Gerhard Stäbler - Kunststiftung NRW

Die Seite wird erstellt Pia Strauß
 
WEITER LESEN
Gerhard Stäbler - Kunststiftung NRW
Gerhard
Stäbler
��   Ein Tag für Gerhard Stäbler
Gerhard Stäbler - Kunststiftung NRW
Ein Tag für Gerhard Stäbler

Gerhard
Stäbler
��
��.Sept.
����
Rautenstrauch-Joest-Museum Köln
Kunst-Station Sankt Peter Köln
Liebe Freundinnen und Freunde
von Gerhard Stäbler,
verehrtes Publikum,
Gerhard Stäbler hatte am 20. Juli Geburtstag. Heute feiern wir das
ausgiebig in der Musikstadt Köln in dem musikliebenden Bundesland
Nordrhein-Westfalen dank der Förderung der Kunststiftung NRW mit
einem Festakt und drei weiteren Konzerten mit zahlreichen Urauffüh-
rungen. Unser Ein Tag für Gerhard Stäbler 70 ist ein ausgewachsenes Ein-
tagesfestival geworden. Alle heute aktiven Menschen – Komponist*innen,
Musiker*innen, Ensembles und Autor*innen – haben nach kurzem Blick
in ihre Terminkalender spontan ihre Mitwirkung zugesagt. Die Volkshoch-
schule Köln lässt uns in ihrem Forum im Rautenstrauch-Joest-Museum zu
Gast sein, am Nachmittag sind wir es in der Kunst-Station Sankt Peter. Da-
für danke ich allen ganz herzlich!

Mit neuen Werken von Gerhard Stäbler und Hommagewerken für Gerhard
Stäbler beschenken wir uns selbst mit einem Kaleidoskop aktueller Kom-
positions- und Performancekunst. Der renommierte Medientheoretiker
und Künstler Peter Weibel verortet Gerhards Schaffen ästhetisch-gesell-
schaftlich, Wolfgang Korb erinnert an Gerhards Anfänge und auf Stefan
Frickes Laudatio dürfen wir gespannt sein. »Hits« aus Gerhards umfang-
reichem Schaffen dürfen dabei nicht fehlen. Und obwohl Gerhard nie die
Nähe einer Hochschule als Kompositionslehrer von sich aus gesucht hat, ist
sein Einfluss auf die jüngere Generation unüberhörbar. Die heutige »Dies-
seitigkeit« ist ohne Fluxus, politischem Diskurs und performativer Grenz-
überschreitung gar nicht denkbar, also der Generation Gerhard Stäblers,
der die Frage »Wofür komponieren Sie eigentlich“« (Hansjörg Pauli, 1969)
noch schlaflose Nächte bereitet hat.

Das Werk weiß natürlich mehr über seine Entstehungsbedingungen als
sein Autor. Wir müssen nur gut genug fragen, um auf unsere Lebensrealitä-
ten Antworten zu erhalten. Gerhard Stäbler schreibt genau solche Werke,
die uns Antworten geben können. Denn sie befinden sich bei aller Poesie

                                   02
immer im Stadium der Selbstkritik und reflektieren ihre Entstehungsbe-
dingungen mit. Daher sind sie avantgardistisch – im Hier und Jetzt. Also
ein Widerspruch zur Gegenwart und dadurch ein Einspruch gegen ein
Festhalten an sinnentleerten Konventionen, nach Ernst Bloch der Inbe-
griff des Spießertums, und für ein zugewandtes, achtsames Miteinander.
Wir alle können Künstler sein, wenn wir es als Entscheidung zulassen. Das
ist Gerhard Stäblers Einladung an uns durch sein umfangreiches Werk.

Wir lernen: Nie die Segel streichen, egal, wie stark der Wind von vorne
bläst. Ich wünsche uns und ich wünsche Gerhard überraschende, katharti-
sche und mitreißende Klangfluten voller Stürme und Stille – heute und in
Zukunft. Mach’ so weiter, ich mache mit!

Achim Heidenreich
[Künstlerischer Leiter Ein Tag für Gerhard Stäbler 70]

Achim Heidenreich, nach kaufmännischer Lehre Zweiter Bildungsweg. Studium der Musik-
­wissenschaft, Komparatistik und Philosophie in Mainz und Frankfurt. Magisterarbeit zu
Wolfgang Rihms Musiktheater, Dissertation zu Paul Hindemiths sieben Kammermusiken.
Forschungsaufenthalt an der Yake University. Tätigkeiten: u. a. Künstlerischer Produktions­
leiter und Dramaturg der musica viva des BR , Projektentwickler und Produktionsleiter
am ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Leiter des Masterstudiengangs Inter-
pretation zeitgenössischer Musik in Karlsruhe, Künstlerischer Leiter des Festivals ZeitGenuss
Karlsruhe sowie des satellitengestützten Orgeloktetts Organum aus acht europäischen Kathe-
dralen, Feuilleton Musik FAZ , Hochschullehrer. Seit 2018 Leiter des Kulturamts der Wart-
burg-, Luther- und Bachstadt Eisenach/Thüringen, u. a. dort Initiator und Leiter des Eise­
nacher Kom­positionspreises und Musikfestivals Sinfonisches Wochenende. Zahlreiche Ver­
öffentlichun­gen zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.

                                              03
Jeder Algorithmus ist politisch
Gerhard Stäbler zum 70. Geburtstag
Grußwort von Peter Weibel
In seinem berühmten Buch Was ist Literatur? von 1947 hat Jean Paul Sartre
das Verhältnis der Künste zur Politik definiert und dabei die These aufge-
stellt, dass nur die Literatur eigene ästhetische Werte besitzt, die auch poli-
tisch wirksam sein können, also nur die Literatur engagiert agieren könne.
Sartre wies darauf hin, dass es für die Literatur grundlegende Fragen zu
beantworten gilt: Was ist Schreiben? Warum schreiben? Für wen schreibt
man? Aus der Beantwortung dieser Fragen ergibt sich das soziale Engage-
ment der Literatur. In Deutschland gibt es allerdings seit den späten 50er
Jahren Musiktheorien, die im Kreis um Theodor W. Adorno entstanden
sind, von Hans G Helms bis zu Heinz-Klaus Metzger, die Sartre widerspre-
chen und die Neue Musik auch als politisches Statement interpretieren.
Nicht nur Texte, sondern auch Partituren können politisch sein.

Wenn sogar jedes Rezept politisch ist, wie die kritische Fernsehköchin
Sarah Wiener aufgrund der Verwüstung unseres Planeten zwecks Fleisch­
erzeugung zu Recht behauptet, dann spiegelt sich in diesem Satz auch die
politische Haltung des 1949 in Wilhelmsdorf bei Ravensburg geborenen
Komponisten Gerhard Stäbler wider. Stäbler steht in der einmaligen Tra-
dition einer kritischen Neuen Musik. Jeder Text, jede Partitur, jede Rezep-
tion kann auch politisch sein. Wir wissen von Bertolt Brecht, sogar ein Ge-
spräch über Bäume konnte politisch sein. Als Leiter des ZKM | Zentrum
für Kunst und Medien Karlsruhe freut es mich daher sehr, dass eines der
zentralen medialen Werke von Stäbler mit unserer Unterstützung an un-
serem Haus 1998 realisiert und auch als Compact Disc beim renommierten
Label Schott Wergo produziert werden konnte. In Karas.Krähen für Ton-
band und traditionelle japanische Instrumente – mit der Mundorgel Sho-
als klanglichem Zentrum – spürt Stäbler denjenigen Bildern nach, die sich
die Menschen im Osten und im Westen von den Rabenvögeln, die immer
wieder in Märchen und Mythen erscheinen, gemacht haben und machen.
In dem Tonbandzuspiel sind die Schreie Tokioter Raben musikalisch in-
tegriert. Das Motiv des Raben ist berühmt geworden durch das Gedicht
The Raven von Edgar Allan Poe von 1845. Poe hat als Dichter gearbeitet wie

                                     04
ein Komponist. Er hat versucht, durch die Klangform der Wörter und der
Verse, das heißt durch die musikalische Form, die Sinnform zu erzeugen.
Deswegen beschreibt er in seinem Text The Philosophy of Composition von
1846 die Methode, wie er das Gedicht The Raven verfasst hat. Er wollte vor
allem, dass das Wort »Nevermore« wegen seines Klanges mehrmals wieder-
holt wird. Was könnte der Anlass der Wiederholung sein? Ein Papagei?
Aber ein Papagei ist nicht so unheilschwanger und attraktiv wie ein Rabe.
Und damit ein Rabe auf der kompositorischen Szene erscheint, aus rein
klanglicher Notwendigkeit, muss es einen anderen Anlass geben. Und was
wäre so ein schwarzer Anlass für einen schwarzen Raben? Der Tod einer
geliebten Frau, behauptet Poe. Poe erklärt also, wie seine klangkompositori-
sche Methode den semantischen Fluss seines Gedichtes gesteuert hat.

Ähnlich verfahren große Komponisten. Sie sind Gestalter von Visionen
und Utopien. Aber sie sind auch Kritiker und Ankläger der Wirklichkeit.
Stäbler gestaltet und mahnt zugleich. Er gestaltet das Gegenteil von Musik
und Klangkunst, aber auch das Gegenteil von Lärm, nämlich Schweigen.
John Cage hat 1961 seinen ausgewählten Texten zur Musik den provokan-
ten Titel Silence (Schweigen) gegeben. Die Emanzipation der Pause, die
Anton Webern eingeführt hat, wurde von Cage paradoxerweise zum Ge-
neralbass der Musik: Schweigen statt Klang. Damit war aber klar, dass in
diesen Raum der klanglichen Leere andere Töne eindringen sollten, keine
Töne mehr von Musikinstrumenten, sondern Töne von Alltagsgegenstän-
den, von elektronischen Medien wie Radio und Oszillatoren und von der
Umgebung. Das Schweigen konnte also als Aufstand gegen die Musik der
Bourgeoisie interpretiert werden oder wie Christa Wolf in ihrem Roman
Kassandra das »Schweigen als nützliche Waffe« bezeichnete. Deshalb spielt
in Stäblers Musiktheater Cassandra Complex (1993/1994) die Mundorgel Sho-
eine zentrale Rolle. Komponieren ist hier ein unmittelbar politisches und
performatives Rezept. In einem harmonischen Steinbruch bewegt sich
Stäbler im Bereich des Sextenzirkels (das Sextintervall reguliert die tona-
len Zusammenhänge von dem österreichischen Komponisten Hanns Eisler,
dem von Arnold Schönberg wenig gemochten Schönberg-Schüler, der mit
Theodor W. Adorno ein Buch Komposition für den Film 1947 publiziert hat.
Eislers gelebten Spagat zwischen avancierter Kompositionstechnik und
Engagement wird von Stäbler durch sein medial-performatives Fortschrei-

                                    05
ben der Fluxus-Bewegung im Geist von George Brecht und Joseph Beuys
verwirklicht. Stäbler konstruiert keine Wirklichkeiten, sondern sieht sich
selbst als Teil einer medial durchwirkten Wirklichkeit. Im Gegensatz zum
landläufigen Glauben trennt Wirklichkeit und Medien ein Graben. Wir
können allerdings mittels Hypothesen und Thesen, mittels Kunstwerken
und Formeln diesen Graben einhegen und zwischen Wirklichkeit und
Medien im Sinne von Jean Paul Sartres Theorie des Engagements Brücken
schlagen. Von Poe haben wir gelernt, dass seine Kompositionsmethode
eigentlich ein Algorithmus ist. Denn alles – auch Rezepte – sind nur Al-
gorithmen, nämlich Anweisungen, wie Schritt für Schritt ein Ziel erreicht
wird aus einer finiten Menge von Elementen und einer finiten Menge
von Regeln. Der Algorithmus, die Partitur, das Rezept, die Regeln – vom
Kopf auf die Füße gestellt: Das ist Gerhard Stäblers Credo auch in seinem
70. Lebensjahr. Gratulation!

Univ.-Prof. Dr. h.c. mult. Peter Weibel
[Mitglied der Akademie der Künste NRW]

Peter Weibel, Künstler, Kurator, Kunst- und Medientheoretiker, wurde 1944 in Odessa ge-
boren. Nach dem Studium der Literatur, Film, Mathematik, Medizin und Philosophie in Paris
und Wien sowie nach internationalen Lektoraten und Gastprofessuren seit 1976 war er Profes-
sor für Fotografie an der Gesamthochschule Kassel (1982–85), Associate Professor für Video und
digitale Kunst in Buffalo (1984–89), Gründungsdirektor des Instituts für Neue Medien an der
Städelschule in Frankfurt a.M. (1989–94) sowie Professor für visuelle Mediengestaltung an der
Universität für angewandte Kunst in Wien (1984–2011). Er war tätig als künstlerischer Berater
der Ars Electronica, Linz (1986–95), Österreich-Kommissär der Biennale von Venedig (1993–99),
Kurator der Sevilla Biennale (BIACS3, 2008) und der Moskau Biennale für zeitgenössische
Kunst (2001) sowie künstlerischer Leiter der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum in
Graz (1993–98). Seit 1999 ist er künstlerisch-wissenschaftlicher Vorstand des Zentrums für Kunst
und Medien (ZKM) in Karlsruhe und Leiter des Peter Weibel Forschungsinstituts für Digita-
le Kulturen an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Website: www.peter-weibel.at.
Kunst braucht das Gegenüber
Gerhard Stäbler zum Siebzigsten
Wolfgang Korb

Wir sind fast gleichaltrig und kennen uns seit mindestens achtundzwan-
zig Jahren. Wahrscheinlich trafen wir uns erstmals bei den Donaueschin-
ger Musiktagen 1991, anlässlich der Uraufführung von Co – wie Kobalt, der
Musik für Kontrabass solo und großes Orchester. Den kobalt- oder auch
kobold-artigen Solopart hatte Gerhard dem Ausnahmemusiker Stefano
Scodanibbio für seine spezielle Instrumentaltechnik »auf den Leib« ge-
schrieben. Stefano, den ich im Jahr zuvor beim Festival Musica in Stras-
bourg zum ersten Mal gehört oder besser »erlebt« hatte, wurde nach der
zweiten Begegnung in Donaueschingen dann bald zu einem meiner engs-
ten Musikerfreunde. Fortan besuchte ich regelmäßig die von ihm 1983 ge-
gründete Rassegna di nuova musica in seiner Heimatstadt Macerata. Gerhard
war bei diesem schönen Festival allerdings schon 1988 aufgetreten – als Or-
ganist und Komponist.
Inspiriert vom außerordentlichen Kontrabassspiel Stefano Scodanibbios
komponierte Gerhard 1989/90 seine Musik für Kontrabass solo und großes Or-
chester. Und wenig später (1993) resultierte aus dieser Musikerfreundschaft
dann das Streichtrio Abschiede – geschrieben im Auftrag von Stefano Sco-
danibbio, mit einer Widmung an Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn.
Abschiede war wiederum eine von mehreren Vorstudien zu Gerhards 1994
komponiertem großen Musiktheaterwerk CassandraComplex nach der Er-
zählung Kassandra von Christa Wolf.

Vieles, wahrscheinlich das meiste, hängt im künstlerischen Schaffen auf
oft subtile und erst im Nachhinein erkennbare Weise miteinander zusam-
men. Das gilt nicht nur für Gerhard Stäbler, aber für ihn sicher in beson-
derem Maße, sozusagen »par excellence«: seine enge Zusammenarbeit mit
anderen Musikern (als Komponist ebenso wie als Performer und Improvi-
sator), sein ausgeprägtes Interesse an Weltliteratur mit bedeutsamer, huma-
nistischer Botschaft, seine immer wieder konstatierte Lust am Experiment,
seine Vorliebe für die rationale Konstruktion ohne Vernachlässigung der
Emotion – all diese künstlerischen Eigenschaften gehören zusammen und
sind untrennbar verbunden mit Gerhards menschlichen Qualitäten, bei

                                   07
denen das Bewusstsein für die elementare Bedeutung des »Gegenüber«, des
(generalisierten) »Anderen«, und damit die Fähigkeit zur Freundschaft, im
Vordergrund stehen. Über die Jahre hat sich unsere Freundschaft entwi-
ckeln und festigen können, vor allem durch vielfältige Zusammenarbeit
für Programme, Produktionen und Veranstaltungen von SR 2 KulturRadio.
Darum versuche ich nun auch gerne, ihn als Künstler zu porträtieren,
selbst wenn ich letztlich nur einen Bruchteil seines mittlerweile fast vier-
hundert Werke zählenden Oeuvres kennengelernt habe.

Vor zwanzig Jahren. also zu Gerhards Fünfzigstem, schrieb ich für die
ihm gewidmete Publikation LandMarks/Earmarks (ConBrio Verlag), einen
Beitrag über »Hörkunst-Aspekte in Gerhard Stäblers Arbeit mit elektro-
nischen Mitteln«. Das hing damit zusammen, dass ich damals beim Saar-
ländischen Rundfunk unter anderem als Redakteur für dieses schöne
Experimentierfeld »HörKunst« tätig war. Den letzten Abschnitt meines
Beitrags, das Fazit, möchte ich hier zitieren:
»Gerade weil er bei der Arbeit mit elektronischen Mitteln in mancher
Hinsicht freier ist – befreit von den Fesseln musikalischer Tradition, von
den klanglichen Beschränkungen akustischer Instrumente – legt Gerhard
Stäbler Wert darauf, das Ohr zur ultimativen Instanz für die Bewertung des
Klangergebnisses zu machen: Klangkunst wird zur Hörkunst!«

Heute möchte ich ergänzend bemerken, dass sich Gerhard auch in seiner
kompositorischen Arbeit für akustische Instrumente (in Solo-, Ensemb-
le-, Orchester- oder Musiktheater-Werken) längst befreit hatte von »den
Fesseln musikalischer Tradition«. Dem Geräuschanteil bei der Klanger-
zeugung kommt in seiner Musik oft konstitutive Bedeutung zu, und die
jeweilige Klangsprache steht stets im Dienste eines kompromisslosen mu-
sikalischen Ausdrucks.
Wer etwa die kammermusikalischen Werke Gerhard Stäblers unter dem
Gesichtspunkt der Besetzung betrachtet, entdeckt schnell einige bevor-
zugte Instrumente: an erster Stelle steht die menschliche Stimme (und da
wieder vorzugsweise der Sopran) und dann sind es vor allem Schlagzeug
(Percussion), Akkordeon (auch die japanische Mundorgel Shô) sowie Kla-
vier. Aber daraus lassen sich kaum Rückschlüsse ziehen auf die jeweilige
Klangsprache einer Komposition, weil nämlich die genannten Instrumente

                                    08
oft kombiniert werden mit allen denkbaren oder undenkbaren Klang-
bzw. Geräusch-Erzeugern, wie zum Beispiel »Jahrmarktströte«, »Spieldose«,
»Feuer­wehrtrucks«, Alufolie, tropfende Eisblöcke und viele andere Alltags-
Geräte oder -Materialien. Die Auswahl solcher »Zusatzinstrumente« ist da-
bei jedoch nie willkürlich, sondern verweist immer auf die jeweils inten-
dierte künstlerische »Botschaft«.

Gerhard Stäblers Kunst richtet sich an diverse Rezipienten, vom klassi-
schen Konzertpublikum über Schulklassen bis hin zu »zufälligen« Passan-
ten im öffentlichen Raum, sei es auf einem Platz oder in einem U-Bahnhof
– in jedem Kontext aber sucht sie die Wahrnehmungssinne der Hörer/Zu-
schauer zu schärfen. Dazu dient nicht zuletzt auch die von Anfang an (seit
den siebziger Jahren) immer wieder von ihm praktizierte »Performance«
(solistisch oder auch im Duo mit seinem Partner Kunsu Shim). Deren thea­
tralische oder stoische Dynamik: vom Flüstern bis zum ekstatischen Schrei,
vom gemessenen Durchschreiten eines Raumes bis zur quasi meditativen
Beschäftigung mit klingenden oder auch duftenden Materialien, vermag
auf ganz eigene Weise – sei es als formspendendes Ritual oder als reinigen-
de Irritation – innere Räume zu schaffen für die sinnliche Wahrnehmung
und damit für Auseinandersetzung mit Kunst.

Gerhard Stäblers Kunst ist mir so nah und so wichtig, weil sie sich in erster
Linie einem sozial-politischen Impetus verdankt: Das »Ich« braucht den
»Anderen« (das »Gegenüber«), um zu sich selbst zu finden.
Ich möchte schließen mit einem schönen und kryptischen Satz des
deutsch-koreanischen Philosophen und Autors Byung-Chul Han, den ich
erst durch Gerhard kennengelernt habe:
»Der Schmerz ist der Riss, durch den sich das ganz Andere ankündigt.«

Wolfgang Korb, Musikwissenschaftler und Redakteur. Studium der Musikwissenschaft,
der deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft in Saarbrücken. Ab 1985 Redakteur beim
Saarländischen Rundfunk, 1993–2014 Leiter der Abteilung Kammermusik und Neue Musik im
SR 2 Kultur-Radio. Arbeit als künstlerischer Sprecher, u. a. im Format Sprach-Klang-Fantasie.

                                            09
Panoptische Erzählungen
Festakt

11 Uhr Rautenstrauch-Joest-Museum
Kulturen der Welt

Gerhard Stäbler [*1949]
STECHUHR?!
Aktion für fünf (oder mehr) Pianisten [2019]
URAUFFÜHRUNG
Auftragswerk von Ein Tag für Gerhard Stäbler 70
Gefördert durch die Kunststiftung NRW

Begrüßung
Dr. Achim Heidenreich
Künstlerischer Leiter

Grußworte
Csaba Kézér
Musikreferent der Kunststiftung NRW
Henk Heuvelmans
Direktor der Gaudeamus Stiftung (Niederlande)

Gerhard Stäbler
… strike the ear …
für Streichquartett [1987/88]

Laudatio
Prof. Stefan Fricke
für Gerhard

                                   10
Kunsu Shim [*1958]
luft. inneres
für vier Streicher [2019]
U RAUFFÜHRUNG
Auftragswerk von Ein Tag für Gerhard Stäbler 70
Gefördert durch die Kunststiftung NRW

Gerhard Stäbler
- - ] erzählen …
Ein panoptisches Streichquartett [2018/2019]
U RAUFFÜHRUNG
Auftragswerk von Ein Tag für Gerhard Stäbler 70
Gefördert durch die Kunststiftung NRW
I. AUSEINANDERGEZWUNGEN
I I. ZUSAMMENGEZWUNGEN
I I I. SICH MITEINANDER REALISIEREN

Minguet Quartett
Ulrich Isfort [1. Violine], Annette Reisinger [2. Violine],
Aroa Sorin [Viola], Matthias Diener [Violoncello]

Paulo Alvares, Nicolaus Kuhn, Kunsu Shim,
Gerhard Stäbler, Roland Techet [Klavier]

Anschließend:
Empfang für Gerhard
im Foyer des Rautenstrauch-Joest-Museums Köln

                                      11
Gerhard Stäbler
STECHUHR?! [����]

Der Aktion »STECHUHR?! « für fünf oder mehr Pianisten liegt ein fikti-
ver QR -Code zugrunde, der der Partitur vorangestellt ist. Er ist Basis für
den Verlauf der Komposition, bei der mindestens drei Spieler an den Tasten
und zwei Spieler auf den Saiten in extremer Geschwindigkeit und großer
Lautstärke agieren. Der Partitur vorangestellt ist ein Zitat aus dem Text
Entfremdung des Philosophen Byung-Chul Han, der parallel zur Schlag-
werkaktion – ad libitum – äußerst scharf und möglichst stark, dabei jedoch
stimmlos rezitiert werden kann.
                                                   [Gerhard Stäbler]

Im neoliberalen Regime findet die Ausbeutung nicht mehr als Entfrem-
dung und Selbst-Entwirklichung, sondern als Freiheit, als Selbst-Verwirk-
lichung und Selbst-Optimierung statt. Hier gibt es nicht den Anderen als
Ausbeuter [und somit auch keine Stechuhr!], der [bzw. die] mich zur Arbeit
zwingt und mich von mir entfremdet. Vielmehr beute ich mich selbst frei-
willig in dem Glauben aus, dass ich mich verwirkliche.
                                   [Byung-Chul Han, aus Entfremdung.
                                    Einschübe von Gerhard Stäbler]

                                   12
Gerhard Stäbler
… strike the ear… [����/����]

Stellen sich vier Menschen – Rücken an Rücken – zu einem Kreis zusam-
men, ist ihr Blick offen. Aus der Mitte sehen sie das, was sich nur zu halten
vermag durch lärmende Ignoranz und das, was keimt, sich immer neu ent-
faltet … bis zum Äußersten … an Kraft verliert … und erstarrt …
Gäbe es (dann) nur Menschen, die in der Mitte die Köpfe zusammenstreck-
ten und sich – auf Geheiß und selbst – das Sehen nähmen!
Was könnten sie? Mit Köpfen gegen Köpfe rennen, wenn sie spürten (vo-
rausgesetzt, ihre Gefühle sind noch nicht völlig verdorben), dass sich um
sie Neues hervorsucht, atmet, wächst … Es müsste ausdörren, verwesen …
… doch lieber bequemt(e) man sich im Mief der Mitte und stempelt(e) Se-
hende zu Tätern …
Die Spieler des Quartetts wirken als solche, die sich gegenseitig – Schulter
an Schulter gleichsam – Rückendeckung geben, dadurch offen sind und
öffnen könn(t)en.
                                                      [Gerhard Stäbler]

                                    13
Kunsu Shim
luft. inneres [����]

bei der komposition luft. inneres wollte ich – wie in den anderen neuen kom-
positionen von mir – eine imaginäre natur, jedoch eine natur in bewegung
schaffen.
wenn ich im wald bin, spüre ich vor allem seinen atem. der stoffwechsel der
pflanzen ist wie ein mikrobiologisches labor. dieses labor ist nicht sicht-
bar, aber es bestimmt das leben der pflanzen. in diesem lebensraum steigen,
sinken, dampfen, blubbern, zerplatzen mikromolekulare partikel wie in
einem chemielabor, jedoch alles in einem unhörbaren bereich.
die vorstellung eines solchen bewegten raumes, der akustisch an der grenze
des hörbaren liegt, war der ausgangspunkt und die aufgabe der komposition
luft. inneres.
das musikhören ist jedoch keine vorstellung von bildern, sondern man
sollte sich im fluss des klanges treiben lassen. man sollte sich selbst wu-
chern lassen. man sollte schließlich eine pflanze sein, wobei man ein teil
ihres stoffwechsels wird. es ist das reale, das die musik als ganzes ausmacht.
es ist ein raum alles hörbaren. in diesem raum setzt sich das hörbare in
verbindung mit dem unhörbaren. das bild schließt sich und öffnet sich
und macht die musik zu etwas lebendem, das sich unaufhaltsam verändert.
bei luft. inneres versuche ich ein bild des sich kontinuierlich variierenden
hierseins. ein bild des wachstums, wie das wesen von vegetationen. alle ge-
danken, die mir für die entscheidung der definition der verschiedenen pa-
rameter in dieser komposition wichtig waren, kommen aus der idee dieses
bildes.
                                                               [Kunsu Shim]

                                     14
Gerhard Stäbler
– –] erzählen… [����/����]

Das panoptische Streichquartett – – ] erzählen … ist mein zweites Streich-
quartett, entstanden 30 Jahre nach … strike the ear … Während sich dieses
erste Streichquartett mit der beständigen Veränderung des »status quo« be-
fasst und musikalisch entfaltet, wie sich gegebene Strukturen durch kaum
merkliche, subkutane Transformationen zu neuen Formen entwickeln,
sich schließlich etablieren und zu einem nächsten »status quo« verknoten,
der sogleich wiederum aufgebrochen werden will, befasst sich das neue
Streichquartett musikalisch mit dem sich beschleunigt entwickelnden
neo-liberalen Regime eines Dataismus, der uns emotional äußerst »smart«
in gefügige Objekte des angeblich selbst erwünschten Konsums zersplit-
tern will, zu dem wir nur noch »like«, also »Amen« sagen (sollen).
– – ] erzählen … versucht mit der alt-ehrwürdigen, aber dennoch sehr offe-
nen Besetzung von vier Streichern dem gegenwärtigen drohenden(?), nein:
schon extrem effizient gewordenen, unsere Wahrnehmung korrumpie­
renden Panoptikum zu trotzen und während des Spiels unsere Sinne in
alle Richtungen zu »spitzen«, um Wege zu einem »beglückenden Zusam-
mensein« (Byung-Chul Han, Psycho-Politik 2014) unterschiedlich(st)er, be-
stimmt auch gegensätzlicher Wesen zu »erhören«.
                                                    [Gerhard Stäbler]

                                   15
Minguet Quartett. Gegründet 1988. Weltweite Konzerttätigkeit (2018
und 2019 Musikverein Wien, South Bank Centre London, Festival d’Automne
Paris, Lincoln Center New York, Berliner Philharmonie, Elbphilharmonie
Hamburg, The University of Hong Kong, Tongyeong International Music
Festival Korea u.v.m.). Gesamteinspielungen der Streichquartette von Wolf­
gang Rihm, Peter Ruzicka, Jörg Widmann, York Höller, Felix Mendelssohn
Bartholdy, Josef Suk und Heinrich von Herzogenberg. Diapason d’Or 2015
für Rihms Et Lux (gemeinsam mit dem Huelgas Ensemble). Als Soloquar-
tett zu Gast bei den Rundfunksinfonieorchestern DSO , des SR, hr und
WDR sowie dem Brucknerorchester Linz. 2018 Dozententätigkeit als En-
semble-in-Residence an der Hochschule für Musik und Tanz Köln.

Stefan Fricke [Musikwissenschaftler und Redakteur]. Studium der
Musikwissenschaft und Germanistik in Saarbrücken. 1989 Mitbegründer
des auf Literatur zur zeitgenössischen Musik spezialisierten Pfau-Verlages.
Zahlreiche Publikationen zur Neuen Musik und zu Fluxus; (Mit-)Heraus­
geber der Schriften von u. a. Gottfried Michael Koenig, Hans G Helms,
Konrad Boehmer, Wolfgang Hufschmidt, York Höller, Theo Brandmüller,
Robert HP Platz, Günther Becker. Mehrfach Dozent bei den Internationa-
len Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt. 2007 Leitung des Studios für
Akustische Kunst bei WDR 3. Seit 2008 Redakteur für Neue Musik/Klang-
kunst bei hr2-kultur. Seit 2017 Honorarprofessor an der Hochschule für
Musik Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Paulo Alvares [Klavier]. Studium in Sao Paulo, Texas und ab 1988 bei
Aloys Kontarsky in Köln. 1990 Kranichsteiner Musikpreis. Seit 1997 Do-
zent für Improvisation, Klavier und Liedbegleitung-Improvisation an der
Hochschule für Musik und Tanz Köln. 1999 Gründung des Ensembles für
Improvisation und aleatorische Musik (EIAM ). Regelmäßige Auftritte als
Solist sowie als Ensemblepianist mit WDR Sinfonieorchester, Ensemble
Musikfabrik u. a. CD -Aufnahmen des Klavier-Gesamtwerks von Mauricio
Kagel und Gerhard Stäbler.

Nicolas Kuhn [Komponist und Dirigent]. Siehe Seite 24

                                   16
Kunsu Shim [Komponist und Performer]. Kompositionsstudium bei In-
yong La (Seoul), Helmut Lachenmann (Stuttgart) und Nicolaus A. Huber
(Essen). Prägende Zusammenarbeit mit Gerhard Stäbler seit den 1990er
Jahren. Regelmäßige Gastspielreisen nach Japan, Korea, Norwegen, Portu-
gal, Großbritannien sowie in die USA und nach Südamerika. Kompositi-
onsaufträge seit 2011 u. a. durch Essener Philharmonie, Würzburger Phil-
harmoniker, Kunststiftung NRW, Diözese Würzburg (für den Kiliansdom)
und Ensemble Bit20/Norwegen. 2000-10 und seit 2015 gemeinsam mit Ger-
hard Stäbler Etablierung und Leitung des EarPort Duisburg.

Gerhard Stäbler [Komponist und Performer]. Studium bei Nicolaus
A. Huber (Komposition) und Gerd Zacher (Orgel) in Essen und Detmold.
Aktuelle Ur- und Erstaufführungen u. a. bei Borealis Festival und Bergen
International Festival, Festival ZeitGenuss und ZKM-Festival Piano plus
Karlsruhe, Acht Brücken – Musik für Köln, Seoul (Oil Tank Culture Park
und Eagon House), hr-Sinfonieorchester Frankfurt, WDR Köln Sinfonieor-
chester Köln, Theater Ulm, Theater Münster, Mainfranken Theater Würz-
burg, Norske Opera Oslo, Landestheater Linz. Regelmäßige Gastspielrei-
sen als Komponist, Lehrer und Performancekünstler nach Japan, Korea,
Norwegen, Portugal, Großbritannien sowie in die USA und nach Südame-
rika. 2000–10 und seit 2015 gemeinsam mit Kunsu Shim Etablierung und
Leitung des EarPort Duisburg als Ort für experimentelle Musik und Be-
gegnung zwischen den Künsten.

Roland Techet [Dirigent]. Dirigierstudium in Stuttgart. Ab 1997 Di-
rigent und Solorepetitor am Staatstheater Gärtnerplatz. 2001-05 Kapell-
meister der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, hier u. a.
Uraufführung von Mauricio Kagels Theaterkonzert. 2008 Gründung des
Kammerchors anima mundi. Produktionen in Düsseldorf im Rahmen des
Heine-Jahres 2006 (Schönheit der Schatten mit Werner Schroeter), des Schu-
mann-Jahres 2010 und bei CAGE 2012 (mit Gerhard Stäbler und Kunsu
Shim). 2013-15 Kapellmeister am Theater Augsburg. Einladungen zu Gast-
dirigaten und Einstudierungen bei Nederlands Opera Amsterdam, WDR ,
Oper Wuppertal, Duisburger Sinfoniker, Beethoven-Orchester Bonn u. a.

                                   17
Schatten. Träume
Hommage an Gerhard Stäbler

Konzert des IEMA-Ensemble ����/��
Masterstudiengang »Internationale Ensemble Modern
Akademie« an der Hochschule für Musik und Darstellende
Kunst Frankfurt am Main

15 Uhr Kunst-Station Sankt Peter Köln

Franz Ferdinand August Rieks [*1998]
Strom und Gegenstimme
für Ensemble [2019]
URAUFFÜHRUNG
Auftragswerk von Ein Tag für Gerhard Stäbler 70
Gefördert durch die Kunststiftung NRW

Jennifer Walshe [*1974]
Residue
für Ensemble [2019]
URAUFFÜHRUNG
Auftragswerk von Ein Tag für Gerhard Stäbler 70
Gefördert durch die Kunststiftung NRW

Nicolas Kuhn [*1989]
Wertstoffhof
für Ensemble [2019]
URAUFFÜHRUNG
Auftragswerk von Ein Tag für Gerhard Stäbler 70
Gefördert durch die Kunststiftung NRW

> Pause <
                                   18
Gerhard Stäbler [*1949]
Den Müllfahrern von San Francisco
Ein Akronym aus akustischen Erinnerungen
an eine Reise für Ensemble [1989/90]
Version für sieben Spieler von Michael Oesterle [1996]

Gerhard Stäbler
Schatten · Träume
extrahiert aus dem Ensemblewerk
LUFTSPIEGELUNGEN [2008/09]
Warum?
In der Nacht
Traumes Wirren
Grillen

IEMA-Ensemble 2018/19
Justine Ehrensperger [Flöte], Melanie Rothman [Oboe],
Sergi Bayarri Sancho [Klarinette], Ronan Whittern [Fagott],
Ona Ramos Tintó [Horn], Emmanuelle Fleurot [Klavier],
Martin Pérénom [Klavier], Vera Seedorf [Schlagzeug],
Mishi Stern [Violine], Robin Kirklar [Viola],
Nathan Watts [Violoncello], Dominique Chabot [Kontrabass]

Musashi Baba [Dirigent]

                                  19
Franz Ferdinand August Rieks
Strom und Gegenstimme [����]

In meinen Begegnungen mit Gerhard Stäbler als Kompositionsstudent so-
wie als Interpret seiner Musik hat mich schon als 15-jährigen Stipendia-
ten seiner Winterakademie Schloss Benrath die Energie und Herzlichkeit
mitgerissen, die eine Begegnung mit Gerhard Stäbler ausmacht. Es ist die
exponierte Energie, vor allem in Gerhard Stäblers eigenen Performances,
die auch mich antreibt und erfrischt. Insofern schwimmen wir im selben
Strom, einer grellen, gleißenden, zielgerichteten und doch schwebenden
Linie, gegen die ich einen energetischen Kontrapunkt setze. Diese Gegen-
stimme strebt nach Eigenständigkeit, welche sie über die Profilierung ihrer
aggressiv-filigranen Körperlichkeit erhält, einem kompositorischen Aus-
druck, der für mich als Haltung eher mein Instinkt und seine Bändigung
in Form einer nun prozesshaften Neuausrichtung ist. Als diese Unabhän-
gigkeit vom Strom empfinde ich den Komponisten Gerhard Stäbler: Ich
gratuliere Dir ganz herzlich zum 70. mit meinem Ensemblestück Strom und
Gegenstimme.
                                   [Franz Ferdinand August Rieks]

                                   20
Jennifer Walshe
Residue [����]

Gerhard Stäbler bin ich als Studentin zum ersten Mal begegnet. Er kam
auf Einladung meines Lehrers Amnon Wolman an die Northwestern Uni-
versity in Chicago, wo ich zu jener Zeit studierte. Ich werde die erste Auf-
führung, die ich von Gerhards Arbeit im Museum of Contemporary Art
in Chicago sah, nie vergessen. Riesige Eisblöcke waren hoch über der Büh-
ne aufgehängt und tropften in die Metallwannen darunter. Ich war über-
wältigt. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass ich einige Jahre spä-
ter, im Oktober 2003, im Festspielhaus Hellerau sein würde, wo Gerhards
und meine Werke in einem Konzert des englischen Ensembles Apartment
House zusammen auf dem Programm standen. Ich trat in Gerhards Stück
auf – an Drahtseilen fliegend.
                                                      [Jennifer Walshe]

                                    21
Nicolas Kuhn
Wertstoffhof [����]

Wertstoffhof schreibt eine Werkgruppe fort, die sich mit Verwaltungsbegrif-
fen in ihrer ganzen Vieldeutigkeit befasst; der Titel nimmt aber auch Bezug
auf Stäblers „Müllfahrer von San Francisco“. Als ich darüber nachdachte,
was die Arbeit von Gerhard für mich spezifisch an Gehalten transportiert,
so fiel mir zuerst eine Grundhaltung ein, die ich mit einer freundlichen,
gelassen-kämpferischen Beharrlichkeit, potenziell alles zur Kunst zu ma-
chen, beschreiben möchte. So lag der Gedanke nahe, in Wertstoffhof alles
Mög­­liche an Materialsplittern einfließen zu lassen; neben Geräuschhaf-
tem und pantomimischem Gestenrepertoire auch musikhistorisch konta-
minierten »Sondermüll«. Eine besondere Rolle kommt den Pauken zu, die
hier von allen möglichen Filterungen, (akustischen) Abfällen und konkre-
ten Materialien im wahrsten Sinne des Wortes verdeckt werden: eine Art
Konzert für vergebliche Solopauken und Ensemble.
Der Paratext einer pantomimischen Einlage – eine stumm-absurde Fort-
schreibung dessen, was wir in unserer täglichen akustischen Sortierarbeit
vornehmen (müssen) – hat einen (fast unhörbaren) Bruckner-Ausschnitt
zur Grundlage und greift eine kleine Geschichte auf, die mir Gerhard über
seine Studienerfahrungen erzählt hat.
                                                          [Nicolas Kuhn]

                                   22
Gerhard Stäbler
Den Müllfahrern von San Francisco
[����/��]
… frühmorgens – in San Francisco – weckten mich einmal Müllarbeiter
ziemlich jäh, vor allem durch ihren Wagen. Zuerst war ich verärgert, weil
er wahnsinnigen Lärm von sich gab, der sich direkt in meinen Kopf bohrte
und im Gehirn verkrampfte. In gut einer Viertelstunde löste sich aber der
Krampf, musste sich lösen, weil ich allmählich von den lauten Klängen des
Müllautos derart fasziniert war, dass ich die unfreiwillige Unterbrechung
des Schlafens vergaß. Es waren Klänge, äußerst klar konturiert, und immer
von ziemlicher Dauer: Geräusche vom hydraulischen Auffahren und Auf-
klappen der hinteren Luke und dann, während das Fahrzeug offen war, der
Sound einer – meist erschreckend reinen – großen Terz, die plötzlich in
ganz tiefe Frequenzbereiche zusammensackte …
… so etwas blieb im Gedächtnis haften, setzte sich fest, schließlich habe
ich es auch notiert, und es wurde Bestandteil der Komposition, die ich den
Müllfahrern von San Francisco widmete …
… konstitutiv für das Rhythmische sind dabei – gleichsam geheim, weil
unhörbar bzw. nicht direkt hörbar – weite Teile des Gedichtes Amerika von
Allen Ginsberg, der eine Zeitlang in San Francisco lebte. Zwei weitere Ge-
dichte, The Spider Speaks on the Need for Solidarity und The Spider’s Mantra der
schwarzen Dichterin Angela Jackson, die ich in San Francisco kennenlern-
te, werden teilweise von den Musikern rezitiert.
                                                        [Gerhard Stäbler,
                                 Aus einem Gespräch mit Frank Hilberg]

                                      23
Gerhard Stäbler
Schatten · Träume [����/��]

… I wish we were pictures on the rocks for our dreams to carry as mirrors …
                     [Mahmud Darwish aus The Earth Is Closing on Us]

IN DEN FLÜSSEN nördlich der Zukunft / werf ich das Netz aus, das du /
zögernd beschwerst / mit von Steinen geschriebenen / Schatten.
                                          [Paul Celan aus Atemwende]

Quelle der Inspiration sind zwei Zitate aus Gedichten von Mahmud Dar-
wish und Paul Celan. SCHATTEN · TRÄUME schlägt auch einen Bogen zu
Robert Schumanns Fantasiestücken für Klavier op. 12, nicht nur durch eine
Korrespondenz der Titel der einzelnen Teile (Warum?, In der Nacht, Traumes-
Wirren und Grillen), sondern auch dadurch, dass die Schumann’sche Musik
aus weiter Entfernung ihre Schatten in die Klänge selbst wirft.
                                                   [Gerhard Stäbler]

                                   24
Franz Ferdinand August Rieks [Komponist und Pianist]. Seit 2017
Kompositionsstudium bei Markus Hechtle und Wolfgang Rihm (Karlsru-
he). Als Komponist Preisträger der Berliner Philharmoniker, von Jeunesses
Musicales, Symphonieorchester des BR und International Composition
Competition New York. Absolvent des Composer Seminar Lucerne Festi-
val/Academy (Wolfgang Rihm, Olga Neuwirth) und von Ink Still Wet (Jörg
Widmann, Lothar Zagrosek). Kompositionsaufträge u. a. von Studio Mu-
sikfabrik, Kunststiftung NRW, Landesmusikrat/Kultusministerium RLP /
Villa Musica, Hoepfner-Stiftung. Auswahl für das Newcomer-Konzert der
Wittener Tage für neue Kammermusik. 2017 Debüt-CD als Pianist (Beet-
hoven, Rieks, Prokofjew). 2019 Komponistenresidenz im Beethoven-Haus
Bonn als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes.

Jennifer Walshe [Komponistin und Performerin]. Studium der Kompo-
sition bei John Maxwell Geddes (Glasgow), Kevin Volans (Dublin), Amnon
Wolman und Michael Pisaro (Evanston). Weltweite Kompositionsaufträge,
Rundfunksendungen und Aufführungen. Stipendien und Auszeichnungen
u. a. durch Foundation for Contemporary Arts New York, DAAD Berliner
Künstlerprogramm, Internationales Musikinstitut Darmstadt und Aka-
demie Schloss Solitude. Aktuelle Projekte: Aisteach, (ein fiktives Online-
Archiv zur Geschichte der Avantgarde-Musik in Irland), EVERYTHING
IS IMPORTANT (für Stimme, Streichquartett und Film im Auftrag des
Arditti Quartet) und die erfolgreich gastierende Oper TIME TIME TIME
(eine Zusammenarbeit mit dem Philosophen Timothy Morton). Professo-
rin für Performance an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst
Stuttgart.

Nicolas Kuhn [Komponist und Dirigent]. Studium der Komposition
und Orchesterleitung bei Mark Andre und Manos Tsangaris (Dresden), José
M. Sánchez Verdú und Rüdiger Bohn (Düsseldorf). Werkaufführungen u. a.
mit Ensemble Recherche, KNM Berlin, Dresdner Philharmonie, El Perro
Andaluz, Susanne Leitz-Lorey und bei Festivals wie Acht Brücken Köln,
Tonlagen Dresden, Kontraklang Berlin, Inselfestival Hombroich, Lucerne
Festival Academy, BONE Performance Art Festival Bern, Next Genera­
tion/Donaueschinger Musiktage und Münchener Biennale. 2018 Conduc-
ting Fellow der Lucerne Festival Academy mit Assistenzen bei Matthias

                                   26
Pintscher, Duncan Ward und Sir Simon Rattle. Seit 2016 Dozent an der
Musikhochschule Dresden und Leiter des dortigen Hochschulensembles
für Neue Musik.

Internationale Ensemble Modern Akademie [IEMA -Ensemble
2018/19]. Ausbildungsstätte des Ensemble Modern, gegründet 2003. Regel­
mäßige Projekte in Frankfurter Schulen, intensive Kurse im Rahmen
der Exzellenzförderung Jugend musiziert, Internationales Kompositions-
seminar sowie Angebote für professionelle Musiker auf internationalen
Meisterkursen. Schwerpunkt: Einjähriger, weltweit einzigartiger Master-
studiengang an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frank-
furt am Main, geleitet und durchgeführt von Mitgliedern des Ensemble
Modern. Über 230 Absolventen: Instrumentalist*innen, Dirigent*innen,
Klangregisseur*innen und Komponist*innen. Präsentation der Ergebnisse
durch das jeweilige IEMA -Ensemble in ca. 20 Konzerten pro Jahr im In-
und Ausland. Gefördert u. a. durch die Kunststiftung NRW und die GVL.

                                 27
LuftMärsche
Orgel und Performance

17 Uhr Kunst-Station Sankt Peter Köln

Gerhard Stäbler [*1949]
TAP
für Orgelpedal solo [1998]

Younghi Pagh-Paan [*1945]
Unterm Sternenlicht
für Orgel solo [2009]

Gerhard Stäbler
Heiß!
für Orgel [1988]

Dominik Susteck [*1977]
Zeit
(3. Satz aus Zeitfiguren für Orgel) [2014]

Gerhard Stäbler
LuftMarsch
für zwei luftbetriebene Keyboards [2001]

Hans Joachim Hespos [*1938]
Sns
für Orgel [1975]

                                28
Dominik Susteck
Endzeit
6. Satz aus Raumgestalten für Orgel) [2018]

simultan mit:

Kunsu Shim [*1958]
happy for no reason
für zwei Performer [2000]

Dominik Susteck [Orgel]

Andreas Fröhling [Orgel]

Gerhard Stäbler und
Kunsu Shim [Performance ]

                               29
Gerhard Stäbler
TA P [����]

TAP für Orgelpedal solo ist das Resultat eines Gesprächs zwischen Ger-
hard Stäbler und dem Organisten Thomas Noll. Die Komposition kommt
ohne klassische Noten aus, ist aber keine grafische Partitur, bei der es
auf Bezüge zwischen optischen Strukturen und Klang ankommt. Stäbler
schreibt Pfeile mit einer Lautstärkenangabe und jeweils zwei Ziffern. Eine
dieser Ziffern gibt die Dauer des Klangs in Sekunden an, die andere die
Anzahl der Pedale, die gedrückt werden soll. Außerdem beschränkt sich
der Spielbereich auf einen Tritonus im tiefen und einen im hohen Bereich,
nämlich C bis Fis sowie h bis f. Der Spieler, kann, wenn er möchte, Schuhe
mit gehärteten Sohlen tragen. Dadurch entstehen perkussive Effekte, wenn
der Spieler die Pedale tritt.
TAP besteht aus einer klaren Abfolge von Klängen, die sich in ihrer Länge
und Charakteristik klar unterscheiden. Dadurch kann man einen Bogen
spüren, der sich über das Werk zieht und die Einzelklänge zu einem Gan-
zen zusammenbindet. Dieses Ganze erzeugt jedoch einen eher heterogenen
Eindruck. Denn genauso gut, so scheint es, kann man die Einzelklänge für
sich wahrnehmen, für schlicht nebeneinander gestellt und dabei in ihrem
Eigenwert empfunden.
                                                        [Hanno Ehrler]

                                   30
Younghi Pagh-Paan
Unterm Sternenlicht [����]

Der zweite koreanische katholische Priester Yang-Eop Choe (1821–1861) ver-
brachte sein Leben unter schwierigsten Umständen. Die ersten Christen
in Korea wurden fast hundert Jahre lang verfolgt und viele von ihnen zum
Tode verurteilt. In dieser Situation kümmerte er sich in mehreren Provin-
zen um die neu geschaffenen koreanisch-christlichen Gemeinden. Wenn
ich an Priester Choe denke, der zeitlebens große Strecken von einer Ge-
meinde zur anderen wanderte, immer versteckt vor seinen Verfolgern, in
tiefer Nacht unter dem Sternenlicht, dann bringt mich das zu folgendem
Psalm (116, Verse 8 und 9): »Er hat meine Seele befreit vom Tode / meine
Augen von Tränen / meine Füße vom Fall. / Und wieder darf ich wandeln
vor Gott / im Lande der Lebenden.«
                                                 [Younghi Pagh-Paan]

                                   31
Gerhard Stäbler
Heiß! [����]

Heiß! ist eine Bearbeitung der Ensemblekomposition Hart auf Hart, die zwei
Jahre zuvor entstand und die Gerhard Stäbler für Orgel einrichtete. Beide
Stücke haben grafische Partituren. Heiß! besteht aus der Abbildung von
Strich- beziehungsweise Barcodes, wie sie heute an jedem Produkt ange-
bracht sind und in Form einer Abfolge dicker und dünner Striche Produkt-
informationen grafisch verschlüsseln. Sie dokumentiert eine zunehmende
Technisierung von Verkauf und Vertrieb und symbolisiert die grassierende
Kapitalisierung unserer Gesellschaft sowie die fortschreitende Technisie-
rung der Datenerfassung.
Eine Reihe von Barcodes sind in verschiedenen Größen horizontal und
vertikal nebeneinander gesetzt und bilden Folgen von dicken und dünnen
Linien, die von rechts nach links oder von oben nach unten oder jeweils
umgekehrt gelesen werden können.
Heiß! schrieb Gerhard Stäbler für die Organistin Gabriele Müller und ar-
beitete für sie Spielanweisungen aus. Diese Anweisungen definieren Aus-
führungskriterien für dicke und dünne Striche und gewisse Abfolgen die-
ser Striche. Doch ist der Komponist auch offen für andere Auslegungen
seiner Partitur.
                                                      [Hanno Ehrler]

                                   32
Dominik Susteck
Zeit [����]

Die Zeit klopft, tickt wie eine Uhr, wird gemessen. Sie zerfließt, zerrinnt,
und doch steht sie. Sie zergeht in Energie und ist nur mit Ordnung mess-
bar. Durch Meditation wird die Zeit gewaltig stark, berstend, wie der eigene
Herzschlag. Im Schnellen jagt sie sich, wird flüchtig und vergeht, als gäbe
es sie nie.
                                                     [Dominik Susteck]

Gerhard Stäbler
LuftMarsch [����]
Zwei luftbetriebene Keyboards treten in Stäblers LuftMarsch in einen in-
strumentalen Dialog, begleitet von Stimme und Atem der beiden Spieler.
Kirchenorgel, Harmonium, Akkordeon, Jahrmarkts- oder Drehorgel sind
als Besetzung ebenso möglich wie elektrisch betriebene Instrumente. In
der heutigen Version sind es die beiden Orgeln der Kunst-Station Sankt
Peter Köln.
Der Zentralton cis2 wird von beiden Spielern im Mezzoforte als unregel-
mäßiges Ostinato während des gesamten Ablaufs gepfiffen. Er dient als
Ausgangspunkt für die Ausbreitung (oder Schrumpfung) der instrumenta-
len Cluster, die sich stets im extremen fünffachen Pianissimo zwischen den
Tönen d1 und c3 bewegen. Dieses organisch freie Pulsieren wird um weitere
Klangelemente wie die Geräusche des Blasebalgs, entspanntes Atmen und
einen von den Musikern frei gewählten poetischen »LuftText«, der inhalie-
rend zu sprechen ist, angereichert. Auch hier stellt Stäbler frei, die Klänge
live zu erzeugen oder in Aufnahmen einzuspielen. Der Komposition liegt
ein strenges Taktmaß von 3 Sekunden zugrunde. Doch dieser »Marsch«
wird von den instrumentalen und menschlichen Impulsen überschrieben
und in einen lebendigen Klangpuls überführt.
                                               [Elisabeth von Leliwa]

                                    33
Hans Joachim Hespos
Sns [����]

Hespos betrachtet in seiner ersten Orgelkomposition Traces de … (1972) das
Instrument eher als einen Haufen Knochen. Schließlich stammen die ers-
ten urzeitlichen Pfeifen, die als Flöten gespielt wurden, aus Knochen des
erschlagenen Feindes, erläutert Hespos. Und solche organischen Pfeifen
leben von der Ungenauigkeit ihres Tons, der auf die individuelle Knochen-
form der Menschen zurückgeht.
Das archaische Wurzelwerk und die rohe, undomestizierte Form setzt sich
in Sns (1975) fort. Allerdings anders – oder: »neuAnders« ein Wort, das in
seinen Partituren immer wieder auftaucht. Die Orgel als Knochenberg ist
hier noch präsenter. Sie wird als reines Klapperinstrument exponiert. Das
Klappern holt Hespos vor allem aus den Pedalen, den Registern und sogar
der Holzbank des Organisten. So beginnt das Stück als eine Art Tanz der
Skelette, bis der Organist schließlich mit gewaltigen Schlägen auf die Tas-
tatur losgeht – »in der Hoffnung, dass das Kruzifix herunterfällt«, so der
Komponist. So birgt Hespos aus dem Instrument das, was er im kryptischen
Titel Sns verklausuliert: sense – Sinn.
                                                       [Barbara Eckle]

                                   34
Dominik Susteck
Endzeit [����]

Der einstündige Orgelzyklus Raumgestalten entfaltet in seinen sechs Sätzen
heterogenes musikalisches Material. Endzeit ist der letzte und mit knapp
zwanzig Minuten der längste Satz des Zyklus. Zugleich tritt er komposi-
torisch aus der dramaturgischen Zeit heraus. Seine einzelnen Elemente,
die immer wieder von langen Pausen unterbrochen werden, könnten eine
beliebige Reihenfolge annehmen. So bildet sich eine große Ungewissheit,
da alles überall auftreten kann. Es entsteht eine kompositorische „Aufhe-
bung“ der Zeit.
Trotzdem kann man sich erinnern: Eine leere Quinte, dramatische Klang-
ballungen, fantastische Akkorde. Einzeltöne verändern sich, knicken ein
oder Wabern mit unterschiedlichen Tremulantengeschwindigkeiten vor
sich hin. Wie aus dem Nichts entstehen weite Felder, deren Registrierung
changiert. Nach einiger Zeit setzt eine Melodie an, fragmentarisch. Ein fer-
nes Rumpeln. Maschinenartige Wiederholungen. Zerknautschte Klänge
mit finsterem Geräusch … Stille.
                                                      [Dominik Susteck]

                                    35
Kunsu Shim
happy for no reason [����]

there is happiness that we feel without any material stimulation.
                                                        [Agnes Martin]

happy for no reason besteht aus zwei extrem unterschiedlichen zuständen
von klangereignissen, die durch eine lange stille miteinander verbunden
sind. sie sind vielleicht vergleichbar mit einem zustand von freude: einmal
extrem nach außen und zum anderen extrem nach innen gerichtet.
                                                            [Kunsu Shim]

                                   36
Dominik Susteck [Organist und Komponist]. Geboren 1977 in Bochum.
Studium der Kirchenmusik, Musiktheorie, Komposition und Orgel an den
Musikhochschulen in Essen, Köln und Saarbrücken. Seit 2007 Organist der
Kunst-Station Sankt Peter Köln. Lehrtätigkeit an Hochschulen in Essen,
Düsseldorf, Weimar und Köln. Zahlreiche Uraufführungen von Werken
jüngerer Komponisten (Janson, Odeh-Tamimi, Pena, Froleyks, Köszeghy,
Ruttkamp, Seidl, Wozny u. a.). Überwiegend auf zeitgenössische Musik aus-
gerichtetes Repertoire (CD -Produktionen von u. a. Herchet, Hölszky, Kagel,
Ligeti, Rihm, Stockhausen und Stäbler, zum Teil in Zusammenarbeit mit
dem Deutschlandfunk). 2013 und 2014 Preis der Deutschen Schallplatten-
kritik. 2018 Schneider-Schott-Musikpreis der Stadt Mainz.

Andreas Fröhling [Organist und Kirchenmusiker]. Studium der Kir-
chenmusik und Orgel u. a. bei Gerd Zacher und Manfred Schreier (Essen).
Kreiskantor im Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid, seit 2009
Kirchenmusikdirektor. (Mit-)Initiator besonderer Konzertformen und Kon­­-
zertreihen wie Emporenkonzerte Gelsenkirchen, Festival Utopie jetzt! (in
Zusammenarbeit mit Gijs Burger an der Petrikirche in Mülheim an der
Ruhr) und Orgelfestival.Ruhr. Dozent für Orgel und Orgelimprovisation
an der Bischöflichen Kirchenmusikschule in Essen. Seit 2016 Lehrbeauf-
tragter der Hochschule für Kirchenmusik Herford-Witten (Ev. Pop-Akade-
mie).

Gerhard Stäbler [Komponist und Performer]. Siehe Seite 15

Kunsu Shim [Komponist und Performer}. Siehe Seite 15

                                   37
Spices
18.30 Uhr Kunst-Station Sankt Peter Köln

Nicolaus A. Huber [*1939]
Clash Music aus Herbstfestival
für vier Schlagzeuger [1988]

Kunsu Shim [*1958]
Langen I und III
für Sopran und Schlagquartett [2004]

Gerhard Stäbler [*1949]
KYBELE
Kassandra-Studie für vier Schlagzeuger [1993]

Nicolaus. A. Huber
Barong de Méduses
für drei Schlagzeuger [2005]

Gerhard Stäbler
HÄMMER
Aktion für vier Schlagwerker [2019]
URAUFFÜHRUNG
Auftragswerk von Ein Tag für Gerhard Stäbler 70
Gefördert durch die Kunststiftung NRW

Gerhard Stäbler
Spices (3)
für drei Schlagzeuger, Tonband –
mit dem Gestank »heilsverheißender Kriegsgebete« [2001]

                                   38
während des Konzerts:
Kunsu Shim
inserting music
für Tonband [1993]

Schlagquartett Köln
Thomas Meixner
Boris Müller
Dirk Rothbrust
Achim Seyler

Irene Kurka [Sopran]

Gerhard Stäbler [Sprecher]

                        39
Nicolaus A. Huber
Clash Music [����]

.…, und selten lärmet / Der Schall durchs offne Feld, … /…, die Lüfte wehen /
Die Zweig und Äste durch …
                                    [Friedrich Hölderlin: Der Herbst]

Clash Music ist der monochrome Kulminations- und Wendepunkt in der
Mitte von Hubers Herbstfestival für vier Schlagzeuger. Anders als es die
Besetzung vielleicht vermuten ließe, handelt es sich bei der knapp 20-
minütigen Gesamtkomposition um eine über weite Strecken (wie Huber
for­­­­muliert) »äußerst leise« Auslotung einer »insistierenden herbstlichen
Klanglandschaft«, die sich aus Friedrich Hölderlins Gedicht Herbst herlei-
tet. Huber nutzt dabei die materielle Klangvielfalt der Schlaginstrumente
– Felle, Hölzer, Metalle – als »Klangnatur«.
Clash Music wird ausschließlich auf Becken gespielt und verweigert sich
jeder auftrumpfenden Geste. Im Gegenteil: Innerhalb der Dramaturgie der
Komposition stellt sie eine Verdichtung und scheinbare Vereinfachung der
vorangegangenen polychromen und polyphonen Entwicklung dar. In einer
Höranweisung für Herbstfestival schreibt der Komponist: «Die Komposition
verzichtet auf aufrüttelnde Reklame für ihre Klangereignisse. Sie braucht
offenes, entspannt-aufmerksames, zulassendes Hören.«

                                               [Elisabeth von Leliwa]

                                    40
Kunsu Shim
LA NGEN I und III [����]

Die beiden Kompositionen mit dem Titel LANGEN entstanden im Jahr
2004 im Auftrag der Langen Foundation zur Eröffnung des Ausstellung-
hauses, das von der Sammlerin und Stifterin Marianne Langen initiiert
und von dem Architekten Tadao Ando auf der ehemaligen Raketenstation
Hombroich (bei Neuss) errichtet worden war.
Kunsu Shim ließ sich dabei von der Idee einer Musik mit architektonischen
Charakter leiten: »Die Klänge – leise und sanft und gleichmäßig fließend –
sind so konzipiert, dass sie nur als ›Klang‹ selbst zu hören sind. Ein Klang,
der sich wie ein Lichtstrahl mit dem Raum verschwisternd leicht bewegt.«

                                               [Elisabeth von Leliwa]

                                    41
Sie können auch lesen