Gedankenklänge - oder: Tanz der Denkschritte Nietzsche und die Musikalisierung der Reflexion - Ingenta Connect

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pen           Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXI (2021), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 56–67

Rüdiger Görner

Gedankenklänge – oder: Tanz der Denkschritte
Nietzsche und die Musikalisierung der Reflexion

I. Präludium: Musil. Beginnen wir mit einer präludierenden Abschweifung. Ulrich,
Robert Musils Titelfigur und damit der Mann ohne Eigenschaften, schenkt seiner intel-
lektuellen Freundin Clarisse zu deren Verehelichung mit Walter, einem ihre Erwartungen
herb enttäuschenden Musikkünstler, eine Ausgabe von Nietzsches Werken. In einer be-
stimmten Phase ihrer an Verstimmungen reichen Ehe greift Clarisse, bereits auf dem Weg
in eine psychische Erkrankung, nach einem der Bände mit Nietzsches Schriften: „Sie
hatte aufs Geratewohl jene schöne Stelle getroffen, wo der Meister von der Verarmung
durch den Verfall des Willens spricht, die sich in allen Gebilden des Lebens in einem Wu-
chern der Einzelheiten auf Unkosten des Ganzen äußert.“1 Es handelt sich um eine Stelle
in Nietzsches „Turiner Brief vom Mai 1888“: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.
Nietzsche schreibt dort von einem für ihn markanten Stilproblem, das die Hauptver-
irrung der Literatur in der europäischen décadence darstelle: Die Vereinzelung der Teile,
„Anarchie der Atome“. Und weiter: „Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr“, „es ist zu-
sammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. –“2 Erstaunlicher Weise erinnert sich
Clarisse nicht, dass diese Argumentation des ‚Meisters Nietzsche‘ im Zusammenhang mit
seiner fundamentalen Kritik an Richard Wagner steht, von dessen Kunst er behauptet,
sie beginne nicht mit Tönen, sondern mit „Gebärden“, Gesten, einer Scheinmimik, für
die er dann erst die wirkungsvollste „Tonsemiotik“ suche (27). Clarisse bringt aber diese
Nietzsche-Stelle mit dem unzureichenden, ja „kranken“ Klavierspiel ihres Künstlergatten
in Verbindung, seinem „gefühlvollen Hängenbleiben“ und dem „stockenden Austreten
der Töne, sobald seine Gedanken zu ihr herüber schweiften.“ Noch deutlicher und aus-
gesprochen nietzschehaft erläutert der Erzähler in Musils Roman: „Clarisse verstand es zu
hören, wenn Walter sie stumm begehrte, und sie konnte die Musik sehen, wenn sie aus
seinem Gesicht entwich.“3
   Aber es gibt auch Momente, wo Walter Musik zuströmt, nicht seine eigene freilich
– bleibt er doch unschlüssig, ob er „seine Symphonie zu schreiben beginnen“ oder lieber
Richard Wagners Musik spielen solle: „Er öffnete das Klavier, zündete sich eine Zigarette
an, und während sich seine Gedanken immer breiter zerstreuten, fingen seine Finger auf
den Tasten die wogende Rückenmarksmusik des sächsischen Zauberers an.“4 Das geschieht

Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser zur Eröffnung der Ausstellung Nietzsche und die
Musik am 23. Juni 2020 in Weimar gehalten hat.

1 Musil (2000, 607).
2 Nietzsche (1988, 27). (Nachfolgend unter der Sigle KSA mit Band- und Seitenzahl im Text zitiert).
3 Musil (2000, 607).
4 Musil (2000, 615).

© 2021 Rüdiger Görner - http://doi.org/10.3726/92169_56 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
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wohlgemerkt, als Clarisse Nietzsches vernichtende Kritik an Wagner liest, und Walter
überlegt, ob seine psychisch zunehmend gestörtere Angetraute wirklich gesagt habe, dass
sie „ein“ oder „kein“ Kind von ihm wolle. Doch er erinnert sich auch an ihren Satz: „Du
hast zuviel Gewissen; ein Künstler kann gute Musik nur ohne Gewissen machen!“5
   Musils Erzähler lässt nichts darüber verlauten, wie Clarisse ihren Nietzsche liest, und wie
es um ihre eigene Musikalität wirklich bestellt ist. Sie selbst wäre vermutlich gewissenlos
genug für die Kunst. Es ist zweifelhaft, ob sie ihn quasi musikalisch zu lesen verstand. Aber
geht das überhaupt: Nietzsche, der behauptete, für ein ‚drittes Ohr‘ geschrieben zu haben,
musikalisch zu lesen, also seiner sprachmusikalischen Art des Reflektierens einen eigenen
Sinn abzugewinnen? Allein schon deswegen kann dies eine sinnvolle Herausforderung in
der Auseinandersetzung mit Nietzsche sein, weil er selbst offenkundig auch musikalisch
dachte, fraglos in musikalischen Strukturen, Modulationen und Tonarten schrieb. Wi-
dersprüche, Gegensätze kultivierte er auch deswegen, weil er sie als dissonante Akkorde
hörte – und das selbst dann, wenn es ihm um Zweideutigkeiten in der Moral zu tun war,
um das Ambivalente im Dasein überhaupt. Und wann wäre es ihm nicht darum gegangen.

II. Der Klangdenker. Nietzsche war kein Dialektiker, sondern ein entschiedener Sonan-
tiker, ein Klangdenker und dabei Sprachmelodiker.6 Ein Text ohne musikalischen Ge-
halt wäre ihm wie eine Verstimmung, wie ein Unding vorgekommen, auch wenn nur
einer seiner Haupttexte, Die Geburt der Tragödie…, die Musik in ihrem Titel trägt: …aus
dem Geist der Musik – aber eben als ‚Geist‘, sprich: Gestimmtheit. Darauf spielte Paul
Valéry, der neo-cartesianische, betont begriffsstrenge Modernist, an, wenn er – in nahezu
jeder Hinsicht Antipode des Urhebers von Zarathustra – in seinen Vier Briefen über Nietz-
sche von dessen „nicht näher bestimmbaren Bündnis zwischen dem Lyrischen und dem
Analytischen“ und „dieser von der Musik genährten Ideologie“ sprach, die Valéry in der
„Mischung und dem gelungenen Gebrauch von Begriffen und Voraussetzungen gelehrter
Herkunft“ verwirklicht sah.7
   Wortsprachlich brachte Nietzsche jedoch fraglos mehr schrille Dissonanzen hervor als
in seinen musikalischen Kompositionen, die mit dem romantisch-träumerischen Modus
unlösbar verschwistert waren, den er reflektierend nie versäumte, harsch zu kritisieren – und
das vor allem mit Blick auf Schumann. Ihm warf er in Jenseits von Gut und Böse vor, nur
noch ein „deutsches“, aber nicht mehr ein europäisches Ereignis in der Musik gewesen zu
sein mit seinem vermeintlich „gefährlichen Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit
des Gefühls“ (KSA 5, 188), kurz: eine musikalische Geschmacksverirrung und -verengung.
   Nietzsche, diese immer dem Zerreißen nahe Synthese aus Ich-Emphase und unerbitt-
licher Selbstkritik, ersparte seiner Musik ätzende Revisionen. Seine Partituren gleichen eher
harmonisierten Gegenfolien zu seinen zerklüfteten Manuskripten, den Notizen vor allem.

5   Musil (2000, 613).
6   Die folgenden Überlegungen fußen auf drei Studien, die ich im Rahmen umfassenderer Arbeiten zu diesem
    Themenfeld in den vergangenen zwanzig Jahren vorgelegt habe. Im Einzelnen handelt es sich um: Görner
    (2000, bes. 97–109), Görner (2008, bes. 48–62) sowie Görner (2017, bes. 11–18 u. 91–106).
7   Valéry (1989, 145).

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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Es ist, als verdankten sich seine Kompositionen einer anderen Art Konzentration, man
könnte sagen: mehr einer klanglichen Sammlung, die seinem inneren Ausgleich diente.
‚Erleichterung‘ oder ‚Erholung‘ pflegte Nietzsche dergleichen zu nennen.
   Sie sind rasch benannt, die musikalischen Hauptwerke Nietzsches, aber nur mühsam
im Gesamtwerk einzuordnen: der umfängliche für Klavier zu vier Händen komponierte
Hymnus an die Freundschaft (1872–75), aus dem er zuletzt den Hymnus auf das Leben oder
Lebensgebet gewann (1884, beruhend auf einer Dichtung Lou von Salomés), die Cosima
Wagner zugedachte Sylvesternacht für Klavier (1871) sowie die Manfred-Meditation von
1877, ein musikalischer Nachgedanke zu Schumanns Verarbeitung von Byrons poetisch-
dramatischer Vorlage, die zu einer spektakulären Entzweiung mit dem Dirigenten Hans
von Bülow führte, dem Nietzsche diese Komposition zugeleitet hatte. Aufschlussreicher
Weise wollte Nietzsche durch öffentliche Aufführungen – vor allem des Hymnus an das
Leben – die Hörer zu seiner Philosophie und damit zu seiner Art des Denkens regelrecht
„verführen“.8 Er schrieb demnach seiner Musik eine erhebliche Suggestivwirkung zu, eine
Meinung, mit der er weitgehend allein blieb. Nietzsches musikalisches Schaffen verstehe
man daher am ehesten als ein Phänomen oder, präziser gesagt, als ein Symptom. Aber wofür?
   Noch 1888 hoffte er, so in einem Brief an seinen europäischen Entdecker, den dänischen
Literaturhistoriker und -kritiker Georg Brandes, auf eine Kopenhagener Aufführung seines
Hymnus auf das Leben. Auch Felix Mottl hatte ihm in Aussicht gestellt, die von Heinrich
Köselitz besorgte Orchesterfassung in Karlsruhe zur Aufführung zu bringen. Nietzsche kom-
mentiert trefflich: „Wir Philosophen sind für nichts dankbarer, als wenn man uns mit den
Künstlern verwechselt.“ (KSA 8, 309) Bemerkenswert ist, dass Nietzsche am musikalischen
Material seines ursprünglichen Hymnus an die Freundschaft festhielt, um es zehn Jahre später
in seinen „Lebenshymnus“ umzuarbeiten – nach dem Bruch mit Lou von Salomé, aber eben
mit ihrem Text. Dieses Material bedeutete für ihn offenbar eine Art gelebt-musikalischer
Leitmotivik, die sich sogar einem später verfassten Text angleichen ließ. Die musikalische
Temperierung als Gradmesser seiner eigenen Stimmungen gehörte zu Nietzsches Charakter
ebenso wie sein zunehmendes Interesse an metrologischen und physiologischen Daten und
Phänomenen. Dieses musikalische Bewusstsein reichte bis unmittelbar in seine Sprache. An
Erwin Rohde schrieb er im Nachklang zum soeben fertiggestellten dritten – und wie er zu
diesem Zeitpunkt (Februar 1884) noch meinte – abschließenden Teil seines Zarathustra:
„Mein Stil ist ein Tanz; ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Ver-
spotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale.“ (KSA, 479)
   Das klingt nach Eurhythmie in der Sprache ebenso wie nach spiegelfugalen Strukturen,
die im Zarathustra ja tatsächlich auch zur Anwendung kamen. Man nehme – ein Beispiel
für zahllose – die ersten beiden Sätze der Episode Auf den glückseligen Inseln aus dem zweiten
Teil seiner Dichtung: „Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süss; und indem
sie fallen, reisst ihnen die rothe Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen.“ (KSA 4, 109)
Die Sequenz beginnt und endet mit ‚Feigen‘, zunächst mit bestimmtem Artikel versehen,
der angesichts des Geschehens im Allgemeinen aufgeht. Der erste Satz hält in seiner Vier-
teilung eine innere Balance, die durch Alliterationen (Feigen – fallen), Wiederholungen

8   Vgl. Bertram (1989, 114).

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(fallen) und einer jähen Dynamisierung (reisst) nebst ihrer Aufhebung durch vokalische
Dehnungen (rothe Haut) erreicht wird. Dem kann dann die gelinde Überraschung fol-
gen, die Selbstidentifikation Zarathustras mit dem Nordwind, der – mit einer Assonanz
– die reifen Feigen zum Fallen bringt. Im Klangbild beider Sätze wie in der syntaktischen
Struktur verwirklicht Nietzsche auf diese Weise Symmetrie verbunden mit einer betonten
rhythmischen Kadenzierung. Niemandem war diese sprachliche Meisterschaft bewusster
als Nietzsche selber; deswegen konnte er während seines letzten Aufenthalts in Sils-
Maria im Sommer 1888 einem deutsch-amerikanischen Bewunderer schreiben, dem nicht
unbedeutenden transozeanischen Kulturvermittler und Autor Karl Knorz, dem wir u.
a. aufschlussreiche Studien über Longfellow (1879), Shakespeare in Amerika (1882), eine
– übrigens erste deutschsprachige – Geschichte der nordamerikanischen Litteratur (1891)
sowie eine Monographie Friedrich Nietzsche, der Unzeitgemässe (1909) verdanken: „Ich
scheue auch, hinsichtlich der Kunst der Darstellung und der artistischen Ansprüche, keine
Vergleichung.“ (KSA 8, 341)

III. Musik als reflexiver Modus. Um unserem eigentlichen Anliegen Genüge zu tun,
nämlich den musikalischen Gehalt und die sonantische Form in Nietzsches Denken zu
ermitteln, ja, das Musikalische als den Modus seines Reflektierens zu erkennen, ist ein
neuerlicher genauer Blick auf die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik unerlässlich.
Ich schlage dabei eine Lesart dieses frühen Hauptwerks vor, die von einem Aphorismus in
Nietzsches zweiter Hauptschrift Menschliches, Allzumenschliches ausgeht, der sich im später
(Herbst 1886) hinzugekommenen zweiten Teil befindet und das Spätwerk einläutet. Der
Aphorismus gilt der „Musik als Spätling jeder Cultur“ und steht damit auf den ersten Blick
in krassem Gegensatz zur Prämisse der Geburt der Tragödie, die besagt, dass der Geist der
Musik das Uranfängliche der (tragischen) Kultur sei. Untersuchen wir also zunächst die
Argumentation des Aphorismus 171 und fragen uns dann, wie sie sich zu jener in der
Tragödienschrift verhält.
   Die Pointe dieses Aphorismus, der die Abbreviatur einer Abhandlung darstellen könnte,
sei vorweggenommen: Der Gedanke über Musik sei dauerhafter, haltbarer als die Musik
selbst. Denn diese sei ein „Spätling jeder Cultur“ (KSA 2, 450). Nietzsche führt das an
diversen Beispielen vor, und zwar der Art: „Erst Mozart gab dem Zeitalter Ludwig des Vier-
zehnten und der Kunst Racine’s und Claude Lorrain’s in klingendem Golde heraus. Erst in
Beethoven’s und Rossini’s Musik sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert
der Schwärmerei, der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glückes.“ (KSA 2, 450) So
betont subjektiv diese Urteile auch sein mögen, sie führen, wie so oft bei Nietzsche, zu einer
pointierten Sentenz von hoher rhetorisch-poetischer Wirkung; er nennt sie ein „empfind-
sames Gleichnis“, das mit unüberhörbar imperativischem Unterton lautet: „[J]ede wahrhaft
bedeutende Musik sei Schwanengesang.“ Die nüchternere Analyse erfolgt umgehend:

       Die Musik ist eben nicht eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre
       gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaass, welches eine ganz
       bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt: die
       Musik Palestrina’s würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum – was würde
       Palestrina bei der Musik Rossini’s hören? (KSA 2, 450)

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Als Zeitkunst, so die Folgerung, ist die Musik auch zeitverhaftet, durch den zeitgeschicht-
lichen Geschmack konditioniert. Den „Geist der Musik“ bezieht Nietzsche nun allein auf
die Kunst Wagners. Dieser Geist sei gegen den „Geist der Aufklärung“ gerichtet, gegen den
„übernationalen Gedanken“. Mehr als überraschend, und keineswegs durch die kulturelle
Entwicklung gedeckt, kommt Nietzsche dann zu diesem Schluss: „Es liegt im Wesen der
Musik, dass die Früchte ihrer grossen Cultur-Jahrgänge zeitiger unschmackhaft werden
und rascher verderben, als die Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem Baume
der Erkenntnis gewachsenen“, worunter er eben die „Gedanken“ versteht. (KSA 2, 452)
   Das Qualifizieren seiner musikalischen Geschmacksurteile bewegt sich zwischen ton-
genauem Erfassen wesentlicher Klangelemente und verfehlten Digressionen; wiederum ein
Beispiel für viele:

        Beethoven ist das Zwischen-Begebniss einer alten mürben Seele, die beständig zerbricht, und einer
        zukünftigen überjungen Seele, welche beständig kommt; auf seiner Musik liegt jenes Zwielicht
        von ewigem Verlieren und ewigem ausschweifendem Hoffen […]. (KSA 5, 187)

Wagner, der Ouvertüre zu den Meistersingern, spricht er Grazie, das Tänzerische und den
Willen zu Logik ab; das „Willkürlich-Barbarische“ komme mit dem „Feierlichen“ zusammen
nebst einem „Geflirr von gelehrten und ehrwürdigen Kostbarkeiten und Spitzen“, eben
‚Allzudeutschem‘. (KSA 5, 180) Zu diesem ‚Deutschen‘ gehöre auch eine „Widerspruchs-
Natur“, die Hegel in ein „System“ gebracht und Wagner „in Musik gesetzt“ habe. (KSA 5,
185) Dieser Vergleich ist bezeichnend für das, was Nietzsche mit Musik – zumal deutscher
Herkunft – verbindet: Ein Denken in Klängen, eine Sonantik eben, die er kritisiert, weil
sie zu wenig tänzerisch, d. h. leichtfüßig sei, wobei er ihre lichte Art selbst anstrebte. Ihr
Modellfall hieß für ihn Mendelssohn Bartholdy, dessen Musik er mit seiner Lieblingsbe-
zeichnung ‚halkyonisch‘ nannte, also heiter, schwebend, aber so gar nicht ‚dynamiten‘, eine
Qualität, die Nietzsche ja bekanntlich auch für sich in Anspruch nahm. Denn wer vorgibt,
mit dem Hammer zu philosophieren, wäre eigentlich mit Beethovens Hammerklaviersonate
trefflicher bedient gewesen als mit „Liedern ohne Worte“.
   Oder verhielt es sich eher so, dass Nietzsche, gerade weil er mit dem Hämmerchen die
Sprache abklopfte, immer hellhöriger für die Misstöne in ihr wurde und Worte schrieb,
die sich nach Liedern sehnten, nach Gesang? Für Leser mit einem ‚dritten Ohr‘ wollte er
schreiben, für Hörempfindliche also, wobei er mit der deutschen Sprache hart ins Gericht
ging: ein „drehender Sumpf von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz“, schimpf-
te er sie. (KSA 5, 189) Zudem sprach er seinen deutschen Zeitgenossen den Sinn dafür
ab, in jedem Satz die Kunst, die in ihm stecke, zu erspüren. Doch freilich demonstrierte
ja gerade Nietzsche – und er schien es zuweilen selbst zu vergessen –, was an Kunst das
Deutsche zu leisten vermag, wozu sogar seine Analyse der vermeintlichen Kunstlosigkeit
der deutschen Sprache gehört. Was nun in Jenseits von Gut und Böse folgt, es findet sich im
„Achten Hauptstück“, gehört zum Subtilsten an sprachmusikalischer Kritik, die Nietzsche
geboten hat: Wolle man einen Satz wirklich verstehen, müsse man die Kunst in ihm, das
Kunstvolle, aber eben nicht Artifizielle „errathen“. Und weiter:

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       Ein Missverständniss über sein Tempo zum Beispiel: und der Satz selbst ist missverstanden!
       Dass man über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man die
       Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fühlt, dass man jedem staccato,
       jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vocale
       und Diphthongen räth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben und
       umfärben können: wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig genug, solchergestalt
       Pflichten und Forderungen anzuerkennen und auf so viel Kunst und Absicht in der Sprache
       hinzuhorchen? (KSA 5, 189)

Wenn man für dergleichen Nuancen und Gegensätze kein Ohr habe, dann sei die „feinste
[Sprach-]Künstlerschaft wie vor Tauben verschwendet“. Und sogar hier setzte Nietzsche
noch nach:

       Wie wenig der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu thun hat, zeigt die Tatsache,
       dass gerade unsre guten Musiker schlecht schreiben. Der Deutsche liest nicht laut, nicht für’s
       Ohr, sondern bloss mit den Augen: er hat seine Ohren dabei in’s Schubfach gelegt. (KSA 5, 190)

Nur das laute Lesen – Nietzsche behauptet, dies sei antike Praxis gewesen – zeige all die
„Schwellungen, Biegungen, Umschläge des Tons und Wechsel des Tempos“, was bedeutet:
Dieser sprachmusikalische Denker glaubte an die performative Qualität des Lesens. Lesen,
auch das Alleine-Lesen, war ihm ein stimmsubtiles Vor-Lesen. Sprache sei dazu da, auf-
geführt zu werden, um ihre Feinheiten ganz zum Tragen, sprich: zu Gehör zu bringen. We-
sentlich ist hierbei zu erkennen, dass er deswegen nicht der Schauspielerei das Wort redete;
im Gegenteil: Denn damit verband er die, wie ihm schien, Gaukelwelt Richard Wagners,
den er wiederholt als Schauspieler unter den Komponisten und somit als Verkörperung des
Unechten, Uneigentlichen zu denunzieren versuchte.

IV. Musik als Urgrund der Kultur. Aus der Perspektive radikaler Wagner-Kritik unternahm
Nietzsche 1886 in seinem „Versuch einer Selbstkritik“ eine Revision der einst auf Richard
Wagner hingeschriebenen Geburt der Tragödie, wobei dieser selbstkritische Zugang im
Wesentlichen den Grundcharakter der frühen Provokation bestätigte. Sie fragte nach dem
Gehalt „aesthetischer Wissenschaft“, nach dem „Problem der Wissenschaft“ überhaupt,
nach dem Verhältnis von Musik und dionysischem Mythos, dem (Anti-)Romantischen
sowie nach der Essenz des Tragischen in der Kultur. Nietzsche hatte erkannt, dass die Fra-
ge nach dem Wesen der Wissenschaft „nicht auf dem Boden der Wissenschaft“ erkannt
werden kann, wobei er die Entsprechung nicht benannte: Auch das Problem der Kunst
bedarf einer Außenperspektive, will man ihren Sinn und ihre Vorgehensweisen erfassen.
Denn wenn ich mich mitten im Gedicht befinde, erkenne ich vor lauter Versfüßen seinen
Weg, auf dem es kam und weitergeht, nicht mehr. Die ästhetische Rechtfertigung des Da-
seins, Kernthese der Geburt der Tragödie, stellte Nietzsche gleichfalls auf den Prüfstand in
seiner versuchten Selbstrevision.
   In der Geburt selbst hielt Nietzsche an Schopenhauers These von der Musik als dem „un-
mittelbaren Abbild des Willens“ fest, wobei er im Hinblick auf Wagners Tristan und Isolde
und besonders den dritten Akt dieses Musikdramas zu einem höchst poetischen Vergleich

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fand: Wenn man diesen gesamten Akt als einen einzigen „ungeheuren symphonischen
Satz“ ohne Zuhilfenahme von Wort und Bild wahrnehme, dann befinde man sich in der
Lage eines Menschen, der „das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens“ gelegt
habe. (KSA 1, 135)
   Musik verstand dieser frisch berufene jüngste Professor der Altphilologie als „Mutter-
sprache“ (KSA 1, 135) und als Aufbruch ins immer Neue, buchstäblich Unerhörte. In
der Tragödie, die er damals (1872) noch im Musikdrama Wagners erneuert sah, identi-
fizierte er die einzige Form, in der dionysischer „Musikorgiasmus“ herrsche. (KSA 1, 134)
Die Tragödie sei im „Geburtsschoosse der Musik“ und im „geheimnisvollen Zwielicht
des Dionysischen“ geboren. Nietzsche sah sie beide, Musik und Mythos, sich wahlweise
schützen und verstärken. Seine Kritik an den Tragödien des Euripides begründete er
in der Hauptsache ja damit, dass die Reflexionen in den ausgiebigen Prologen diese
prinzipielle Musikalität des tragischen Mythos zerstört hätten. Abschätzig nannte er
den „euripideischen Prolog“ einen zweifelhaften Aufweis „für die Productivität jener
rationalistischen Methode“ (KSA 1, 85), die dann im Sokratismus ihre eigentliche, aber
allzu einseitige Blüte erlebt habe. Eben deswegen kultivierte er die Vorstellung eines
Sokrates, der als Gefangener in den letzten Stunden seines Lebens im Traum Musik
‚treibt‘, womit ihm zuletzt doch noch ein Ausgleich für seinen penetranten Rationalis-
mus vergönnt gewesen sei.
   Bedenkt man nun den hier allein auf die Musik bezogenen Sinn dieser ersten Haupt-
schrift Nietzsches, dann liegt er in der Verquickung von „ästhetischer Rechtfertigung des
Daseins“ mit der Musik als dem Urgrund der Kultur überhaupt. Auf diese Weise billigte
Nietzsche der Musik die Funktion einer prima causa zu, was ja auch seinem späteren (kultur-)
philosophischen Ansatz entspricht – sei es in der „ewigen Wiederkunft“ oder im „Willen zur
Macht“ –, die eine treibende Kraft hinter bestimmten Kultur- und Bewusstseinszuständen
zu identifizieren.
   ‚Musik‘ versteht sich bei Nietzsche dabei sowohl im (vor-)antiken Sinn als musiké (ein
Sammelbegriff für rhythmische Bewegung, Gesang, Sprachtöne) als auch als Klangkunst
im modernen Verständnis. Zur Zeit der Geburt der Tragödie hält er Wagner noch für
den Erneuerer dieser Verwendung der musiké im antik-klassischen Drama des Sophokles
und des Aischylos als den beiden Siegelbewahrern des dionysischen Mythos. Um die Be-
deutung der Musik weiter zu bestimmen, bedient sich Nietzsche – bei ihm selten genug
– sogar der Begrifflichkeit der Scholastik. Entsprechend nennt er die Begriffe universalia
post rem, also das, was auf die Dinge folgt, ihre Benennung; die „Musik“ dagegen gebe die
universalia ante rem, sie gehe den Dingen voraus, wobei die „Wirklichkeit“ in den Dingen
selbst liege. (KSA 1, 106) Das freilich ist eine gedachte Musik. Zum Erlebnis wird sie etwa
im Es-Dur-Dreiklang zu Beginn des ersten Teils der Ring-Tetralogie, in Das Rheingold oder
– diesem Anfang nicht unverwandt – im Suchen nach einer Tonart zu Beginn der Neunten
Symphonie Beethovens.
   Gerade weil die Musik das Uranfängliche in sich birgt, reizt sie – laut Nietzsche – zum
„gleichnissartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit“ und macht dieses „Bild“ erst
wirklich bedeutsam. Was meint das? Musik verlockt zum Begriff, der aber anschaulich zu
sein hat. Sprachklang und sprachliche Visualität konvergieren. Der frühe Rilke sollte das

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bei Nietzsche als die Musik bezeichnen, die der „große Rhythmus des Hintergrunds“ sei.9
Der junge Dichter nennt sie – ganz im Einklang mit Nietzsche – „die Ursache aller Kunst“.
   Offenbar gehört es zu Nietzsches rhetorischer Regie, theoriegerechter gesagt: diskursiver
Struktur, dass er erst in den beiden letzten Abschnitten der Geburt der Tragödie zu seiner
dritten eigentlichen These (neben der Gegensatzpaarung apollinisch – dionysisch und der
ästhetischen Rechtfertigung des Daseins) vordringt: der Emanzipation der „musikalischen
Dissonanz“ als ästhetischer Lustquelle. Im Dionysischen sieht er dabei eine „am Schmerz
percipirte Urlust“ am Werk und den „gemeinsamen Geburtsschooss der Musik und des
tragischen Mythus“. (KSA 1, 152)
   Die berühmte Frage Schillers nach den Ursachen unseres „Vergnügens an tragischen
Gegenständen“ beantwortet Nietzsche weniger mit dem Verweis auf eine gleichfalls Schil-
ler’sche Einsicht in die musikalische Stimmung als Vorbereitung für das lyrische Schaffen,
sondern damit, dass er in der Musik die Dissonanz als ihren eigentlichen Reiz ausmacht
– und damit auch als Impulsgeber für den Schaffensprozess. Das liegt vor allem an der
musikpsychologischen Wirkung der Dissonanz, von der er sagt, wir hörten sie und sehnten
uns zugleich über dieses Hören hinaus, spürten geradezu physisch den „Flügelschlag der
Sehnsucht.“ (KSA 1, 153)
   Wenn Nietzsche in seiner „Selbstkritik“ später anmerkt, dass er als Dichter das hätte
sagen sollen, was er über die Uranfänge der Tragödie sagen wollte, dann scheint er Stellen
wie diese überlesen zu haben. Den „Flügelschlag der Sehnsucht“ spüren bei einem über die
Dissonanz Hinaushören – bei diesem Ausdruck wie bei zahlreichen anderen sprach nämlich
der Dichter in ihm. Dass die damalige Philologenzunft mit dieser Art poetisch-musikali-
schem Sprachregister nichts anfangen konnte, dürfte kaum erstaunen; auch die Philologen
von heute scheuen sich, diesen Tanz der Metaphern anders als fußnotenfallenhaft zu be-
handeln. Worauf es hier ankommt, ist der Nachvollzug einer ästhetischen Rechtfertigung
des Sprechens an sich. Wenn Sprache die Musik nachahme, wie Nietzsche schon 1872 nicht
müde wurde zu behaupten und wie er dies selbst nahezu auf jeder Seite praktizierte, dann
kommt es darauf an, die musikalischen Strukturbeschreibungen von Texten, die Nietzsche
vornahm, ernst zu nehmen.
   Nietzsche, das steht kaum noch in Frage, las musikalisch, wie er auch Musik literarisch
hörte. Ein Beispiel für viele findet sich mit einer wie stets bei ihm prägnanten Wortprägung.
So wollte er mit der Bezeichnung „Nachsommer-Musik“, wie er seinem Leipziger Verleger
Fritzsch im August 1886 schrieb, ein „wunderschönes Adagio für Clavier“ betitelt sehen.
(KSA 7, 236) Wie aber müsste eine Musik beschaffen sein, fragt Nietzsche in seinem
„Versuch einer Selbstkritik“, gemünzt auf die vierzehn Jahre zuvor erschienene Geburt der
Tragödie aus dem Geist der Musik, die „nicht mehr romantischen“, sondern „dionysischen“
Ursprungs wäre? (KSA 1, 20) Und er zitiert einen fiktiven Kritiker, der ihm vorwirft,
einen „Grundbass von Zorn und Vernichtungslust“ unter aller seiner „contrapunktischen
Stimmen-Kunst und Ohren-Verführerei“ brummen zu lassen. (KSA 1, 21) Man mache sich
darauf einen gereimten Gedanken, etwa der Art aus dem „Vorspiel in deutschen Reimen“
zu Die fröhliche Wissenschaft: „13. Für Tänzer. // Glattes Eis / Ein Paradeis / Für Den, der

9   In: Rilke (1987, 1163). Dazu gibt es eine umfängliche wissenschaftliche Literatur, herausragend: Egel (2014,
    bes. 57–91).

Peter Lang                                                           Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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gut zu tanzen weiss.“ (KSA 3, 356) Gerade weil Nietzsche so musikorientiert dachte und
schrieb, blieb er, mehr als er dies wollte, im Umkreis der Romantik gefangen. Und genau
das ist ja auch der Tenor des fiktiven Kritikers, den er zitiert: „Romantik“ sei diese kultur-
pessimistisch gestimmte Geburt der Tragödie – mit „Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr
und Niedersturz vor dem alten Glauben, vor dem alten Gotte“, eben Dionysos. Es bereitet
Nietzsche einige Mühe, diesen zitierten fiktiven Kritiker zu widerlegen. Diese ‚Wider-
legung‘ gelingt denn auch nicht überzeugend. Zumindest kann sie den starken Eindruck
nicht entkräften, den das Preislied auf die Dissonanz im Leser hinterlässt, eine durch und
durch spätromantische Kunstleistung, durch die sich die romantische Musik als Vorläufer
der musikalischen Moderne empfahl. Und eben das schien bereits der frühe Nietzsche
empfunden zu haben.
   Angesichts dieses fein entwickelten musikalischen Gespürs Nietzsches bestimmt das
Musikalische, einem Leitmotiv gleich, sein Denkwerk bis in seine fragmentarischen Veräste-
lungen. Selbst in seinen „Gedanken über moralische Vorurtheile“, Morgenröthe genannt,
finden sich prononcierte Äußerungen zur Musik. So bezeichnet er darin das Ohr als ein
„Organ der Furcht“, das sich im Dunkeln entwickelt habe, woraus er das ästhetische Argu-
ment ableitet: „Daher der Charakter der Musik, als einer Kunst der Nacht und Halbnacht.“
(KSA 3, 205) Das liest sich wie ein ferner Anklang an die These zur Einheit von Musik
und Mythos, verbunden mit dem Dionysisch-Dämonischen, wie Nietzsche dies in der Ge-
burt der Tragödie ausgeführt hatte. Dem schließt sich schon wenige Aphorismen weiter ein
ausführliches und als solches deklariertes „Gespräch über Musik“ an, womit Nietzsche die
Notwendigkeit zur Perspektivierung in Diskursen über Musik unterstreicht. Freilich, es ist
ein Gespräch der besonderen Art zwischen einem Musikanalytiker A und einem Musik-
genießer B. Letzterer gibt zu, von dem soeben erfolgten Höreindruck ‚überwältigt‘ worden
zu sein, wogegen Ersterer fordert, die Musik zu überwältigen, indem man sich wortsprach-
lich über sie äußere. (KSA 3, 206–208) A verweist auf die musikalische Gebärdensprache
mit Fanfaren und mit prächtiger Vorführung des Themas, als sei es „geputzt, wie klirrend
von Steinen“. Er beschreibt eindringlich den Verlauf der Komposition, die kompositorische
Verfahrensweise; der Komponist – man ahnt Wagner – „gebietet mit den Künsten eines
Volksredners über uns.“ B kontert, dass er sich zehnmal lieber von dieser Musik täuschen
lasse, als A’s analytische Wahrheit über sie hören zu müssen. A wiederum behauptet, dass
diese Bereitschaft, sich durch Musik täuschen zu lassen, das Grundübel der zeitgenössischen
Kultur überhaupt sei. Man höre die Musik immer mehr gewissenlos. A’s musikalisches
Ideal sei dagegen folgender Art:

        [I]ch nenne eine unschuldige Musik jene, welche ganz und gar nur an sich denkt, an sich glaubt,
        und über sich die Welt vergessen hat, – das Von-selber-Ertönen der tiefsten Einsamkeit, die über
        sich mit sich redet und nicht mehr weiss, dass es Hörer und Lauscher und Wirkungen und Miss-
        verständnisse und Misserfolge da draussen giebt. (KSA 3, 207 f.)

Unter einer ‚unschuldigen Musik‘ versteht A offenbar eine Kompositionsweise, die sich
rhetorischer Finessen bedient und sich allein auf sich konzentriert, auf das ‚Wesen‘ der
Musik selbst. Dann aber schlägt er eine Volte – zur Überraschung und Erleichterung
von B, indem er eingesteht, dass die soeben gehörte Musik genau das leiste und folglich

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Rüdiger Görner: Gedankenklänge. Nietzsche und die Musikalisierung der Reflexion | 65

‚unschuldig‘ genannt werden könne. Er habe „aus Bosheit“ alles, was er über diese Musik
gesagt habe, schlicht „erlogen“, den advocatus diaboli gemimt. (KSA 3, 208) Aber warum?
Die Essenz dieses ‚Gesprächs‘ lautet: Urteile über Musik haben nichts Verlässliches, sind
schwebend wie die Musik selbst. Kompositorische Verfahrensweise und Wirkung stehen
in einem ebenso labilen Verhältnis zueinander wie (kritische oder enthusiastische) Worte
zur Musik. Gesprächspartner A zeigt sich zwar weniger ‚überwältigt‘ durch das Gehörte;
zuletzt aber ‚überwindet‘ er sich selbst und sein eigenes (Schein-Vor-)Urteil gegenüber dieser
Art von Musik. Man könnte behaupten: A tänzelt gleichsam mit seinen Argumenten, führt
sie und sich vor, ist selbst Rhetoriker und zeiht den Komponisten musikalisch-rhetorischer
Finten; damit freilich übt er indirekt Selbstkritik.
   Musik ist für Nietzsche daher augenscheinlich Medium relativierender oder zumin-
dest perspektivierender Selbsterfahrung sowie Selbstdistanzierung von seinen eigenen
Hörgewohnheiten.

V. Coda: Lars Iyer. Wir begannen mit einer literarischen Abschweifung in die modernis-
tische Welt Musils und ihrem prononcierten Nietzsche-Verweis mit seinen musikalisch-
psychologischen Folgen. Schließen wir denn, nicht weniger digressierend, mit einem Blick
auf einen zeitgenössischen englischen Roman aus dem musikengagierten Schülermilieu
mit einem despektierlichen Titel, der sich aber als Name einer Band herausstellen wird:
Nietzsche and the Burbs von Lars Iyer.10 ‚Nietzsche‘, so nennen Mitschüler einen Sonder-
ling, dessen Gesichtszüge jenen Nietzsches ohne Schnauzbart gleichen. Immer wieder er-
geben sich Überlegungen zur Musikszene und der Bedeutung von Musik, die angesichts
dieser Art Milieustudie eher überraschen, dem Roman aber ein mehr oder weniger präten-
tiöses intellektuelles Niveau verleihen. Man könnte sogar von einem radikalen Zugang zur
Musik sprechen, vermittelt durch diesen nihilistisch disponierten juvenilen und natürlich
bloggenden Schein-Nietzsche, vor allem aber durch die Musik der Band. Dieser Nietzsche
aus Suburbia befindet sich zwischen Sprechen und Singen, begleitet von einer Band, die
Klänge wie auf einer Ebene produziert, einer, wie es im Text heißt: schimmernden Klang-
ebene, auf der nichts entschieden ist, eine Musik, die alles enthält, einschließlich ein in ihr
„impliziertes Lied“, dazu „Wellen von Dissonanzen“, nicht aufgelöst, sondern „gebrochen“,
wie eben Wellen brechen.11 Wie einer seiner Blogs verrät, verachtet dieser neue Nietzsche
aus dem England der drögen Vorstädte nichts mehr als eben dieses Suburbia und prägt
einen Ausdruck, der zu einem neuen Nietzsche durchaus passt: „The suburban trans-
devaluation“, die Überumentwertung in und durch die Vorstädte, wo sich „banality and
nullity“, Banalität und Nichtigkeit, zu Werten aufwerfen.12
   Die Musik seiner Band versucht dem entgegenzuwirken, sich von dieser Unwertigkeit
abzusetzen, ja, sie zu übertönen. Denn was diese Band anstrebt, ist eine Musik, die den
Himmel spiegelt. („Music as open as the sky. Like the sea beneath the sky. Music mirroring

10 Iyer (2019).
11 Iyer (2019, 236): „The implied song. The implied harmony. It doesn’t have to be obvious. We don’t have to
   spell it out … […] The all-in-all-song. We’ve reached it – via the wave of dissonance. Via the breakdown of
   dissonance.“
12 Iyer (2019, 154).
13 Iyer (2019, 274).

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the sky. Indistinguishable from the sky.“)13 Diese Musik will die Schöpfung fortsetzen, weiter
fördern, Kontinuum sein; eine musikalische Sequenz soll die andere ergeben, ein Klang-
teppich dabei entstehen. Die Musik als perpetuum mobile – was die juvenile Band irgendwo
in Suburbia versucht, unterstützt durch Blogs ihres ‚Nietzsche‘, aus denen dann Lieder
werden, trifft die Intentionen des historischen Nietzsche womöglich genauer als weitere
Erklärungen über diesen Denker, der sein Denken als aus dem Klang geboren auffasste.
   Der ‚Neue‘ in der Klasse, der von allen nur noch ‚Nietzsche‘ genannt wird, erscheint
als Wiedergänger des Denkers aus Sils Maria bis hin zu dem Zeitpunkt, als der Junge in
eine geschlossene Abteilung eingeliefert wird. Zuletzt ist von Musik keine Rede mehr.
Die Freunde, die nicht wissen, ob sie wirklich Nietzsches Freunde sind, sein können oder
wollen, spekulieren darüber, was ‚Wahnsinn‘ überhaupt bedeutet. Vielleicht, so lautet die
Spekulation des Lesers dieses außergewöhnlichen Romans, hört dieser Nietzsche im Zustand
der Entrückung eine Art Über-Musik, bestimmt nur für das Gehör des Übermenschen.
Es wäre eine Musik, vorbereitet durch die langen Einübungen seiner Band, die Exerzitien
gleichen, eine Musik jenseits der Musik, jenseits von Dissonanz und Konsonanz, eine Musik
nicht mehr am Rande, ihrerseits auch jenseits des Wahns.

Literaturverzeichnis

Bertram, Ernst (1989): Nietzsche. Versuch einer Mythologie [11918]. 10. Aufl. Bonn.
Egel, Antonia (2014): „Musik ist Schöpfung“. Rilkes musikalische Poetik. Würzburg.
Iyer, Lars (2019): Nietzsche and the Burbs. A Novel. New York, London.
Görner, Rüdiger (2000): Nietzsches Kunst. Annäherungen an einen Denkartisten. Frankfurt a. M.
– (2008): Wenn Götzen dämmern. Formen ästhetischen Denkens bei Nietzsche. Göttingen.
– (2017): Hat man mich verstanden? Denkästhetische Untersuchungen zu Nietzsches (Selbst-) Wahr-
   nehmungen. Basel.
Musil, Robert (2002): Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Bd. I: Erstes und Zweites Buch [11930].
   Hrsg. v. A. Frisé. 16. Aufl. Reinbek b. H.
Nietzsche, Friedrich (1988): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 6. Hrsg.
   v. G. Colli, M. Montinari. München.
Rilke, Rainer Maria (1987): Sämtliche Werke. Bd. 6. Hrsg. v. Rilke-Archiv in Verbindung mit
   R. Sieber-Rilke, besorgt durch E. Zinn. Frankfurt a. M.
Valéry, Paul (1989): Werke. Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden. Bd. 4: Zur Philosophie und Wissen-
   schaft. Hrsg. v. J. Schmidt-Radefeldt. Frankfurt a. M.

Abstract
Ausgehend von der Nietzsche-Lektüre Clarisses in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften unter-
sucht dieser Beitrag die sonantische Grundierung von Nietzsches Denk- und Sprachstrukturen. Im
Mittelpunkt stehen dabei Nietzsches thesenhafte Überlegungen zu einer Art ‚Willen zum Klanghaften‘,
durch den er die ästhetische Rechtfertigung des Daseins determiniert sah. Berücksichtigt wird dabei
auch das Spannungsverhältnis zwischen erlebter und erdachter Musik bei Nietzsche, also einer Musik,
die zum Bestandteil seiner Denkkunst wurde. Abschließend rekurriert dieser Aufsatz auf eine zeit-
genössische Übernahme von Nietzsches Musikverständnis in einem Roman des britischen Autors Lars

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Iyer, der die Essenz dieser Musikkonzeption in den Kontext der neuen Medien stellt und ihr dadurch
unverminderte Relevanz attestiert.

Starting with Clarisse’s reading of Nietzsche in Robert Musil’s The Man without Qualities, this con-
tribution examines the sonantic grounding of the philosopher’s thought and use of language. It argues
that Nietzsche was on the way to expressing a ‚will to empowering sound‘ by which he saw the aesthetic
justification of existence determined. Furthermore, it considers the tension in Nietzsche between music
as actually experienced and intellectually envisaged, if not constructed, in short: a kind of music that
became a constituent of his ‚art of thought‘. In conclusion, this article refers to the contemporary novelist
and philosopher Lars Iyer who, in his novel Nietzsche and the Burbs, puts Nietzsche’s notion of music in
the context of the new media, thus testifying to its undiminished significance.

Keywords: Klangintellektualität, Musikalisches Denken, Sonantik

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Rüdiger Görner, Queen Mary University of London,
School of Languages, Linguistics and Film, Department of Modern Languages and
Cultures, Mile End Road, GBR–London E1 4NS, 

Peter Lang                                                         Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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