Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung - Public Health-Ansätze zur Förderung aktiver Mobilität bei älteren Erwachsenen
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Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung – Public Health-Ansätze zur Förderung aktiver Mobilität bei älteren Erwachsenen Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktorin Public Health (Dr. P.H.) vorgelegt von Tanja Brüchert Universität Bremen Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften Juni 2021
Betreuerin: Prof. Dr. Gabriele Bolte Erstgutachter: Prof. Dr. Hajo Zeeb Zweitgutachterin: Prof. Dr. Heike Köckler Datum des Kolloquiums: 14. Oktober 2021
Dank Die Promotion endet mit einem Schriftstück. Für mich aber war insbesondere der Weg das Ziel. Zunächst gilt mein Dank meiner Doktormutter Gaby Bolte. Sie hat sich immer Zeit für mich genommen, mit mir diskutiert, mir Wege aufgezeigt, ohne diese aufzuzwingen, meine Ideen unterstützt und mich nicht aufgegeben. Gleichzeitig möchte ich Sabine Baumgart danken, die mich in die Welt der Planung mitgenommen hat. Im Zweiergespann haben mich beide durch ihren Enthusiasmus für das Thema begeistert und Selbstbewusstsein gelehrt. Paula Quentin danke ich für ihre Kreativität in meinem Arbeitsleben, für den steten Blick über den Tellerrand aber immer geschärft für das Wesentliche. Und für die Freundschaft. Mein Dank gilt zudem Hajo Zeeb und Heike Köckler für die Begutachtung dieser Arbeit. Im Rahmen meiner Promotionszeit habe ich sie gehört, gesehen und mich mit ihnen ausgetauscht. Ihre Ansichten sind als Inspiration ebenfalls in diese Arbeit geflossen. Ein Dankeschön möchte ich auch an das Team der Abteilung Sozialepidemiologie am IPP rich- ten, die mich bei der Querschnittstudie unterstützt, mit mir Ergebnisse diskutiert und mir ein tolles Arbeitsumfeld gegeben haben. Birgit Reineke gilt ein besonderer Dank für das Daten- management und die Darstellungen der Ergebnisse der Querschnittstudie. Schließlich möchte ich denen danken, die mich vor allem auf einer persönlichen Ebene bei der Promotion unterstützt haben. Mein Doc-Netzwerk mit Carolina, Eric, Jorge, Martin und Sophie, die mir gezeigt haben, dass ich nicht allein bin. Meine Freundinnen, insbesondere Frauke, Adele und Janina, die mit mir gearbeitet haben, eingetaucht sind, mich ermutigt, mir zugehört und mir zugesprochen haben. Meine Familie, die immer an mich glaubt. Und Arne, meine Basis.
Zusammenfassung Eine fußgänger- und fahrradfreundliche Wohnumwelt ist im Sinne von Public Health ein saluto- gener Umweltaspekt. Als gesundheitsfördernde Ressource trägt sie zu einem körperlich aktiven Lebensstil bei und erleichtert soziale Teilhabe. Beide Aspekte sind für die Gesundheit im Alter relevant. Allerdings liegt die Gestaltung der Wohnumwelt außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Gesundheitssektors. Intersektorales Handeln sowie ein Health in all Policies - Ansatz werden gefordert, um eine gesundheitsfördernde Stadtentwicklung zu realisieren. Jedoch fehlt es an loka- lem Wissen zu Umwelteinflüssen auf die aktive Mobilität älterer Erwachsener in Deutschland, ins- besondere zu Fahrradfahren und E-Bike fahren, sowie Erkenntnisse für Klein- und Mittelstädte. Diese Dissertation ergänzt den bisherigen Forschungsstand zu Einflussfaktoren der fußgänger- und fahrradbezogenen Mobilität der älteren Bevölkerung in Klein- und Mittelstädten in Deutsch- land, zu Anforderungen an die Gestaltung der Wohnumwelt verschiedener Gruppen älterer Er- wachsener je Gemeindegröße und zu Ansichten von Vertreter:innen von Gesundheits- und Pla- nungsabteilungen in Stadt- und Kreisverwaltungen in Deutschland hinsichtlich ihrer Rolle im Querschnittsthema Aktive Mobilität für gesundes Altern. Gegenstand der Analyse sind elf qualitative Interviews mit Verwaltungsakteuren der Sektoren Gesundheit und Planung, sowie eine Quer- schnittstudie zum Mobilitätsverhalten älterer Erwachsener ab 65 Jahren (N=2.242) in der Metropo- lregion Bremen-Oldenburg mit dem Fokus auf Einflüsse des Wohnumfelds auf das Zufußgehen, Fahrradfahren und E-Bike fahren. Die Ergebnisse zeigen, dass 71% der Teilnehmenden zu Fuß ak- tiv mobil sind, 65% mit dem Fahrrad und 36% mit dem E-Bike. Die Nähe zu Alltagszielen ist dabei am wichtigsten für die aktive Mobilität im Alter. Ein umfangreiches Straßennetz kann Wege ver- kürzen und erhöht dadurch die Chance für aktive Mobilität. Zudem wurden Sicherheitsaspekte als wichtige Umweltattribute genannt, wie das Vorhandensein von (getrennten) Fuß- und Radwe- gen mit ebenen Oberflächen, sowie sichere Querungsmöglichkeiten und Beleuchtung. Sicherheit vor Kriminalität wurde von der Mehrheit der Befragten als wichtiger Aspekt der Wohnumwelt genannt, der zeigt, dass noch weitere Sektoren für eine alternsgerechte Gestaltung von Bedeutung sind. Dies gilt ebenso für die als wichtig genannten Möglichkeiten für Aufenthalt und Rast, die den entscheidenden Unterschied machen können, sich im Alter für aktive Mobilität zu entscheiden. Diese Gestaltungsmerkmale sind leicht und schnell umzusetzende Maßnahmen, die auch in Klein- und Mittelstädten mit knappen Ressourcen realisiert werden können. Interviews auf Verwaltungs- ebene ergaben jedoch, dass die Belange älterer Erwachsener und gesundheitliche Auswirkungen bei Planungen noch unzureichend eingebracht und berücksichtigt werden. Ein Mangel an perso- nellen Ressourcen und Fachwissen, vor allem aufgrund der geringen Priorität des Themas, sowie eine vorherrschende pathogene Sichtweise auf Gesundheit sind Haupthindernisse für strategische Zusammenarbeit. Förderliche Faktoren sind der Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen, zusätzli- ches Personal mit Public Health-Wissen und bewusstseinssteigernde kurze Projekte. Das Bekennt- nis der Politik zu einer gesundheitsfördernden Stadtentwicklung ist wesentlich, um intersektorale Zusammenarbeit zu fördern. Nur so können Synergien genutzt und zukunftsweisende Lösungen realisiert werden. Lokale Erkenntnisse und Forschungsergebnisse sind zusätzlich wichtig, da Res- sourcen und Expertisen auf Verwaltungsebene begrenzt sind. Der Transfer in die Praxis, durch transdisziplinäres Handeln oder durch kurze Policy Briefs oder Handreichungen als Zusammen- fassung der Erkenntnisse, sollten zukünftig einen höheren Stellenwert in der Wissenschaft einneh- men, um evidenzbasierte Entscheidungsfindungen zu ermöglichen.
Abstract A pedestrian- and bicycle-friendly environment is a salutogenic environmental aspect in the sense of public health. As a health resource, it enables a physically active lifestyle and facilitates social participation. Both aspects are relevant for healthy ageing. However, the design of the built environment is outside the scope of the public health sector. Intersectoral action and a Health in all Policies approach are called for to realize health-promoting urban development. Yet, there is a lack of local knowledge on environmental influences on the active mobility of older adults in Germany, especially on cycling and e-biking, as well as findings for small and medium-sized towns. This dissertation contributes to the existing body of research by expanding knowledge on factors influencing pedestrian and bicycle-related mobility of the older population in small and medium- sized towns in Germany, preferences for the design of the built environment of different groups of older adults and community sizes, and investigating the views of representatives of health and planning departments in city and district administrations in Germany regarding their role in the cross-cutting issue of active mobility for healthy ageing. The analysis is based on eleven qualitative interviews with administrative actors, as well as a cross-sectional study on the mobility behaviour of older adults aged 65 years and older in the Metropolitan Region of Bremen-Oldenburg with a focus on influences of the built environment on walking, cycling and e-biking. The prevalence of walking for transport was 71%. Sixty-five percent of study participants cycled for transport and 36% were using e-bikes for transport purposes. The proximity to destinations was most important for active mobility in old age. Street connectivity can shorten distances and thus increased the opportunity for active mobility. In addition, safety aspects were cited as important environmental attributes, such as the presence of (separated) pedestrian and bicycle paths with flat surfaces, as well as safe crossing possibilities and lighting. Safety from crime was mentioned by the majority of respondents as an important aspect of the living environment, which shows that other sectors are also important for the design of an age-friendly environment. This is equally true for the opportunities to stay and have a rest that were mentioned as important, which can make all the difference in getting older adults to choose active mobility. These design features are also easy and quick to implement measures that can be realized even in small and medium-sized cities with limited resources. However, interviews at the administrative level revealed that concerns of older adult and health impacts are still insufficiently incorporated and considered in planning efforts. A lack of human resources and expertise, largely due to the low priority of the issue, and a prevailing pathogenic view of health are major barriers to strategic collaboration. Enabling factors are the establishment of new administrative structures, additional staff with public health knowledge and awareness-raising short projects. Policy commitment to health-promoting urban development is essential to promote intersectoral collaboration. Only in this way can synergies be exploited and forward-looking solutions realized. Local knowledge and research results are additionally important, as resources and expertise are limited at the administrative level. Transfer to practice, through transdisciplinary action or through short policy briefs or handouts as a summary of findings, should be given a higher priority in science in the future to enable evidence-based decision making.
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis ............................................................................................................................. I Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................................. II Tabellenverzeichnis ................................................................................................................................. II Vorbemerkung zur kumulativen Dissertation ......................................................................................... III 1 Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung ........................................................................................ 1 1.1 Begriffliche Einordnung ........................................................................................................... 1 1.2 Der Zusammenhang zwischen Stadt und Gesundheit ............................................................. 2 1.3 Voraussetzungen intersektoraler Zusammenarbeit in Deutschland ........................................ 4 2 Gemeinsame Herausforderungen der Sektoren Gesundheit und Planung: Demographische Entwicklung und Mobilität in Klein- und Mittelstädten ........................................................................... 7 2.1 Alterungs- und Schrumpfungsprozesse ................................................................................... 7 2.2 Aktive Mobilität für gesundes Altern ....................................................................................... 8 2.2.1 Zufußgehen ...................................................................................................................... 9 2.2.2 Fahrradfahren ................................................................................................................ 10 2.2.3 E-Bike fahren.................................................................................................................. 11 3 Umwelteinflüsse auf die aktive Mobilität älterer Erwachsener ..................................................... 11 3.1 Das Ökologische Modell für ein aktives Leben....................................................................... 11 3.1.1 Aktivitätsverhalten ......................................................................................................... 14 3.1.2 Intrapersonale Ebene und die wahrgenommene Umwelt ............................................. 15 3.1.3 Verhaltensbezogene Lebenswelten ............................................................................... 15 3.1.4 Politische Rahmenbedingungen .................................................................................... 17 4 Ziele und Forschungsfragen ........................................................................................................... 20 5 Forschungskontext und Methoden ................................................................................................ 22 5.1 Forschungskontext und Studienregion .................................................................................. 22 5.2 Studienpopulation und Datenerhebung ................................................................................ 22 5.2.1 Querschnittstudie in der älteren Bevölkerung ............................................................... 22 5.2.2 Interviews in lokalen Gesundheits- und Planungsabteilungen ...................................... 23 5.3 Datenanalyse ......................................................................................................................... 24 5.3.1 Quantitative Methoden ................................................................................................. 24 5.3.2 Qualitative Methoden .................................................................................................... 26 6 Ergebnisse ...................................................................................................................................... 27 6.1 Prävalenz aktiver Mobilität .................................................................................................... 27 6.2 Einflussfaktoren der gebauten Wohnumwelt auf aktive Mobilität älterer Erwachsener ....... 29 6.3 Besondere Anforderungen von Subgruppen – Moderationseffekte...................................... 32 6.4 Präferierte Gestaltungsmerkmale der gebauten Umwelt für ältere Erwachsene .................. 33
6.5 Barrieren und Möglichkeiten intersektoraler Zusammenarbeit zur Förderung aktiver Mobilität für gesundes Altern ............................................................................................................ 36 7 Diskussion ...................................................................................................................................... 38 7.1 Prävalenz aktiver Mobilität .................................................................................................... 38 7.2 Einflussfaktoren der gebauten Wohnumwelt auf aktive Mobilität älterer Erwachsener ....... 39 7.3 Besondere Anforderungen von Subgruppen – Moderationseffekte...................................... 43 7.4 Präferierte Gestaltungsmerkmale der gebauten Umwelt für ältere Erwachsene .................. 45 7.5 Barrieren und Möglichkeiten intersektoraler Zusammenarbeit zur Förderung aktiver Mobilität für gesundes Altern ............................................................................................................ 49 7.6 Stärken und Limitationen....................................................................................................... 52 8 Implikationen für Forschung und Praxis......................................................................................... 54 8.1 Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung in der Praxis .......................................................... 54 8.2 Gestaltung einer mobilitätsfördernden und alternsgerechten Wohnumwelt ....................... 57 8.3 Forschung zu Einflussfaktoren der Wohnumwelt auf aktive Mobilität .................................. 60 8.4 Wissenschaft-Praxis-Transfer................................................................................................. 61 8.5 Forschung und Praxis kombinieren: Transdisziplinäre Forschung ......................................... 62 9 Fazit ............................................................................................................................................... 62 Literatur ................................................................................................................................................. 64 Anhang................................................................................................................................................... 82
Abkürzungsverzeichnis AFOOT = Alternd zu Fuß oder mit Fahrrad – urban mobil ohne Stress EU = Europäische Union HIA = Health Impact Assessment HiAP = Health in All Policies (deutsch: Gesundheit in allen Politikbereichen) IPAQ = International Physical Activity Questionnaire NEWS = Neigborhood Environment Walkability Survey OECD = Organisation for Economic Cooperation and Development (deutsch: Organisation für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) ÖGD = Öffentlicher Gesundheitsdienst ÖPNV = Öffentlicher Personennahverkehr PKW = Personenkraftwagen SDG = Sustainable Development Goals (deutsch: Ziele für nachhaltige Entwicklung) UN = United Nations (deutsch: Vereinte Nationen) WHO = World Health Organization (deutsch: Weltgesundheitsorganisation) I
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Einflussfaktoren auf aktive Mobilität im Alter nach dem ökologischen Modell für ein aktives Leben ......................................................................................................................................... 13 Abbildung 2 Einflussfaktoren der Wohnumwelt auf das Verhalten, überhaupt aktiv mobil zu sein ...... 29 Abbildung 3 Einflussfaktoren der Wohnumwelt auf häufig ausgeübte aktive Mobilität (≥3x/Woche) .. 31 Abbildung 4 Einflussfaktoren der Wohnumwelt auf die Dauer (Minuten/Woche) aktiver Mobilität .... 32 Abbildung 5 Bewertung der Gestaltungsmerkmale des Straßenraums als ‚wichtig’ durch alle Studienteilnehmenden .......................................................................................................................... 34 Abbildung 6 Einflussebenen und Zusammenhänge seiner Komponenten auf die Behandlung des Querschnittsthemas ‚Aktive Mobilität für gesundes Altern‘ in den Verwaltungsbereichen Gesundheit und Planung ........................................................................................................................................... 37 Abbildung 7 Empfehlungen für die Planung zur Förderung aktiver Mobilität im Alter aus Public Health- Sicht ....................................................................................................................................................... 58 Tabellenverzeichnis Tabelle 1 Prävalenz, Häufigkeit und Dauer aktiver Mobilität älterer Erwachsener und wesentliche Merkmale der aktiven Gruppen (Spalte 1: Zufußgehende, Spalte 2: Fahrradfahrende, Spalte 3: E-Bike Fahrende) .............................................................................................................................................. 27 II
Vorbemerkung zur kumulativen Dissertation Die vorliegende kumulative Dissertation umfasst die im Folgenden aufgeführten vier Publikatio- nen in Erstautorenschaft. Drei Publikationen sind in internationalen Fachzeitschriften mit Peer- Review-Verfahren veröffentlicht. Eine weitere Publikation ist bei einer internationalen Fachzeit- schrift mit Peer-Review-Verfahren im Begutachtungsprozess. Die Beiträge der Autorinnen zu den vier Publikationen in Erstautorenschaft dieser Dissertation sind gemäß der CRediT Taxonomie (Contributor Roles Taxonomy) wie folgt: Artikel I: Brüchert, Tanja, Pia Hasselder, Paula Quentin, and Gabriele Bolte. Walking for Transport among Older Adults: A Cross-Sectional Study on the Role of the Built Environment in Less Densely Populated Areas in Northern Germany. International Journal of Environmental Research and Public Health, 2020. 17(24): p. 9479 DOI: https://doi.org/10.3390/ijerph17249479. CRediT: Konzept, TB und GB; Methodik, TB, PH und GB; Validierung, TB und PH; Analyse, TB und PH; Schreiben - Erstellen des ursprünglichen Entwurfs, TB und PH; Schreiben - Überprüfung und Bearbeitung, TB, PH, PQ und GB; Visualisierung, TB und PH; Fördermittelakquise, TB, PQ und GB; Supervision, GB; Projektleitung, GB. Artikel II: Brüchert, Tanja, Paula Quentin, and Gabriele Bolte. The relationship between perceived built environment and cycling or e-biking for transport among older adults – a cross-sectional study. PloS One (Under Review), 2021. CRediT: Konzept, TB und GB; Methodik, TB und GB; Validierung, TB; Analyse, TB; Schreiben - Erstellen des ursprünglichen Entwurfs, TB; Schreiben - Überprüfung und Bearbeitung, T.B., PQ und GB; Visualisierung, TB; Fördermittelakquise, TB, PQ und GB; Supervision, GB; Projektleitung, GB. Artikel III: Brüchert, Tanja, Sabine Baumgart, and Gabriele Bolte. Social determinants of older adults’ urban design preference: a cross-sectional study. Cities & Health, 2021: p. 1-15 DOI: 10.1080/23748834.2020.1870845. CRediT: Konzept, TB und GB; Methodik, TB und GB; Analyse, TB; Visualisierung, TB; Schreiben - Erstellen des ursprünglichen Entwurfs, TB; Schreiben - Überprüfung und Bearbeitung, TB, SB, GB; Fördermittelakquise, TB, SB, GB; Supervision, SB und GB; Projektleitung, GB. Artikel IV: Brüchert, Tanja, Paula Quentin, Sabine Baumgart, and Gabriele Bolte. Barriers, Facilitating Factors, and Intersectoral Collaboration for Promoting Active Mobility for Healthy Aging - A Qualitative Study within Local Government in Germany. International Journal of Environmental Research and Public Health, 2021. 18(7) DOI: 10.3390/ijerph18073807. CRediT: Konzept, TB und PQ; Methodik, TB und PQ; Untersuchung, TB und PQ; Analyse, TB; Visualisierung, TB; Schreiben - Erstellen des ursprünglichen Entwurfs, TB; Schreiben - Überprüfung und Bearbeitung, TB, PQ, SB, GB; Fördermittelakquise, SB und GB; Supervision, SB und GB; Projektleitung, GB. III
In der vorliegenden Dissertation wird auf weitere relevante Publikationen, an denen ich maßgeb- lich mitgewirkt habe, Bezug genommen. Das Studienprotokoll des Projekts AFOOT, in dessen Rah- men diese Dissertation entstanden ist, ist in einer Zeitschrift mit Peer-Review-Verfahren in Erstau- torenschaft erschienen. Weitere Ergebnisse des Projekts wurden in Zeitschriften ohne Peer-Review oder auf der Projekthomepage publiziert: • Brüchert, Tanja, Paula Quentin, Sabine Baumgart, and Gabriele Bolte. Intersectoral collaboration of public health and urban planning for promotion of mobility and healthy ageing: protocol of the AFOOT project. Cities & Health, 2017. 1(1): p. 83-88 DOI: https://doi.org/10.1080/23748834.2017.1312086. • Brüchert, Tanja, Paula Quentin, Sabine Baumgart, and Gabriele Bolte, Securing active aging in place. Access by Design, 2016(146): p. 32-33. • AFOOT Projektteam, Aktive Mobilität im Alter fördern. Eine Arbeitshilfe für die Zusammen- arbeit zwischen der kommunalen Planungs- und Bauverwaltung und dem Öffentlichen Ge- sundheitsdienst in Klein- und Mittelstädten. 2018, Universität Bremen und TU Dortmund: Bre- men und Dortmund. Verfügbar unter: http://www.aequipa.de/no_cache/en/publica- tions/tools.html. (Letzter Zugriff: 20.06.2021) Ergebnisse der Arbeiten für die Dissertation wurden zudem als Vorträge auf nationalen und inter- nationalen wissenschaftlichen Tagungen präsentiert: • Brüchert, Tanja, Paula Quentin, Sabine Baumgart, and Gabriele Bolte. „Nach der Pflicht kommt die Kür“ – Die Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdienstes bei der gesundheitsfördernden Stadtentwicklung. 21. Kongress Armut & Gesundheit. Fachforum „Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung – Status quo und Potenziale für eine intersektorale Zusammenarbeit von Public Health und Raumplanung“, Berlin, Deutschland, 17.03.2016 • Brüchert, Tanja, Paula Quentin, Sabine Baumgart, and Gabriele Bolte. Integriertes Verwaltungshandeln von Öffentlichem Gesundheitsdienst und Stadtplanung zur Förderung von Mobilität älterer Menschen: Status quo in der Metropolregion Nordwest. 52. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), Essen, Deutschland, 14.-16.09.2016. Das Gesundheitswesen, 78, S. 572-573 • Brüchert, Tanja, Paula Quentin, Sabine Baumgart, and Gabriele Bolte. What makes an environment age-friendly for walking and cycling? Collaborative development of indicators with local stakeholders in Germany. Mobility, Mood and Place (MMP) - International conference on Habitats for Happy and Healthy Ageing, Edinburgh, Great Britain, 11.- 14.10.2016 • Brüchert, Tanja, Paula Quentin, Sabine Baumgart, and Gabriele Bolte. Shaping active communities by joint action of public health and urban planning. 10th European Public Health Conference, Stockholm, Sweden, 01.-04.11.2017. The European Journal of Public Health 27(suppl_3). DOI: 10.1093/eurpub/ckx187.552 • Brüchert, Tanja, Paula Quentin, Lena-Katharina Oeltjen, Sabine Baumgart, Karsten Zimmermann and Gabriele Bolte, G., 2019: Active mobility for healthy ageing – prospects and pitfalls of small and medium-sized towns. WALK21, Rotterdam 07.-11.10.2019 IV
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First we shape the cities – then they shape us. Jan Gehl Bild: Tanja Brüchert VI
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1 Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung 1.1 Begriffliche Einordnung Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit in ihrer Präambel von 1948 als den „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen“ (WHO 1968, S. 1) [1]. Dadurch wurde dem bis dahin vorherrschenden Prinzip der Prävention, also der Vorbeugung von Krankheit, das Konzept der Gesundheitsförderung hinzugefügt. Gesundheitsförderung zielt auf die Befähigung der Menschen, ihre Gesundheit zu stärken und zu erhalten: „Um ein umfassendes körperliches, seeli- sches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können.“ (WHO 1986, S. 1) [2]. Gleichzeitig ist diese Selbstbe- stimmtheit verschiedenen Bedingungen unterlegen, wie den räumlichen Gegebenheiten. Da diese Gegebenheiten, wie viele andere Einflussfaktoren der Gesundheit, außerhalb des Zu- ständigkeitsbereichs des Gesundheitssektors liegen, sind sektorenübergreifende Themen und Handlungsweisen notwendig. Die Stadtplanung beschäftigt sich „mit der Planung und Steuerung der räumlichen Entwicklung auf der kommunalen Ebene. […] Sie umfasst alle Tätigkeiten zur vorausschauenden Ordnung und Len- kung der Entwicklung der gebauten Umwelt in städtischen wie auch ländlichen Räumen und deren jeweiligen Teilräumen.“ (Pahl-Weber und Schwartze 2018, S. 2510) [3]. Demnach sind nicht nur dicht besiedelte Räume, sondern alle Arten von Siedlungsstrukturen in der Stadtplanung in- begriffen. Die Stadtplanung berücksichtigt neben der gebauten Umwelt auch die sozialen, ökologischen und ökonomischen Dimensionen einer Stadt [3]. Somit stehen auch der Mensch und seine Interaktion mit den räumlichen Gegebenheiten im Fokus der Stadtplanung. Noch klarer wird der Bezug zu Gesundheit durch die Definition der Stadtentwicklung: „Stadtent- wicklung als Gestaltungsaufgabe kommunaler Gebietskörperschaften verfolgt das Ziel, [] Verände- rungsprozesse zu analysieren und in angestrebte Entwicklungskorridore zu lenken. Dabei stehen Städte als soziale, ökonomische, ökologische und kulturelle Systeme ebenso im Fokus wie als baulich-räumliche Einheiten mit ihren Infrastrukturen und Umwelteigenschaften – eben als Lebens-, Wirtschafts-, Kultur- und Naturräume.“ (Beckmann 2018, S. 1064) [4]. Die Schaffung gesunder Umweltbedingungen durch Stadtplanung und Stadtentwicklung ist gesetzlich im § 1 Baugesetzbuch (BauGB) festgehalten. Hier heißt es u.a., dass Bauleitpläne „[…] umweltbezogene Auswirkungen auf den Menschen und seine Gesundheit sowie die Bevölkerung insgesamt“ (§ 1 Abs. 6 Satz 7c BauGB) berücksichtigen sollen. Auch in Bezug auf den Stadtum- bau (§ 171a BauGB) und die Stadtsanierung (§ 136 BauGB) gibt es entsprechende Passagen, die den Schutz der Gesundheit vor schädlichen Umwelteinflüssen, die Anpassung der Sied- lungsstrukturen u.a. an die Entwicklung der Bevölkerung, und den Erhalt gesunder Arbeits- und Lebensverhältnisse festschreiben. 1
Die gesundheitsfördernde Stadtentwicklung als verbindende Thematik von Public Health und Stadtplanung zielt somit auf die positive Veränderung der baulich-räumlichen Verhältnisse, welche wiederrum gesundheitsfördernde Verhaltensweisen ermöglichen. Dabei ist auf die Chancengleichheit unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu achten, um Ungleichheiten bei Umwelt und Gesundheit zu vermeiden [5]. Schließlich gehört, im Sinne der Gesundheitsför- derung, auch „[…] die Aktivierung, Beteiligung und Befähigung der Öffentlichkeit, vor allem der Bewohnerschaft (Partizipation und Empowerment)“ (Baumgart und Rüdiger 2018, S.831) [5] zu einer gesundheitsfördernden Stadtentwicklung. Im Fokus steht der Mensch. Diese Arbeit soll die Verknüpfung von Stadt und Gesundheit in den Vordergrund rücken und Synergien verdeutlichen. Die Verwendung des Begriffs „Stadtplanung“ in dieser Arbeit um- fasst gemäß der vorherigen Definition von Pahl-Weber und Schwartze (2018) [3] neben dem städtischen Raum auch ländliche Räume und deren Teilräume. 1.2 Der Zusammenhang zwischen Stadt und Gesundheit Dem Zusammenhang zwischen Stadtraum und Gesundheit wurde bereits im 19. Jahrhundert Beachtung geschenkt, als sich die Städte verdichteten und vermehrt hygienische Herausfor- derungen und Probleme durch die Entsorgung von Abfällen und die Versorgung mit saube- rem Wasser auftraten. In dieser Zeit dominierten Infektionskrankheiten die Todesursachen- statistik. Ende des 20. Jahrhunderts haben sich die häufigsten Krankheiten und Todesursachen in ökonomisch starken Ländern auf nicht-übertragbare Krankheiten verschoben [6]. Im 21. Jahrhundert sind über 91% der Todesfälle und fast 87% der verlorenen gesunden Lebensjahre (disability-adjusted life years, DALYs) in der Europäischen Union (EU) auf nicht übertragbare Krankheiten zurückzuführen [7]. Die größte Belastung geht dabei von Herz-Kreislauf-Erkran- kungen aus. Auch stellen psychische Störungen und Erkrankungen des Bewegungsapparates eine große Belastung in Bezug auf DALYs dar. Körperliche Inaktivität gehört neben ungesun- der Ernährung, Tabakkonsum und schädlichem Alkoholkonsum zu den wichtigsten Risiko- faktoren für nicht-übertragbare Krankheiten (WHO 2014). Laut der Global Burden of Diesease Studie waren im Jahr 2017 fast 153.000 Todesfälle und über 2,1 Millionen DALYs in der EU auf körperliche Inaktivität zurückzuführen [8]. Obwohl diese Risikofaktoren in erster Linie dem Verhalten der Menschen zugeschrieben werden, sind sie doch auch auf die Verhältnisse zu- rückzuführen, in denen die Menschen leben. Gesundheit wird durch mehrere Faktoren beeinflusst. Diese reichen von individuellen gene- tischen Faktoren, Lebensstilen und sozialen Kontakten, über die natürliche und gebaute Um- welt sowie Institutionen bis zu den gesellschaftlichen und kulturellen Systemen [9]. Das Re- genbogenmodell der Determinanten von Gesundheit nach Dahlgren und Whitehead [9] ver- anschaulicht die Interdependenzen und verdeutlicht, dass Gesundheit nicht allein in der Ver- antwortung und im Einflussbereich des Individuums liegt. Beispielsweise hängt das Verhalten der körperlichen Aktivität nicht nur von der eigenen Motivation ab, Sport treiben zu wollen. Vielmehr ist es die Gesamtheit der Möglichkeiten, die sich überlagern, wie z.B. finanzielle oder zeitliche Ressourcen sowie das Wissen über ein gesundes Maß an körperlicher Aktivität, ein 2
soziales Netzwerk für gemeinsame körperliche Aktivitäten oder dessen Einstellung zu kör- perlicher Aktivität und auch einen Ort der Bewegung (Park, Sportplatz, Fitnessstudio), über deren Einrichtung und Qualität wiederrum Dritte wie die Verwaltung, Politik oder Investoren entscheiden [10]. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass verhaltensbezogene Interventionen daher nur begrenzt in der Lage sind, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern und zu erhalten [11]. Die Bedingungen, unter denen Menschen geboren werden, aufwachsen, arbei- ten, leben und altern, sowie die politischen Systeme und Entscheidungen, die die Bedingun- gen des täglichen Lebens gestalten, werden als Soziale Determinanten von Gesundheit bezeich- net. Umweltbedingungen sind eine wichtige Domäne unter den Sozialen Determinanten von Gesundheit [12]. Darunter fällt neben der natürlichen Umwelt mit der Vegetation und dem Klima die gebaute Umwelt mit Straßen und Gebäuden, sowie die vom Menschen verursachten Umweltbelastungen wie Lärm und schlechte Luftqualität. Zahlreiche Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass sich politische Entscheidungen und Maßnahmen ungleich auf die Gesundheit der Bevölkerung oder deren Determinanten auswir- ken können [9]. So können Maßnahmen auf verschiedene Gruppen ungleich verteilt sein, z.B. findet die Geschwindigkeitsreduzierung zur Lärmminderung nur in einem wohlhabenden Stadtteil statt. Gleichzeitig können bestimmte Gruppen gegenüber Expositionen vulnerabler sein, wenn sie beispielsweise nicht wissen, wie sie dem bestehenden Lärm in ihrer alltäglichen Umgebung begegnen können, um sich vor negativen Folgen zu schützen [13]. Umweltgerech- tigkeit oder Chancengleichheit bei Umwelt und Gesundheit ist ein wichtiges Thema von Public Health, wird aber mittlerweile auch von anderen Fachgebieten und der Politik aufge- griffen [14]. Den Einfluss der Umwelt auf Gesundheit und dadurch entstehende gesundheitli- che Ungleichheiten kann anschaulich durch die Lebenserwartung in verschiedenen Stadtteilen dargestellt werden – und das in vielen Städten der Welt. Ein Beispiel verdeutlicht die zweite Auflage des Marmot Review. Zum einen zeigt sich ein Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den am stärksten benachteiligten Gebieten und den am wenigsten benachteiligten Gebieten mit 9,5 Jahren bei Männern und 7,7 Jahren bei Frauen. Gleichzeitig ist der Unter- schied in der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern größer in den benachteiligten Ge- bieten (4,8 Jahre) als in den wenig benachteiligten Gebieten (2,9 Jahre) [15]. Auch in Deutsch- land zeigen sich soziale Unterschiede in der Lebenserwartung. Die durchschnittliche Lebens- erwartung in Deutschland betrug 2019 81,3 Jahre (Frauen 83,2 Jahre, Männer 78,3) [16]. Für Männer und Frauen mit dem niedrigsten Nettoeinkommen ist die Lebenserwartung um fünf Jahre niedriger als für diejenigen mit dem höchsten Nettoeinkommen. Definiert man Sozial- räume in einer Stadt, z.B. nach Indikatoren wie der Arbeitslosenquote, kultureller Infrastruk- tur, Bildungsabschlüsse etc. lassen sich ebenfalls Unterschiede aufzeigen [17]. Aber nicht nur soziale Faktoren spielen hier eine Rolle, sondern auch die der gebauten Umwelt. Die Ästhetik der Bebauung, der Zugang zu Grün- und Freiflächen, Möglichkeiten des Aufenthalts, Sauber- keit oder Vandalismus, Lärm oder Ruhe, Verkehr, Sicherheit, Fußwege und deren Qualität und viele mehr beeinflussen die Aufenthaltsqualität und Nutzungsmöglichkeiten des öffent- lichen Raums. Der dänische Architekt Jan Gehl setzt das menschliche Maß zur Bewertung eines 3
öffentlichen Raums an – je mehr Menschen sich dort aufhalten oder ihn nutzen, desto höher die Qualität [18]. Dennoch spielen auch weiterhin Infektionskrankheiten in Zusammenhang mit Leben auf en- gem Raum eine Rolle, wie man an der SARS Cov-2 Pandemie gesehen hat. Überall dort, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenkamen, sei es eine gemeinsame Feier, aber auch Gemeinschaftsunterkünfte für Niedriglohnarbeiter, zeigten sich höhere Infektionsraten. Gleichzeitig sind auch qualitative Werte des öffentlichen Raums offenbart worden. Menschen, die keinen eigenen Garten besitzen und sich mit vielen Personen den Wohnraum teilen, brau- chen Freiräume, um sich zu bewegen und mit anderen zu treffen [19]. Die Nutzung des öf- fentlichen Nahverkehrs war zeitweise unattraktiv, sodass viele Menschen auf Alternativen wie das Fahrrad umstiegen, es aber oftmals an sicheren Radwegen mangelte. So entstanden Pop-Up Radwege in mehreren Großstädten in Europa, auch in Deutschland, und zeigten einen signifikanten Anstieg des Radverkehrs auch über einen längeren Zeitraum [20]. Es stellt sich die Frage, wie diese Erkenntnisse zukünftig in eine vorausschauende Planung für gesund- heitsfördernde und resiliente Städte eingebracht werden können [21]. 1.3 Voraussetzungen intersektoraler Zusammenarbeit in Deutschland Mittlerweile sind die Pluralität und Vielschichtigkeit von Risiken im städtischen Umfeld viel- fach beforscht und ein umfangreiches Verständnis zur Rolle des städtischen Umfelds auf den Menschen und seine Gesundheit etabliert. Dies hat dazu geführt, dass nunmehr ein Fokus auf intersektorales Handeln gelegt wird. Das umfangreiche Verständnis schlägt sich unter ande- rem nieder in den Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) der Vereinten Nationen (UN) [22] und der New Urban Agenda [23]. Die New Urban Agenda ist eine freiwillige Vereinbarung der Mitgliedstaaten der UN zu Zielen und Entwicklungspfa- den hin zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Sie spiegelt sich vor allem wider in SDG 11 Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten, aber auch SDG 3 Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern, SDG 9 Widerstandsfähige Infrastruktur aufbauen, breitenwirksame und nachhaltige Industrialisierung för- dern und Innovationen unterstützen und SDG 10 Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern. Die WHO würdigt den Zusammenhang zwischen Umwelt und Gesundheit seit Jahren mit Aktionsprogrammen wie die Gesunde Stadt [24]. Der Health in All Policies-Ansatz stellt einen Rahmen dar, um Gesundheit und gesundheitliche Chancengleichheit auf politischer und ad- ministrativer Ebene zu schützen und zu fördern, insbesondere dort, wo es konkurrierende Interessen gibt. Er stellt sicher, dass Effekte auf die Gesundheit und gesundheitliche Chancen- gleichheit Teil der Entscheidungsfindung werden [25]. Der Fokus liegt auf der Berücksichti- gung von möglichen Gesundheitseffekten bei der Planung von politischen Maßnahmen und Gesetzen, bei der Aushandlung verschiedener Optionen und bei der Ausführung dieser Ge- setze und Maßnahmen [26]. Eine wichtige Strategie dabei ist, die gegenseitigen Vorteile für die einzelnen Sektoren aufzuzeigen, wenn Gesundheitsthemen adressiert werden. Zum Bei- spiel ist weltweit das Fahrradfahren als Mobilitätsoption in den Fokus der Stadt- und 4
Verkehrsplanung gerückt, um den Herausforderungen des Klimawandels und der Verkehrs- überlastung in den Städten zu begegnen [27]. Der gesamte sogenannte Umweltverbund der Mobilitätsoptionen, bestehend aus Zufußgehen, Fahrradfahren und öffentlichem Verkehr, ha- ben Vorteile für eine Reihe von Politikfeldern, von Luftqualität und Wirtschaft bis hin zu Ge- sundheit und Gerechtigkeit [28]. Der Health in All Policies-Ansatz soll diese Synergien aufzei- gen und so die Sozialen Determinanten von Gesundheit adressieren, die ansonsten außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Gesundheitssektors liegen. Unter Berücksichtigung der positiven und negativen Auswirkungen anderer Sektoren auf die Gesundheit der Bevölkerung betonen Leppo und Tangcharoensathien (2013) [29] und die WHO (2014) [25] die führende Rolle des Gesundheitssektors in HiAP-Initiativen. Dennoch un- terscheiden sich die Zuständigkeiten, Organisationsstrukturen und Befugnisse des Öffentli- chen Gesundheitsdienstes weltweit. In Deutschland ist der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene angesiedelt. Die Hauptaufgaben des ÖGD sind durch Landesgesetze festgelegt. Obwohl die konkreten Zuständigkeiten je nach Ge- setzgebung der einzelnen Bundesländer unterschiedlich sind, gibt es spezifische Schwer- punkte, die sich in allen Gesetzen wiederfinden: (1) Gesundheitsschutz (insbesondere im Hin- blick auf die Gefahrenabwehr), (2) Gesundheitsförderung, (3) Gesundheitsversorgung und (4) Gesundheitsberichterstattung [30]. Die Zuständigkeit für die Gesundheitsförderung ist erst in jüngster Zeit festgelegt worden. Niedersachsen war eines der letzten Bundesländer in Deutschland, das diese Gesetzgebung im Jahr 2007 umgesetzt hat. Es bestehen jedoch teilweise erhebliche Unterschiede in der Schwerpunktsetzung sowie Breite und Tiefe einzelner Normen [31]. In Niedersachsen heißt es in § 4 Absatz 1 zu Prävention und Gesundheitsförderung: „Die Landkreise und kreisfreien Städte veranlassen, unterstützen und koordinieren präventive und ge- sundheitsfördernde Maßnahmen; sie können diese auch selbst durchführen. Die Maßnahmen bestehen insbesondere in Information, Beratung und Aufklärung über Gesundheitsgefährdungen, gesundheitsför- dernde Verhaltensweisen und Verhältnisse in Bezug auf Vorsorge, Krankheitsfrüherkennung und Maß- nahmen zur Versorgung und Rehabilitation.“ Der Beitrag des öffentlichen Gesundheitsdienstes zu Planungsfragen und die Zusammenar- beit zwischen den Sektoren Planung und Gesundheit ist nur in einigen Landesgesetzen vor- gesehen, z.B. in Nordrhein-Westfalen [32]. Die intersektorale Zusammenarbeit zwischen den Sektoren Planung und Gesundheit zielt historisch gesehen auf Hygieneüberwachung und die Verringerung der schädlichen Belastung durch Umweltstressoren wie Luftverschmutzung und Lärm ab. Das Leitbild für einen modernen ÖGD der Gesundheitsministerkonferenz for- muliert jedoch die steigende Bedeutung von steuernden, partizipativen und gesundheitsför- dernden Tätigkeiten über die bisherigen hoheitlichen Schutz- und Überwachungsaufgaben hinaus [33]. Zusätzliche Chancen ergeben sich durch das 2015 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention, das sogenannte Präventionsgesetz (PrävG). Im SGB V unter § 20 Absatz 4 Nummer 2 und weiter definiert unter § 20a werden nun explizit die Lebenswelten als wichtige Orte der Gesundheitsförderung und Prävention in den Blick 5
genommen. Die Umsetzung oder Steuerung obliegt jedoch in erster Linie den Sozialversiche- rungsträgern – die kommunalen Gesundheitsbehörden fungieren als Partner. Laut des Prä- ventionsberichts 2020 entfielen im Jahr 2019 jedoch rund 83% der lebensweltbezogenen Maß- nahmen auf Schulen. Rund 2% fanden auf Ebene der Gemeinde/(Stadt)teil/Landkreis statt. Dem Bericht ist nicht zu entnehmen, ob sich unter diesen Maßnahmen auch welche in Bezug auf die gebaute Umwelt befanden [34]. Bereits der erste Präventionsbericht hatte ergeben, dass sich die Kommunen bezüglich der Prozesse und Strukturen noch nicht zufriedenstellend ein- bezogen fühlen [35]. Das Potential des Gesetzes für die öffentliche Gesundheit durch einen verstärkten Einbezug vieler Akteure ist somit noch nicht ausgeschöpft. In Raumordnungsverfahren in Deutschland sind die Fachbehörden und Verwaltungsstellen als Träger öffentlicher Belange im Rahmen des Planungsverfahrens nach § 4 Baugesetzbuch zur amtlichen Stellungnahme aufgefordert. Das Gesundheitsamt ist eine dieser Behörden. Dies ist eine Gelegenheit, das Fachwissen des öffentlichen Gesundheitsdienstes über die sozi- alen Determinanten von Gesundheit unter der Berücksichtigung des Bedarfs vulnerabler oder benachteiligter Menschen zur Vermeidung gesundheitlicher Ungleichheiten einzubringen. In- tegrierte Stadtentwicklungskonzepte bilden ebenfalls als informelles Instrument der Stadtpla- nung eine Möglichkeit, einen ganzheitlichen Blick einzunehmen und Schnittstellen mit ande- ren Sektoren zu identifizieren und zu adressieren. Ein aktuelles Beispiel ist das integrierte Stadtentwicklungskonzept Leipzig 2030, welches das Thema Gesundheit als Querschnitts- thema aufnimmt und u.a. für die Fachkonzepte Energie und Klimaschutz, Freiraum und Umwelt, Nachhaltige Mobilität, Ordnung und kommunale Sicherheitsinfrastruktur, sowie Soziale Teilhabe als bedeutsam nennt [36]. Aus gesundheitspolitischer Sicht geht es darum, Maßnahmen in der Stadtentwicklung so zu gestalten, dass weder im Entscheidungsprozess noch in den Auswirkungen Nachteile für die Gesundheit, insbesondere für bestimmte Bevölkerungsgruppen, entstehen. Trotz des breiten Konsenses über die Notwendigkeit einer intersektoralen Zusammenarbeit, die von verschie- denen Institutionen und der Wissenschaft weltweit geäußert wurde [37], ist wenig darüber bekannt, ob und wie die intersektorale Zusammenarbeit auf lokaler Ebene stattfindet. Das Umweltbundesamt konstatiert beispielsweise in seinem Bericht zum Thema Umweltgerech- tigkeit, dass die Thematik wissenschaftlich von verschiedenen Professionen, über Public Health bis hin zur Stadtplanung, vermehrt untersucht wird, jedoch in der Praxis auf kommu- naler Ebene kaum Maßnahmen umgesetzt werden [38]. Das Umweltbundesamt empfiehlt zur Stärkung der Integration des Themas Umweltgerechtigkeit in den Kommunen ein kontinuier- liches Monitoring. Dafür sollen Daten der amtlichen Statistik genutzt werden [38]. Indikatoren für die Gesundheit der Bevölkerung liegen aber oftmals nur für bestimmte Bevölkerungsgrup- pen vor, z.B. für Kinder durch die Schuleingangsuntersuchung. Kenntnisse über den Gesund- heitszustand der übrigen Bevölkerung können weitere Anhaltspunkte liefern, Maßnahmen bedarfsgerecht zu planen. Das Problem bei der Outcome-Messung von Gesundheitsförde- rungsmaßnahmen ist, dass Effekte auf die Gesundheit oft erst im höheren Lebensalter auftre- ten, z.B. der Einfluss körperlicher Aktivität im Lebenslauf auf die Entstehung von bösartigen 6
Neubildungen. Zur Stärkung der bevölkerungsweiten Gesundheit sollte Gesundheitsförde- rung und Prävention deshalb aus Sicht der sozialen Determinanten von Gesundheit geplant werden. Der Einfluss auf diese Determinanten von Gesundheit kann auf politischer Ebene, aber auch direkt in den Lebenswelten, recht schnell erfolgen und somit lassen sich Verände- rungen in den Determinanten auch früher beobachten als Outcomes, die auf die Entstehung oder Vermeidung von Krankheiten abzielen. Da diese Determinanten von Gesundheit aber von politischen Entscheidungen, Aktivitäten und Interventionen vieler verschiedener Sekto- ren abhängig sind, ist hier ein besseres Verständnis für die Effekte von Maßnahmen auf die Gesundheit der Bevölkerung notwendig. Dies kann im Rahmen der Zusammenarbeit durch das Aufzeigen gemeinsamer Ziele erreicht werden. 2 Gemeinsame Herausforderungen der Sektoren Gesundheit und Planung: Demographische Entwicklung und Mobilität in Klein- und Mittelstädten 2.1 Alterungs- und Schrumpfungsprozesse In den kommenden Jahrzehnten steht die Welt vor der großen Herausforderung des demo- graphischen Wandels hin zu einer Alterung der Bevölkerung. Deutschland bildet da keine Ausnahme und hat derzeit mit 21,6% einen der höchsten Anteile älterer Menschen im Alter von 65 Jahren und älter in der Europäischen Union [39]. Die Lebenserwartung ab einem Alter von 65 Jahren lag im Jahr 2019 bei zusätzlichen 20 Jahren [39]. Die Zahl der Menschen im Alter von 65 Jahren und älter, die für ihr tägliches Leben wahrscheinlich von der Unterstützung anderer abhängig sein werden, wird im Verhältnis zur jüngeren Bevölkerung von heute 35% in den soziökonomisch besser gestellten Regionen der Vereinten Nationen bis 2060 auf über 60% steigen [40]. Die Mehrheit der Städte und Landkreise in Deutschland zeigt eine Zunahme in der Lebenszeit, die Menschen mit jeglicher Pflegebedürftigkeit (alle Pflegestufen) verbrin- gen, aber eine kürzere Zeit der schweren Pflegebedürftigkeit in den letzten Lebensjahren [41]. Städte und Gemeinden sehen sich somit womöglich einer älteren Bevölkerung gegenüber, die Unterstützungsbedarf auf vielen Ebenen hat, aber weiterhin aktiv im Leben steht und an der Gesellschaft teilhaben möchte. Die Alterung der Bevölkerung schlägt sich insbesondere in den ländlichen Regionen nieder. Durch die gleichzeitig zunehmende Abwanderung der jüngeren Bevölkerung in die Städte sind viele Gemeinden auch von einer schrumpfenden Bevölkerung betroffen. Lebten im Jahr 2020 bereits 77,3% der Menschen in Deutschland in urbanen Räumen, zeigen Prognosen, dass dieser Anteil bis 2050 auf 84,3% der Bevölkerung ansteigen könnte [42]. Dabei entfallen in Deutschland allerdings nur rund 32% auf Großstädte mit 100.000 Einwohnern und mehr. Rund 27% leben derzeit in mittelgroßen Städten (20.000 bis
Während im Jahr 2014 6% der unter 65-Jährigen in eine andere Gemeinde zogen, lag diese Quote bei älteren Menschen nur bei 1% [43]. Städte und Gemeinden stehen daher vor der Her- ausforderung, die Bedürfnisse älterer Erwachsener, die in ihrer Gemeinde leben, in Bezug auf das Älterwerden vor Ort stärker zu berücksichtigen [44]. Trotz der schwierigen Anforderung der schrumpfenden Städte und Gemeinden ist eine nachhaltige und auf die Zukunft ausge- richtete Politik und Stadtentwicklung unverzichtbar. Der steigende Anteil der älteren Bevöl- kerung macht es erforderlich, erfolgreiches und gesundes Altern als ein wichtiges Thema im Bereich Public Health zu betrachten [45]. Die WHO definiert Gesundes Altern in ihrem Weltbe- richt als einen Prozess, die physischen und mentalen Fähigkeiten eines Menschen so zu ent- wickeln und zu erhalten, dass größtmögliches Wohlbefinden im Alter ermöglicht wird [45]. Studien haben gezeigt, dass die meisten Menschen es vorziehen, in ihrer gewohnten Wohnung und Umgebung alt zu werden [46, 47]. Für ein gesundes Altern, einschließlich der Vorbeu- gung von Einsamkeit, ist es wichtig, aktiv und mobil zu bleiben und am sozialen Leben teil- zuhaben [48]. 2.2 Aktive Mobilität für gesundes Altern Der Prozess des Alterns geht mit Veränderungen der Mobilitätsbedürfnisse und mit Mobili- tätsproblemen einher. Je nach ihren körperlichen und kognitiven Fähigkeiten bewegen sich viele ältere Menschen zu Fuß, oft mit Hilfsmitteln wie einem Gehstock, einem Rollator oder sogar einem Rollstuhl [49, 50]. Der öffentliche Raum ist jedoch oft nicht für aktive Mobilität im Alter ausgelegt, weder zu Fuß noch mit dem Fahrrad, insbesondere in ländlicheren Gebieten [51]. Hier kann die Förderung aktiver Mobilität für ein gesundes Altern in einer vertrauten Umgebung eine besondere Herausforderung darstellen, da die Entfernungen tendenziell grö- ßer sind. Die Autonutzung unter älteren Menschen in ländlichen Gebieten ist hoch, auch wenn sie mit zunehmendem Alter abnimmt [51, 52]. Diese Abhängigkeit vom Autofahren kann mit dem Alter dann zu einem Problem werden, wenn Menschen die Fähigkeit verlieren mit dem Auto zu fahren oder keinen Zugang zu einem Fahrzeug haben. Die Befriedigung der täglichen Bedürfnisse und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben kann dadurch erschwert werden und die Lebensqualität und Gesundheit können darunter leiden. Darüber hinaus untergräbt die Konzentration auf eine Infrastruktur, die den Autoverkehr begünstigt, alternative Ver- kehrsmittel und macht das Fahrradfahren unsicher und das Zufußgehen zusätzlich unattrak- tiv [51, 53]. Aus Public Health-Sicht haben aktive Mobilitätsformen wie Zufußgehen und Fahrradfahren als Form körperlicher Aktivität mehrere positive Nebeneffekte für die Gesundheit [54, 55]. Körperliche Aktivität steht im Zusammenhang mit reduzierter Mortalität, einer verbesserten kardiorespiratorischen Fitness, einem geringeren Krebsrisiko und gesteigertem Wohlbefinden [54, 56-58]. Die verlorenen Lebensjahre durch körperliche Inaktivität wurden in einer Multi- kohorten Studie und Meta-Analyse auf 2,4 Jahre im Alter zwischen 40-85 Jahre berechnet. Das Populationsattributable Risiko (PAF) liegt bei 26% bei Männern und 23% bei Frauen. Unter den sechs anderen Hauptrisikofaktoren für nicht-übertragbare Krankheiten laut 8
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