatsächlich ein Teil des Problems. dig neu behaupten. Wie Fotograf*innen und der Fotojournalismus auf diese Herausforderungen reagieren müssen und welche Chancen Würdest Du umgekehrt dafür plädieren, multimedial arbeitende und Möglichkeiten dabei im digitalen Publizieren – auch in sozialen Fotojournalist*innen, stärker in die Newsrooms einzubinden? Netzwerken – liegen, darüber sprach Felix Koltermann mit Michael Unbedingt. Aber dazu müssten sie natürlich auch ihre Rolle anders Hauri, Geschäftsführer der Agentur 2470.media. definieren. In den Redaktionen braucht es im Prinzip technikaffine Allrounder*innen mit einem guten Gespür für Stories und deren vi- M | Ist der Begriff Fotojournalismus im Zeitalter digitaler Me- suelle Ebenen. Das ist eben weit mehr, als sich nur mit Fotografie aus- dienkommunikation noch zeitgemäß? einanderzusetzen, sondern was ich mit dem schon erwähnten Mind- Michael Hauri | Für mich ist der Fotojournalismus Teil eines viel grö- set verbinde: passend zu einer Geschichte oder einem Inhalt die Kom- ßeren Ganzen, das ich digitalen Journalismus nenne. Als Fotograf*in ponenten zu wählen und im Stande zu sein, diese umzusetzen. Und muss man sich immer wieder bewusst werden, dass man sich in ei- über eine handwerkliche Umsetzung hinaus können und sollten Fo- ner Blase befindet. Es ist wichtig, diese Blase zu verlassen und sich tograf*innen und visuelle Journalist*innen viel stärker auch Ideenge- jenseits der medialen Grenzen nach Möglichkeiten umzusehen, sich ber*innen sein. visuell und multimedial auszudrücken. Der klassische Fotojournalis- mus zeigt sich heute vor allem in drei Formen: bei Instagram wegen Mir scheint es, als wären abseits großer Leuchtturmpro- des direkten Drahts zum Publikum, in Büchern und in Galerien bzw. jekte Multimediaprojekte noch nicht im journalisti- im Kunstkontext. Alles andere dazwischen ist für mich sehr häufig – schen Alltag angekommen. Täuscht der Eindruck? und das ist nicht abschätzig gemeint – Gebrauchsfotografie: etwa das Also zum einen würde ich sagen, dass die Zeit der gro- Hintergrundbild bei den Tagesthemen oder die Aufmacherbilder bei ßen Leuchtturmprojekte tatsächlich vorbei ist. Zum faz.net und sz.de. Diese Fotografie dient dazu, Inhalte schmackhaft anderen sehe ich auf Portalen wie zeit.de, spiegel. zu präsentieren und im weitesten Sinne zu verkaufen. de oder in den Apps der „Tagesschau“ oder der Welt, dass multimediale Elemente zum Stan- Wie definierst Du Multimedia und wie grenzt Du dies von an- dard geworden sind. Aber in einem Punkt deren Konzepten wie dem Digital Storytelling oder Crossmedia muss ich dir Recht geben: Was in den letz- ab? ten Jahren in Deutschland an visuell ge- Multimedia und Crossmedia sind Begriffe, die heute selbstverständ- prägten Digitalprojekten realisiert lich geworden sind. Wenn eine Redaktion eine Instagram-Story pro- wurde, zeugt in erster Linie von einer duziert, ist sie automatisch in einem Medium, das zum multimedia- großen Begeisterung für den Daten- len Arbeiten zwingt. Heutzutage ist es selbstverständlich, dass eine journalismus seitens der Redaktio- Zeitungsredaktion verschiedene Kanäle nutzt und diese unterschied- nen. Die Fotografie spielt meist nur lich bespielt. Aber bei Fotograf*innen habe ich häufig den Eindruck, eine untergeordnete Rolle. Was im dass sie sich zu sehr in ihrer Bilderwelt bewegen und das große Po- Alltag produziert wird (Audio-Einbin- tenzial dessen, was darüber hinaus möglich wäre, nicht richtig wahr- dung, Videos, Umfrage-Barometer, in- nehmen. Ich möchte sie dazu ermutigen, die engen Grenzen des Me- teraktive Karten, Longreads usw.) bleibt diums Fotografie zu erweitern und darüber hinaus zu denken. Da meist weit hinter seinem visuellen und kommt für mich der Begriff Digital Storytelling ins Spiel, weil er we- immersiven Potenzial zurück. Das hängt niger ein spezifisches Format meint, sondern die Offenheit mit sich nicht nur mit einer fehlenden visuellen schwingen lässt. Der Grundgedanke ist, nicht die Story in ein be- Kultur in manchen Redaktionen zusammen, stimmtes Format zu pressen, sondern Formate an Storys anzupassen sondern auch mit knappen Budgets, sinkenden und dadurch neue Perspektiven zu ermöglichen. Digital Storytelling Einnahmen und auf Effizienz getrimmten Redak- ist für mich ein Mindset, keine Technik. tionsprozessen. Um das zu ändern, brauchen wir an- dere Wege, Qualitätsjournalismus zu finanzieren. Unter Hat die von Dir konstatierte Blase der Fotograf*innen auch da- den diskutierten Lösungsansätzen sind die Anerkennung der mit zu tun, dass viele heute frei arbeiten und von den Prozes- Gemeinnützigkeit und eine Finanzierung über die Öffentliche sen in den Redaktionen abgeschnitten sind? Hand die vielversprechendsten. 12 M 4.2020
FOTOJOURNALISMUS Laut Reuters Digital News Report ist das Smartphone im Jahr Vor allem unter den jungen Zielgruppen sind neben Instagram 2020 das wichtigste Gerät zum Konsum von Nachrichten. Wie Plattformen wie Snapchat und TikTok sehr prominent. Kann muss darauf bei der Entwicklung von visuellen Inhalten re- man dort fotojournalistische Inhalte transportieren und damit agiert werden? auch Geld verdienen? Wenn man es auf handwerkliche Aspekte runterbricht, dann ist das Inhalte können damit auf jeden Fall sehr gut transportiert werden. wichtigste, dass man nicht zu kleinteilig arbeitet und nicht in groß- Man braucht sich nur mal gewisse Storys bei der New York Times formatigen Prints denkt, wo man kleinste Details noch scharf abbil- anzuschauen, die aus 30 bis 40 einzelnen Folien bestehen. Da wird den kann. Stattdessen müssen die Bilder erstmal im Hochformat gut mit einer Dramaturgie gearbeitet und man kann damit auch eine be- funktionieren und dürfen nicht zu detailreich sein. Und im News- stimmte Tiefe erreichen. Und wem das nicht genügt, der kann im- Bereich muss es dazu noch wahnsinnig schnell gehen. Für mich ist mer noch hochswipen und den kompletten Artikel lesen. Von daher eine tolle Perspektive jenseits des Nachrichtengeschäfts, sich mit Vir- bin ich überzeugt, dass das Medium per se durchaus die Möglichkeit tual und Augmented Reality zu beschäftigen. Im besten Fall schaf- bietet, etwas in einer bestimmten Tiefe darzustellen. Aber man muss fen wir so Mehrwerte, z.B. wenn Nutzer mit ihrem Smartphone ei- sich trauen, Instagram oder auch TikTok jenseits von diesem Häpp- nen virtuellen Rundgang durch die neue Tesla- chenjournalismus zu nutzen. Damit direkt Geld zu verdienen ist Gigafactory in Grünheide machen können natürlich heikel. Ich würde Fotograf*innen nicht raten, sich als oder sie vor Ort das Smartphone vor ein be- Influencer*innen zu versuchen, weil dabei die Grenzen zur Werbung stimmtes Gebäude halten und darüber In- automatisch verwischt werden. Aber natürlich erweitere ich mit formationen angezeigt bekommen. jedem neuen Medium, mit dem ich mich beschäftige, meine Kom- petenzen und meine Erfahrung. Und das ist die Währung, auf die es in Zukunft viel stärker ankommen wird. Wichtig ist zu lernen, auf Michael Hauri ist Geschäftsführer der neue Entwicklungen viel intuitiver und schneller zu reagieren, sie von ihm mitgegründeten Agentur 2470. sogar mitzugestalten, statt sich komplett überfordert zu fühlen, wenn media und Trainer für Digital Storytel in fünf Jahren das nächste Ding hochploppt. ling. Zurzeit hat er an der Hochschule Hannover eine Vertretungsprofessur Wenn Fotojournalist*innen auf Multimedia umsteigen wollen, inne. Er studierte dort „Fotojournalis mit welchen Investitionen ist dann zu rechnen? mus und Dokumentarfotografie“ und In jedem Fall ist dies eine kluge Absicherung für die Zukunft. Denn war danach zuerst als Fotograf für Zei die Erweiterung der Kompetenzen ins Multimediale versetzt einen tungen und Magazine tätig, bevor in die Lage, auch mal von seinem Schreibtisch zu Hause aus Dinge Foto: Norbert Schaal er sich auf die Bereiche Mul zu erstellen, weil man nicht immer derjenige sein muss, der von vor timedia Storytellung und Ort berichtet. Die größte, dafür notwendige Investition ist die eigene Crossmediales Publi Arbeitszeit. Wenn man ganz neu anfängt, würde ich damit rechnen, zieren spezialisierte. über einen Zeitraum von einem Jahr im Durchschnitt mindestens einen Tag pro Woche zu investieren, damit man sich die Kompeten- zen aneignen und schon erste Erfahrungen sammeln kann, um das einigermaßen professionell einzusetzen. Das wäre circa ein Fünftel eines Jahreseinkommens. Also ist die Investition in Zeit wichtiger als in Technik? Ja. Die Technik hat letztlich doch jede*r Fotograf*in schon zur Ver- fügung: Entweder mit den heutigen Kameras, die alle multimedial arbeiten und wo ich vielleicht noch mal ein Mikrophon oder einen schnelleren Rechner ergänzen muss, oder mit dem Smartphone, wo ich das Studio in der Hosentasche habe. Diese Kosten sind aus mei- ner Sicht vernachlässigbar. Nur wenn man sich auf Spezialgebiete wie zum Beispiel 360 Grad Videos fokussiert, ist es noch mal was An- deres. Welche aktuellen Trends beobachtest Du und welche Entwick- lungen erwartest Du in der Zukunft? Für den Fotojournalismus sehe ich ein großes Potenzial im Bereich des immersiven Storytellings. Ich glaube, dass wir in Zukunft als Au- tor*innen zunehmend in die Rolle wechseln werden, nicht mehr sel- ber nur Geschichten zu erzählen, sondern das Erleben von Geschich- ten zu ermöglichen, indem wir beispielsweise mittels Fotogramm- metrie oder 360 Grad Videos virtuelle Räume schaffen, in denen sich Zuschauer*innen mit einer Brille oder welchem Gerät auch immer bewegen und ihre eigene Geschichte erleben. Das ist ein spannen- des Feld, das ein komplettes Umdenken erfordert, aber für pfiffige Fotograf*innen ganz neue Möglichkeiten bietet, mit ihren Projekten beim Publikum einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. ‹‹ 4.2020 M 13
IM FOKUS Gegen visuellen Gedächtnisverlust Fotoarchive sammeln zeithistorische Dokumente, doch wohin mit den Bildern? R atlosigkeit“ ist das Wort, mit dem Wer- kraft bestimmt zwei Jahre beschäftigt. Schlimmer ner Bachmeier seine Position zur Zu- noch: Inge hätte daneben sitzen müssen, nur sie kunft von Fotoarchiven zusammen- wüsste, was da überhaupt abgelichtet ist.“ Auch wenn fasst. Und er meint damit nicht nur die Bestände nach Arbeitsweise, Themenspektrum, sein eigenes, bestens gepflegtes digi- Struktur und Handhabbarkeit sehr unterschiedlich tales Archiv, das übers Internet zugänglich ist. Er stellt ausfallen, freie Fotograf*innen müssen irgendwann die Sinnfrage grundsätzlich. In Redaktionen, bei Auf- entscheiden: Lohnt es, das Archiv für die Nachwelt zu traggebern, ja generell schwinde das Bewusstsein für sichern? Wohin können Papierabzüge, Negative oder hochprofessionelle Fotoarbeit, die über den Tag und Datenmengen sinnvoll gegeben werden? Und unter die schnelle Aktion hinausreicht. Neben Dokumenta- welchen Voraussetzungen? tion erzählten gute Fotos immer Geschichten. Wenn danach nicht mehr gefragt würde, seien Zeit und Tausende Fotos digitalisiert Mühe vergebens. Im Bildarchiv der Deutschen Paul Glaser hat das für sich weitgehend gelöst. Es hat Presseagentur GmbH in Noch ist Bachmeier Herr seiner Bilder und will es blei- ihn Hartnäckigkeit und Nerven gekostet. Und doch Frankfurt am Main 2012 ben. Er füllt und verwaltet sein digitales Archiv seit läuft ihm gerade die Zeit davon: „Ich habe mit mei- werden alte Negative Ende der 90er Jahre: Menschen. Arbeit. Wirtschaft. nem Arzt ausgehandelt, dass mir noch ein Jahr bleibt“, eingescannt. Bildung. Soziales. Fotografieren macht dem 63-Jähri- sagt der krebskranke 80-Jährige, „und so lange scanne gen noch immer Spaß. In Corona-Zeiten arbeitet er ich“. 2019 kündigte die Bildagentur der Süddeutschen an selbstgestellten Projekten, die meist weitläufig mit Zeitung, vertreten durch SZ Photo, an „sein eindrucks- seinem Lebensthema Arbeitswelt zu tun haben. Doch volles zeitgeschichtliches Fotoarchiv“ in ihren Bildbe- er weiß auch: Als Rentenversicherung wird seine etwa stand zu übernehmen. Rechtzeitig zum 30. Jahrestag 65.000 Bilder umfassende Datenbank nicht taugen. des Mauerfalls standen über 3.000 Glaser-Fotos digi- Das Geschäftsmodell funktioniere nicht mehr, seit Ak- tal zur Verfügung. Ein Bruchteil von etwa 100.000 tuelles mit Handy-Fotos bebildert und der Aufwand Fotos, mit denen er zwischen 1989 und 93 den Unter- für systematisches Dokumentieren gescheut würden. gang der DDR dokumentiert hat. „Meine bundesdeut- Vorbei die Zeiten, dass monatlich 100 Fotos kosten- schen Kollegen empfanden das wie Sibirien“. Deshalb pflichtig aus seinen Beständen heruntergeladen wur- sei er „Monopolist“ gewesen auf ostdeutschen Stra- den. Gegenwärtig könne er die an zwei Händen zäh- ßen, in abgewickelten Betrieben, in Krankenhäusern, len. Doch die Kosten, die ihm sein Archiv verursacht Geschäften. Politik und Alltag hat er seit den 60ern in – Serverleistung, Programmierhilfe, Programm-Up- (West)Berlin dokumentiert. Einzigartiges Material, dates … – summieren sich geschätzt auf zwei- bis drei- manches Porträt inzwischen uninteressant, doch Gla- tausend Euro jährlich. Von der eigenen Arbeit ganz zu ser setzt auf den „längerfristigen Wert“.1,5 Millionen Foto: picture alliance/Frank May schweigen. Seit er Fotos archiviert, beschriftet er akri- Negative besitzt er insgesamt, etwa die Hälfte bereits bisch: „Ich schreibe auch noch den Transparentspruch digitalisiert. Mit Tagebüchern, Lieferscheinen und Ka- ab, der bei einer Demo gezeigt worden ist.“ Er kennt lendern vollzieht er Orte, Daten und Umstände nach auch andere Beispiele: Eine betagte Kollegin aus Frank- und schreibt exakte Dateiinformationen, so lange er furt am Main hätte wohl eine Sicherung ihres Archivs das noch kann. Glaser hat Verträge mit der Süddeut- verdient. „Doch mit der Aufarbeitung wäre eine Fach- schen Zeitung und mit dpa geschlossen, dass sie auch die verbleibenden Negative von ihm übernehmen wer- den. Einiges hat er auch an die Deutsche Fotothek in Dresden gegeben. Die Digitalisierung, sagt Heike Betzwieser, Geschäfts- führerin von dpa-Zentralbild, sei für ein kommerziel- les Unternehmen wie das ihre ein nicht unbedeuten- der Kostenfaktor. Doch die eigentliche Arbeit, die die Übernahme von Archivbeständen teuer macht, läge in der „menschlichen Leistung“ auszuwählen, ge- schichtlich einzuordnen und so neutral, aber exakt 14 M 4.2020
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