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ROBERT KOCH INSTITUT Statistisches Bundesamt Heft 51 Depressive Erkrankungen Gesundheitsberichterstattung des Bundes
Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 51 Depressive Erkrankungen Autoren: Hans-Ulrich Wittchen, Frank Jacobi, Michael Klose und Livia Ryl Herausgeber: Robert Koch-Institut, Berlin 2010
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 3 Gesundheitsberichterstattung des Bundes Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes gebündelt und gemeinsam herausgegeben (GBE) liefert daten- und indikatorengestützte werden. Die fortlaufende Erscheinungsweise Beschreibungen und Analysen zu allen Bereichen gewährleistet Aktualität. Die Autorinnen und des Gesundheitswesens. Autoren sind ausgewiesene Expertinnen und Experten aus dem jeweiligen Bereich. www.rki.de Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens ▶ Informationssystem der Gesundheitsbericht- erstattung des Bundes Gesundheitliche Lage ▶ Das Informationssystem der Gesundheits- berichterstattung des Bundes liefert als Online-Datenbank schnell, kompakt und transparent gesundheitsrelevante Informa- Gesundheits- Gesundheits- tionen zu allen Themenfeldern der Gesund- verhalten und probleme, heitsberichterstattung. Die Informationen -gefährdungen Krankheiten werden in Form von individuell gestaltbaren Tabellen, übersichtlichen Grafiken, verständ- lichen Texten und präzisen Definitionen bereitgestellt und können heruntergeladen Leistungen und Inanspruchnahme werden. Das System wird ständig ausgebaut. Derzeit sind aktuelle Informationen aus über 100 Datenquellen abrufbar. Zusätzlich können über dieses System die GBE-The- Ressourcen der Ausgaben, Gesundheits- Kosten und menhefte sowie weitere GBE-Publikationen versorgung Finanzierung abgerufen werden. www.gbe-bund.de Als dynamisches und in ständiger Aktualisierung ▶ Schwerpunktberichte begriffenes System bietet die Gesundheitsbericht- ▶ In den Schwerpunktberichten werden spe- erstattung des Bundes die Informationen zu den zielle Themen der Gesundheit und des Ge- Themenfeldern in Form sich ergänzender und sundheitssystems detailliert und umfassend aufeinander beziehender Produkte an: beschrieben. www.rki.de ▶ Themenhefte der Gesundheitsberichterstattung des Bundes ▶ GBE kompakt ▶ In den Themenheften werden spezifische ▶ Die Online-Publikationsreihe GBE kompakt Informationen zum Gesundheitszustand präsentiert in knapper Form Daten und Fak- der Bevölkerung und zum Gesundheitssys- ten zu aktuellen gesundheitlichen Themen tem handlungsorientiert und übersichtlich und Fragestellungen. Die vierteljährliche präsentiert. Jedes Themenheft lässt sich Veröffentlichung erfolgt ausschließlich in einem der GBE-Themenfelder zuordnen; elektronischer Form. der innere Aufbau folgt ebenfalls der Struktur www.rki.de/gbe-kompakt der Themenfelder. Somit bieten die Themen- felder der GBE sowohl den Rahmen als auch Die Aussagen der Gesundheitsberichterstattung die Gliederung für die Einzelhefte. Inhalt- des Bundes beziehen sich auf die nationale, bun- lich zusammengehörende Themen können desweite Ebene und haben eine Referenzfunktion
4 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 für die Gesundheitsberichterstattung der Länder. heitspolitikerinnen und -politiker, Expertinnen Auf diese Weise stellt die GBE des Bundes eine und Experten in wissenschaftlichen Forschungs- fachliche Grundlage für politische Entscheidun- einrichtungen und die Fachöffentlichkeit. Zur gen bereit und bietet allen Interessierten eine Zielgruppe gehören auch Bürgerinnen und Bürger, datengestützte Informationsgrundlage. Darüber Patientinnen und Patienten, Verbraucherinnen hinaus dient sie der Erfolgskontrolle durchge- und Verbraucher und ihre jeweiligen Verbände. führter Maßnahmen und trägt zur Entwicklung Das vorliegende Heft 51 der Gesundheits- und Evaluierung von Gesundheitszielen bei. berichterstattung des Bundes »Depressive Erkran- Der Leser- und Nutzerkreis der GBE-Produkte kungen« lässt sich folgendermaßen in das ist breit gefächert: Angesprochen sind Gesund- Gesamtspektrum der Themenfelder einordnen: Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens Gesundheitliche Lage Gesundheits- Gesundheits- Psychische und Depressive verhalten und probleme, Verhaltensstörungen Erkrankungen -gefährdungen Krankheiten Leistungen und Inanspruchnahme Ressourcen der Ausgaben, Gesundheits- Kosten und versorgung Finanzierung
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 5 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 7 2 Krankheitsformen 7 2.1 Depressive Episode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9 2.2 Dysthymia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.3 Sonstige depressive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.4 Bipolare affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.5 Verlauf depressiver Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 3 Diagnostik 12 4 Ursachen und Risikofaktoren 14 4.1 Genetische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 4.2 Neurobiologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 4.3 Psychosoziale Belastungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 4.4 Persönlichkeitsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 4.5 Frühere psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 4.6 Körperliche Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 5 Verbreitung 18 5.1 Häufigkeit in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung . . . . . . . . . . . . . 18 5.2 Häufigkeit in der Allgemeinarztpraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 5.3 Inzidenz und Ersterkrankungsalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 5.4 Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 5.5 Depression in Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 5.6 Häufigkeit der Depression im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 6 Folgen 24 6.1 Auswirkungen auf die Sterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 6.2 Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 6.3 Ökonomische Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 7 Versorgung 26 7.1 Versorgungsangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 7.2 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 7.3 Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 7.4 Psychotherapeutische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 7.5 Behandlungsquote und Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 7.6 Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 8 Prävention 32 9 Perspektive 33 10 Literatur 35 11 Glossar 41
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Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 7 Depressive Erkrankungen 1 Einleitung Depressionen gehören zu den häufigsten Formen Die derzeit etablierten Behandlungsmöglichkei- psychischer Erkrankungen. Sie haben aufgrund ten werden im Zusammenhang mit der Versor- ihrer Häufigkeit, ihrer Komplikationen und gungsstruktur im deutschen Gesundheitswesen Folgen eine herausragende klinische, gesund- diskutiert. heitspolitische und gesundheitsökonomische Bedeutung. Neue nationale und internationale Bevölkerungsstudien haben verlässliche und 2 Krankheitsformen konsistente Abschätzungen der Verbreitung von Depressionen und der assoziierten Folgen Depressive Erkrankungen sind den so genannten und Behinderungen bereitgestellt. In Überein- affektiven Störungen (ICD-10: F30–F39) zuge- stimmung mit Trends der Arbeitsunfähigkeits- ordnet (siehe Abbildung 1). Affektive Erkrankun- statistiken liefern diese Studien auch Hinweise gen sind ein Sammelbegriff für verschiedene auf eine Zunahme depressiver Erkrankungen. Formen depressiver und sogenannter manisch Nach Studien der Weltgesundheitsorganisation bzw. manisch-depressiver Erkrankungen (auch (WHO), der Weltbank und des European Brain bipolare Erkrankungen genannt, siehe ICD-10: Council [1] sind Depressionen in Europa und F30–F31). Bei diesen stehen klinisch-bedeutsame Deutschland seit Anfang der 1990er-Jahre noch und beeinträchtigende Störungen von Affekt, vor anderen Volkskrankheiten wie Diabetes mel- Stimmung und damit einhergehenden Kogniti- litus oder koronaren Herzerkrankungen als die onen im Vordergrund des Störungsbildes. Affek- gesellschaftlich belastendste Krankheitsgruppe tive Störungen und Depressionen werden auf der einzuordnen. Zu dieser Einschätzung kommen Grundlage der ICD-10 (International Classifica- regelmäßige Untersuchungen unter Führung der tion of Diseases; in der zehnten Überarbeitung) WHO, die für alle Erkrankungen – psychische oder des im Forschungskontext gebräuchlichen wie körperliche – anhand von Häufigkeit, Dauer US-amerikanischen Diagnosenmanuals DSM- und Schwere einer Erkrankung sowie den damit IV-TR (Diagnostic and Statistical Manual of Men- verbundenen Beeinträchtigungen und Behinde- tal Disorders; vierte Auflage) über klinische und rungen einheitliche Methoden und Indikatoren explizit ausformulierte diagnostische Kriterien einsetzen (z. B. Disability Adjusted Life Years, diagnostiziert. Diese Kriterien beruhen in erster DALY) [2]. Linie auf den Symptomen der Erkrankung, ihrer Aber nicht nur die klinische, epidemiologi- Persistenz (Fortbestehen) und Schwere, den dar- sche und gesundheitsökonomische Bedeutung, aus resultierenden Einschränkungen und Behin- sondern auch die in verschiedenen Studien derungen sowie ihrem Verlauf. Beide Klassifikati- aufgedeckten Versorgungsdefizite machen die onssysteme weisen im Hinblick auf Depressionen Depression zu einem vorrangigen Problem des eine gute Übereinstimmung auf, unterscheiden Gesundheitssystems. Eine allumfassende Dar- sich aber geringfügig hinsichtlich der berück- stellung des Krankheitsbildes kann mit dem hier sichtigten Symptomgruppen sowie den Schwel- vorliegenden Themenheft nicht vorgenommen lenwerten für eine depressive Episode (s. u.). werden. Stattdessen werden schwerpunktartig Depressionen lassen sich nach diesen Krite- Themen herausgegriffen. rien (siehe Abbildung 1) zuverlässig und trenn- Zunächst wird ein kurzer Überblick über die scharf von normalen Stimmungsschwankungen Formen depressiver Erkrankungen, ihre Diagnos- abgrenzen. Sie ermöglichen eine zuverlässige dif- tik und ihre Ursachen sowie deren Häufigkeit in ferentialdiagnostische Abgrenzung von anderen der deutschen Bevölkerung gegeben. Vertiefend psychischen Störungen, wie auch verschiedener erfolgt die Darstellung depressiver Erkrankun- Formen depressiver Erkrankungen untereinan- gen bei Kindern und Jugendlichen sowie Älteren. der.
8 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 Abbildung 1 Klassifikation affektiver Störungen nach ICD-10, F30–F39 Quelle: [3] F30 Manische Episode F33 Rezidivierende depressive Störung F30.0 Hypomanie F33.0 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig F30.1 Manie ohne psychotische Symptome leichte Episode F30.2 Manie mit psychotischen Symptomen F33.1 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig F30.8 Sonstige manische Episoden mittelgradige Episode F30.9 Manische Episode, nicht näher bezeichnet F33.2 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome F31 Bipolare affektive Störung F33.3 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig F31.0 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig hypomani- schwere Episode mit psychotischen Symptomen sche Episode F33.4 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig F31.1 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische remittiert Episode ohne psychotische Symptome F33.8 Sonstige rezidivierende depressive Störungen F31.2 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische F33.9 Rezidivierende depressive Störung, nicht näher Episode mit psychotischen Symptomen bezeichnet F31.3 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig leichte oder mittelgradige depressive Episode F34 Anhaltende affektive Störungen F31.4 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig schwere F34.0 Zyklothymia depressive Episode ohne psychotische Symptome F34.1 Dysthymia F31.5 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig schwere F34.8 Sonstige anhaltende affektive Störungen depressive Episode mit psychotischen Symptomen F34.9 Anhaltende affektive Störung, nicht näher F31.6 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig gemischte bezeichnet Episode F31.7 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig remittiert F38 Andere affektive Störungen F31.8 Sonstige bipolare affektive Störungen F38.1 Andere rezidivierende affektive Störungen F31.9 Bipolare affektive Störung, nicht näher bezeichnet F38.8 Sonstige näher bezeichnete affektive Störungen F38.0 Andere einzelne affektive Störungen F32 Depressive Episode F32.0 Leichte depressive Episode F39 Nicht näher bezeichnete affektive Störung F32.1 Mittelgradige depressive Episode F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome F32.3 Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen F32.8 Sonstige depressive Episoden F32.9 Depressive Episode, nicht näher bezeichnet Allerdings zeigt sich, dass diese Kriterien noch (reaktive) und körperliche Ursachen hat, so dass keinen flächendeckenden Eingang in die klinische diese Krankheitskonzeption wenig zuverlässig Praxis gefunden haben, so dass oft noch ältere, und nützlich ist und besser durch den rein deskrip- weniger zuverlässige bzw. klinisch-intuitive Prak- tiven und neutraleren Begriff depressive Störung tiken vorkommen können. Dies lässt sich dadurch oder Erkrankung ersetzt werden sollte. erklären, dass vor Einführung der modernen diag- In der Laienöffentlichkeit sind Begriffe wie nostischen Kriterien nach ICD-10 und DSM in depressiv und Depression, wenn sie sich nicht der Forschung und Praxis eine eher ätiologische, explizit auf die modernen Depressionskriterien also an den vermeintlichen Ursachen orientierte beziehen, kein verlässlicher Ausdruck für eine Diagnostik mit den traditionellen diagnostischen behandlungsbedürftige psychische Störung. Sie Begrifflichkeiten neurotische, reaktive oder endo- gelten lediglich als Platzhalter für viele Formen gene (d. h. körperlich bedingte) Depression ver- von negativen Befindlichkeiten, sei es im Zusam- breitet war. Die moderne Forschung hat jedoch menhang mit sozialen Stressereignissen und gezeigt, dass jede Depression mehr oder weniger Belastungssituationen, Konflikten oder akuten fehlangepasste (neurotische), situationsbedingte bzw. chronischen medizinischen Leiden.
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 9 Der differentialdiagnostischen Klassifikation 2 1 Depressive Episode depressiver Störungen im Kontext der affekti- ven Störungen liegt ein mehrstufiger klinischer Ein wesentliches Merkmal einer klinischen Entscheidungsprozess zugrunde (siehe Abbil- Depression (im Sinne einer depressiven Episode, dung 2): ICD-10: F32 oder einer Major Depression nach DSM) ist die Persistenz der depressiven Kern- 1. Erfüllen Art und Anzahl der depressiven Symp- symptome, die mindestens zwei Wochen lang tome die Schwellenkriterien für eine depressi- klinisch bedeutsam ausgeprägt vorliegen und ve Episode? eine deutliche Veränderung gegenüber dem nor- 2. Ist die Episode leicht-, mittel- oder schwergra- malen Befinden darstellen müssen. Die Kriteri- dig ausgeprägt (anhand der Ausprägung und en einer Depressiven Episode (synonym: Major Anzahl der Symptome)? Depression) (siehe Abbildung 2) erfordern neben 3. Liegt eine rezidivierende Depression oder den Hauptsymptomen Niedergeschlagenheit/ eine Depression im Rahmen einer bipolaren Traurigkeit und Verlust von Interesse und Freude Störung vor? (Gab es früher schon einmal im das Vorliegen einer Reihe weiterer Symptome. Zu Lebensverlauf derartige Episoden? = rezidivie- den Hauptsymptomen in der ICD-10 wird auch rende depressive Störung; traten früher schon der klinisch-bedeutsame Verlust von Antrieb und einmal manische oder hypomane Episoden Energie gezählt. Neben diesen sind zumindest auf? = bipolare Störung) einige weitere Symptome körperlicher, affektiver, 4. Wurde die Depression durch Substanzen kognitiver und verhaltensbezogener Art erforder- (= Substanzinduzierte Depression) oder einen lich, um eine depressive Episode nach ICD (bzw. körperlichen Faktor ausgelöst? Major Depression) zu diagnostizieren. Hierzu Abbildung 2 Kriterien einer depressiven Episode Quelle: modifiziert nach DSM-IV-TR A Mindestens fünf der folgenden Symptome bestehen während derselben zwei-Wochen-Periode und stellen eine Änderung gegenüber der vorher bestehenden Leistungsfähigkeit dar; mindesten eines der Symptome ist entweder (1) depressive Verstimmung oder (2) Verlust an Interesse oder Freude (1) Depressive Verstimmung an fast allen Tagen, für die meiste Zeit des Tages, vom Betroffenen selbst berichtet (z. B. fühlt sich traurig oder leer) oder von Anderen beobachtet (z. B. erscheint den Tränen nahe) (bei Kindern und Jugend- lichen auch eine reizbare Verstimmung) (2) Deutlich vermindertes Interesse oder Freude an allen oder fast allen Aktivitäten, an fast allen Tagen, für die meiste Zeit des Tages (entweder nach subjektivem Ermessen oder von Anderen beobachtet) (3) Deutlicher Gewichtsverlust ohne Diät oder Gewichtszunahme (mehr als 5 % des Körpergewichts in einem Monat) oder verminderter oder gesteigerter Appetit an fast allen Tagen (4) Schlaflosigkeit (Einschlaf-, Durchschlafschwierigkeiten oder frühmorgendliches Erwachen) oder vermehrter Schlaf an fast allen Tagen (5) Psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung an fast allen Tagen (durch Andere beobachtet, nicht nur das sub- jektive Gefühl von Rastlosigkeit oder Verlangsamung) (6) Müdigkeit oder Energieverlust an fast allen Tagen (7) Gefühle von Wertlosigkeit oder übermäßige oder unangemessene Schuldgefühle (die auch wahnhaftes Ausmaß annehmen können) an fast allen Tagen (nicht nur Selbstvorwürfe oder Schuldgefühle wegen der Krankheit) (8) Verminderte Fähigkeit zu denken oder sich zu konzentrieren oder verringerte Entscheidungsfähigkeit an fast allen Tagen (entweder nach subjektivem Ermessen oder von Anderen beobachtet) (9) Wiederkehrende Gedanken an den Tod (nicht nur Angst vor dem Sterben), wiederkehrende Suizidvorstellungen ohne genauen Plan, tatsächlicher Suizidversuch oder genaue Planung eines Suizids. B Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien einer gemischten (manisch und depressiv) bipolaren Episode. C Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. D Die Symptome gehen nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (Droge, Medikament) oder eines medi- zinischen Krankheitsfaktors (z. B. Hyperthyreose) zurück. E Die Symptome können nicht durch eine einfache Trauer erklärt werden.
10 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 gehören Störungen von Appetit und Gewicht, drüsenfunktionsstörungen, bei Hirnerkran- Schlafstörungen, psychomotorische Störungen, kungen wie Hirntumoren und Enzephalitiden Verlust des Selbstwertgefühls, Konzentrations- (Entzündungen des Gehirns) oder in Verbin- störungen, Entscheidungsschwierigkeiten sowie dung mit bestimmten Medikamenten, z. B. bei suizidales Verhalten. Wenn mindestens fünf die- hochdosierter Cortisonbehandlung. In diesen ser Symptome zwei Wochen oder länger vorlie- Fällen spricht man von organischen affektiven gen, wird von Depressiver Episode (bzw. Major Störungen (bzw. Depression aufgrund eines Depression) gesprochen. medizinischen Krankheitsfaktors), die bei Aufgrund der Anzahl und Schwere dieser einer erstmaligen Depression immer unbe- Symptome wird unterteilt in leichte (F32.0), mit- dingt ausgeschlossen werden müssen. telgradige (F32.1) und schwere (F32.2) depressive Episoden. Bei der schwergradigen depressiven Aufgrund von Schweregrad, Verlauf sowie Episode können auch Wahnideen, Halluzinatio- bestimmten Symptommerkmalen des aktuellen nen oder ein Stupor (völlige Erstarrung) auftre- Leidenzustands der Betroffenen werden differen- ten, was die Diagnosestellung einer schwergra- tialdiagnostisch weitere, therapeutisch relevante digen Depression mit psychotischen Merkmalen Subtypen unterschieden (siehe Abbildung 3). (F32.3) erlaubt. Diese Schweregraddifferenzie- rungen werden sowohl für die einmalige depres- sive Episode (F32) wie auch die rezidivierende 2 2 Dysthymia Form (F33) angewendet. Differentialdiagnostisch sind bei der Diag- Wenn die Kriterien einer depressiven Episode nosestellung einer Depression mehrfache Aus- (bzw. Major Depression) nicht erfüllt sind, ist schlussregeln zu beachten: das Vorliegen einer Dysthymie (F34.1) oder dys- thymen Störung zu erwägen. Unter Dysthymie (a) das Vorliegen einer einfachen Trauerreaktion; versteht man im Vergleich zu depressiven Epi- (b) das Auftreten einer Manie oder Hypomanie im soden hinsichtlich Symptomart, -anzahl und Lebensverlauf, in diesen Fällen ist die Diagnose Ausprägungsgrad zwar ein leichteres Störungs- einer bipolaren Störung (F31) zu stellen; bild, welches allerdings jahrelang mit geringen (c) Affektive und insbesondere depressive Symp- Schwankungen besteht. Hauptmerkmal der tome können auch im Verlauf anderer psychi- Dysthymie ist eine chronisch depressive Ver- scher Erkrankungen auftreten, wie der Schi- stimmung, die über mindestens zwei Jahre an zophrenie, der schizoaffektiven Störung oder dem überwiegenden Teil aller Tage vorhanden anderen psychotischen Störungen; ist. Ohne die vollen Kriterien der depressiven Epi- (d) Ferner können depressive Syndrome auch sode zu erfüllen, treten neben Traurigkeit und im Rahmen von Abhängigkeitserkrankungen Niedergeschlagenheit mindestens zwei weitere (Süchten), insbesondere der Alkoholabhängig- Symptome auf, wie reduzierter oder vermehrter keit, auftreten. Sie bedürfen einer besonders Appetit, Schlaflosigkeit oder vermehrtes Schlaf- sorgfältigen Diagnostik. Zum einen im Hin- bedürfnis, Energielosigkeit und Erschöpftheit, blick auf die Abgrenzung zwischen affektiven reduziertes Selbstwertgefühl, Konzentrations- Symptomen, die durch Substanzen wie Alko- und Entscheidungsprobleme oder das Gefühl von hol verursacht werden und die unter Substanz- Hoffnungslosigkeit. Dysthymien beginnen in der Abstinenz spontan abklingen (in diesem Fall Regel im Jugendalter und nehmen meist einen ist die Diagnose substanzinduzierte affektive chronischen Verlauf an. In 10 % – 25 % der Fälle Störung zu vergeben). Zum anderen komorbi- ist die Dysthymie darüber hinaus mit wiederholt de depressive Störungen (Doppeldiagnosen), auftretenden voll ausgeprägten depressiven Epi- die zusätzlich zur Therapie der Substanzabhän- soden verbunden (double depression) [5]. gigkeit gezielt behandelt werden müssen. (e) Depressive Syndrome können auch im Rah- men körperlicher Erkrankungen auftreten, z. B. bei endokrinen Erkrankungen wie Schild-
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 11 Abbildung 3 Diagnose depressiver Episoden nach ICD-10-Kriterien Quelle: nach [4], S. A1755 Hauptsymptome des depressiven Syndroms Traurigkeit/niedergeschlagene Stimmung, Verlust von Interesse, Freude (Verminderung von Antrieb, Aktivität) 2 2 3 + + + 2 3–4 ≥2 Zusatzsymptome z. B. verminderter Appetit, Schlafstörungen, beeinträchtigtes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle und und und Symptome durchgängig 2 Wochen oder mehr/Ausprägung und Anzahl leicht mittelgradig schwer Schweregrad somatische Symptome psychotische Symptome weitere Symptome nein ja nein ja Depressive Episode (mit/ohne somatische Merkmale/psychotische Symptome im Rahmen eines Verlaufsaspekte einzelne Episode rezidivierend chronisch bipolaren Verlaufs ICD-10: F32 xx ICD-10: F33 xx ICD-10: F31 xx 2 3 Sonstige depressive Störungen der genannten und im Folgenden nicht weiter diskutierten Krankheitsformen (rezidivierende Weitere depressive Syndrome und Auffällig- kurze depressive Störung, gemischte Angst- und keiten, die einige klinisch relevante depressive depressive Störung, kurze depressive Reaktion, Symptome, aber weder die Kriterien einer Major Anpassungsstörung) ist also zu beachten, dass Depression, Dysthymie oder bipolaren Störung es sich um Residualdiagnosen handelt, d. h., die erfüllen, werden in der ICD-10 und DSM-IV Voraussetzung für deren Diagnose ist der Aus- unter sonstigen affektiven Störungen (z. B. rezi- schluss anderer, voll ausgeprägter affektiver bzw. divierende kurze depressive Episode, F38.1) sowie Angststörungen. unter neurotischen-, Belastungs- und somato- formen Störungen aufgeführt. Hierzu gehören insbesondere die Anpassungsstörungen (F43.2) 2 4 Bipolare affektive Störungen und die gemischte Angst- und depressive Störung (F41.2). Diese Diagnosen werden gestellt, wenn Von bipolaren affektiven Störungen (F31) wird eine schwerwiegende affektive oder Angststö- immer dann gesprochen, wenn mindestens zwei rung ausgeschlossen werden kann. Bezüglich Episoden affektiver Syndrome manischer und/
12 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 oder depressiver Art auftreten, in denen Stim- Im Verlauf von 20 Jahren erleiden Patientinnen mung und Aktivitätsniveau der Betroffenen und Patienten durchschnittlich fünf bis sechs gestört sind. Im Krankheitsverlauf wechseln sich depressive Episoden. Mit zunehmendem Alter manische oder hypomane Episoden mit depres- steigt nicht nur das Wiedererkrankungsrisiko, siven Episoden ab; die Gesamtdauer depressiver sondern die Episoden können auch an Schwere Zeiten überwiegt zumeist bei weitem die (hypo-) zunehmen [8]. Der Anteil derer, die im Verlauf manischen Zeiten. Manische Episoden werden ihres Lebens lediglich eine depressive Episo- definiert als ein Zeitraum von zumeist Tagen de aufweisen, kann dagegen derzeit noch nicht und Wochen, in dem eine abnorm und anhaltend adäquat geschätzt werden. gehobene, expansive und reizbare Stimmung mit In den akuten depressiven Phasen ist definiti- weiteren Symptomen gesteigerten Antriebs und onsgemäß die Leistungsfähigkeit massiv bis hin vermehrter Aktivität dominiert. Die differential- zur Arbeitsunfähigkeit eingeschränkt, in selte- diagnostische Klassifikation bezieht sich jeweils nen Fällen kommt es zu schwersten Einschrän- auf die Episode, die aktuell im Vordergrund steht. kungen bis hin zur vollständigen Bewegungsun- Bei ca. 4 % – 7 % aller Depressionen entwickeln fähigkeit (Stupor). sich im weiteren Verlauf bipolare Störungen [6]. Als besondere Form kann die depressive Diese sind zumeist durch einen relativ strengen Störung mit saisonalem Muster beschrieben phasenhaften Verlauf mit vollem Rückgang der werden, die umgangssprachlich auch als Win- Krankheitserscheinungen zwischen den depres- terdepression bekannt ist. Charakteristisch ist siven oder manischen Phasen gekennzeichnet. die wiederholte und überwiegend jahreszeitliche Eine sich sehr rasch innerhalb weniger Tage ent- Gebundenheit von Beginn und Ende der depres- wickelnde Depression spricht für das Vorliegen siven Episode. Am häufigsten sind ein Beginn im einer bipolaren Störung [7]. Herbst oder Winter und ein Ende im Frühjahr. Zusätzlich häufig beobachtete Symptome sind Energielosigkeit, übermäßiges Schlaf bedürfnis, 2 5 Verlauf depressiver Erkrankungen vermehrtes Essen, Heißhunger auf Süßigkeiten (Kohlenhydrate) und Gewichtszunahme. Unter Depressive Erkrankungen sind meist episodi- den Menschen, die an dieser Depressionsform lei- sche Störungen und haben überwiegend einen den, finden sich vermehrt solche, die in höheren phasenhaften Verlauf mit längeren symptomfrei- Breitengraden leben und ein jüngeres Lebensal- en Zeiten. Der Beginn einer voll ausgeprägten ter aufweisen. Depression kann akut (Tage, wenige Wochen), subakut (Wochen und Monate) oder schlei- chend sein. Die Dauer der depressiven Episode 3 Diagnostik ist sehr variabel. Die Literatur geht davon aus, dass unbehandelte depressive Episoden meist Die klinische Diagnostik depressiver Störungen zwei bis drei Monate andauern. Unter adäquater erfordert die Anwendung der etablierten diag- psychotherapeutischer und/oder medikamentö- nostischen Kriterien nach ICD-10 oder DSM-IV. ser Behandlung verkürzt sich die Schwere und Hierzu werden in der Forschung und qualitäts- Dauer der depressiven Symptomatik üblicher- gesicherten Praxis verschiedene diagnostische weise erheblich. Depression ist in der Mehrzahl Verfahren eingesetzt. eine wiederkehrende Erkrankung – bis zu 80 % der Patientinnen und Patienten erleben weitere Diagnostische Verfahren: depressive Episoden in den nachfolgenden Jahren. Standardisierte diagnostische Interviews, wie Bei 15 % – 30 % aller Patienten wird davon ausge- z. B. das Composite International Diagnostic gangen, dass sich eine chronische Depression Interview (CIDI, WHO 1990) im epidemiologi- entwickelt (Dauer 2 Jahre und länger) [5]. Zudem schen und ambulanten Bereich sowie das Struk- wird aufgrund klinischer Studien davon ausge- turierte Interview für DSM-IV gelten als »Gold- gangen, dass sich mit steigender Episodenzahl standard-«Instrumente, um die diagnostischen die symptomfreien Zwischenzeiten verkürzen. Kriterien regelhaft umzusetzen. Während diese
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 13 Instrumente alles von der Symptomerfassung Der alleinige Einsatz von Fragebögen oder kli- und Beurteilung bis hin zu ihrer algorithmischen nischen Fremdbeurteilungsskalen wird ebenso und differentialdiagnostischen Ableitung voll- wie die klinische Routinediagnostik wegen der ständig abdecken, liegen Checklisten-Verfahren mangelhaften Zuverlässigkeit abgelehnt. Frage- vor, die jedoch keine expliziten Anleitungen zur bögen führen zumeist zu einer Überschätzung Erfassung und klinischen Beurteilung geben. der wahren Häufigkeit (Prävalenz), während für die ärztliche Routinediagnostik sowohl Über- Depressionsskalen und Screeningverfahren: wie auch Unterschätzungen dokumentiert sind. Um das Vorhandensein depressiver Symptome Fragebögen bilden zwar gut das aktuelle erlebte und ihren Schweregrad zu beschreiben und zu Ausmaß an Depressivität ab; dieses ist jedoch erfassen, können eine Vielzahl sogenannter diagnostisch unspezifisch und spiegelt in erster Depressionsskalen eingesetzt werden. Hierzu Linie die Befindlichkeit wider. Daher sollte auf gehören auf der Ebene der Selbstbeurteilungs- der Grundlage von Fragebogendiagnostik besser verfahren (Patientenbeurteilung) u. a. die Cen- von depressiven Syndromen (gleichzeitiges Vor- ter of Epidemiological Studies Depression Sca- liegen verschiedener Symptome) als von Diagno- le (CES-D) und das Beck Depression Inventory sen im engeren Sinne (z. B. im Sinne des ICD-10 (BDI) [9]. Umstritten ist, inwieweit Verfahren wie oder DSM-IV) gesprochen werden. der WHO-5 Well Being Index [10] geeignet sind, Unterschiedliche Erhebungsstrategien und zu entscheiden, ob eine depressive Erkrankung Definitionen haben grundlegende Auswirkun- wahrscheinlich ist. gen auf die Prävalenzschätzung (siehe Abbildung Klinische Beurteilungsverfahren, wie die 4): Depressive Symptome oder vorübergehende Hamilton Depression Scale (HAMD [11]) können depressive Stimmungslage (untere Ebene Abbil- zur Schweregradbestimmung benutzt werden, dung 4), wie sie zum Beispiel als bestimmende sind allerdings nicht für die klinische Diagnostik Merkmale des depressiven Syndroms über Fra- der Depression geeignet. Zum Depressionsscree- gebögen erfasst werden, sind mit über 26 % etwa ning werden auch klinische Screeningverfahren dreimal häufiger wie der Anteil der Personen, der wie der Gesundheitsfragebogen für Patienten die strikten Kriterien einer depressiven Episode (PHQ-D [12]) eingesetzt. erfüllt (8 %) [13]. Abbildung 4 Pyramide depressiver Beschwerden: von depressiven Symptomen zur klinischen Depression in der Allgemeinbevölkerung (12-Monats-Querschnittsprävalenz) Quelle: [13] 8% DSM-IV 12 % Depressive Syndrome 26 % Depressive Symptome
14 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 Eine Herausforderung bei der Diagnostik 4 Ursachen und Risikofaktoren depressiver Störungen z. B. im hausärztlichen Sektor besteht gelegentlich darin, dass die Pati- Bei der Entstehung psychischer Störungen, wie entinnen und Patienten oft nicht spontan über auch der Depression ist stets von einem multi- depressive Verstimmung und andere depressive faktoriellen Geschehen auszugehen. Biologische Hauptsymptome klagen, sondern körperliche (z. B. genetische Prädispositionen), psychische Beschwerden in den Vordergrund stellen. Es ist (z. B. kognitive Defizite) und soziale (z. B. Arbeits- bis heute nicht geklärt, inwieweit dieses Verhal- losigkeit, Partnerschaftsprobleme) Faktoren wir- ten auf die Erwartungshaltung von Betroffenen ken dabei zusammen. Bisher liegt keine einheitli- zurückzuführen ist, dass Hausärztinnen und che, empirisch gestützte Theorie zur Entstehung Hausärzte ihnen bei psychischen Störungen der Depression vor. möglicherweise nicht helfen können. Oder ob Nach den so genannten Vulnerabilitäts-Stress- Patientinnen und Patienten das Stigma befürch- Modellen [14] entstehen depressive Störungen ten, das vielerorts noch mit Depressionen und durch die Interaktion aktueller oder chronischer psychischen Störungen verbunden wird. Depres- Belastungen (Stressoren, auslösende Faktoren) siv Erkrankte befürchten durch das Bekannt- mit neurobiologischen bzw. psychischen Verän- werden einer psychischen Diagnose nachteilige derungen sowie anderen modifizierenden Variab- Folgen für ihr Berufs- und Privatleben. Dieses len (vorherige psychische Störungen etc.) vor dem Verhalten, verbunden mit unzureichendem Hintergrund einer Veranlagung (Vulnerabilität) Wissen von Allgemeinärztinnen und -ärzten einer Person (siehe Abbildung 5). Dabei unter- hinsichtlich einer verlässlichen Depressionsdia- scheiden sich die bestehenden Modelle zumeist gnostik, wird dafür verantwortlich gemacht, dass nur hinsichtlich des Ausmaßes, in dem biologi- viele Depressive gar nicht oder erst verspätet diag- sche, psychologische oder soziale Aspekte betont nostiziert werden. Es ist davon auszugehen, dass werden sowie danach in welchem Ausmaß daraus ein großer Anteil an Depression Erkrankter trotz therapeutische Konsequenzen zu ziehen sind. Arztbesuch unerkannt bleibt. Demzufolge wird Angesichts der extrem hohen Anzahl von zunehmend versucht – z. B. vom Kompetenznetz Vulnerabilitäts- und Risikofaktoren sowie mögli- Depression (www.kompetenznetz-depression.de) cher wechselseitiger, funktionaler und zeitlicher – geeignete Diagnoseverfahren zu etablieren und Abhängigkeiten bleibt unklar, wie diese Vielzahl insbesondere die Hausärztinnen und -ärzte in von Faktoren auf eine übersichtliche Anzahl von Qualitätszirkeln für das Krankheitsbild Depres- ursächlichen Faktoren bzw. Prozessen reduziert sion zu sensibilisieren. werden kann. Dennoch seien an dieser Stelle einige der zentralen Faktoren aufgeführt, die bei Entstehung und Aufrechterhaltung von Depres- sionen eine Rolle spielen. Abbildung 5 Psychische und körperliche Ursachen der Depression, zwei Seiten der gleichen Medaille Quelle: nach [15] Psychosoziale Aspekte Neurobiologische Aspekte Vulnerabilität z. B. negative Lebenserfahrungen z. B. genetische Faktoren Auslöser z. B. akute psychosoziale z. B. Überaktivität der Belastung, Stress Depression Stresshormonachse Depressiver Zustand z. B. depressive Symptomatik z. B. neurochemische Dysfunktionen (Serotonin, Neuroadrenalin) Therapie z. B. Psychotherapie z. B. Pharmakotherapie
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 15 4 1 Genetische Faktoren Kindheit, kritische Lebensereignisse und feh- lende soziale Unterstützung vor der Erkrankung Als weitgehend gesichert gilt, dass die Veranla- sowie das Persönlichkeitsmerkmal erhöhter Neu- gung zur Depression z. T. genetisch mitbedingt rotizismus. Dies legt nahe anzunehmen, dass die ist; wobei von mehreren beteiligten Genen auszu- Vulnerabilität für depressive Erkrankungen teil- gehen ist. Eine familiäre Häufung von Depressio- weise vererbt wird, aber erst in Kombination mit nen gilt als sehr gut belegt [16]. Kinder depressiver psychosozialen Faktoren zu einem Auftreten der Patientinnen und Patienten haben im Vergleich Depression führen kann [22]. zur Normalbevölkerung ein erhöhtes Risiko an Ein wesentlicher genetischer Vulnerabilitäts- einer affektiven Störung zu erkranken [16, 17] (sie- faktor für das Auftreten einer Depression wird he Tabelle 1). in einer Variation in der Promotorregion des Tabelle 1 Zusammenhang zwischen elterlicher Depression und depressiven Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen Quelle: [18] Gruppeneinteilung nach elterlicher Erkrankung Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen Depressive Episode Dysthymie Bipolare Störung kein Elternteil mit einer depressiven Episode 12,3 % 1,8 % 1,0 % ein Elternteil mit einer depressiven Episode 26,1 % 5,3 % 3,2 % beide Elternteile mit einer depressiven Episode 28,5 % 6,8 % 5,0 % In Zwillingsstudien konnte darüber hinaus Serotonin-Transportergens 5-HTTLPR vermu- belegt werden, dass die Konkordanzrate (Konkor- tet (5-HTTLPR steht dabei für Serotonin (5-HT) danz bezeichnet die Übereinstimmung wichtiger Transporter (T) Length (L) Polymorphic (P) Regi- Merkmale bei Zwillingen) bei depressiven Stö- on (R). Das Gen befindet sich auf dem Chromo- rungen 44 % für eineiige Zwillinge und 20 % für som 17q11.1–q12). Es kommt in der Bevölkerung in zweieiige Zwillinge beträgt. Genetiker berechnen unterschiedlichen Formen vor. Träger des kurzen daraus eine so genannte Heritabilität (Erblich- Allels reagieren empfindsamer auf psychosozia- keit), die zwischen 40 % – 71 % liegen kann (z. B. le Stressbelastungen und haben damit ein unter [19]). Der Verwandtschaftsgrad und die Zusam- Umständen doppelt so großes Risiko (Dispositi- menhänge mit dem Erkrankungsrisiko weisen on), an einer Depression zu erkranken, wie die bei der Erkrankungswahrscheinlichkeit auf gene- Träger des langen Allels. Zudem soll das Gen für tische Einflüsse hin [18]. den Serotonin-Transporter auch die Entwicklung Hinsichtlich der Übertragung innerhalb der und die Funktion eines wichtigen Emotions- Familie können einige Besonderheiten festgehal- schaltkreises zwischen Amygdala (Mandelkern) ten werden: Je früher die Ersterkrankung desto und dem vorderen subgenualen cingulären Cor- stärker ist die familiär-genetische Belastung; tex beeinflussen. Dabei wird diskutiert, dass bei innerfamiliär verjüngt sich das Ersterkrankungs- den Trägern des kurzen Allels die physiologische alter; es erfolgt eine verstärkte familiäre Übertra- »Bremsfunktion« des Gyrus cinguli (Gürtelwin- gung; es existieren keine Geschlechtsunterschie- dung) auf die stressbedingten negativen Angst- de in der Stärke des genetischen Einflusses [20]. gefühle in den Mandelkernen nicht ausreichend Zwischen genetischen Faktoren und Umweltfak- stattfinden kann. Da die negativen Gefühle somit toren können Wechselbedingungen bestehen. nicht ausreichend gedämpft werden können, kom- Eine weitere Zwillingsstudie beschreibt Faktoren me es schließlich zu einer depressiven Stimmung in der psychosozialen Entwicklung, die die gene- [19, 20] (vgl. auch Imaging Genetics). Allerdings tische Disposition ergänzen, verstärken bzw. mit konnte in einer Meta-Analyse [23], unter Ein- dieser interagieren [21]. Zu diesen Ereignissen schluss von Daten von mehr als 14.000 Menschen und Persönlichkeitsfaktoren zählen Verluster- aus 14 zuvor veröffentlichen Studien, insgesamt lebnisse und Traumatisierungen in der frühen kein erhöhtes Risiko für depressive Erkrankun-
16 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 gen mit der Ausprägung des Serotonintranspor- rungen auf [26]. Die Anfälligkeit dafür scheint tergens 5-HTTLPR bestätigt werden. genetisch bedingt zu sein und durch Umweltein- Weitere Kandidatengene, die mit dem Auftre- flüsse verstärkt zu werden. Obgleich diese Stö- ten von Depressionen in Verbindung gebracht rung möglicherweise relativ häufig vorkommt, ist werden, codieren Enzyme bzw. Rezeptoren, die sie keineswegs regelmäßig so stark ausgeprägt, ebenfalls vor allem im Serotoninstoffwechsel eine dass eine gezielte Behandlung erforderlich ist; wichtige Funktion innehaben: hierzu gehören schwere Fälle hingegen können mit Medika- der Serotoninrezeptor 2A (5-HT2A), die Tyrosin- menten behandelt werden. Viele Frauen leiden hydroxylase (TH) und die Tryptophanhydroxylase im Wochenbett an einer kurzzeitigen depressi- 1 (TPH1). Auch die Catechol-O-Methyltransfera- ven Verstimmung (postpartale Depression), dem se (COMT; katecholaminabbauendes Enzym) sogenannten Baby-Blues. Erst wenn die Symp- scheint mit dem Auftreten von Depressionen ver- tome über einen längeren Zeitraum andauern, bunden zu sein [24]. die emotionale Zuwendung zum Neugeborenen stark beeinträchtigt ist und bis zu dessen Ver- nachlässigung führen, handelt es sich um eine 4 2 Neurobiologische Faktoren ernsthafte Wochenbettdepression. Ob Frauen während oder nach der Menopause (Wechseljah- Depressive Störungen stehen mit bestimmten re) anfälliger für eine Depression sind, ließ sich neurobiologischen Faktoren in Zusammenhang, bis jetzt nicht abschließend klären [26]. welche die Bereitschaft zu erkranken oder das Rückfallrisiko erhöhen [25]. Veränderte Funkti- onsabläufe im Gehirn, z. B. bedingt durch ver- 4 3 Psychosoziale Belastungsfaktoren änderte Funktion der Botenstoffe (z. B. Seroto- nin, Noradrenalin) zwischen den Nervenzellen, Die Entstehung der Depression wird im Rahmen werden als ursächlich diskutiert (Überblick dazu der Psychologie durch lerntheoretische und kog- [22]). Antidepressive Medikamente setzen an die- nitive Modelle erklärt. Die Verstärker-Verlust-The- ser Stelle an und bringen den Hirn-Stoffwechsel orie als lerntheoretisches Modell beschreibt einen wieder ins Gleichgewicht. Allerdings zeigt sich Mangel an positiver Verstärkung (Belohnung) als eine Normalisierung des Hirn-Stoffwechsels entscheidend bei der Entstehung und Aufrechter- auch nach einer erfolgreichen Psychotherapie. haltung einer depressiven Erkrankung [27]. Die Dies unterstreicht die Schwierigkeit, Ursache und fehlende positive Verstärkung vermindert das Wirkung z. B. einer Serotonin-Unterversorgung Wohlbefinden und ist mit negativem Affekt (z. B. im Gehirn und depressivem Verhalten eindeutig Niedergeschlagenheit und Resignation) verbun- zu entscheiden. Bisher ist es nicht gelungen, eine den. Eine abwärtsgerichtete Depressionsspirale genau definierte Funktionsstörung im Gehirn zu wird als Folge angenommen. Der Verlust der lokalisieren, die unmittelbar für das Auftreten Sozialpartner (Tod, Scheidung, Trennung) gilt als der depressiven Symptome verantwortlich ist. negativer Verstärker und ist von sozialem Rück- Hormonelle Veränderungen gehen ebenfalls zug und negativen Emotionen begleitet. mit schweren Depressionen einher; es werden Nach der kognitiven Theorie von Beck [28, 29] dauerhaft Stresshormone (z. B. Cortisol) ausge- entsteht Depression durch verschiedene For- schüttet. Dies führt zu seelischen und körperli- men von dysfunktionalen Kognitionen und chen Auswirkungen. Ursache ist eine Überakti- deren Beziehungen zueinander: Pessimistische vität der hormonellen Stressachse, bestehend aus Ansichten von sich selbst, der Umwelt und der Hypothalamus, Hypophyse und Nebennieren Zukunft (sog. Kognitive Triade) stehen in Verbin- [22]. Frauen sind in Zeiten mit großen Hormon- dung mit negativen Überzeugungen, die durch schwankungen – vor der Menstruation oder nach negative Lebenserfahrungen ausgelöst werden. einer Geburt – anfälliger für eine Depression. Diese Überzeugungen oder negativen Schema- Beim prämenstruellen dysphorischen Syndrom ta sind wiederum mit kognitiven Verzerrungen treten bei bis zu 3 % – 8 % aller Frauen zwischen (z. B. Über- und Untertreibung) verbunden, die Ovulation und Menstruation depressive Stö- in der Depression münden.
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 17 Die experimentell abgeleitete Theorie der darauf, dass Mädchen eine höhere Wahrschein- gelernten Hilflosigkeit geht von Depression als lichkeit traumatischer Kindheitserlebnisse (z. B. erlerntem Verhalten aus [30]. Durch die wieder- sexueller Missbrauch) haben als Jungen, was wie- holte Erfahrung mangelnder Kontrolle über Situ- derum zu erhöhtem Auftreten von psychischen ationen und unangenehme Konsequenzen, wird Störungen führen könnte [35]. Diskutiert wird, ob Passivität und das Gefühl, selbst nicht handeln Personen mit einem bestimmten Serotonintrans- bzw. sein Leben nicht steuern zu können (Hilflo- portergenotyp und traumatischen Ereignissen in sigkeit) gelernt und verfestigt [31]. Negative Ereig- der Kindheit ein besonders hohes Risiko aufwei- nisse werden als unkontrollierbar und unverän- sen, an einer Depression zu erkranken [36]. derlich gewertet. Die konkrete Erfahrung der Hilflosigkeit und deren Verallgemeinerung füh- ren in die Depression. In der revidierten Fassung 4 4 Persönlichkeitsfaktoren dieser Theorie [32] kommt das Konzept der Attri- bution hinzu: Wenn eine Situation nicht erfolg- Persönlichkeitseigenschaften werden ebenfalls reich bewältigt wird, schreibt man den Misser- als Risikofaktoren diskutiert. Bei der Entstehung folg irgendeiner Ursache zu. Depression entsteht depressiver Episoden fällt dem so genannten demnach, wenn erwünschte Ziele als unerreich- Typus melancholicus [37] eine besondere Bedeu- bar und negative Ergebnisse für unvermeidbar tung zu. Personen mit dieser Persönlichkeits- gelten, die Misserfolge zusätzlich der eigenen, struktur zeichnen sich durch überdurchschnitt- dauerhaften Unzulänglichkeit zugeschrieben liches Festgelegtsein auf Ordentlichkeit und werden und in Folge dessen das Selbstwertge- Ordnung sowie Gewissenhaftigkeit und Pflicht- fühl sinkt. Die Hoffnungslosigkeitstheorie [33] – bewusstsein aus; dies sowohl im Arbeitsleben eine Weiterentwicklung der Hilflosigkeitstheorie als auch in zwischenmenschlichen Beziehungen – sieht als weitere Ursache für einige depressive mit zwanghaften Zügen [22, 38, 39]. Bei bipolaren Erkrankungen die Hoffnungslosigkeit. Diese Depressionen treten eher Neurotizismus und Int- zeichnet sich dadurch aus, dass erstrebenswerte rovertiertheit als Risikofaktoren auf [22, 38, 39]. Ereignisse nicht bzw. unerwünschte Ereignisse eintreten und keine Gelegenheit vorhanden ist, diesen Zustand zu ändern. Wird dann zusätzlich 4 5 Frühere psychische Störungen im Sinne der eigenen, dauerhaften Unzuläng- lichkeit attribuiert und herrscht ein geringes oder Personen, die bereits die Kriterien für eine Angst- instabiles Selbstwertgefühl vor, tritt ein »Hilf- störung erfüllen, haben ein deutlich erhöhtes Risi- losigkeitssyndrom« auf, das in vieler Hinsicht ko, auch eine Depression zu entwickeln. Dieser dem depressiven Syndrom ähnelt. Zusammenhang zeigt sich anhand von Daten der Akute psychosoziale Belastungen wie Verlust prospektiv-longitudinalen EDSP-Studie [40, 41] oder Tod einer wichtigen Bezugsperson, Arbeits- bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Die platzverlust oder chronische Überlastungssitu- Depressionsraten sind über alle Angststörungen ationen können als Auslöser einer depressiven hinweg zwei bis dreimal höher als bei denjenigen Erkrankung fungieren und in diese einmünden. ohne Angststörungen (siehe Abbildung 6). Als Allerdings kommt es nur bei einer geringen Erklärung für diesen Befund können einerseits Anzahl von Personen, die von schwerwiegen- Folgeprobleme im Zuge der Einschränkungen den Ereignissen betroffen sind, zum Ausbruch durch die Angststörung, andererseits aber auch einer psychischen Erkrankung [34]. Ein weiterer die Annahme von gemeinsamen Vulnerabili- Punkt betrifft Risiko- und Stressfaktoren, denen tätsfaktoren (z. B. Neurotizismus) für Angst und Frauen im Vergleich zu Männern eher ausgesetzt Depression herangezogen werden. sind. Dazu zählen Armut, Benachteiligung in der Arbeitswelt und Rollenüberlastung (Rolle als Mut- ter, Arbeitnehmerin, Partnerin etc.). Diese Fak- toren können zur Ausbildung von psychischen Störungen führen. Zudem gibt es viele Hinweise
18 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 Abbildung 6 Kumuliertes Risiko einer sekundären depressiven Störung bei Fällen mit einer Angststörung in der Vorgeschichte Quelle: EDSP 2001 Anteil in Prozent 60 50 40 30 20 10 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 Ersterkrankungsalter in Jahren Generalisierte Angststörung Agoraphobie Panikstörung Soziale Phobie Spezifische Phobie keine Angststörung 4 6 Körperliche Erkrankungen 5 Verbreitung Körperliche Beschwerden und Erkrankungen Depressive Störungen gehören zu den häufigs- können ebenfalls Depressionen verursachen. So ten Erkrankungen. Aussagen zur Verbreitung gelten Schilddrüsenfunktionsstörungen, insbe- von depressiven Störungen in der Bundesrepu- sondere ein Übermaß der Schilddrüsenhormone, blik Deutschland basieren u. a. auf repräsenta- als beeinflussende Faktoren bei der Entstehung tiven Daten aus dem Zusatzmodul »Psychische von Depression [42]. Schwere körperliche Erkran- Störungen« des Bundes-Gesundheitssurveys kungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Schä- 1998 (BGS98) [6, 48, 49, 50, 51], Auskünften bei del-Hirn-Trauma können Depression nach sich telefonischen Befragungen (Gesundheitssurveys) ziehen [43, 44, 45]. Weitere Erkrankungen, die sowie Depressions-Screening-Studien in Allge- gehäuft mit einer Depression assoziiert auftre- meinarztpraxen [52]. ten, sind: Pankreaskarzinom, AIDS, Hirntumor, Morbus Parkinson, Morbus Alzheimer, Diabetes mellitus oder auch terminale Niereninsuffizienz 5 1 Häufigkeit in der erwachsenen Allgemein- [46]. Das Erkennen der Depression bei körperlich bevölkerung Erkrankten ist von wesentlicher Bedeutung, da die Störungen Einfluss auf die Überlebenszeit, Im Zusatzmodul »Psychische Störungen« des z. B. nach Herzinfarkt, auf die Länge des Kran- Bundes-Gesundheitssurveys 1998 [1, 50, 53] wur- kenhausaufenthaltes, die Compliance sowie die den insgesamt 4.181 Teilnehmer im Alter von Lebensqualität haben [47]. 18 bis 65 Jahren durch klinisch geschultes Perso- nal mittels Composite International Diagnostic Interview (M-CIDI, [54]) befragt. Die Daten zei- gen, dass die Prävalenz depressiver Störungen in Deutschland ähnlich hoch ist wie in den meisten anderen vergleichbaren Studien im EU-Raum aus den letzten Jahren.
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51 19 Im Zeitraum von einem Jahr leiden 12 % der größer (6 %) als der Anteil derer mit einzelnen Allgemeinbevölkerung im Alter von 18 bis 65 depressiven Episoden (5 %); dieses Verhältnis Jahren (das entspricht fast sechs Millionen Men- ist bei Männern genau umgekehrt (3 % vs. 2 %). schen) unter einer affektiven Störung (12-Monats- Zusammen mit der höheren Prävalenz für die Prävalenz). Die Zahl derjenigen, die irgendwann Dysthymie bei Frauen wird deutlich, dass Frauen im Laufe ihres Lebens an einer Depression nicht nur häufiger jemals an Depression erkran- erkranken ist jedoch weitaus größer: die Lebens- ken, sondern auch häufiger an rezidivierender zeitprävalenz liegt bei 19 % (Frauen: 25 %, Män- Depression sowie einem chronischen Depressi- ner: 12 %). Die 12-Monats-Querschnittsprävalenz onsverlauf leiden. depressiver Störungen (unter Ausschluss depres- Diese Zahlen sind als konservative Schätzung siver Episoden im Rahmen bipolarer Erkran- anzusehen, da weder Kinder und Jugendliche, kungen) bei 18- bis 65-jährigen Personen in der noch Personen höheren Alters berücksichtigt Allgemeinbevölkerung beträgt 11 % (siehe Tabelle wurden. Während das Erkrankungsrisiko für 2). D. h. in Deutschland sind zwischen 5 und 6 Depression bei Kindern und Jugendlichen bis Millionen Menschen in diesem Altersbereich in zum 14. Lebensjahr recht niedrig liegt (2 % – 3 %), den letzten 12 Monaten an Depression erkrankt. ist bei Jugendlichen (Alter 15 bis 17 Jahre) nach Frauen sind mit 14 % in allen Altersgruppen neueren Befunden in Deutschland von einer ungefähr doppelt so häufig wie Männer (8 %) nahezu ähnlich hohen Querschnittsprävalenz betroffen. Der Geschlechtsunterschied fällt wie bei jungen Erwachsenen auszugehen [55]. allerdings in der jüngsten Altersgruppe deut- Demgegenüber erscheint die Prävalenz der lich geringer aus (12 % vs. 8 %) als in den höhe- Depression jenseits des 60. Lebensjahres in die- ren Altersgruppen. Die höchsten Werte ergeben sen epidemiologischen Studien mit expliziten sich für die Gruppe der 40- bis 65-jährigen Frau- diagnostischen Kriterien deutlich niedriger; die en (17 % bzw. 16 %). Der Anteil rezidivierender Gültigkeit dieses Befundes zur Prävalenz im Depression ist bei Frauen aller Altersgruppen hohen Alter ist allerdings umstritten. Tabelle 2 12-Monats-Prävalenz affektiver Störungen in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung Quelle: BGS98 Irgendeine Major Depression MD, MD, Dysthyme Störung depressive Störung1 (MD) einzelne Episode rezidivierend Gesamt 10,9 % 8,3 % 4,3 % 4,0 % 4,5 % 18 – 29 Jahre 9,5 % 8,0 % 4,7 % 3,4 % 2,7 % 30 – 39 Jahre 9,7 % 7,5 % 3,1 % 4,4 % 3,8 % 40 – 49 Jahre 12,4 % 9,8 % 5,4 % 4,4 % 5,3 % 50 – 65 Jahre 11,6 % 8,1 % 4,2 % 3,9 % 5,7 % Frauen 14,2 % 11,2 % 5,1 % 6,1 % 5,8 % 18 – 29 Jahre 11,5 % 9,5 % 4,6 % 4,9 % 3,5 % 30 – 39 Jahre 12,4 % 10,0 % 3,5 % 6,5 % 4,7 % 40 – 49 Jahre 16,6 % 14,0 % 7,2 % 6,9 % 6,4 % 50 – 65 Jahre 15,6 % 11,3 % 5,4 % 5,9 % 7,6 % Männer 7,6 % 5,5 % 3,4 % 2,0 % 3,2 % 18 – 29 Jahre 7,5 % 6,6 % 4,8 % 1,9 % 1,8 % 30 – 39 Jahre 7,2 % 5,1 % 2,8 % 2,3 % 3,0 % 40 – 49 Jahre 8,3 % 5,7 % 3,7 % 2,0 % 4,1 % 50 – 65 Jahre 7,4 % 4,8 % 2,9 % 1,9 % 3,8 % 1 Major Depression (einzelne Episode oder wiederkehrend) und/oder Dysthyme Störung
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