Gesundheitsberichterstattung des Bundes - Heft 51 Depressive Erkrankungen ROBERT KOCH INSTITUT - Gesundheitsberichterstattung des ...

 
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ROBERT KOCH INSTITUT
                    Statistisches Bundesamt

      Heft 51
      Depressive Erkrankungen

Gesundheitsberichterstattung des Bundes
Gesundheitsberichterstattung des Bundes
Heft 51

Depressive Erkrankungen

Autoren: Hans-Ulrich Wittchen, Frank Jacobi, Michael Klose und Livia Ryl

Herausgeber: Robert Koch-Institut, Berlin 2010
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51   3

Gesundheitsberichterstattung des Bundes

Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes                 gebündelt und gemeinsam herausgegeben
(GBE) liefert daten- und indikatorengestützte               werden. Die fortlaufende Erscheinungsweise
Beschreibungen und Analysen zu allen Bereichen              gewährleistet Aktualität. Die Autorinnen und
des Gesundheitswesens.                                      Autoren sind ausgewiesene Expertinnen und
                                                            Experten aus dem jeweiligen Bereich.
                                                            www.rki.de
               Rahmenbedingungen
              des Gesundheitswesens
                                                      ▶ Informationssystem der Gesundheitsbericht-
                                                        erstattung des Bundes
               Gesundheitliche Lage                     ▶ Das Informationssystem der Gesundheits-
                                                           berichterstattung des Bundes liefert als
                                                           Online-Datenbank schnell, kompakt und
                                                           transparent gesundheitsrelevante Informa-
         Gesundheits-        Gesundheits-                  tionen zu allen Themenfeldern der Gesund-
         verhalten und        probleme,                    heitsberichterstattung. Die Informationen
        -gefährdungen        Krankheiten                   werden in Form von individuell gestaltbaren
                                                           Tabellen, übersichtlichen Grafiken, verständ-
                                                           lichen Texten und präzisen Definitionen
                                                           bereitgestellt und können heruntergeladen
         Leistungen und Inanspruchnahme
                                                           werden. Das System wird ständig ausgebaut.
                                                           Derzeit sind aktuelle Informationen aus
                                                           über 100 Datenquellen abrufbar. Zusätzlich
                                                           können über dieses System die GBE-The-
       Ressourcen der         Ausgaben,
        Gesundheits-          Kosten und                   menhefte sowie weitere GBE-Publikationen
         versorgung          Finanzierung                  abgerufen werden.
                                                           www.gbe-bund.de

Als dynamisches und in ständiger Aktualisierung       ▶ Schwerpunktberichte
begriffenes System bietet die Gesundheitsbericht-       ▶ In den Schwerpunktberichten werden spe-
erstattung des Bundes die Informationen zu den            zielle Themen der Gesundheit und des Ge-
Themenfeldern in Form sich ergänzender und                sundheitssystems detailliert und umfassend
aufeinander beziehender Produkte an:                      beschrieben.
                                                          www.rki.de
▶ Themenhefte der Gesundheitsberichterstattung
  des Bundes                                          ▶ GBE kompakt
  ▶ In den Themenheften werden spezifische              ▶ Die Online-Publikationsreihe GBE kompakt
     Informationen zum Gesundheitszustand                 präsentiert in knapper Form Daten und Fak-
     der Bevölkerung und zum Gesundheitssys-              ten zu aktuellen gesundheitlichen Themen
     tem handlungsorientiert und übersichtlich            und Fragestellungen. Die vierteljährliche
     präsentiert. Jedes Themenheft lässt sich             Veröffentlichung erfolgt ausschließlich in
     einem der GBE-Themenfelder zuordnen;                 elektronischer Form.
     der innere Aufbau folgt ebenfalls der Struktur       www.rki.de/gbe-kompakt
     der Themenfelder. Somit bieten die Themen-
     felder der GBE sowohl den Rahmen als auch        Die Aussagen der Gesundheitsberichterstattung
     die Gliederung für die Einzelhefte. Inhalt-      des Bundes beziehen sich auf die nationale, bun-
     lich zusammengehörende Themen können             desweite Ebene und haben eine Referenzfunktion
4    Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51

    für die Gesundheitsberichterstattung der Länder.        heitspolitikerinnen und -politiker, Expertinnen
    Auf diese Weise stellt die GBE des Bundes eine          und Experten in wissenschaftlichen Forschungs-
    fachliche Grundlage für politische Entscheidun-         einrichtungen und die Fachöffentlichkeit. Zur
    gen bereit und bietet allen Interessierten eine         Zielgruppe gehören auch Bürgerinnen und Bürger,
    datengestützte Informationsgrundlage. Darüber           Patientinnen und Patienten, Verbraucherinnen
    hinaus dient sie der Erfolgskontrolle durchge-          und Verbraucher und ihre jeweiligen Verbände.
    führter Maßnahmen und trägt zur Entwicklung                  Das vorliegende Heft 51 der Gesundheits-
    und Evaluierung von Gesundheitszielen bei.              berichterstattung des Bundes »Depressive Erkran-
         Der Leser- und Nutzerkreis der GBE-Produkte        kungen« lässt sich folgendermaßen in das
    ist breit gefächert: Angesprochen sind Gesund-          Gesamtspektrum der Themenfelder einordnen:

                 Rahmenbedingungen
                des Gesundheitswesens

                 Gesundheitliche Lage

           Gesundheits-          Gesundheits-
                                                           Psychische und               Depressive
           verhalten und          probleme,
                                                         Verhaltensstörungen           Erkrankungen
          -gefährdungen          Krankheiten

           Leistungen und Inanspruchnahme

         Ressourcen der           Ausgaben,
          Gesundheits-            Kosten und
           versorgung            Finanzierung
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51                                            5

Inhaltsverzeichnis

           1     Einleitung                                                                                                                         7

           2     Krankheitsformen                                                                                                                   7
           2.1   Depressive Episode . . . . . . . .    .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .9
           2.2   Dysthymia . . . . . . . . . . . . .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   10
           2.3   Sonstige depressive Störungen . .     .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   11
           2.4   Bipolare affektive Störungen . . .    .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   11
           2.5   Verlauf depressiver Erkrankungen.     .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   12

           3     Diagnostik                                                                                                                        12

           4     Ursachen und Risikofaktoren                                                                                                       14
           4.1   Genetische Faktoren . . . . . . .     .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   15
           4.2   Neurobiologische Faktoren . . . .     .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   16
           4.3   Psychosoziale Belastungsfaktoren      .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   16
           4.4   Persönlichkeitsfaktoren . . . . . .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   17
           4.5   Frühere psychische Störungen . .      .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   17
           4.6   Körperliche Erkrankungen . . . .      .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   18

           5     Verbreitung                                                                                                                       18
           5.1   Häufigkeit in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung .                              .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   18
           5.2   Häufigkeit in der Allgemeinarztpraxis. . . . . . . . . .                          .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   20
           5.3   Inzidenz und Ersterkrankungsalter . . . . . . . . . . .                           .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   21
           5.4   Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                          .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   21
           5.5   Depression in Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . .                           .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   22
           5.6   Häufigkeit der Depression im Alter . . . . . . . . . . .                          .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   23

           6     Folgen                                                                             24
           6.1   Auswirkungen auf die Sterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
           6.2   Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
           6.3   Ökonomische Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

           7     Versorgung                                                                                                                        26
           7.1   Versorgungsangebote . . . . . . . . . . . .               .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   26
           7.2   Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .            .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   28
           7.3   Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . .                .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   29
           7.4   Psychotherapeutische Behandlung . . . . .                 .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   30
           7.5   Behandlungsquote und Inanspruchnahme .                    .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   32
           7.6   Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . .            .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   32

           8     Prävention                                                                                                                        32

           9     Perspektive                                                                                                                       33

           10    Literatur                                                                                                                         35

           11    Glossar                                                                                                                           41
6   Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51   7

Depressive Erkrankungen

1 Einleitung

Depressionen gehören zu den häufigsten Formen      Die derzeit etablierten Behandlungsmöglichkei-
psychischer Erkrankungen. Sie haben aufgrund       ten werden im Zusammenhang mit der Versor-
ihrer Häufigkeit, ihrer Komplikationen und         gungsstruktur im deutschen Gesundheitswesen
Folgen eine herausragende klinische, gesund-       diskutiert.
heitspolitische und gesundheitsökonomische
Bedeutung. Neue nationale und internationale
Bevölkerungsstudien haben verlässliche und         2 Krankheitsformen
konsistente Abschätzungen der Verbreitung
von Depressionen und der assoziierten Folgen       Depressive Erkrankungen sind den so genannten
und Behinderungen bereitgestellt. In Überein-      affektiven Störungen (ICD-10: F30–F39) zuge-
stimmung mit Trends der Arbeitsunfähigkeits-       ordnet (siehe Abbildung 1). Affektive Erkrankun-
statistiken liefern diese Studien auch Hinweise    gen sind ein Sammelbegriff für verschiedene
auf eine Zunahme depressiver Erkrankungen.         Formen depressiver und sogenannter manisch
Nach Studien der Weltgesundheitsorganisation       bzw. manisch-depressiver Erkrankungen (auch
(WHO), der Weltbank und des European Brain         bipolare Erkrankungen genannt, siehe ICD-10:
Council [1] sind Depressionen in Europa und        F30–F31). Bei diesen stehen klinisch-bedeutsame
Deutschland seit Anfang der 1990er-Jahre noch      und beeinträchtigende Störungen von Affekt,
vor anderen Volkskrankheiten wie Diabetes mel-     Stimmung und damit einhergehenden Kogniti-
litus oder koronaren Herzerkrankungen als die      onen im Vordergrund des Störungsbildes. Affek-
gesellschaftlich belastendste Krankheitsgruppe     tive Störungen und Depressionen werden auf der
einzuordnen. Zu dieser Einschätzung kommen         Grundlage der ICD-10 (International Classifica-
regelmäßige Untersuchungen unter Führung der       tion of Diseases; in der zehnten Überarbeitung)
WHO, die für alle Erkrankungen – psychische        oder des im Forschungskontext gebräuchlichen
wie körperliche – anhand von Häufigkeit, Dauer     US-amerikanischen Diagnosenmanuals DSM-
und Schwere einer Erkrankung sowie den damit       IV-TR (Diagnostic and Statistical Manual of Men-
verbundenen Beeinträchtigungen und Behinde-        tal Disorders; vierte Auflage) über klinische und
rungen einheitliche Methoden und Indikatoren       explizit ausformulierte diagnostische Kriterien
einsetzen (z. B. Disability Adjusted Life Years,   diagnostiziert. Diese Kriterien beruhen in erster
DALY) [2].                                         Linie auf den Symptomen der Erkrankung, ihrer
    Aber nicht nur die klinische, epidemiologi-    Persistenz (Fortbestehen) und Schwere, den dar-
sche und gesundheitsökonomische Bedeutung,         aus resultierenden Einschränkungen und Behin-
sondern auch die in verschiedenen Studien          derungen sowie ihrem Verlauf. Beide Klassifikati-
aufgedeckten Versorgungsdefizite machen die        onssysteme weisen im Hinblick auf Depressionen
Depression zu einem vorrangigen Problem des        eine gute Übereinstimmung auf, unterscheiden
Gesundheitssystems. Eine allumfassende Dar-        sich aber geringfügig hinsichtlich der berück-
stellung des Krankheitsbildes kann mit dem hier    sichtigten Symptomgruppen sowie den Schwel-
vorliegenden Themenheft nicht vorgenommen          lenwerten für eine depressive Episode (s. u.).
werden. Stattdessen werden schwerpunktartig            Depressionen lassen sich nach diesen Krite-
Themen herausgegriffen.                            rien (siehe Abbildung 1) zuverlässig und trenn-
    Zunächst wird ein kurzer Überblick über die    scharf von normalen Stimmungsschwankungen
Formen depressiver Erkrankungen, ihre Diagnos-     abgrenzen. Sie ermöglichen eine zuverlässige dif-
tik und ihre Ursachen sowie deren Häufigkeit in    ferentialdiagnostische Abgrenzung von anderen
der deutschen Bevölkerung gegeben. Vertiefend      psychischen Störungen, wie auch verschiedener
erfolgt die Darstellung depressiver Erkrankun-     Formen depressiver Erkrankungen untereinan-
gen bei Kindern und Jugendlichen sowie Älteren.    der.
8      Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51

    Abbildung 1
    Klassifikation affektiver Störungen nach ICD-10, F30–F39
    Quelle: [3]

      F30     Manische Episode                                      F33 Rezidivierende depressive Störung
      F30.0   Hypomanie                                             F33.0 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig
      F30.1   Manie ohne psychotische Symptome                            leichte Episode
      F30.2   Manie mit psychotischen Symptomen                     F33.1 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig
      F30.8   Sonstige manische Episoden                                  mittelgradige Episode
      F30.9   Manische Episode, nicht näher bezeichnet              F33.2 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig
                                                                          schwere Episode ohne psychotische Symptome
      F31 Bipolare affektive Störung                                F33.3 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig
      F31.0 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig hypomani-             schwere Episode mit psychotischen Symptomen
            sche Episode                                            F33.4 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig
      F31.1 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische              remittiert
            Episode ohne psychotische Symptome                      F33.8 Sonstige rezidivierende depressive Störungen
      F31.2 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische        F33.9 Rezidivierende depressive Störung, nicht näher
            Episode mit psychotischen Symptomen                           bezeichnet
      F31.3 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig leichte oder
            mittelgradige depressive Episode                        F34     Anhaltende affektive Störungen
      F31.4 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig schwere         F34.0   Zyklothymia
            depressive Episode ohne psychotische Symptome           F34.1   Dysthymia
      F31.5 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig schwere        F34.8   Sonstige anhaltende affektive Störungen
            depressive Episode mit psychotischen Symptomen          F34.9   Anhaltende affektive Störung, nicht näher
      F31.6 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig gemischte              bezeichnet
            Episode
      F31.7 Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig remittiert     F38     Andere affektive Störungen
      F31.8 Sonstige bipolare affektive Störungen                   F38.1   Andere rezidivierende affektive Störungen
      F31.9 Bipolare affektive Störung, nicht näher bezeichnet      F38.8   Sonstige näher bezeichnete affektive Störungen
                                                                    F38.0   Andere einzelne affektive Störungen
      F32   Depressive Episode
      F32.0 Leichte depressive Episode                              F39     Nicht näher bezeichnete affektive Störung
      F32.1 Mittelgradige depressive Episode
      F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychotische
            Symptome
      F32.3 Schwere depressive Episode mit psychotischen
            Symptomen
      F32.8 Sonstige depressive Episoden
      F32.9 Depressive Episode, nicht näher bezeichnet

       Allerdings zeigt sich, dass diese Kriterien noch            (reaktive) und körperliche Ursachen hat, so dass
    keinen flächendeckenden Eingang in die klinische               diese Krankheitskonzeption wenig zuverlässig
    Praxis gefunden haben, so dass oft noch ältere,                und nützlich ist und besser durch den rein deskrip-
    weniger zuverlässige bzw. klinisch-intuitive Prak-             tiven und neutraleren Begriff depressive Störung
    tiken vorkommen können. Dies lässt sich dadurch                oder Erkrankung ersetzt werden sollte.
    erklären, dass vor Einführung der modernen diag-                   In der Laienöffentlichkeit sind Begriffe wie
    nostischen Kriterien nach ICD-10 und DSM in                    depressiv und Depression, wenn sie sich nicht
    der Forschung und Praxis eine eher ätiologische,               explizit auf die modernen Depressionskriterien
    also an den vermeintlichen Ursachen orientierte                beziehen, kein verlässlicher Ausdruck für eine
    Diagnostik mit den traditionellen diagnostischen               behandlungsbedürftige psychische Störung. Sie
    Begrifflichkeiten neurotische, reaktive oder endo-             gelten lediglich als Platzhalter für viele Formen
    gene (d. h. körperlich bedingte) Depression ver-               von negativen Befindlichkeiten, sei es im Zusam-
    breitet war. Die moderne Forschung hat jedoch                  menhang mit sozialen Stressereignissen und
    gezeigt, dass jede Depression mehr oder weniger                Belastungssituationen, Konflikten oder akuten
    fehlangepasste (neurotische), situationsbedingte               bzw. chronischen medizinischen Leiden.
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51          9

   Der differentialdiagnostischen Klassifikation                2 1 Depressive Episode
depressiver Störungen im Kontext der affekti-
ven Störungen liegt ein mehrstufiger klinischer                 Ein wesentliches Merkmal einer klinischen
Entscheidungsprozess zugrunde (siehe Abbil-                     Depression (im Sinne einer depressiven Episode,
dung 2):                                                        ICD-10: F32 oder einer Major Depression nach
                                                                DSM) ist die Persistenz der depressiven Kern-
1. Erfüllen Art und Anzahl der depressiven Symp-                symptome, die mindestens zwei Wochen lang
   tome die Schwellenkriterien für eine depressi-               klinisch bedeutsam ausgeprägt vorliegen und
   ve Episode?                                                  eine deutliche Veränderung gegenüber dem nor-
2. Ist die Episode leicht-, mittel- oder schwergra-             malen Befinden darstellen müssen. Die Kriteri-
   dig ausgeprägt (anhand der Ausprägung und                    en einer Depressiven Episode (synonym: Major
   Anzahl der Symptome)?                                        Depression) (siehe Abbildung 2) erfordern neben
3. Liegt eine rezidivierende Depression oder                    den Hauptsymptomen Niedergeschlagenheit/
   eine Depression im Rahmen einer bipolaren                    Traurigkeit und Verlust von Interesse und Freude
   Störung vor? (Gab es früher schon einmal im                  das Vorliegen einer Reihe weiterer Symptome. Zu
   Lebensverlauf derartige Episoden? = rezidivie-               den Hauptsymptomen in der ICD-10 wird auch
   rende depressive Störung; traten früher schon                der klinisch-bedeutsame Verlust von Antrieb und
   einmal manische oder hypomane Episoden                       Energie gezählt. Neben diesen sind zumindest
   auf? = bipolare Störung)                                     einige weitere Symptome körperlicher, affektiver,
4. Wurde die Depression durch Substanzen                        kognitiver und verhaltensbezogener Art erforder-
   (= Substanzinduzierte Depression) oder einen                 lich, um eine depressive Episode nach ICD (bzw.
   körperlichen Faktor ausgelöst?                               Major Depression) zu diagnostizieren. Hierzu

Abbildung 2
Kriterien einer depressiven Episode
Quelle: modifiziert nach DSM-IV-TR

 A Mindestens fünf der folgenden Symptome bestehen während derselben zwei-Wochen-Periode und stellen eine Änderung
   gegenüber der vorher bestehenden Leistungsfähigkeit dar; mindesten eines der Symptome ist entweder (1) depressive
   Verstimmung oder (2) Verlust an Interesse oder Freude
   (1) Depressive Verstimmung an fast allen Tagen, für die meiste Zeit des Tages, vom Betroffenen selbst berichtet (z. B.
       fühlt sich traurig oder leer) oder von Anderen beobachtet (z. B. erscheint den Tränen nahe) (bei Kindern und Jugend-
       lichen auch eine reizbare Verstimmung)
   (2) Deutlich vermindertes Interesse oder Freude an allen oder fast allen Aktivitäten, an fast allen Tagen, für die meiste
       Zeit des Tages (entweder nach subjektivem Ermessen oder von Anderen beobachtet)
   (3) Deutlicher Gewichtsverlust ohne Diät oder Gewichtszunahme (mehr als 5 % des Körpergewichts in einem Monat)
       oder verminderter oder gesteigerter Appetit an fast allen Tagen
   (4) Schlaflosigkeit (Einschlaf-, Durchschlafschwierigkeiten oder frühmorgendliches Erwachen) oder vermehrter Schlaf
        an fast allen Tagen
   (5) Psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung an fast allen Tagen (durch Andere beobachtet, nicht nur das sub-
       jektive Gefühl von Rastlosigkeit oder Verlangsamung)
   (6) Müdigkeit oder Energieverlust an fast allen Tagen
   (7) Gefühle von Wertlosigkeit oder übermäßige oder unangemessene Schuldgefühle (die auch wahnhaftes Ausmaß
       annehmen können) an fast allen Tagen (nicht nur Selbstvorwürfe oder Schuldgefühle wegen der Krankheit)
   (8) Verminderte Fähigkeit zu denken oder sich zu konzentrieren oder verringerte Entscheidungsfähigkeit an fast allen
       Tagen (entweder nach subjektivem Ermessen oder von Anderen beobachtet)
   (9) Wiederkehrende Gedanken an den Tod (nicht nur Angst vor dem Sterben), wiederkehrende Suizidvorstellungen
        ohne genauen Plan, tatsächlicher Suizidversuch oder genaue Planung eines Suizids.

 B Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien einer gemischten (manisch und depressiv) bipolaren Episode.
 C Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen
   oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
 D Die Symptome gehen nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (Droge, Medikament) oder eines medi-
   zinischen Krankheitsfaktors (z. B. Hyperthyreose) zurück.
 E Die Symptome können nicht durch eine einfache Trauer erklärt werden.
10     Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51

     gehören Störungen von Appetit und Gewicht,                drüsenfunktionsstörungen, bei Hirnerkran-
     Schlafstörungen, psychomotorische Störungen,              kungen wie Hirntumoren und Enzephalitiden
     Verlust des Selbstwertgefühls, Konzentrations-            (Entzündungen des Gehirns) oder in Verbin-
     störungen, Entscheidungsschwierigkeiten sowie             dung mit bestimmten Medikamenten, z. B. bei
     suizidales Verhalten. Wenn mindestens fünf die-           hochdosierter Cortisonbehandlung. In diesen
     ser Symptome zwei Wochen oder länger vorlie-              Fällen spricht man von organischen affektiven
     gen, wird von Depressiver Episode (bzw. Major             Störungen (bzw. Depression aufgrund eines
     Depression) gesprochen.                                   medizinischen Krankheitsfaktors), die bei
        Aufgrund der Anzahl und Schwere dieser                 einer erstmaligen Depression immer unbe-
     Symptome wird unterteilt in leichte (F32.0), mit-         dingt ausgeschlossen werden müssen.
     telgradige (F32.1) und schwere (F32.2) depressive
     Episoden. Bei der schwergradigen depressiven               Aufgrund von Schweregrad, Verlauf sowie
     Episode können auch Wahnideen, Halluzinatio-           bestimmten Symptommerkmalen des aktuellen
     nen oder ein Stupor (völlige Erstarrung) auftre-       Leidenzustands der Betroffenen werden differen-
     ten, was die Diagnosestellung einer schwergra-         tialdiagnostisch weitere, therapeutisch relevante
     digen Depression mit psychotischen Merkmalen           Subtypen unterschieden (siehe Abbildung 3).
     (F32.3) erlaubt. Diese Schweregraddifferenzie-
     rungen werden sowohl für die einmalige depres-
     sive Episode (F32) wie auch die rezidivierende         2 2 Dysthymia
     Form (F33) angewendet.
        Differentialdiagnostisch sind bei der Diag-         Wenn die Kriterien einer depressiven Episode
     nosestellung einer Depression mehrfache Aus-           (bzw. Major Depression) nicht erfüllt sind, ist
     schlussregeln zu beachten:                             das Vorliegen einer Dysthymie (F34.1) oder dys-
                                                            thymen Störung zu erwägen. Unter Dysthymie
     (a) das Vorliegen einer einfachen Trauerreaktion;      versteht man im Vergleich zu depressiven Epi-
     (b) das Auftreten einer Manie oder Hypomanie im        soden hinsichtlich Symptomart, -anzahl und
         Lebensverlauf, in diesen Fällen ist die Diagnose   Ausprägungsgrad zwar ein leichteres Störungs-
         einer bipolaren Störung (F31) zu stellen;          bild, welches allerdings jahrelang mit geringen
     (c) Affektive und insbesondere depressive Symp-        Schwankungen besteht. Hauptmerkmal der
         tome können auch im Verlauf anderer psychi-        Dysthymie ist eine chronisch depressive Ver-
         scher Erkrankungen auftreten, wie der Schi-        stimmung, die über mindestens zwei Jahre an
         zophrenie, der schizoaffektiven Störung oder       dem überwiegenden Teil aller Tage vorhanden
         anderen psychotischen Störungen;                   ist. Ohne die vollen Kriterien der depressiven Epi-
     (d) Ferner können depressive Syndrome auch             sode zu erfüllen, treten neben Traurigkeit und
         im Rahmen von Abhängigkeitserkrankungen            Niedergeschlagenheit mindestens zwei weitere
         (Süchten), insbesondere der Alkoholabhängig-       Symptome auf, wie reduzierter oder vermehrter
         keit, auftreten. Sie bedürfen einer besonders      Appetit, Schlaflosigkeit oder vermehrtes Schlaf-
         sorgfältigen Diagnostik. Zum einen im Hin-         bedürfnis, Energielosigkeit und Erschöpftheit,
         blick auf die Abgrenzung zwischen affektiven       reduziertes Selbstwertgefühl, Konzentrations-
         Symptomen, die durch Substanzen wie Alko-          und Entscheidungsprobleme oder das Gefühl von
         hol verursacht werden und die unter Substanz-      Hoffnungslosigkeit. Dysthymien beginnen in der
         Abstinenz spontan abklingen (in diesem Fall        Regel im Jugendalter und nehmen meist einen
         ist die Diagnose substanzinduzierte affektive      chronischen Verlauf an. In 10 % – 25 % der Fälle
         Störung zu vergeben). Zum anderen komorbi-         ist die Dysthymie darüber hinaus mit wiederholt
         de depressive Störungen (Doppeldiagnosen),         auftretenden voll ausgeprägten depressiven Epi-
         die zusätzlich zur Therapie der Substanzabhän-     soden verbunden (double depression) [5].
         gigkeit gezielt behandelt werden müssen.
     (e) Depressive Syndrome können auch im Rah-
         men körperlicher Erkrankungen auftreten,
         z. B. bei endokrinen Erkrankungen wie Schild-
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51   11

Abbildung 3
Diagnose depressiver Episoden nach ICD-10-Kriterien
Quelle: nach [4], S. A1755

                          Hauptsymptome des depressiven Syndroms
                Traurigkeit/niedergeschlagene Stimmung, Verlust von Interesse,
                          Freude (Verminderung von Antrieb, Aktivität)

                        2                     2                       3
                        +                     +                       +
                         2                   3–4                      ≥2
                                      Zusatzsymptome
                         z. B. verminderter Appetit, Schlafstörungen,
            beeinträchtigtes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle

                      und                    und                     und

           Symptome durchgängig 2 Wochen oder mehr/Ausprägung und Anzahl

                     leicht              mittelgradig               schwer                          Schweregrad

           somatische Symptome                               psychotische Symptome                  weitere Symptome

         nein                      ja                    nein                       ja

       Depressive Episode (mit/ohne somatische Merkmale/psychotische Symptome

                                                                      im Rahmen eines               Verlaufsaspekte
      einzelne Episode             rezidivierend chronisch
                                                                      bipolaren Verlaufs

       ICD-10: F32 xx                   ICD-10: F33 xx                    ICD-10: F31 xx

2 3 Sonstige depressive Störungen                               der genannten und im Folgenden nicht weiter
                                                                diskutierten Krankheitsformen (rezidivierende
Weitere depressive Syndrome und Auffällig-                      kurze depressive Störung, gemischte Angst- und
keiten, die einige klinisch relevante depressive                depressive Störung, kurze depressive Reaktion,
Symptome, aber weder die Kriterien einer Major                  Anpassungsstörung) ist also zu beachten, dass
Depression, Dysthymie oder bipolaren Störung                    es sich um Residualdiagnosen handelt, d. h., die
erfüllen, werden in der ICD-10 und DSM-IV                       Voraussetzung für deren Diagnose ist der Aus-
unter sonstigen affektiven Störungen (z. B. rezi-               schluss anderer, voll ausgeprägter affektiver bzw.
divierende kurze depressive Episode, F38.1) sowie               Angststörungen.
unter neurotischen-, Belastungs- und somato-
formen Störungen aufgeführt. Hierzu gehören
insbesondere die Anpassungsstörungen (F43.2)                    2 4 Bipolare affektive Störungen
und die gemischte Angst- und depressive Störung
(F41.2). Diese Diagnosen werden gestellt, wenn                  Von bipolaren affektiven Störungen (F31) wird
eine schwerwiegende affektive oder Angststö-                    immer dann gesprochen, wenn mindestens zwei
rung ausgeschlossen werden kann. Bezüglich                      Episoden affektiver Syndrome manischer und/
12     Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51

     oder depressiver Art auftreten, in denen Stim-        Im Verlauf von 20 Jahren erleiden Patientinnen
     mung und Aktivitätsniveau der Betroffenen             und Patienten durchschnittlich fünf bis sechs
     gestört sind. Im Krankheitsverlauf wechseln sich      depressive Episoden. Mit zunehmendem Alter
     manische oder hypomane Episoden mit depres-           steigt nicht nur das Wiedererkrankungsrisiko,
     siven Episoden ab; die Gesamtdauer depressiver        sondern die Episoden können auch an Schwere
     Zeiten überwiegt zumeist bei weitem die (hypo-)       zunehmen [8]. Der Anteil derer, die im Verlauf
     manischen Zeiten. Manische Episoden werden            ihres Lebens lediglich eine depressive Episo-
     definiert als ein Zeitraum von zumeist Tagen          de aufweisen, kann dagegen derzeit noch nicht
     und Wochen, in dem eine abnorm und anhaltend          adäquat geschätzt werden.
     gehobene, expansive und reizbare Stimmung mit            In den akuten depressiven Phasen ist definiti-
     weiteren Symptomen gesteigerten Antriebs und          onsgemäß die Leistungsfähigkeit massiv bis hin
     vermehrter Aktivität dominiert. Die differential-     zur Arbeitsunfähigkeit eingeschränkt, in selte-
     diagnostische Klassifikation bezieht sich jeweils     nen Fällen kommt es zu schwersten Einschrän-
     auf die Episode, die aktuell im Vordergrund steht.    kungen bis hin zur vollständigen Bewegungsun-
        Bei ca. 4 % – 7 % aller Depressionen entwickeln    fähigkeit (Stupor).
     sich im weiteren Verlauf bipolare Störungen [6].         Als besondere Form kann die depressive
     Diese sind zumeist durch einen relativ strengen       Störung mit saisonalem Muster beschrieben
     phasenhaften Verlauf mit vollem Rückgang der          werden, die umgangssprachlich auch als Win-
     Krankheitserscheinungen zwischen den depres-          terdepression bekannt ist. Charakteristisch ist
     siven oder manischen Phasen gekennzeichnet.           die wiederholte und überwiegend jahreszeitliche
     Eine sich sehr rasch innerhalb weniger Tage ent-      Gebundenheit von Beginn und Ende der depres-
     wickelnde Depression spricht für das Vorliegen        siven Episode. Am häufigsten sind ein Beginn im
     einer bipolaren Störung [7].                          Herbst oder Winter und ein Ende im Frühjahr.
                                                           Zusätzlich häufig beobachtete Symptome sind
                                                           Energielosigkeit, übermäßiges Schlaf bedürfnis,
     2 5 Verlauf depressiver Erkrankungen                  vermehrtes Essen, Heißhunger auf Süßigkeiten
                                                           (Kohlenhydrate) und Gewichtszunahme. Unter
     Depressive Erkrankungen sind meist episodi-           den Menschen, die an dieser Depressionsform lei-
     sche Störungen und haben überwiegend einen            den, finden sich vermehrt solche, die in höheren
     phasenhaften Verlauf mit längeren symptomfrei-        Breitengraden leben und ein jüngeres Lebensal-
     en Zeiten. Der Beginn einer voll ausgeprägten         ter aufweisen.
     Depression kann akut (Tage, wenige Wochen),
     subakut (Wochen und Monate) oder schlei-
     chend sein. Die Dauer der depressiven Episode         3 Diagnostik
     ist sehr variabel. Die Literatur geht davon aus,
     dass unbehandelte depressive Episoden meist           Die klinische Diagnostik depressiver Störungen
     zwei bis drei Monate andauern. Unter adäquater        erfordert die Anwendung der etablierten diag-
     psychotherapeutischer und/oder medikamentö-           nostischen Kriterien nach ICD-10 oder DSM-IV.
     ser Behandlung verkürzt sich die Schwere und          Hierzu werden in der Forschung und qualitäts-
     Dauer der depressiven Symptomatik üblicher-           gesicherten Praxis verschiedene diagnostische
     weise erheblich. Depression ist in der Mehrzahl       Verfahren eingesetzt.
     eine wiederkehrende Erkrankung – bis zu 80 %
     der Patientinnen und Patienten erleben weitere        Diagnostische Verfahren:
     depressive Episoden in den nachfolgenden Jahren.      Standardisierte diagnostische Interviews, wie
     Bei 15 % – 30 % aller Patienten wird davon ausge-     z. B. das Composite International Diagnostic
     gangen, dass sich eine chronische Depression          Interview (CIDI, WHO 1990) im epidemiologi-
     entwickelt (Dauer 2 Jahre und länger) [5]. Zudem      schen und ambulanten Bereich sowie das Struk-
     wird aufgrund klinischer Studien davon ausge-         turierte Interview für DSM-IV gelten als »Gold-
     gangen, dass sich mit steigender Episodenzahl         standard-«Instrumente, um die diagnostischen
     die symptomfreien Zwischenzeiten verkürzen.           Kriterien regelhaft umzusetzen. Während diese
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51   13

Instrumente alles von der Symptomerfassung                    Der alleinige Einsatz von Fragebögen oder kli-
und Beurteilung bis hin zu ihrer algorithmischen           nischen Fremdbeurteilungsskalen wird ebenso
und differentialdiagnostischen Ableitung voll-             wie die klinische Routinediagnostik wegen der
ständig abdecken, liegen Checklisten-Verfahren             mangelhaften Zuverlässigkeit abgelehnt. Frage-
vor, die jedoch keine expliziten Anleitungen zur           bögen führen zumeist zu einer Überschätzung
Erfassung und klinischen Beurteilung geben.                der wahren Häufigkeit (Prävalenz), während für
                                                           die ärztliche Routinediagnostik sowohl Über-
Depressionsskalen und Screeningverfahren:                  wie auch Unterschätzungen dokumentiert sind.
Um das Vorhandensein depressiver Symptome                  Fragebögen bilden zwar gut das aktuelle erlebte
und ihren Schweregrad zu beschreiben und zu                Ausmaß an Depressivität ab; dieses ist jedoch
erfassen, können eine Vielzahl sogenannter                 diagnostisch unspezifisch und spiegelt in erster
Depressionsskalen eingesetzt werden. Hierzu                Linie die Befindlichkeit wider. Daher sollte auf
gehören auf der Ebene der Selbstbeurteilungs-              der Grundlage von Fragebogendiagnostik besser
verfahren (Patientenbeurteilung) u. a. die Cen-            von depressiven Syndromen (gleichzeitiges Vor-
ter of Epidemiological Studies Depression Sca-             liegen verschiedener Symptome) als von Diagno-
le (CES-D) und das Beck Depression Inventory               sen im engeren Sinne (z. B. im Sinne des ICD-10
(BDI) [9]. Umstritten ist, inwieweit Verfahren wie         oder DSM-IV) gesprochen werden.
der WHO-5 Well Being Index [10] geeignet sind,                Unterschiedliche Erhebungsstrategien und
zu entscheiden, ob eine depressive Erkrankung              Definitionen haben grundlegende Auswirkun-
wahrscheinlich ist.                                        gen auf die Prävalenzschätzung (siehe Abbildung
    Klinische Beurteilungsverfahren, wie die               4): Depressive Symptome oder vorübergehende
Hamilton Depression Scale (HAMD [11]) können               depressive Stimmungslage (untere Ebene Abbil-
zur Schweregradbestimmung benutzt werden,                  dung 4), wie sie zum Beispiel als bestimmende
sind allerdings nicht für die klinische Diagnostik         Merkmale des depressiven Syndroms über Fra-
der Depression geeignet. Zum Depressionsscree-             gebögen erfasst werden, sind mit über 26 % etwa
ning werden auch klinische Screeningverfahren              dreimal häufiger wie der Anteil der Personen, der
wie der Gesundheitsfragebogen für Patienten                die strikten Kriterien einer depressiven Episode
(PHQ-D [12]) eingesetzt.                                   erfüllt (8 %) [13].

Abbildung 4
Pyramide depressiver Beschwerden: von depressiven Symptomen zur klinischen Depression
in der Allgemeinbevölkerung (12-Monats-Querschnittsprävalenz)
Quelle: [13]

                                    8%
                                   DSM-IV

                                     12 %
                              Depressive Syndrome

                                     26 %
                             Depressive Symptome
14      Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51

        Eine Herausforderung bei der Diagnostik                      4 Ursachen und Risikofaktoren
     depressiver Störungen z. B. im hausärztlichen
     Sektor besteht gelegentlich darin, dass die Pati-               Bei der Entstehung psychischer Störungen, wie
     entinnen und Patienten oft nicht spontan über                   auch der Depression ist stets von einem multi-
     depressive Verstimmung und andere depressive                    faktoriellen Geschehen auszugehen. Biologische
     Hauptsymptome klagen, sondern körperliche                       (z. B. genetische Prädispositionen), psychische
     Beschwerden in den Vordergrund stellen. Es ist                  (z. B. kognitive Defizite) und soziale (z. B. Arbeits-
     bis heute nicht geklärt, inwieweit dieses Verhal-               losigkeit, Partnerschaftsprobleme) Faktoren wir-
     ten auf die Erwartungshaltung von Betroffenen                   ken dabei zusammen. Bisher liegt keine einheitli-
     zurückzuführen ist, dass Hausärztinnen und                      che, empirisch gestützte Theorie zur Entstehung
     Hausärzte ihnen bei psychischen Störungen                       der Depression vor.
     möglicherweise nicht helfen können. Oder ob                         Nach den so genannten Vulnerabilitäts-Stress-
     Patientinnen und Patienten das Stigma befürch-                  Modellen [14] entstehen depressive Störungen
     ten, das vielerorts noch mit Depressionen und                   durch die Interaktion aktueller oder chronischer
     psychischen Störungen verbunden wird. Depres-                   Belastungen (Stressoren, auslösende Faktoren)
     siv Erkrankte befürchten durch das Bekannt-                     mit neurobiologischen bzw. psychischen Verän-
     werden einer psychischen Diagnose nachteilige                   derungen sowie anderen modifizierenden Variab-
     Folgen für ihr Berufs- und Privatleben. Dieses                  len (vorherige psychische Störungen etc.) vor dem
     Verhalten, verbunden mit unzureichendem                         Hintergrund einer Veranlagung (Vulnerabilität)
     Wissen von Allgemeinärztinnen und -ärzten                       einer Person (siehe Abbildung 5). Dabei unter-
     hinsichtlich einer verlässlichen Depressionsdia-                scheiden sich die bestehenden Modelle zumeist
     gnostik, wird dafür verantwortlich gemacht, dass                nur hinsichtlich des Ausmaßes, in dem biologi-
     viele Depressive gar nicht oder erst verspätet diag-            sche, psychologische oder soziale Aspekte betont
     nostiziert werden. Es ist davon auszugehen, dass                werden sowie danach in welchem Ausmaß daraus
     ein großer Anteil an Depression Erkrankter trotz                therapeutische Konsequenzen zu ziehen sind.
     Arztbesuch unerkannt bleibt. Demzufolge wird                        Angesichts der extrem hohen Anzahl von
     zunehmend versucht – z. B. vom Kompetenznetz                    Vulnerabilitäts- und Risikofaktoren sowie mögli-
     Depression (www.kompetenznetz-depression.de)                    cher wechselseitiger, funktionaler und zeitlicher
     – geeignete Diagnoseverfahren zu etablieren und                 Abhängigkeiten bleibt unklar, wie diese Vielzahl
     insbesondere die Hausärztinnen und -ärzte in                    von Faktoren auf eine übersichtliche Anzahl von
     Qualitätszirkeln für das Krankheitsbild Depres-                 ursächlichen Faktoren bzw. Prozessen reduziert
     sion zu sensibilisieren.                                        werden kann. Dennoch seien an dieser Stelle
                                                                     einige der zentralen Faktoren aufgeführt, die bei
                                                                     Entstehung und Aufrechterhaltung von Depres-
                                                                     sionen eine Rolle spielen.

     Abbildung 5
     Psychische und körperliche Ursachen der Depression, zwei Seiten der gleichen Medaille
     Quelle: nach [15]

                                  Psychosoziale Aspekte                                          Neurobiologische Aspekte

                Vulnerabilität    z. B. negative Lebenserfahrungen                                 z. B. genetische Faktoren

                     Auslöser     z. B. akute psychosoziale                                            z. B. Überaktivität der
                                  Belastung, Stress                      Depression                     Stresshormonachse

         Depressiver Zustand      z. B. depressive Symptomatik                           z. B. neurochemische Dysfunktionen
                                                                                                  (Serotonin, Neuroadrenalin)

                     Therapie     z. B. Psychotherapie                                               z. B. Pharmakotherapie
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51    15

4 1 Genetische Faktoren                                    Kindheit, kritische Lebensereignisse und feh-
                                                           lende soziale Unterstützung vor der Erkrankung
Als weitgehend gesichert gilt, dass die Veranla-           sowie das Persönlichkeitsmerkmal erhöhter Neu-
gung zur Depression z. T. genetisch mitbedingt             rotizismus. Dies legt nahe anzunehmen, dass die
ist; wobei von mehreren beteiligten Genen auszu-           Vulnerabilität für depressive Erkrankungen teil-
gehen ist. Eine familiäre Häufung von Depressio-           weise vererbt wird, aber erst in Kombination mit
nen gilt als sehr gut belegt [16]. Kinder depressiver      psychosozialen Faktoren zu einem Auftreten der
Patientinnen und Patienten haben im Vergleich              Depression führen kann [22].
zur Normalbevölkerung ein erhöhtes Risiko an                  Ein wesentlicher genetischer Vulnerabilitäts-
einer affektiven Störung zu erkranken [16, 17] (sie-       faktor für das Auftreten einer Depression wird
he Tabelle 1).                                             in einer Variation in der Promotorregion des

Tabelle 1
Zusammenhang zwischen elterlicher Depression und depressiven Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen
Quelle: [18]

Gruppeneinteilung nach elterlicher Erkrankung                          Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen
                                                  Depressive Episode            Dysthymie       Bipolare Störung
kein Elternteil mit einer depressiven Episode                 12,3 %                 1,8 %                 1,0 %
ein Elternteil mit einer depressiven Episode                  26,1 %                 5,3 %                 3,2 %
beide Elternteile mit einer depressiven Episode               28,5 %                 6,8 %                 5,0 %

   In Zwillingsstudien konnte darüber hinaus               Serotonin-Transportergens 5-HTTLPR vermu-
belegt werden, dass die Konkordanzrate (Konkor-            tet (5-HTTLPR steht dabei für Serotonin (5-HT)
danz bezeichnet die Übereinstimmung wichtiger              Transporter (T) Length (L) Polymorphic (P) Regi-
Merkmale bei Zwillingen) bei depressiven Stö-              on (R). Das Gen befindet sich auf dem Chromo-
rungen 44 % für eineiige Zwillinge und 20 % für            som 17q11.1–q12). Es kommt in der Bevölkerung in
zweieiige Zwillinge beträgt. Genetiker berechnen           unterschiedlichen Formen vor. Träger des kurzen
daraus eine so genannte Heritabilität (Erblich-            Allels reagieren empfindsamer auf psychosozia-
keit), die zwischen 40 % – 71 % liegen kann (z. B.         le Stressbelastungen und haben damit ein unter
[19]). Der Verwandtschaftsgrad und die Zusam-              Umständen doppelt so großes Risiko (Dispositi-
menhänge mit dem Erkrankungsrisiko weisen                  on), an einer Depression zu erkranken, wie die
bei der Erkrankungswahrscheinlichkeit auf gene-            Träger des langen Allels. Zudem soll das Gen für
tische Einflüsse hin [18].                                 den Serotonin-Transporter auch die Entwicklung
   Hinsichtlich der Übertragung innerhalb der              und die Funktion eines wichtigen Emotions-
Familie können einige Besonderheiten festgehal-            schaltkreises zwischen Amygdala (Mandelkern)
ten werden: Je früher die Ersterkrankung desto             und dem vorderen subgenualen cingulären Cor-
stärker ist die familiär-genetische Belastung;             tex beeinflussen. Dabei wird diskutiert, dass bei
innerfamiliär verjüngt sich das Ersterkrankungs-           den Trägern des kurzen Allels die physiologische
alter; es erfolgt eine verstärkte familiäre Übertra-       »Bremsfunktion« des Gyrus cinguli (Gürtelwin-
gung; es existieren keine Geschlechtsunterschie-           dung) auf die stressbedingten negativen Angst-
de in der Stärke des genetischen Einflusses [20].          gefühle in den Mandelkernen nicht ausreichend
Zwischen genetischen Faktoren und Umweltfak-               stattfinden kann. Da die negativen Gefühle somit
toren können Wechselbedingungen bestehen.                  nicht ausreichend gedämpft werden können, kom-
Eine weitere Zwillingsstudie beschreibt Faktoren           me es schließlich zu einer depressiven Stimmung
in der psychosozialen Entwicklung, die die gene-           [19, 20] (vgl. auch Imaging Genetics). Allerdings
tische Disposition ergänzen, verstärken bzw. mit           konnte in einer Meta-Analyse [23], unter Ein-
dieser interagieren [21]. Zu diesen Ereignissen            schluss von Daten von mehr als 14.000 Menschen
und Persönlichkeitsfaktoren zählen Verluster-              aus 14 zuvor veröffentlichen Studien, insgesamt
lebnisse und Traumatisierungen in der frühen               kein erhöhtes Risiko für depressive Erkrankun-
16     Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51

     gen mit der Ausprägung des Serotonintranspor-         rungen auf [26]. Die Anfälligkeit dafür scheint
     tergens 5-HTTLPR bestätigt werden.                    genetisch bedingt zu sein und durch Umweltein-
        Weitere Kandidatengene, die mit dem Auftre-        flüsse verstärkt zu werden. Obgleich diese Stö-
     ten von Depressionen in Verbindung gebracht           rung möglicherweise relativ häufig vorkommt, ist
     werden, codieren Enzyme bzw. Rezeptoren, die          sie keineswegs regelmäßig so stark ausgeprägt,
     ebenfalls vor allem im Serotoninstoffwechsel eine     dass eine gezielte Behandlung erforderlich ist;
     wichtige Funktion innehaben: hierzu gehören           schwere Fälle hingegen können mit Medika-
     der Serotoninrezeptor 2A (5-HT2A), die Tyrosin-       menten behandelt werden. Viele Frauen leiden
     hydroxylase (TH) und die Tryptophanhydroxylase        im Wochenbett an einer kurzzeitigen depressi-
     1 (TPH1). Auch die Catechol-O-Methyltransfera-        ven Verstimmung (postpartale Depression), dem
     se (COMT; katecholaminabbauendes Enzym)               sogenannten Baby-Blues. Erst wenn die Symp-
     scheint mit dem Auftreten von Depressionen ver-       tome über einen längeren Zeitraum andauern,
     bunden zu sein [24].                                  die emotionale Zuwendung zum Neugeborenen
                                                           stark beeinträchtigt ist und bis zu dessen Ver-
                                                           nachlässigung führen, handelt es sich um eine
     4 2 Neurobiologische Faktoren                         ernsthafte Wochenbettdepression. Ob Frauen
                                                           während oder nach der Menopause (Wechseljah-
     Depressive Störungen stehen mit bestimmten            re) anfälliger für eine Depression sind, ließ sich
     neurobiologischen Faktoren in Zusammenhang,           bis jetzt nicht abschließend klären [26].
     welche die Bereitschaft zu erkranken oder das
     Rückfallrisiko erhöhen [25]. Veränderte Funkti-
     onsabläufe im Gehirn, z. B. bedingt durch ver-        4 3 Psychosoziale Belastungsfaktoren
     änderte Funktion der Botenstoffe (z. B. Seroto-
     nin, Noradrenalin) zwischen den Nervenzellen,         Die Entstehung der Depression wird im Rahmen
     werden als ursächlich diskutiert (Überblick dazu      der Psychologie durch lerntheoretische und kog-
     [22]). Antidepressive Medikamente setzen an die-      nitive Modelle erklärt. Die Verstärker-Verlust-The-
     ser Stelle an und bringen den Hirn-Stoffwechsel       orie als lerntheoretisches Modell beschreibt einen
     wieder ins Gleichgewicht. Allerdings zeigt sich       Mangel an positiver Verstärkung (Belohnung) als
     eine Normalisierung des Hirn-Stoffwechsels            entscheidend bei der Entstehung und Aufrechter-
     auch nach einer erfolgreichen Psychotherapie.         haltung einer depressiven Erkrankung [27]. Die
     Dies unterstreicht die Schwierigkeit, Ursache und     fehlende positive Verstärkung vermindert das
     Wirkung z. B. einer Serotonin-Unterversorgung         Wohlbefinden und ist mit negativem Affekt (z. B.
     im Gehirn und depressivem Verhalten eindeutig         Niedergeschlagenheit und Resignation) verbun-
     zu entscheiden. Bisher ist es nicht gelungen, eine    den. Eine abwärtsgerichtete Depressionsspirale
     genau definierte Funktionsstörung im Gehirn zu        wird als Folge angenommen. Der Verlust der
     lokalisieren, die unmittelbar für das Auftreten       Sozialpartner (Tod, Scheidung, Trennung) gilt als
     der depressiven Symptome verantwortlich ist.          negativer Verstärker und ist von sozialem Rück-
        Hormonelle Veränderungen gehen ebenfalls           zug und negativen Emotionen begleitet.
     mit schweren Depressionen einher; es werden               Nach der kognitiven Theorie von Beck [28, 29]
     dauerhaft Stresshormone (z. B. Cortisol) ausge-       entsteht Depression durch verschiedene For-
     schüttet. Dies führt zu seelischen und körperli-      men von dysfunktionalen Kognitionen und
     chen Auswirkungen. Ursache ist eine Überakti-         deren Beziehungen zueinander: Pessimistische
     vität der hormonellen Stressachse, bestehend aus      Ansichten von sich selbst, der Umwelt und der
     Hypothalamus, Hypophyse und Nebennieren               Zukunft (sog. Kognitive Triade) stehen in Verbin-
     [22]. Frauen sind in Zeiten mit großen Hormon-        dung mit negativen Überzeugungen, die durch
     schwankungen – vor der Menstruation oder nach         negative Lebenserfahrungen ausgelöst werden.
     einer Geburt – anfälliger für eine Depression.        Diese Überzeugungen oder negativen Schema-
     Beim prämenstruellen dysphorischen Syndrom            ta sind wiederum mit kognitiven Verzerrungen
     treten bei bis zu 3 % – 8 % aller Frauen zwischen     (z. B. Über- und Untertreibung) verbunden, die
     Ovulation und Menstruation depressive Stö-            in der Depression münden.
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51   17

    Die experimentell abgeleitete Theorie der           darauf, dass Mädchen eine höhere Wahrschein-
gelernten Hilflosigkeit geht von Depression als         lichkeit traumatischer Kindheitserlebnisse (z. B.
erlerntem Verhalten aus [30]. Durch die wieder-         sexueller Missbrauch) haben als Jungen, was wie-
holte Erfahrung mangelnder Kontrolle über Situ-         derum zu erhöhtem Auftreten von psychischen
ationen und unangenehme Konsequenzen, wird              Störungen führen könnte [35]. Diskutiert wird, ob
Passivität und das Gefühl, selbst nicht handeln         Personen mit einem bestimmten Serotonintrans-
bzw. sein Leben nicht steuern zu können (Hilflo-        portergenotyp und traumatischen Ereignissen in
sigkeit) gelernt und verfestigt [31]. Negative Ereig-   der Kindheit ein besonders hohes Risiko aufwei-
nisse werden als unkontrollierbar und unverän-          sen, an einer Depression zu erkranken [36].
derlich gewertet. Die konkrete Erfahrung der
Hilflosigkeit und deren Verallgemeinerung füh-
ren in die Depression. In der revidierten Fassung       4 4 Persönlichkeitsfaktoren
dieser Theorie [32] kommt das Konzept der Attri-
bution hinzu: Wenn eine Situation nicht erfolg-         Persönlichkeitseigenschaften werden ebenfalls
reich bewältigt wird, schreibt man den Misser-          als Risikofaktoren diskutiert. Bei der Entstehung
folg irgendeiner Ursache zu. Depression entsteht        depressiver Episoden fällt dem so genannten
demnach, wenn erwünschte Ziele als unerreich-           Typus melancholicus [37] eine besondere Bedeu-
bar und negative Ergebnisse für unvermeidbar            tung zu. Personen mit dieser Persönlichkeits-
gelten, die Misserfolge zusätzlich der eigenen,         struktur zeichnen sich durch überdurchschnitt-
dauerhaften Unzulänglichkeit zugeschrieben              liches Festgelegtsein auf Ordentlichkeit und
werden und in Folge dessen das Selbstwertge-            Ordnung sowie Gewissenhaftigkeit und Pflicht-
fühl sinkt. Die Hoffnungslosigkeitstheorie [33] –       bewusstsein aus; dies sowohl im Arbeitsleben
eine Weiterentwicklung der Hilflosigkeitstheorie        als auch in zwischenmenschlichen Beziehungen
– sieht als weitere Ursache für einige depressive       mit zwanghaften Zügen [22, 38, 39]. Bei bipolaren
Erkrankungen die Hoffnungslosigkeit. Diese              Depressionen treten eher Neurotizismus und Int-
zeichnet sich dadurch aus, dass erstrebenswerte         rovertiertheit als Risikofaktoren auf [22, 38, 39].
Ereignisse nicht bzw. unerwünschte Ereignisse
eintreten und keine Gelegenheit vorhanden ist,
diesen Zustand zu ändern. Wird dann zusätzlich          4 5 Frühere psychische Störungen
im Sinne der eigenen, dauerhaften Unzuläng-
lichkeit attribuiert und herrscht ein geringes oder     Personen, die bereits die Kriterien für eine Angst-
instabiles Selbstwertgefühl vor, tritt ein »Hilf-       störung erfüllen, haben ein deutlich erhöhtes Risi-
losigkeitssyndrom« auf, das in vieler Hinsicht          ko, auch eine Depression zu entwickeln. Dieser
dem depressiven Syndrom ähnelt.                         Zusammenhang zeigt sich anhand von Daten der
    Akute psychosoziale Belastungen wie Verlust         prospektiv-longitudinalen EDSP-Studie [40, 41]
oder Tod einer wichtigen Bezugsperson, Arbeits-         bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Die
platzverlust oder chronische Überlastungssitu-          Depressionsraten sind über alle Angststörungen
ationen können als Auslöser einer depressiven           hinweg zwei bis dreimal höher als bei denjenigen
Erkrankung fungieren und in diese einmünden.            ohne Angststörungen (siehe Abbildung 6). Als
Allerdings kommt es nur bei einer geringen              Erklärung für diesen Befund können einerseits
Anzahl von Personen, die von schwerwiegen-              Folgeprobleme im Zuge der Einschränkungen
den Ereignissen betroffen sind, zum Ausbruch            durch die Angststörung, andererseits aber auch
einer psychischen Erkrankung [34]. Ein weiterer         die Annahme von gemeinsamen Vulnerabili-
Punkt betrifft Risiko- und Stressfaktoren, denen        tätsfaktoren (z. B. Neurotizismus) für Angst und
Frauen im Vergleich zu Männern eher ausgesetzt          Depression herangezogen werden.
sind. Dazu zählen Armut, Benachteiligung in der
Arbeitswelt und Rollenüberlastung (Rolle als Mut-
ter, Arbeitnehmerin, Partnerin etc.). Diese Fak-
toren können zur Ausbildung von psychischen
Störungen führen. Zudem gibt es viele Hinweise
18        Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51

     Abbildung 6
     Kumuliertes Risiko einer sekundären depressiven Störung bei Fällen mit einer Angststörung in der Vorgeschichte
     Quelle: EDSP 2001
            Anteil in Prozent
     60

     50

     40

     30

     20

     10

           10    11    12       13   14   15   16     17    18     19     20   21      22   23   24     25   26     27    28    29
                                                                                                      Ersterkrankungsalter in Jahren
                Generalisierte Angststörung         Agoraphobie         Panikstörung
                Soziale Phobie        Spezifische Phobie          keine Angststörung

     4 6 Körperliche Erkrankungen                                           5 Verbreitung
     Körperliche Beschwerden und Erkrankungen                               Depressive Störungen gehören zu den häufigs-
     können ebenfalls Depressionen verursachen. So                          ten Erkrankungen. Aussagen zur Verbreitung
     gelten Schilddrüsenfunktionsstörungen, insbe-                          von depressiven Störungen in der Bundesrepu-
     sondere ein Übermaß der Schilddrüsenhormone,                           blik Deutschland basieren u. a. auf repräsenta-
     als beeinflussende Faktoren bei der Entstehung                         tiven Daten aus dem Zusatzmodul »Psychische
     von Depression [42]. Schwere körperliche Erkran-                       Störungen« des Bundes-Gesundheitssurveys
     kungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Schä-                        1998 (BGS98) [6, 48, 49, 50, 51], Auskünften bei
     del-Hirn-Trauma können Depression nach sich                            telefonischen Befragungen (Gesundheitssurveys)
     ziehen [43, 44, 45]. Weitere Erkrankungen, die                         sowie Depressions-Screening-Studien in Allge-
     gehäuft mit einer Depression assoziiert auftre-                        meinarztpraxen [52].
     ten, sind: Pankreaskarzinom, AIDS, Hirntumor,
     Morbus Parkinson, Morbus Alzheimer, Diabetes
     mellitus oder auch terminale Niereninsuffizienz                        5 1 Häufigkeit in der erwachsenen Allgemein-
     [46]. Das Erkennen der Depression bei körperlich                           bevölkerung
     Erkrankten ist von wesentlicher Bedeutung, da
     die Störungen Einfluss auf die Überlebenszeit,                         Im Zusatzmodul »Psychische Störungen« des
     z. B. nach Herzinfarkt, auf die Länge des Kran-                        Bundes-Gesundheitssurveys 1998 [1, 50, 53] wur-
     kenhausaufenthaltes, die Compliance sowie die                          den insgesamt 4.181 Teilnehmer im Alter von
     Lebensqualität haben [47].                                             18 bis 65 Jahren durch klinisch geschultes Perso-
                                                                            nal mittels Composite International Diagnostic
                                                                            Interview (M-CIDI, [54]) befragt. Die Daten zei-
                                                                            gen, dass die Prävalenz depressiver Störungen in
                                                                            Deutschland ähnlich hoch ist wie in den meisten
                                                                            anderen vergleichbaren Studien im EU-Raum aus
                                                                            den letzten Jahren.
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 51    19

    Im Zeitraum von einem Jahr leiden 12 % der                     größer (6 %) als der Anteil derer mit einzelnen
Allgemeinbevölkerung im Alter von 18 bis 65                        depressiven Episoden (5 %); dieses Verhältnis
Jahren (das entspricht fast sechs Millionen Men-                   ist bei Männern genau umgekehrt (3 % vs. 2 %).
schen) unter einer affektiven Störung (12-Monats-                  Zusammen mit der höheren Prävalenz für die
Prävalenz). Die Zahl derjenigen, die irgendwann                    Dysthymie bei Frauen wird deutlich, dass Frauen
im Laufe ihres Lebens an einer Depression                          nicht nur häufiger jemals an Depression erkran-
erkranken ist jedoch weitaus größer: die Lebens-                   ken, sondern auch häufiger an rezidivierender
zeitprävalenz liegt bei 19 % (Frauen: 25 %, Män-                   Depression sowie einem chronischen Depressi-
ner: 12 %). Die 12-Monats-Querschnittsprävalenz                    onsverlauf leiden.
depressiver Störungen (unter Ausschluss depres-                        Diese Zahlen sind als konservative Schätzung
siver Episoden im Rahmen bipolarer Erkran-                         anzusehen, da weder Kinder und Jugendliche,
kungen) bei 18- bis 65-jährigen Personen in der                    noch Personen höheren Alters berücksichtigt
Allgemeinbevölkerung beträgt 11 % (siehe Tabelle                   wurden. Während das Erkrankungsrisiko für
2). D. h. in Deutschland sind zwischen 5 und 6                     Depression bei Kindern und Jugendlichen bis
Millionen Menschen in diesem Altersbereich in                      zum 14. Lebensjahr recht niedrig liegt (2 % – 3 %),
den letzten 12 Monaten an Depression erkrankt.                     ist bei Jugendlichen (Alter 15 bis 17 Jahre) nach
    Frauen sind mit 14 % in allen Altersgruppen                    neueren Befunden in Deutschland von einer
ungefähr doppelt so häufig wie Männer (8 %)                        nahezu ähnlich hohen Querschnittsprävalenz
betroffen. Der Geschlechtsunterschied fällt                        wie bei jungen Erwachsenen auszugehen [55].
allerdings in der jüngsten Altersgruppe deut-                      Demgegenüber erscheint die Prävalenz der
lich geringer aus (12 % vs. 8 %) als in den höhe-                  Depression jenseits des 60. Lebensjahres in die-
ren Altersgruppen. Die höchsten Werte ergeben                      sen epidemiologischen Studien mit expliziten
sich für die Gruppe der 40- bis 65-jährigen Frau-                  diagnostischen Kriterien deutlich niedriger; die
en (17 % bzw. 16 %). Der Anteil rezidivierender                    Gültigkeit dieses Befundes zur Prävalenz im
Depression ist bei Frauen aller Altersgruppen                      hohen Alter ist allerdings umstritten.

Tabelle 2
12-Monats-Prävalenz affektiver Störungen in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung
Quelle: BGS98

                              Irgendeine Major Depression                       MD,               MD, Dysthyme Störung
                     depressive Störung1            (MD)            einzelne Episode     rezidivierend
Gesamt                              10,9 %                 8,3 %                 4,3 %          4,0 %               4,5 %
18 – 29 Jahre                         9,5 %                8,0 %                 4,7 %          3,4 %               2,7 %
30 – 39 Jahre                         9,7 %                7,5 %                 3,1 %          4,4 %               3,8 %
40 – 49 Jahre                       12,4 %                 9,8 %                 5,4 %          4,4 %               5,3 %
50 – 65 Jahre                       11,6 %                 8,1 %                 4,2 %          3,9 %               5,7 %
Frauen                              14,2 %                11,2 %                 5,1 %          6,1 %               5,8 %
18 – 29 Jahre                       11,5 %                 9,5 %                 4,6 %          4,9 %               3,5 %
30 – 39 Jahre                       12,4 %                10,0 %                 3,5 %          6,5 %               4,7 %
40 – 49 Jahre                       16,6 %                14,0 %                 7,2 %          6,9 %               6,4 %
50 – 65 Jahre                       15,6 %                11,3 %                 5,4 %          5,9 %               7,6 %
Männer                                7,6 %                5,5 %                 3,4 %          2,0 %               3,2 %
 18 – 29 Jahre                        7,5 %                6,6 %                 4,8 %          1,9 %               1,8 %
 30 – 39 Jahre                        7,2 %                5,1 %                 2,8 %          2,3 %               3,0 %
 40 – 49 Jahre                        8,3 %                5,7 %                 3,7 %          2,0 %               4,1 %
 50 – 65 Jahre                        7,4 %                4,8 %                 2,9 %          1,9 %               3,8 %
1 Major Depression (einzelne Episode oder wiederkehrend) und/oder Dysthyme Störung
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