GESUND HEITS WELT 2049 - Ein Navigator für die Zukunft - Zukunftsinstitut
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IMPRESSUM Herausgeber Roche Pharma AG Emil-Barell-Str. 1 79639 Grenzach-Wyhlen www.roche.de Redaktion Zukunftsinstitut GmbH Kaiserstraße 53 60329 Frankfurt am Main Tel: +49 69 26 48 48 9-0 www.zukunftsinstitut.de Projektleitung Dr. Elmar Dolezal (Roche Pharma) Annette Dünninger (Roche Pharma) Thomas Hugendubel (Roche Pharma) Christian Rauch (Zukunftsinstitut) Autoren Corinna Mühlhausen (Zukunftsinstitut) Dr. Daniel Dettling (Zukunftsinstitut) Gestaltung Benedikt Eisenhardt (Zukunftsinstitut) Sabrina Katzenberger (Zukunftsinstitut) Illustration Julian Horx Lektorat Franz Mayer © Roche Pharma AG, 2020 Alle Rechte vorbehalten.
INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG Bewertung des deutschen Gesundheitssystems heute 6 Eröffnungsinterview mit Erwin Rüddel und Prof. Volker Amelung 8 Einführung in die Trend- und Zukunftsforschung auf Basis der zwölf Megatrends des Zukunftsinstituts 12 HAUPTTEIL Die Patientendemokratie der Zukunft: Das Patientenwohl rückt in den Mittelpunkt 18 Willkommen im Metaversum! Eine zunehmend vernetzte und globale Welt fordert das Ökosystem Gesundheit heraus 29 Holistic Health: Das große Ganze im Blick behalten 40 Gesundheitsallianz 2049: Über Patienten, Plattformen und Partnerschaften 51 Epilog Dr. David Traub 60 Management Summary62 ANHANG Lebensläufe und Fotos der Experten und Bewertung zur Gesundheitswelt heute 66 Megatrend Map 76
Flexibel Solidarprinzip Patientenzentriert Patientenorientiert Empathisch Basierend auf nachvollziehbaren Indikationsstellungen Datenbasiert Gesundheitskompetent Hochqualitativ Interprofessionell Gerecht Individuelle Daten und Therapien Klug digitalisiert Unbürokratisch Intelligente Assistenztechnik in der Pflege Prozessoptimiert Vernetzt Innovationsgetrieben Versorgung aus einer Hand, Balance aus Patienten- und Evidenzorientierung, Performance Assessment (i.e. Zielerreichung und Effizienz) Klug organisiert Transparent
EINE WORTWOLKE ZUM GESUNDHEITSSYSTEM 2049 Mit diesen Attributen beschreiben die interviewten Experten das Gesundheits- Präzise system der Zukunft (öffentlich angestellte) Ärzte unterliegen keinem ökonomischen Druck Öffentlich finanziert Digital-unterstützt, im Netzwerk zwischen Leistungserbringern und Medizintechnik Patientenpass Präventiv
EINLEITUNG 2020 – 2049: Auf dem Weg in die Zukunft der Gesundheit Zukunft lässt sich nicht vorhersagen. Von Perikles, der zu Für viele von uns war Gesundheit bis 2020 überwiegend den großen Staatsmännern Athens im 5. Jahrhundert v. eine individuelle Angelegenheit. Vor dem Hintergrund Chr. gehörte, wird der Satz übermittelt „Es kommt nicht der Corona-Pandemie wird sie auch zur öffentlichen darauf an, die Zukunft vorherzusagen, sondern auf die Aufgabe. Innovationssprünge und Veränderungen wer- Zukunft vorbereitet zu sein.“ Im Jahr 2049 werden wir den möglich, die vorher kaum denkbar waren. Gesund- rückblickend vielleicht sagen, dass die Zukunft der Ge- heit wird individuell und öffentlich, digital und vernetzt, sundheit in diesem Jahrhundert im Jahr 2020 begonnen präventiv und personalisiert, global und lokal, effizient hat. Die Corona-Pandemie zeigte eindrucksvoll, dass wir und solidarisch. Eine medizinische Grundversorgung für Teil einer gesundheitlichen Risikogemeinschaft sind. jeden und überall braucht eine starke und solidarische Was in einem kleinen, entlegenen Ort der Welt passiert, Weltgesundheitsorganisation, eine stärker koordinie- kann unmittelbare Folgen für uns alle haben. rende europäische Gesundheitspolitik sowie effektiv funktionierende Regionen und Städte. Mit dem Blick in die Zukunft tun wir uns schwer. Doch wenn man bedenkt, dass das Jahr 1991 von heute aus Das Jahr 2020 hat gezeigt: Deutschland hat eines der betrachtet genauso weit in der Vergangenheit liegt wie stärksten Gesundheitssysteme. Der Mix aus individueller das Jahr 2049 in der Zukunft, dann relativiert sich diese Vorsorge und kollektiver Verantwortung, das kooperative sehr abstrakte Betrachtungsweise. Vielleicht sind es gar Zusammenspiel von staatlichen und privaten Akteuren nicht sprechende Pflegeroboter, die die größten Meilen- sowie das Zusammenspiel von High Tech und High Touch steine auf dem Weg zu einem neuen Gesundheitssystem als Synonym für menschennahe Vernetzungstechnologie darstellen, sondern vielmehr ein neues Rollenverständ- haben zu diesem Erfolg entscheidend beigetragen. nis aller Akteure? Wir träumen von einer Gesundheitswelt 2049, in der das Patientenwohl im Mittelpunkt steht und Doch in welcher Gesundheitswelt werden die im Jahr in dem die Träger dieses Systems gleichzeitig mehr Ver- 2020 Geborenen leben? Megatrends wie Digitalisie- antwortung abgeben und übernehmen. rung und Individualisierung fordern Leistungserbringer, Gesundheitsberufe und Patienten bis 2049 radikal her- aus. Werden wir noch zum Arzt gehen oder diktieren Al- gorithmen, wer wie lange behandelt wird? Wird es noch 6
EINLEITUNG Foto: Matthias Moeller-Friedrich Foto: Edgar Rodtmann Apotheken geben? Übernehmen Roboter die Pflege sen, wenn die Gesundheitswelt 2049 den Bedürfnissen unserer Angehörigen? Ist Gesundheit dann überhaupt der Bürger wie der Beschäftigten sowie der Umwelt ge- noch finanzierbar? Und was werden wir 2049 unter dem recht werden soll. Ein stärkeres individuelles wie kollek- Begriff Gesundheit überhaupt verstehen? Das sind nur tives „systemisches Immunsystem“ ist auf ein anderes einige der Fragen, die wir 14 Expertinnen und Experten Zusammenspiel der Akteure und Systeme angewiesen. unseres Gesundheitssystems gestellt haben. Ihnen al- Wir freuen uns auf diese Zukunft! Und Sie? len gilt unser besonderer Dank, ohne ihre Offenheit und Neugierde auf dieses Projekt und die Zukunft wäre die- Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen und bleiben ser Trendreport nicht zustande gekommen. Sie gesund! „Lebensqualität wird wichtiger als Lebenserwartung“ lau- tet eine der zentralen und überraschenden Aussagen des vorliegenden Reports. Prävention und Public Health, bis- Ihre Corinna Mühlhausen und Ihr Daniel Dettling lang Stiefkinder der Gesundheitsversorgung, werden zu tragenden Säulen eines globalen Systems. Optimismus und Offenheit prägen unsere innere Haltung. 2049 spre- chen wir nicht mehr über Digitalisierung, weil das Digitale mit unserer Realität verschmolzen ist. Gesundheit wird holistischer und umfasst auch die Themen Bildung, Klima, Mobilität, Städte und Regionen sowie gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die heutigen Gesundheitsberufe werden sich damit grund- legend wandeln und interprofessioneller organisiert wer- den. Es geht um Kooperation, Kollaboration und Kreativi- tät. Massive Investitionen in die Aus- und Weiterbildung, in Innovationen und Infrastrukturen werden folgen müs- 7
ERÖFFNUNGSINTERVIEW „Individueller, schneller, vernetzter und besser“ Zwang und Zufall brachten sie zum Thema Gesund- Gesellschaft fasziniert. Einer dieser Randbereiche war da- heit. Heute sind Erwin Rüddel und Volker Amelung von mals Medizin. Mit „Prozessorganisation im Krankenhaus“ ihrem Beruf begeistert. Der eine als Vorsitzender des fing es an. Ich war und bin immer noch überrascht, wie Gesundheitsausschusses, der andere als Vorstandsvor- groß das Potenzial ist, etwas zu verändern. sitzender des Bundesverbands Managed Care (BMC). Im gemeinsamen Interview erfahren Sie, warum sich die In welcher Gesundheitswelt werden wir im Jahr 2049 Gesundheitsversorgung schneller auf dem Land als in leben? den Städten verändern wird, die Gesundheitswelt 2049 ER: Diese Gesundheitswelt wird anders sein: individuel- anders ist als heute und was die Folgen für Leistungser- ler, schneller, vernetzter, digitaler und besser. Viele Ent- bringer und die Politik sind. scheidungen werden in Zukunft im häuslichen und priva- ten Umfeld des Patienten getroffen. 2049 wird der Pa- Meine Herren, was hat Sie zur Gesundheit gebracht? tient über Telemedizin, Künstliche Intelligenz und eine Erwin Rüddel (ER): Die Entscheidung fiel eigentlich über entsprechende Triage in die richtige Versorgung geleitet. meinen Kopf hinweg. Ich hatte in der Landesgruppe die größte Nähe zur Gesundheitspolitik. Ein Vertreter der VA: Das Gesundheitssystem ist heute vom Angebot her und Gruppe musste in den Gesundheitsausschuss, und mich nicht von der Nachfrage gedacht. 2049 wird es deutlich hat es getroffen. 2009 galt der Ausschuss als „Straf- dienstleistungsorientierter, das heißt an den Bedürfnissen kolonie“. Gesundheit ist heute ein Gestaltungsthema. der Patienten ausgerichtet sein. Eigenverantwortung wird Deshalb bin ich gerne Gesundheitspolitiker, auch weil es eine zentrale Rolle spielen. Die Grenzen zwischen Ge- gelungen ist, eine strategische Mehrheit im Ausschuss sundheits- und Sozialversorgung werden verschmelzen. für die Interessen des ländlichen Raums zu bilden. Auf Wir werden nicht mehr in den Strukturen eines Reparatur- dem Land wird sich Gesundheitsversorgung schneller betriebes denken und arbeiten. Das Gesundheitssystem verändern als in den Städten. Dort müssen wir schneller wird unterstützend, weniger hierarchisch und weniger auf Herausforderungen reagieren als in Berlin. arztzentriert sein. Und die Gesellschaft wird 2049 bereit sein, deutlich mehr in Gesundheit zu investieren, weil die Volker Amelung (VA): Bei mir war es der Zufall. Mich hat Patienten eigenverantwortlicher geworden sind. immer Entscheidungsmethodik in den Randbereichen der 8
EINLEITUNG Foto: Michael Fuchs Foto: photoklaas.de Erwin Rüddel Prof. Volker Amelung „Wir werden nicht mehr in den Strukturen eines Wird sich das Gesundheitsbewusstsein der Men- Reparaturbetriebes schen verändern? ER: Das Bewusstsein für Gesundheit und Ernährung wird denken und arbeiten.“ weiter steigen. Voraussetzung sind aber verlässliche In- formationen. Mir machen Falschinformationen und bloße — Volker Amelung Meinungen Sorge. Diese machen die Menschen nicht si- cherer in ihrer Entscheidungsfindung, sondern tragen zur allgemeinen Verunsicherung bei. VA: Die jüngeren Generationen ticken anders als die Gene- ER: Eigenverantwortung fällt aber nicht vom Himmel, lieber ration der Babyboomer, und das völlig zu Recht. Sie haben Herr Amelung! Sie muss gelernt werden und braucht Bil- andere Wertvorstellungen. Jede Generation muss für sich dung und Kompetenz. Das kann nicht allein das Gesund- entscheiden, wie und wie viel sie arbeiten möchte. Die heitssystem leisten. Mehr Eigenverantwortung ist eine Frage eines sicheren Arbeitsplatzes ist ein Thema der heute gesamtgesellschaftliche Aufgabe. älteren Generation. Bei mir kündigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ohne einen neuen Job zu haben – für meine Auf welche Weiche kommt es an? Generation ein unvorstellbares Risiko. Der Wertewandel ER: Wir müssen smarter und sektorenübergreifender wer- wird auch die Gesundheit in 30 Jahren verändern. Die den. Mehr Künstliche Intelligenz und weniger Sektoren! heutigen hierarchischen Strukturen werden 2049 der Vergangenheit angehören. VA: Massiv in die Ausbildung investieren und die jungen Menschen stärken. Wir müssen die Ausbildungsstrukturen Was tritt an die Stelle? komplett neu überdenken. In den USA werden die Gesund- VA: Staatliche Gesundheitssysteme werden weniger re- heitsprofessionals gemeinsam ausgebildet. Die Sektoren- levant sein und von so genannten Ökosystemen abgelöst. grenzen werden wir einreißen, wenn wir die Gesundheits- Das können Plattformen der Krankenkassen oder anderer berufe gemeinsam ausbilden und sie ein gemeinsames Akteure sein, auf denen sich Patienten versichern, Leis- Verständnis von Versorgung entwickeln. tungen in Anspruch nehmen, Produkte kaufen, sich infor- mieren und austauschen. 9
EINLEITUNG „Je aufgeklärter der Patient ist, desto stärker wird er sich an Qualität orientieren.“ — Erwin Rüddel Welche langfristigen Veränderungen machen Ihnen beiden Mut? ER: Erstens werden wir die Sektorengrenzen mit Hilfe von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz überwinden. Die Menschen werden zweitens in Zukunft stärker bereit sein, für gute Gesundheit mehr zu bezahlen. Und drittens wollen jüngere Ärztinnen und Ärzte immer weniger selbst- ständig ambulant, sondern stationär angestellt arbeiten. Auch dieser Trend wird das sektorenübergreifende Arbei- ten beschleunigen. ER: Die aktuelle Pandemie zeigt, dass rein staatlich or- ganisierte Gesundheitssysteme anderen, die nach dem VA: Ich sehe vier Veränderungen. 2049 werden wir mas- Prinzip der Selbstverwaltung aufgebaut sind, nicht über- sive Überkapazitäten an Gesundheitsversorgung haben. legen sind. Im Mittelpunkt steht in Zukunft die Qualität und Einen Großteil der Babyboomer gibt es dann nicht mehr. nicht die Rechtsform oder die Frage „gemeinnützig oder Zweitens wird sich das Rollenverständnis der Leistungs- gewinnorientiert“. Je aufgeklärter der Patient ist, desto erbringer vom Einzelkämpfer zum Teamplayer verändern. stärker wird er sich an Qualität orientieren. Die Frage „ambulant“ oder „stationär“ gehört dann der Vergangen- Wie wird sich das Verhältnis zwischen Staat und heit an. Versorgung wird regionaler. Aus den Kranken- Markt verändern? häusern von heute werden Gesundheitszentren, welche VA: Der Trend geht in Richtung mehr Staat. Die spannende eine Grundversorgung bieten und mit Spezialhäusern Frage wird sein, wie das Verhältnis zwischen staatlicher vernetzt sind. Diese Zentren können Altenpflege und Organisation auf der einen Seite und Flexibilität und In- Geriatrie verbinden. dividualisierung auf der anderen ausgehandelt wird. Wir brauchen ein System, das sich schneller und flexibler Wird das deutsche Modell der Selbstverwaltung das den unterschiedlichen Bedürfnissen der Patienten wie Jahr 2049 noch erleben? der Ärzteschaft anpassen kann. VA: Die Selbstverwaltung alleine wird es nicht schaffen. Es braucht die Politik. Das sieht man beispielsweise in der Pflege, wo es heute noch kaum relevante Entscheidungs- gremien gibt. Die kurze Verweildauer der Beschäftigten von sieben Jahren ist ein Indiz dafür, dass etwas grund- legend falsch läuft. Pflege muss attraktiver werden. Das ist auch eine Frage von Selbstorganisation und Interessen- vertretung. 10
EINLEITUNG ER: Die Selbstverwaltung hat nur dann eine Zukunft, wenn sie schneller wird. Vor Ort im ländlichen Raum sind wir agiler und flexibler als viele Verbandsvertreter in Berlin. Es wird aber auch mehr Delegation und Substitution von Aufgaben an gut ausgebildete weitere Gesundheitsberufe geben. Viele Bürgerinnen und Bürger fürchten zwei Ent- wicklungen: eine zunehmende Ökonomisierung und die Digitalisierung der Gesundheit. Werden sich diese Ängste als unbegründet erweisen? Zwei Fragen zum Schluss: Was ist Ihre größte Hoff- ER: Ein ganz klares Ja! Bei der Digitalisierung geht es nung und Sorge, wenn Sie an die Gesundheitswelt nicht um das Ersetzen, sondern um das Erleichtern von im Jahr 2049 denken? Arbeit. Durch den Einsatz von Technik droht kein Arbeits- ER: Meine größte Hoffnung ist, dass wir durch individua- platzverlust. Wer heute oder morgen in den Gesundheits- lisierte Medizin und bewusstes Leben deutlich fitter und beruf einsteigt, hat in der Regel einen krisensicheren Job. älter werden können. Meine größte Sorge ist heute wie morgen der Personalmangel. VA: Gesundheit ist kein Markt wie jeder andere. Öko- nomisierung bedeutet stärkere Bedürfnisorientierung. VA: Meine größte Sorge ist, dass wir keinen positiven Märkte richten sich nach den Bedürfnissen der Patien- Mindset schaffen. Das Kernproblem heute ist, dass wir ten und nicht die Anbieter sollen entscheiden, wer was in Deutschland zu viel Angst vor Veränderung und zu viel bekommt. Wir haben ein sehr leistungsfähiges Gesund- negative Energie im Gesundheitssystem haben. Dieses heitssystem, aber versuchen Sie mal am Freitag um 16 Uhr System macht aus jungen, phantastischen und gut aus- in Berlin einen Hausarzt zu erreichen. Das ist komplett gebildeten Medizinern frustrierte Menschen. Meine Hoff- unmöglich. Warum können beispielsweise Apotheken nung ist ein Gesundheitssystem, das stärker von den Be- nicht niedrigschwellige Versorgungsleistungen auch am dürfnissen der Patienten und Beschäftigten her und we- Wochenende anbieten? Heute müssen Sie zu Randzeiten niger von den Strukturen gedacht wird. deshalb in die Notaufnahme gehen. Und die Angst vor der Digitalisierung? VA: Die Angst vor der Digitalisierung ist ein typisch deut- sches Phänomen. Wir sehen erst die Gefahren und dann die Potenziale. Gerade in der Pflege werden Digitalisie- rung und Künstliche Intelligenz so viel leisten können, dass ältere Menschen deutlich länger zuhause bleiben können. Das Potenzial für mehr Lebensqualität und Kostenver- meidung ist hier immens. 11
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EINLEITUNG EINFÜHRUNG IN DIE TREND- UND ZUKUNFTSFORSCHUNG Die zwölf Megatrends der kommenden Zukunft: Das System Gesundheit im Spiegel seiner externen Einflussfaktoren Die zwölf Megatrends des Zukunftsinstituts bilden die „Die Mauern um die Silos der Bezugspunkte eines Koordinatensystems zur Vermessung der Zukunft. Indem wir uns mit ihnen beschäftigen, kön- medizinischen Versorgung nen wir erahnen, wie sich das System Gesundheit in den nächsten Jahren weiterentwickeln wird. Gesundheit ver- werden nicht halten, weil stehen wir in diesem Zusammenhang als umweltoffenes System, das von allen wichtigen Megatrends beeinflusst man Megatrends nicht wird. Einer dieser zwölf Trends ist der Megatrend Gesund- heit selbst – als Synonym für die Abwesenheit von Krank- länger ignorieren kann.“ heit und das persönliche Wohlgefühl. — Stefan Lummer Die Nachfragemärkte, die sich aus diesem Grundbedürf- nis ergeben, wirken genauso auf das selbstreferenzielle System Gesundheit ein wie alle anderen definierten Mega- trends. Diese markieren Veränderungen, die uns heute prägen und auch noch lange begleiten werden. Zum Wesen eines solchen Megatrends gehört seine Wirkung auf allen Ebenen der Gesellschaft: Wirtschaft und Politik ebenso wie Wissenschaft, Technik und Kultur. Megatrends verändern die Welt und damit das System Gesundheit – zwar langsam, dafür aber grundlegend und langfristig. Das unterscheidet sie von Moden, Konjunkturzyklen und Zeitgeist-Trends und prädestiniert sie für unsere Aufgabe: Die Beschreibung der Gesundheitswelt 2049 im Sinne eines neuen, ganzheitlichen Systemgedankens. 13
EINLEITUNG DIE 12 MEGATRENDS Der Megatrend codiert die Gesell- sinnig sind, sondern – viel schlimmer schaft um: Er berührt Wertesysteme, – die Gesundheit der Weltbevölkerung Konsummuster und Alltagskultur bedrohen. Die Corona-Pandemie hat gleichermaßen. Im Kern bedeutet das eindrücklich vor Augen geführt. Individualisierung die Freiheit der Wahl. Ihre Auswirkungen sind jedoch KONNEKTIVITÄT komplex und bringen sowohl schein- bare Gegentrends wie eine Wir-Kultur Konnektivität ist der wirkungs- als auch neue Zwänge hervor. In der NEO-ÖKOLOGIE mächtigste Megatrend unserer Zeit. Gesundheitswelt der Zukunft muss Das Prinzip der Vernetzung domi- und will sich der Einzelne individu- Ernährung, Energiewende, Green niert den gesellschaftlichen Wandel ell wiederfinden und gleichzeitig als Deal – der Megatrend Neo-Ökologie, und eröffnet ein neues Kapitel in der Teil eines gesunden Systems erleben. als Synonym für ein erweitertes Evolution der Gesellschaft. Digitale Umweltbewusstsein, reicht in jeden Kommunikationstechnologien ver- Bereich unseres Alltags hinein. Ob ändern unser Leben grundlegend, persönliche Kaufentscheidungen, reprogrammieren soziokulturelle gesellschaftliche Werte oder Unter- Codes und lassen neue Lebensstile GLOBALISIERUNG nehmensstrategie – selbst wenn und Verhaltensmuster entstehen. nicht immer auf den ersten Blick er- Um diesen fundamentalen Umbruch Handelskriege, diplomatische Kri- kennbar, entwickelt er sich nicht zu- erfolgreich zu begleiten, brauchen sen, Cyber-Angriffe, internationale letzt aufgrund technologischer In- Unternehmen und Individuen neue Konzernmächte – die Globalisierung novationen mehr und mehr zu einem Netzwerkkompetenzen und ein ganz- wird heute allzu oft als Problem der wirkmächtigsten Treiber unserer heitlich-systemisches Verständnis des wahrgenommen. Doch die Heraus- Zeit. Die Neo-Ökologie sorgt nicht nur digitalen Wandels. In Bezug auf das forderungen, die mit einer immer kom- für eine Neuausrichtung der Werte System Gesundheit kommt der Kon- plexeren, weil zunehmend vernetzten der globalen Gesellschaft, der Kul- nektivität ebenfalls eine Schlüssel- Welt verbunden sind, dürfen nicht den tur und der Politik; sie verändert auch rolle zu: Digitalisierte und hochgradig Blick auf die positiven Effekte ver- unternehmerisches Denken und Han- vernetzte, intelligente Anwendungen stellen, die die Globalisierung be- deln in seinen elementaren Grund- heben unser Gesundheitssystem auf wirkt. Denn während die Politik noch festen und damit nachhaltig das das nächste Level. versucht, globale Prozesse mit alten System Gesundheit: In den nächs- nationalstaatlichen Mechanismen zu ten Jahren werden wir erleben, wie regulieren, ist die Weltgesellschaft der Klimawandel unser Wirtschafts- längst auf dem Weg in die Zukunft system genauso wie unsere indivi- des 22. Jahrhunderts. Viele aktuelle duelle Vitalität bedroht und die Ver- INDIVIDUALISIERUNG Trends von der Postwachstumsöko- antwortlichen in Politik, Wirtschaft nomie über Direkthandel bis hin zum und Gesellschaft vor neue Heraus- Individualisierung ist das zentrale Aufstieg der Generation Global ver- forderungen stellt. Ein zukunfts- Kulturprinzip der westlichen Welt stärken die globale Dynamik, die das fähiges Gesundheitssystem muss und entfaltet seine Wirkungsmacht internationale System in den kommen- diese Balance aus ökonomisch und zunehmend global. Der komplexe den Jahren weiter in eine progressive ökologisch gesund neu austarieren. Megatrend hat in vielen Wohlstands- Richtung bewegt. Auch die Gesund- nationen seinen vorläufigen Höhe- heitssysteme sind global bereits so punkt erreicht und ist Basis unserer eng verflochten, dass lokale Allein- Gesellschaftsstrukturen geworden. gänge nicht nur wirtschaftlich un- 14
EINLEITUNG sich und bietet Raum für Selbst- ziel hat sich der Megatrend tief in entfaltung in neuen Lebensstilen im das Bewusstsein, die Kultur und das hohen Alter. Ein neues Mindset be- Selbstverständnis von Gesellschaften URBANISIERUNG reitet den Weg für eine Gesellschaft, eingeschrieben und prägt sämtliche die gerade durch die veränderte Lebensbereiche. Gesundheit und Städte sind die Staaten von morgen. Altersstruktur vitaler wird denn je. Sie Zufriedenheit sind dabei kaum noch Immer mehr Menschen leben welt- verabschiedet sich vom Jugendwahn, voneinander zu trennen. Mit selbst- weit in Städten und machen sie zu den deutet Alter und Altern grundlegend ständig erworbenem Wissen treten mächtigsten Akteuren und wichtigs- um. „Pro Aging“ wird zu einem Treiber Menschen dem Gesundheitssystem ten Problemlösern einer globalisier- für die anstehenden Veränderungen auf Augenhöhe gegenüber und stel- ten Welt. Doch Städte sind mehr als des Systems Gesundheit. len neue Erwartungen an Unter- Orte. Urbanisierung beinhaltet mehr nehmen und Infrastrukturen: Gesund- als den Wandel von (Lebens-)Räumen. heitsbewusste Menschen wollen sich Durch neue Formen der Vernetzung in gesundheitsfördernden Lebens- und Mobilität wird Urbanität vor allem welten bewegen und fordern dieses zu einer neuen Lebens- und Denk- GENDER SHIFT als neuen Normalzustand ein. Der weise. Das System Gesundheit muss Trend zu mehr Eigenverantwortung Raum und Zeit neu denken, um mit der Innovation schlägt Tradition, das des Patienten hat weitreichende Fol- Dynamik der globalen Urbanisierung Geschlecht verliert das Schicksal- gen für die weitere Ausgestaltung des Schritt halten zu können. Die urbane hafte, die Zielgruppe an Verbindlich- Systems Gesundheit in Zukunft und Lebensweise erweist sich einerseits keit. Noch nie hat die Tatsache, ob je- setzt eine Menge Transparenz und als Katalysator für eine aufgeklärte mand als Mann oder Frau geboren Vertrauen vor allem in der Wissens- und gesundheitsbewusste Lebens- wird und aufwächst, weniger darü- vermittlung und individuellen Be- weise; andererseits steigen die Risi- ber ausgesagt, wie Biografien ver- handlung des einzelnen Patienten ken sozial- ökonomischer Spaltungen laufen werden. Der Trend veränderter voraus. Prävention vor Therapie wird in den Metropolen rund um den Glo- Rollenmuster und aufbrechender zu einem Grundansatz. bus genauso wie die gesundheitliche Geschlechterstereotype sorgt für Belastung durch schädliche Umwelt- einen radikalen Wandel in Wirtschaft einflüsse und die soziale Isolation des und Gesellschaft. Das Verhältnis von Individuums weiter an. Frauen und Männern in den Gesund- heitsberufen gleicht sich nach und NEW WORK nach an. Gleichzeitig wird auch das Geschlechterverhältnis in Führungs- Die Digitalisierung wirft den Men- positionen immer ausgewogener. Eine schen auf sein Menschsein zurück SILVER SOCIETY neue Kultur des Pluralismus entsteht, – vor allem im Arbeitsleben. Wenn die diverser, kommunikativer und viel- Maschinen künftig bestimmte Auch der Megatrend Silver Society schichtiger ist. Arbeiten besser verrichten kön- entfaltet seine Wirkung weltweit. nen als der Mensch, beginnen wir, Rund um den Globus wird die Be- über den Sinn der Arbeit nachzu- völkerung älter und die Zahl Älterer denken. Wenn die Arbeit uns nicht steigt. Gleichzeitig bleiben die Men- mehr braucht, wofür brauchen wir schen länger gesund. Damit entsteht GESUNDHEIT dann die Arbeit? New Work be- eine völlig neue Lebensphase nach schreibt einen epochalen Umbruch, dem bisher üblichen Renteneintritt. Gesundheit ist das Synonym für ein der mit der Sinnfrage beginnt und Dieser Lebensabschnitt verlängert gutes Leben. Als zentrales Lebens- die Arbeitswelt von Grund auf um- 15
EINLEITUNG formt. Das Zeitalter der Kreativöko- die Leistungserbringer in den nächs- lingskrisen aufgrund von Umwelt- nomie ist angebrochen – und es gilt ten Jahren mit neuen Anforderungen katastrophen, Bürgerkriegen oder Abschied zu nehmen von der ratio- konfrontieren, damit sie uns dabei Pandemien. Alles wird immer schlim- nalen Leistungsgesellschaft. New helfen, neues Wissen zu generieren, mer und wir stehen kurz vor dem Kol- Work stellt die Potenzialentfaltung einzuordnen und umzusetzen. laps. Doch das ist ein Trugschluss: eines jeden einzelnen Menschen in Während unsere Wahrnehmung uns den Mittelpunkt und damit gleich- in die Verunsicherung stürzt, wird die zeitig immer auch seine Gesundheit Welt nicht immer unsicherer – ganz im von Körper, Geist und Seele. Dabei Gegenteil: Wir leben in den sichers- steht die Arbeit im Dienste des Men- MOBILITÄT ten aller Zeiten. Zugleich strebten wir schen und es geht um eine ganz- aber noch nie so sehr nach Sicher- heitliche Erweiterung des Gesund- Die Welt im 21. Jahrhundert ist nicht heit wie heute. Dieser Megatrend ver- heitsverständnisses von Individuen nur durch einen weiter wachsenden ändert sowohl die Sicht auf die Ver- und Organisationen gleichermaßen. Mobilitätsbedarf gekennzeichnet, son- antwortlichkeit des Individuums für dern vor allem durch eine zunehmende sein persönliches körperliches, men- Vielfalt an Mobilitätsformen. Indivi- tales und seelisches Wohlbefinden dualisierung, Konnektivität, Urbani- als auch die Sehnsucht nach einem sierung und Neo-Ökologie bestimmen fürsorglichen System, das die ge- WISSENSKULTUR die Mobilität von morgen. Technische sellschaftliche Gesundheit als Gan- Innovationen und veränderte Bedürf- zes im Blick behält. Damit gehört auch Insbesondere das Zusammenspiel nisse der Menschen werden zum Motor Sicherheit zu den wichtigsten Trei- mit dem Megatrend Konnektivität ver- neuer Formen der Fortbewegung: bern der künftigen Gesundheitswelt. ändert unser Wissen über die Welt vernetzt, digital, postfossil und ge- und die Art und Weise, wie wir mit In- teilt. Was wir erleben, ist eine Evolution formationen umgehen. In dezentralen der Mobilität. Wir stehen am Beginn Strukturen werden enorme Mengen eines neuen, multimobilen Zeitalters, an Wissen generiert, es entstehen in dem sich nicht nur Patienten rund neue Formen der Innovation und des um den Globus auf den Weg machen, gemeinsamen Forschens, auch zum Gesundheit und Wohlgefühl zu opti- Wohle der globalen Patientengesund- mieren, sondern auch Krankheiten und heit. Wissen verliert seinen elitären Keime mit ihnen reisen. Die Gefahr von Charakter und wird zunehmend zum Pandemien wird zum ständigen Be- Gemeingut, der globale Bildungs- gleiter der neuen Gesundheitswelten. stand ist heute so hoch wie nie. Komplexere, unvorhersehbare An- forderungen auf dem Arbeitsmarkt und neue, kollaborative Formen der Wissensaneignung verlagern zudem SICHERHEIT den Fokus: hin zum lebenslangen Ler- nen, zur Vermittlung von Methoden – Die Gesellschaft befindet sich im und zu den Soft Skills. Bezogen auf Daueralarm – eine Krise jagt die die Auswirkungen für unser Gesund- nächste: Von einem bevorstehenden heitssystem bedeutet das, dass wir globalen Handelskrieg, über die Ro- allesamt zu Experten unserer eigenen boter, die uns unsere Arbeit weg- Gesundheit werden, gleichzeitig aber nehmen, bis hin zu globalen Flücht- 16
EINLEITUNG „Das demografische Problem steht nicht mehr im Vordergrund, sondern die Frage, wie wir die revolutionären neuen medizinischen Methoden in eine flächendeckende Gesundheits- versorgung implementieren können.“ — Andreas Köhler Einflussfaktoren auf das Gesundheitssystem der Zukunft Verortung der zwölf Megatrends Konnektivität New Work Mobilität Technik Wissenskultur Sicherheit Das System Individualisierung Ich Wir Globalisierung Gesundheit Silver Society Urbanisierung Natur Gesundheit Gender Shift Neo-Ökologie 17
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HAUPTTEIL DIE PATIENTENDEMOKRATIE DER ZUKUNFT Das Patientenwohl rückt in den Mittelpunkt MANAGEMENT SUMMARY → Im Kern geht es bei der Patientendemokratie um eine → Der Gender Shift in unserer Gesellschaft führt dazu, Gesundheitswelt, die radikal vom Patienten aus denkt dass klassisch weiblich konnotierte Werte auch in der und ihn in alle Entscheidungen rund um seine eigene Gesundheitswelt wichtiger werden und das System Gesundheit integriert. damit adaptiver und kommunikativer wird. → Der Megatrend der Individualisierung ist Grundvoraus- → Für die Menschen bedeutet die Patientendemokratie setzung für diesen Wertewandel: Indem der Einzelne mehr Rechte, aber auch mehr Pflichten – sie müssen permanent nach der für ihn optimalen Gesundheits- Verantwortung für sich und ihre Gesundheit über- 1 vor- und -fürsorge sucht, sendet er dem System die nehmen, werden dafür aber mit mehr Souveränität Impulse, die eine Umstrukturierung erst ermöglichen. und Teilhabe belohnt. → Die Alterung unserer Gesellschaft wird in diesem Zu- sammenhang als Chance verstanden: Aus Anti Aging wird Pro Aging, und eine objektiv alternde Gesell- schaft ist in Wahrheit eine sich subjektiv verjüngende, in der die Patienten ein Höchstmaß an Autonomie und Gesundheitskompetenz besitzen. → Gesundheit wird in diesem Zusammenhang mehr über die Lebensqualität als über die Lebenserwartung de- finiert. 19
HAUPTTEIL EINLEITUNG Ganz zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Gesund- wenn ein anderes Individuum oder die Gemeinschaft heitssystem 2049 steht grundsätzlich ein Megatrend im gegenteilige Vorstellungen hegen oder aber unser Ich Zentrum: die Individualisierung. Der Wunsch des Einzel- auf körperliche, geistige oder seelische Begrenzungen nen nach persönlicher Entfaltung und Erfüllung der eige- stößt. Der Gender Shift im Sinne einer Gleichstellung der nen Bedürfnisse und (Konsum-)Wünsche ist das zentrale Geschlechter, aus der sich eine wesentlich diversere und Prinzip der westlichen Welt und wirkt zunehmend auch buntere Gesundheitswelt ableiten lässt, genauso wie die weltweit. Auf den Punkt gebracht ist Individualisierung Silver Society (also der demographische Wandel) können ein Synonym für Multioptionalität. Das Individuum möchte in diesem Sinne als flankierende und verstärkende Trends in der Lage sein, sich aus einem Büffet an Möglichkeiten der Individualisierung betrachtet werden und stehen in das jeweils passende auszuwählen, das seinen Wünschen der Betrachtung der relevanten Megatrends aus diesem am meisten entspricht. Klar, dass sich daraus auch viel- Grund ebenfalls ganz am Anfang dieses Reports. fältige Konflikte ableiten lassen, die immer dann auftreten, Die Patientendemokratie der Zukunft Ein Zusammenspiel der Megatrends Individualisierung, Gender Shift und Silver Society Konnektivität New Work Mobilität Technik Wissenskultur Sicherheit Das System Individualisierung Ich Wir Globalisierung Gesundheit Silver Society Urbanisierung Natur Gesundheit Gender Shift Neo-Ökologie 20
HAUPTTEIL „Das Gesundheits- system wird weiblicher – gerade auch in den Führungspositionen –, interprofessioneller und Klar ist, dass die Megatrends Individualisierung, Ge- digitaler.“ sundheit und Silver Society eng miteinander verwoben sind und en bloc einen entscheidenden Einfluss auf — Stefan B. Lummer die Weiterentwicklungen in der Gesundheitswelt der nächsten Jahrzehnte haben werden. In den kommenden Jahrzehnten wird der demographische Umbau voran- schreiten und damit unsere Gesellschaft und unser Ge- sundheitssystem weiter verändern. Der stetige Anstieg der Lebenserwartung um rund drei Monate pro Jahr seit 1840, gepaart mit den weiterhin stagnierenden bzw. nur leicht steigenden Geburtenraten, sorgt dafür, dass sich das Verhältnis zwischen Jungen und Alten nach und nach umkehrt und vor allem die Zahlen der Superalten (über 80-Jährigen) deutlich ansteigen. Heute ist bereits jeder Fünfzehnte hochaltrig, ab etwa 2040 könnte es mehr als jeder Zehnte sein, 1950 war es nur jeder Hun- dertste (Ergebnis der aktualisierten 14. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (Variante 2), BiB 2019, demografie-portal.de). 21
HAUPTTEIL „Patienten wünschen sich schon heute eine ganzheit- liche Betreuung. Das erklärt auch, warum Patienten verstärkt zum Therapeuten SILVER SOCIETY oder Heilpraktiker gehen – DAS GEFÜHLTE ALTER dort erleben sie als Erstes, Interessant ist diese Entwicklung vor allem deshalb, weil die- ses Erstarken der reiferen Generation keinesfalls bedeutet, dass man sich für sie Zeit dass sich mehr Menschen auch alt fühlen. Im Gegenteil zei- gen die Erfahrungen der letzten Jahre: Der Zeitpunkt, ab nimmt, ihre Beschwerden wann sich ein Mensch alt fühlt und auch von seiner Umwelt so wahrgenommen wird, verschiebt sich umso weiter nach in ihrer gesamten Band- hinten, je stärker unsere Gesellschaft von den fitten und selbstbestimmten Älteren geprägt wird (Quelle: Repräsen- breite zu erfassen ver- tative Gesellschaftsstudie 2017 „Jetzt aber ich, erwachsen werden in Deutschland“ des Meinungsforschungsinstituts sucht. Das sollte uns forsa im Auftrag von CosmosDirekt). dazu motivieren, unser Aus Anti Aging wird so künftig ein Pro Aging. Der alternde und zugleich hochgradig individualisierte Patient wird sich System in diese Richtung aus der Abhängigkeit vom starren Medizinsystem und der Allmacht des Arztes befreien – er fordert Mitsprache und weiterzuentwickeln.“ Selbstbestimmtheit und stellt seine hohe Lebensquali- tät über alles, im Zweifel sogar über die eigene Lebens- — Max Tischler erwartung. Getreu dem Motto: Es ist wichtiger, den Jah- ren mehr Leben als dem Leben mehr Jahre zu geben, ist es für die Patientinnen und Patienten künftig essenziell, sich jederzeit der eigenen Selbstwirksamkeit vergewissern zu können. Mittelpunkt treten und die Sprachfähigkeit aller Berufe muss wachsen, damit die Arbeit am Patienten eine andere Doch leider ist es für das Individuum bislang gar nicht so wird. Es muss ein Ruck durch die Gesundheitsbranche einfach, kompetente und vertrauenswürdige Gesundheits- gehen, denn partielle und ergänzende zum Tragen kom- akteure zu finden, die ihn in seinem Bemühen um Gesund- mende Fachkompetenz aller Akteure ist das Fundament erhaltung oder Gesundung unterstützen. Hedwig François- einer guten Gesundheitsversorgung.“ Kettner, in den Jahren 2011 bis 2019 Vorsitzende im Aktionsbündnis Patientensicherheit Deutschland, schlägt dazu Folgendes vor: „Der Teamgedanke muss mehr in den 22
HAUPTTEIL „Die Menschen werden doch immer aktiver, auch im hohen Alter. Mobili- tät wird attraktiver, Sport und Bewegung und die Schmerzfreiheit dabei bekommen in einer alternden Gesellschaft viel mehr Gewicht.“ PRO AGING STEIGERT EIGENINITIATIVE — Markus Wiegmann Vor diesem Hintergrund stehen wir in Deutschland tatsäch- lich vor dem Beginn eines neuen Zeitalters: Die subjektive Verjüngung einer objektiv alternden Gesellschaft wird in den kommenden Jahren das Lebensgefühl des Einzelnen beherrschen und damit auch zu einem bestimmenden Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung werden. „An der Perspektive der Menschen auf ihre persönliche Gesund- heit ändert sich im Laufe des Lebens ja erst mal sehr wenig. optionalität, nach Körperlichkeit und Sex. Das Investment Es verschiebt sich natürlich die Bedeutung des chrono- des Einzelnen in die Optimierung von Körper, Geist und logischen Alters. Schon heute wollen auch Menschen Seele wird in der Gesundheitswelt 2049 wesentlich höher, über 60 Jahre selbstverständlich fit und aktiv bleiben und die Bereitschaft zur Zuzahlung oder die Inanspruchnahme auch über 80-Jährigen reicht es nicht mehr, nur partiell am von Selbstzahlerleistungen deutlich größer sein. Leben teilhaben zu können – sie wollen weiterhin aktiv ihr eigenes Leben gestalten“, führt Hans-Georg Kopp aus, der als Chefarzt die Abteilung Molekulare Onkologie und Pneumologische Onkologie am Robert-Bosch-Kranken- GENDER SHIFT haus in Stuttgart leitet. DIE FEMINISIERUNG DES GESUNDHEITS- Äquivalent dazu sind die Entwicklungen der jüngsten SYSTEMS Vergangenheit und die Aussichten für die nächste Zu- kunft zu bewerten: Wenn wir immer mehr Möglichkeiten Vor allem Frauen haben dabei maßgeblich die letzten Jahre haben, unser Aussehen zu verändern, unseren körper- mitgestaltet und nachdrückliche Spuren in Gesellschaft, lichen Verfall zu stoppen, unser Leben zu verlängern, ent- Kultur und Wirtschaft hinterlassen. Mit ihrer wachsenden stehen auch immer neue Bedürfnisse nach Gesundheit Präsenz in der Öffentlichkeit haben sie entscheidend zum und Wohlbefinden, nach Selbstverbesserung und Multi- Wertewandel der letzten Jahre beigetragen und damit nicht 23
HAUPTTEIL „Die Gesellschaft wird 2049 bereit sein, deutlich mehr in Gesundheit zu investieren, weil die Patienten eigen- zuletzt einen neuen Umgang mit der eigenen Gesundheit verantwortlicher geworden angestoßen. Traditionell legen Frauen eine größere Vor- und Fürsorgebereitschaft an den Tag, und das zeigt sich sind.“ auch an ihrem im Vergleich zu Männern höheren Gesund- — Volker Amelung heitsengagement. In den kommenden Dekaden werden Geschlechterdifferenzen in der Wertekultur tendenziell rückläufiger und sowohl Männer als auch Frauen werden damit beginnen, die jeweils andere Seite zu integrieren. Im Endeffekt bildet sich so ein ausgeglichenes Gender-Ver- hältnis aus, das in eine neue Gesundheitswelt mündet, die weit auch als selbstverschuldet wahrgenommen? „Wenn die wesentlich diverser, kommunikativer und vielschichtiger Individualisierung überzogen wird, also jeder – auch ohne sein wird – auch da sich das Verhältnis von Frauen und Evidenz – für sich entscheidet, dann können wir das Gesund- Männern in den Gesundheitsberufen nach und nach an- heitssystem zumachen“, warnt Reinhard Busse, Professor für gleicht. Seit einigen Jahren schon ist die Medizin zumindest Management im Gesundheitswesen an der Fakultät Wirt- an den Universitäten weiblich geprägt, viel mehr Frauen schaft und Management der Technischen Universität Berlin. beginnen ein Medizinstudium als Männer, das weist das Statistische Bundesamt aus (www.destatis.de/DE/The- Die Leistungsträger von heute werden also ihrerseits nicht men/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/ umhinkommen, sich gleichsam zu verändern, um diesen Hochschulen/Tabellen/lrbil05.html). Wandel aktiv mitzugestalten und auch in Zukunft wichtige Ratgeber für die veränderungswilligen Patienten und Pa- tientinnen zu sein. JUNGE FRAUEN ERWEITERN DEN GESTALTUNGS- RAUM VON GESUNDHEIT UND KÖRPER Gleichzeitig erleben wir derzeit, wie vor allem junge Frauen dafür sorgen, dass die Deutungshoheit des Individuums über das, was sie oder ihn sich persönlich gesund und gut fühlen lässt, ins Zentrum der Betrachtung rückt. „Mein Körper ist für mich etwas, das ich so gestalte, wie es mir gefällt“, wird die YouTuberin Katja Krasavice in „Der Spiegel“ zitiert (Aus- gabe vom 14.2.2020) und wird dafür als „feministisch und antifeministisch, künstlich und authentisch“ zugleich ge- feiert. Im Kern erleben wir hier das Erstarken einer neuen Generation, die ihren Körper und ihre Gesundheit als ver- änderbare Masse versteht, für die sie in erster Linie selbst Verantwortung trägt. Wird Krankheit damit künftig ein Stück 24
HAUPTTEIL INDIVIDUALISIERUNG DIGITALISIERUNG ALS TREIBER DER INDIVIDUA- LISIERUNG Unter unseren Experten herrscht Einigkeit darüber, dass der einzelne Patient in den nächsten Jahren ins Zentrum des Gesundheitswesens rücken muss. Die gesamte Be- handlung könnte persönlicher und wärmer werden. Eva Schumacher-Wulf, Chefredakteurin „Mamma Mia! Krebs- auch die Not des Patienten endet, sich bei jedem Arzt- magazine“: „Aus der jetzigen Gewinnorientierung muss besuch immer wieder neu zu erklären. eine Patientenorientierung werden. Die Privatisierung kostet zu viel Geld und belastet auch die Ärzte, die einen Vor einem Missbrauch ihrer Daten werden die Patien- Eid geschworen haben, für den Patienten einzutreten. ten in Zukunft viel weniger Angst haben, als heute noch Der Patient mit seinen Bedürfnissen muss im Mittelpunkt befürchtet wird. Francois-Kettner beobachtet, dass der stehen.“ Die Digitalisierung der Gesundheitslandschaft Schutz der eigenen Gesundheitsdaten in Anbetracht von wird diesen Prozess beschleunigen und erleichtern, ein lebensbedrohlichen Erkrankungen schnell relativiert wird. Allheilmittel ist sie allerdings nach Meinung unserer Ex- Und sie fordert: „Der Staat muss dabei eine Moderatoren- perten nicht. Schließlich spielt auch der persönliche Kon- rolle übernehmen und die sinnvolle Selbstverwaltung so takt des Patienten zum Therapeuten eine Rolle: „Wenn umleiten, dass der Patient de facto im Mittelpunkt steht wir so tun würden, als wäre dem nicht so, würden wir all und als Ganzes behandelt werden kann.“ Die Digitalisie- unser Wissen zum Thema Placebo und Nocebo leugnen. rung ist also nur dann wirklich von Nutzen, wenn sie im Wir überschätzen die pseudowissenschaftlichen Effekte, Sinne des Megatrends Individualisierung von der einzel- die eine rein digitalisierte Gesundheitswelt beinhalten nen Patientin oder dem einzelnen Patienten aus gedacht würde“, gibt Hans-Georg Kopp zu bedenken. wird. Die ersten Schritte dazu sind wir nach Meinung von Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Bar- Der wirkliche Vorteil von digitalisierten Behandlungs- mer Ersatzkasse, auch auf jeden Fall schon gegangen: möglichkeiten ist aber ein anderer: „Der Trend zur Di- „Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren zent- gitalisierung mit einer übergreifenden e-Health-Struk- rale Weichen gestellt, damit die Digitalisierung auch im tur eröffnet weitere Möglichkeiten, die Gesundheits- Gesundheitswesen Fahrt aufnimmt. Auch wenn wir hier kosten einzudämmen und gleichzeitig die Transparenz erst am Anfang stehen, sind die Potenziale offenkundig. und Mitsprachemöglichkeiten des Einzelnen zu steigern. In einigen Jahren werden uns zum Beispiel Behandlungs- Das wird langfristig dazu führen, dass das Mitwirken methoden zur Verfügung stehen, von denen wir heute der Patienten und ihre Eigenverantwortung gestärkt noch weit entfernt sind.“ werden“, bekundet die Politikerin Christa Stewens, und Hedwig François-Kettner verweist darauf, dass damit 25
HAUPTTEIL „Die Personalisierung der Medizin wird deut- lich zunehmen, zum Bei- spiel in der Onkologie. Das WIR BRAUCHEN EINE MISCHUNG AUS MENSCH- genomische Profil der LICHER UND MASCHINELLER INTELLIGENZ Patientinnen und Patienten Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in den nächsten Jahren zügig den Ausbau der digitalisier- und seine Veränderung ten Medizinwelt vorantreiben müssen: „Das Vertrauen in den einen Arzt wird abnehmen, dagegen nimmt das Ver- im Laufe der Behandlung trauen in digitale Tools zu. Viele holen eine Zweit- und Drittmeinung ein. Wir suchen mehr Absicherung, auch werden ein entscheidendes durch Daten“, konstatiert die Journalistin Eva Schuma- cher-Wulf. Sie ist davon überzeugt, dass ein Paradigmen- Kriterium für die Art der wechsel hin zu mehr Digitalisierung letztlich eben genau die geforderte Gesundheitskompetenz des einzelnen Pa- Behandlung. Dadurch tienten stärken wird. werden die Betroffenen Und dann sind natürlich die Pharmafirmen gefragt, den Megatrend Individualisierung durch neue Behandlungs- effizienter und schonender formen voranzutreiben. Professor Kopp hält fest: „In Bezug auf die Anpassung der Therapie an den individuellen Pa- als heute versorgt werden tienten sind bereits große Fortschritte erzielt worden. Ich erwarte für die Zukunft den Einsatz von noch mehr prä- können.“ diktiven Tests, mit denen schon vor Behandlungsbeginn der Therapieerfolg überprüft werden kann.“ Und Jörg F. — Christoph Straub Debatin, Chairman des health innovation hub (hih) des Bundesministeriums für Gesundheit in Berlin, ergänzt: „Auch die Apotheke wird zum Patienten kommen. Die DER WANDEL ERFASST ALLE HIERARCHIE- Medikamentierung wird individueller.“ STUFEN So mag die Gesundheitswelt der Zukunft zwar eine digi- tale sein – im besten Falle aber eine, die das Patienten- wohl in den Mittelpunkt stellt. Eine solche gewährt dem einzelnen Patienten ein Höchstmaß an Autonomie im Sinne des Megatrends Individualisierung, steht ihm aber auf seinem persönlichen Weg in die Silver Society mit einem diversen Team an ganzheitlich denkenden Spe- zialisten und motivierten und motivierenden Heilenden 26
HAUPTTEIL und Pflegenden diversen Geschlechts zur Seite – ganz eine neue Verantwortung – es impliziert aber auch einen so, wie es der Megatrend Gender Shift voraussagt. Zeit Gewinn an Selbstwirksamkeit, indem die Menschen das dafür wird es, wie auch Eva Schumacher-Wulf konstatiert: Gefühl zurückerhalten, selbst an ihrer Gesundheitsvor- und „Die Patientenbeteiligungsverordnung ist ein System aus -fürsorge arbeiten zu können oder sogar zu müssen. Der ehe- dem letzten Jahrhundert, weil nur einige wenige Patienten maligen Gesundheits- und Pflegeministerin Christa Stewens vertreten sind. Das deutsche Gesundheitssystem muss jedenfalls ist es vor dieser Entwicklung nicht bange: „Ich patientendemokratischer werden.“ habe keine große Angst vor der Zukunft. Das Einzige, was ich befürchte, ist, dass Egoismen, das Prinzip von ,First me‘, überhandnehmen könnten“. Fazit: Um das deutsche Gesundheitssystem in eine gute und ge- sunde Zukunft zu führen, sollten wir die Impulse, die sich aus den Megatrends Individualisierung, Silver Society sowie Gender Shift ergeben, nutzen und den Patienten mit all seinen Bedürfnissen im Sinne einer Patientendemokratie in den Mittelpunkt stellen. Das Gesundheitssystem 2049 muss rund um die Idee des Patientenwohls aufgebaut wer- den und somit gleichberechtigt, individualisiert und alters- übergreifend organisiert werden. Dazu müssen Hierarchien abgebaut, das System digitalisiert, die Prozesse kommu- nikativ transparent gemacht und die Verantwortung des einzelnen Patienten gestärkt werden. Ein patientendemo- kratisches System beinhaltet für den einzelnen Patienten 27
HAUPTTEIL WILLKOMMEN IM METAVERSUM! Eine zunehmend vernetzte und globale Welt fordert das Ökosystem Gesundheit heraus MANAGEMENT SUMMARY → Der Megatrend Konnektivität formt eine Welt, in der → Die Eigenverantwortung der Patienten nimmt zu. virtuelle und physische Räume konvergent verlaufen. Ihre Bereitschaft, mehr in Gesundheit zu investieren, Unsere Gesundheitswelt wird damit zum Metaversum. wächst. Zur neuen sozialen Frage wird „Gesundheit für alle“. → Zum Treiber der Veränderungen werden die Bedürf- nisse der Patienten und Beschäftigten. → Die Megatrends Sicherheit und Globalisierung for- dern das Gesundheitssystem heraus: Es wird global → Die zunehmende Vernetzung bildet die Grundlage für und damit unsicherer und anfälliger. Die Resilienz der 2 eine neue Gesundheitskultur. Das 21. wird zum Jahr- Gesundheitssysteme wird zur neuen gemeinsamen hundert der Patienten und der Gesundheitsberufe. Das Herausforderung. Verhältnis zwischen ihnen wird als Qualitätskriterium in der Gesundheitsversorgung immer wichtiger. → Das Ziel ist die Krisenfestigkeit aller Teilbereiche, Europa macht sich auf den Weg zur Gesundheitsunion. → Das Gesundheitssystem wird zu einem Ökosystem aus Plattformen und Netzwerken. Der Markt an neuen Akteuren wächst. 29
HAUPTTEIL EINLEITUNG Die Megatrends Konnektivität, Globalisierung und Sicher- besser gemacht. Schneller, weil Krankheiten dank digi- heit definieren die Gesundheitswelt im Jahr 2049. In Zu- taler Tools frühzeitig erkannt und therapiert werden kön- kunft werden wir digital nicht mehr als digital empfin- nen, und besser, weil die Bedürfnisse der Patienten und den. Das Digitale wird mit der Realität verschmelzen. Ein Beschäftigten im Zentrum stehen. Die Menschen leben Metaversum entsteht aus der Konvergenz von virtuellen heute deutlich fitter, auch im hohen Alter. Die Verfüg- und physischen Räumen. Die Fortschritte in der digita- barkeit offener Daten wird zur Voraussetzung, Gesund- len Medizin seit den 2020er Jahren haben das Gesund- heitsverläufe zu erkennen und präventiv zu adressieren, heitssystem zur Mitte des Jahrhunderts schneller und etwa bei der globalen wie regionalen Ausbreitung von Epi- und Pandemien. Gesundheit in der künftigen Netzwerkökonomie Ein Zusammenspiel der Megatrends Konnektivität, Globalisierung und Sicherheit Konnektivität New Work Mobilität Technik Wissenskultur Sicherheit Das System Individualisierung Ich Wir Globalisierung Gesundheit Silver Society Urbanisierung Natur Gesundheit Gender Shift Neo-Ökologie 30
HAUPTTEIL „Wir werden in einem Metaversum leben: Wir gehen zuhause in eine Metaversum- Gesundheitspraxis und sprechen mit unserem Avatar.“ — Inga Bergen „Die Digitalisierung der Medizin schafft ein Mehr an Sicherheit, Gesund- heit und Zeit für Ärzte bzw. Ärztinnen und Pflegende. KONNEKTIVITÄT Dadurch entstehen Frei- Konnektivität ist ein sozialer und kultureller Veränderungs- räume für Empathie sowie prozess. Das Prinzip der Vernetzung fördert den ge- sellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel und er- die Möglichkeit, sich aktiv öffnet ein neues Kapitel in der Evolution der Gesundheit. Dabei ist Konnektivität weniger ein technologischer denn an Erhalt und Wieder- ein sozialer und kultureller Prozess. Zum Treiber werden die Bedürfnisse der Patienten und Beschäftigten in einer herstellung der eigenen vernetzten Gesellschaft. Dabei spielt der Faktor Zeit für beide Akteure die zentrale Rolle, stellt der Sprecher des Gesundheit zu beteiligen.“ Bündnisses Junge Ärzte, Max Tischler, fest: „Das Gesund- heitswesen der Zukunft wird sehr viel digitaler sein, weil — Jörg F. Debatin es das System vereinfacht und uns mehr Zeit für den einzelnen Patienten gibt.“ Eine digital unterstützte Medi- zin senkt die Arbeitsbelastung der Gesundheitserbringer, so dass diese besser auf die Bedürfnisse der Patienten eingehen können. 31
HAUPTTEIL Starre Strukturen, eine mangelnde übergreifende Planung In der Gesundheitswelt 2049 sind es Plattformen und und unklare Verantwortlichkeiten sind die eigentlichen Netzwerke, die Daten und das Wissen für Patienten bün- Hürden auf dem Weg in die nächste Gesundheitswelt. Für deln und die medizinische Forschung voranbringen. Das Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer, sind Gesundheitssystem wird zu einem Ökosystem aus Platt- es die Sektorengrenzen, welche eine bedarfsgerechte und formen und Netzwerken, prognostiziert Volker Amelung: kontinuierliche Behandlung der Patientinnen und Patien- „Staatliche Gesundheitssysteme werden weniger rele- ten behindern: „Deshalb wird es eine der wichtigsten Auf- vant sein und von so genannten Ökosystemen abgelöst. gaben sein, die Sektorengrenzen an den Schnittstellen Mit Hilfe von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz zwischen ambulanter und stationärer Versorgung aufzu- werden die Sektorengrenzen überwunden.“ Solche Platt- brechen. Damit würde das Gesundheitssystem an den tat- formen „können Krankenkassen oder andere Akteure sein, sächlichen Bedürfnissen der Versicherten ausgerichtet.“ auf denen sich Patienten versichern, Leistungen in An- Die frühere bayerische Gesundheitsministerin Christa spruch nehmen, Produkte kaufen, sich informieren und Stewens ist optimistisch: „Wir werden in der deutschen austauschen“, so Amelung weiter. Akteure, die den Wan- Gesundheitswelt der Zukunft die sektorale Trennung del verschlafen, werden nicht überleben, warnt der Chef- überwunden haben, so dass stationäre und ambulante redakteur des Magazins des BBK Dachverbands, Stefan Versorgung besser zusammenarbeiten.“ Das Gesund- B. Lummer: „In der schönen Altstadt von Cottbus ist das heitssystem wird zu einem vernetzten Ökosystem. Brandenburgische Apothekenmuseum. Zu sehen ist dort ein galenisches Laboratorium, eine Gift- und Kräuter- kammer, und bald vielleicht ein Regal mit OTC-Arzneien DAS GESUNDHEITSSYSTEM WIRD ZUM ÖKO- und Kosmetikprodukten.“ Nicht nur die Apotheken ver- SYSTEM säumen die persönliche Beratung als eine wesentliche strategische Positionierung in der Welt digitaler Geschäfts- Ärztinnen und Ärzte werden in Zukunft interdisziplinär modelle. Lummer stellt die entscheidende Frage: „Wie und überwiegend angestellt arbeiten. „Die heutigen hie- werden Krankenkassen, Krankenhäuser, Ärzte, Apotheker rarchischen Strukturen werden 2049 der Vergangen- und e-Health-Start-ups die digitale Zukunft mitgestalten, heit angehören“, ist Volker Amelung, der den Bundes- um als Akteur der Gesundheitsversorgung in Europa mit verband Managed Care (BMC) leitet, überzeugt (siehe im Spiel zu bleiben?“ Interview, Seite 8). Tätig werden sie in Gesundheits- und Versorgungszentren sein, in denen der Patient ganzheit- Nur, wenn sie auf Ko-Evolution und die Beteiligung aller lich und kompetent betreut wird. Den durchschnittlichen Akteure setzen. Ko-Akteure sind auch Patienten, die be- Patienten wird es in Zukunft nicht mehr geben. Die Medi- reits in der Schule Gesundheitskompetenz erlernen. „Aus zin wird zur „Wissenschaft der Individualität“ , die durch dem Patienten wird ein Teammitglied der Spezialisten, er Digitalisierung und Künstliche Intelligenz präziser, vor- kümmert sich verantwortlich um seine Gesundheit“, glaubt hersagbarer und patientenorientierter wird. Stefan B. Lummer. Alena Buyx, Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien und Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an 32
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