CORONA - HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN - msg Systems
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02-2021 Kundenmagazin der für den Public Sector CORONA –GEN ERUN HERAUSFORD N UND CHANCE Social Media in Die Wertschätzung der Optimierung der Digitalisierung der Corona-Krise Gesundheitsämter trotz föderaler Strukturen Ein Anker in der Not? Interview mit Dr. Siegfried Eichin und Sabrina Wurdak
INHALT 4 18 32 3 Editorial MODERNE VERWALTUNG von Dr. Andreas Zamperoni 32 Optimierung der Digitalisierung trotz SCHWERPUNKT CORONA föderaler Strukturen von Helmut Lämmermeier 4 Oft große Flam von Fünklin kam von Jürgen Fritsche 36 IT-Dienstleistungszentren reloaded von Werner Achtert 8 „Ich wünsche mir, dass die Wertschätzung der Gesundheitsämter, die im Zuge der Pandemie 38 Effiziente digitale Verwaltungsleistungen gestiegen ist, so hoch bleibt.“ durch selbstsouveräne digitale Identitäten Interview mit Dr. Siegfried Eichin, Amtsleiter, und von Steffen Schwalm Sabrina Wurdak , Leiterin Fachgebiet Pandemie- management, vom Gesundheitsamt Tuttlingen 46 Open Innovation Ideathon von Daria Albrecht und Jens Brünink 14 E-Akte und die Digitalisierung der Verwaltung von Carsten Schaefer IT/ZUKUNFTSTECHNOLOGIEN 18 Social Media in der Corona-Krise: 50 Wie agil muss Softwarearchitektur sein? Ein Anker in der Not? von Andreas Büchner von Inna Demburg 25 „Kultur ist das, was du tust, nicht das, was du sagst.“ Interview mit Markus Albers, Journalist, Autor, Berater und Unternehmer Herausgeber Verantwortlich Redaktion Produktion Jürgen Fritsche, Geschäftsleitung Dr. Stephan Frohnhoff Dr. Andreas Zamperoni (Chefredakteur), Meisterdruck GmbH, Public Sector, msg systems ag (Vorsitzender), Karin Dohmann, Kaisheim Rolf Kranz, Dr. Katrin Ehlers Robert-Bürkle-Str. 1 Dr. Aristid Neuburger, Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die 85737 Ismaning Karsten Redenius, Konzept und Layout Meinung des Herausgebers wieder. Tel.: +49 89 96101-0, Fax: -1113 Dr. Frank Schlottmann, Eva Zimmermann Nachdrucke nur mit Quellenangabe E-Mail: info@msg.group Dr. Jürgen Zehetmaier und Belegexemplar. www.msg.group Bildnachweis msg systems ag : S. 8, 10, 25, 26, 27, 28, 31, 48, 57, 58 Adobe Stock: Titel, S. 4, 7, 14, 18, 30, 32, 33, 35, 38, 46, 50, 56, Rückseite 2 | .public 02-21 | Inhaltsverzeichnis
MS Teams, Zoom, WebEx, Meet – es sind nicht weniger als neun (!) Online-Meeting-Tools, die ich mehr oder weniger regelmäßig nutze, um derzeit alle meine Ansprechpersonen zu erreichen. Dieser Mee- ting-Tool-Zoo zeigt: In der Not wird (auch) in der öffentlichen Verwal- tung plötzlich vieles möglich, was seit Behördengedenken unmöglich war. Zum Beispiel eine Beauftragung für wichtige, man möchte sagen: „systemrelevante“ Unterstützungsleistungen innerhalb weniger Tage zu bekommen. Jedoch wirkt vieles immer noch improvisiert, ist ei- gentlich immer auf einen behörden- oder gar abteilungslokalen Kon- text beschränkt und mit dem Vorbehalt der Ausnahme behaftet, aber EDITORIAL nicht auf Nachhaltigkeit angelegt. Bei uns Dienstleistern schleicht sich die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass wir durch Dauer-Homeoffice sogar meist noch mehr zu leisten in der Lage sind als bei Geschäftsstellen- aufenthalten und Kundenbesuchen. Die gleiche Erfahrung macht auch unsere Behördenkundschaft: die Effizienz und Bearbeitungsgeschwindigkeit hängen nicht primär von Corona ab – aber Corona wirkt wie eine Lupe, die effizientes oder ineffizientes Arbeiten bei den Behörden sichtbar(er) macht! Einstweilen behilft man sich folglich mit mindestens neun verschiedenen Meeting-Tools und hält virtuelle Meetings ab, die unsere realen Netze hoffnungslos überlasten. Und beschäftigt sich ängstlich mit der Frage: „Wann kehren wir wieder zu unserer alten Welt zurück?“ Hoffnungsvoller und spannender fände ich – wie schon in Heft 03-2020 formuliert –, nach Antworten auf die folgenden Fragen zu suchen: „Da wir sicher nicht in die alte Welt zurückkehren werden (wollen?): Was wollen wir zurücklassen, was wollen wir mitnehmen und was wollen wir nachhaltig verändern?“ Die vorliegende Ausgabe mit dem Themenschwerpunkt „Corona – Herausforderungen und Chancen“ suchen wir Antworten auf diese spannenden Fragen. Dabei gehen wir dem Thema direkt auf dem Grund, zum Beispiel im Interview mit dem Leiter des Gesundheitsamts Tuttlingen, Dr. Siegfried Eichin, und der Leiterin des Fachgebiets Pandemiemanagement ebendort, Sabrina Wurdak. Oder in unserem Leitartikel „Oft große Flam von Fünklin kam“ von Jürgen Fritsche. Aber auch die thematischen Dauerbrenner Digi- talisierung und Agilität sind gebührend vertreten, wie zum Beispiel in der Zwischenbilanz der Einführung der „E-Akte und die Digitalisierung der Verwaltung“ oder in „Wie agil muss Software-Architektur sein?“ (mit IT-Spicker zum Heraustrennen). Und noch etwas in eigener Sache: Die Ausgabe, die Sie vorliegen haben, ist unsere bereits zwanzigste! Was vor sieben Jahren als Experiment, unser gesammeltes Wissen und unsere (Projekt-)Erfahrungen mit Ihnen zu teilen, begonnen hat, hat sich mittlerweile zu einer festen Größe für unsere Leserschaft, aber auch für unsere Kolleginnen und Kollegen entwickelt. Vielen Dank an dieser Stelle an Sie für Ihr Interesse und Ihre Lesetreue, ohne die dieses Magazin nicht existieren würde! Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen Dr. Andreas Zamperoni Chefredakteur .public Editorial | .public 02-21 | 3
OFT GROSSE FLAM VON FÜNKLIN KAM Über Grenzen und das Verschieben von Grenzen in der Corona-Krise | von JÜRGEN FRITSCHE „OFT GROSSE FLAM VON FÜNKLIN KAM.“ aber auch, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und den Aus- Christoph Martin Wieland1 tausch und physischen Kontakt mit anderen zum Leben braucht. Vor dem Hintergrund dieser Erlebnisse diskutiere ich folgende Fragen: ... wie auch zu Anfang des Jahres 2020, als in vielen Ländern ein Lockdown angeordnet wurde und das Weltgeschehen anscheinend 1. Wodurch werden Veränderungen ausgelöst? ins Stocken geriet. Das Leben ging trotzdem weiter, nur irgendwie 2. Halten die Veränderungen auch an, wenn die wahrgenommene anders. Mit weniger Sozialkontakten und größerer Abhängigkeit Ursache der Veränderung nicht mehr existiert? von digitalen Möglichkeiten. Das hat uns vor Augen geführt, wie viel 3. Befinden wir uns jetzt in einem schöneren Hamsterrad als vorher? Nachholbedarf wir im Bereich der digitalen Werkzeuge haben. Und es hat uns gezeigt, dass berufliches Reisen wirklich sehr oft über- Dabei werde ich dem Thema Veränderung zunächst allge- flüssig ist. Wenn keiner reisen kann, entfällt der Gruppendruck, auch mein nachgehen, mich dann aber auf den Aspekt Digitalisie- selbst zu einstündigen Besprechungen anzureisen. Sichtbar wurde rung konzentrieren. 4 | .public 02-21 | Schwerpunkt Corona
WODURCH WERDEN VERÄNDERUNGEN AUSGELÖST? Diese Grenzüberschreitungen waren und sind eine umfas- sende, revolutionäre Veränderung, die nicht einfach nur an- Im Frühjahr 2020 wurde unser gewohntes Leben gründlich er- geordnet werden konnte, sondern einen wirklich guten Grund schüttert. Was uns bis dahin selbstverständlich war, ging plötz- benötigte, über den breiter Konsens besteht. In diesem Fall lich nicht mehr: Alltagsabläufe, soziales Miteinander, Freizeit- war der Grund eine winzige organische Struktur, die von ei- aktivitäten, Berufliches. nem Großteil der Bevölkerung als Risiko für Leib und Leben wahrgenommen wurde. Privat mussten wir soziale Kontakte stark reduzieren. Schulen mussten auf digitale Lernangebote umsteigen, die es aber nicht Für Veränderungen braucht es also einen sehr breiten Konsens gab und auch heute noch kaum gibt. Viele Jahre hat man zwar der Zustimmung, der sich durch gleichartige Information über über die Digitalisierung der Schulen gesprochen, es jedoch ver- eine gut begründete Dringlichkeit zur Veränderung erreichen säumt, adäquate Werkzeuge einzuführen und methodische und lässt. didaktische Lösungen zu erzeugen. Stattdessen hat man an der bewährten Praxis des Präsenzunterrichts festgehalten. HALTEN DIE VERÄNDERUNGEN AUCH AN, WENN DIE (WAHRGENOMMENE) URSACHE FÜR DIE VERÄNDERUNG „FAST ÜBERALL SIND REGELN WENIGER WIRKSAM NICHT MEHR EXISTIERT? ALS ERFAHRUNGEN.“ Marcus Fabius Quintilianus2 „DIE STETE BESTÄNDIGKEIT DER WIRKUNG SETZT EINE PROPORTIONIERTE STETE BESTÄNDIGKEIT DER Wo immer möglich, war man angehalten, von zu Hause aus URSACHE VORAUS.“ zu arbeiten. Eine gute Internetverbindung, ein häusliches Ar- beitszimmer und ein leistungsfähiger dienstlicher Computer Wenn wir diese Aussage, die Adam Smith4 zugeschrieben wird, waren auf einmal existenziell. Hotels und Gaststätten muss- als wahr ansehen, könnte alles gesagt sein. Denn wenn wir an- ten schließen und bei Wiederöffnung Sicherheitsmaßnahmen nehmen, dass die Gefahr durch immer neue Mutationen des einführen. Gastronomiebetriebe mussten, falls das überhaupt Virus bestehen bleibt – wobei Mutationen in der Natur ein nor- möglich war, ihr Angebot ad hoc auf Abhol- oder Lieferservice maler Vorgang sind –, dann bleibt die Ursache bestehen, und es umstellen, um überleben zu können. Kunst- und Kulturschaf- gibt auf nicht absehbare Zeit Anlass zu Maßnahmen, die ent- fende haben von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit, ihr sprechende Wirkungen erzeugen. Publikum, ihr Einkommen und oft auch ihre Kreativität im Lockdown verloren. Mit großer Geschwindigkeit haben Unter- Antwort 1 lautet also: Ja, die Veränderungen halten an, wenn die In- nehmen versucht, die Folgen dieser Maßnahmen durch eine formationen über gut begründete Dringlichkeiten weiter bestehen. nie da gewesene „Aufrüstung“ ihrer digitalen Infrastruktur – Ich muss und möchte jedoch eine angemessene Zeichenzahl Hard- und Software – abzufangen. für diesen Beitrag nicht unterschreiten, daher folgen weitere Überlegungen zum Thema, diesmal, wie angekündigt, mit dem Plötzlich waren wir also mit Einschränkungen unserer als selbst- Fokus Digitalisierung. verständlich wahrgenommenen Freiheit konfrontiert. Unseren Handlungen wurden enge Grenzen gesetzt. Das war eine ein- Allein hinsichtlich des mobilen Arbeitens oder Arbeitens von schneidende Veränderung in einem so weitreichenden Ausmaß, zu Hause aus sind verschiedene Perspektiven zu betrachten. dass man von einer Krise sprechen kann. Die Veränderung bezie- Viele Menschen können gar nicht mobil arbeiten, sie müssen hungsweise Krise hat uns gezwungen, neu nachzudenken, neue und wollen werktäglich zu ihrem Arbeitsplatz kommen. Die- Wege zu versuchen, um mit der Situation zurechtzukommen. Mit jenigen, die mobil arbeiten können, das sind laut D21-Digital- diesen neuen Wegen haben wir zugleich Grenzen überschritten, Index 2020/20215 im Jahr 2020 ca. 34 Prozent der Berufstäti- deren Überschreitung vorher lange nicht gelungen war. gen, haben demgegenüber die Möglichkeit für Homeoffice ver- stärkt genutzt. Der Anstieg gegenüber 2019 betrug 17 Prozent. „ES GIBT NICHTS DAUERHAFTES AUSSER Wenn es sich die Beschäftigten aussuchen könnten, hätte ein DER VERÄNDERUNG.“ Drittel gerne ein ausgewogenes Verhältnis aus Präsenzzeit im Heraklit3 Unternehmen und mobilem Arbeiten. Schwerpunkt Corona | .public 02-21 | 5
Die Sicht der Unternehmen auf das Thema mobiles Arbeiten Wenn Unternehmen oder Behörden den Impuls aus der Pande- hängt von der Unternehmensgröße ab. Bei kleineren Unterneh- mie aufnehmen und ihre Organisation hinsichtlich Führung, Zu- men mit bis zu 50 Beschäftigten gibt es oft keine Möglichkeit sammenarbeit und Kultur weiterentwickeln, andere hingegen zu mobilem Arbeiten. Die größeren Unternehmen bieten solche eher zurückkehren in die Arbeitswelt vor Corona, dann droht Möglichkeiten meist an. Bei den Unternehmen bestehen einige ein Auseinanderdriften der Arbeitswelt(en). Bedenken, die den Austausch unter den Beschäftigten, die Da- tensicherheit und eine erschwerte Führung von Teams betref- Antwort 2 lautet daher: Ja und nein. Wenn die Bedrohung nicht fen. Dennoch werden die größeren Unternehmen in Zukunft die mehr da ist, wird es Bestrebungen geben, zum Zustand davor zu- Möglichkeiten zum dauerhaften und/oder umfänglichen mobi- rückzukehren. Genauso wird es Bestrebungen geben, den neuen len Arbeiten ihrer Belegschaft und dafür geeignete Arbeitsplät- Zustand beizubehalten oder eine Mischung aus beidem herzu- ze beziehungsweise Infrastruktur anbieten. stellen, um das Beste aus zwei Welten zu vereinen. Als weitere Hürde für die Arbeit von zu Hause aus wird insbeson- BEFINDEN WIR UNS JETZT IN EINEM SCHÖNEREN dere bei Behörden der häufig eingeschränkte Zugriff auf wich- HAMSTERRAD ALS VORHER? tige Daten und Informationen genannt. Da vieles noch papier- gebunden geschieht, muss mehr vor Ort gearbeitet werden. Der Denkimpuls „Neue Anforderungen an Zusammenarbeit, In Verwaltungen, die über eine E-Akte verfügen, hat sich die Kultur, Führung und Eigenverantwortung in der Arbeitswelt elektronische Ablage und Bearbeitung als erheblicher Vorteil nach Corona“ der Initiative D217 betrachtet die Veränderung der herausgestellt. Großes Potenzial besteht allerdings weiterhin Arbeitswelt von Berufstätigkeiten, deren Arbeit flexibel ins bei der Nutzung von kollaborativen Arbeitsplattformen, Pro- Homeoffice verlegt werden kann. Der Impuls führt acht Thesen jektmanagement-Software und Cloud-Diensten, die bisher für die Zeit nach Corona auf. kaum genutzt werden und sehr oft gar nicht vorhanden sind beziehungsweise in den jeweiligen Behördenkontexten nicht 1. Arbeit wird in einem heute noch kaum vorstellbaren Maße nutzbar sind. Wahrscheinlich ist, dass die Behörden wieder omnipräsent. stärker auf Präsenz setzen werden, jedoch dann personell 2. Es wird noch Büros geben, aber sie werden eine andere Funk- noch stärker in Konkurrenz zu großen Unternehmen geraten, tion haben. die mobiles Arbeiten zulassen.6 3. Lebenslanges Lernen wird oberste Priorität für Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer, aber auch für Organisationen. Allgemein wird übrigens von den Arbeitgebern bezweifelt, dass 4. Führungskräfte müssen Fähigkeiten für virtuelle Führung lernen. die Digitalisierung und das mobile Arbeiten insgesamt die Zufrie- 5. Die Festanstellung wird an Bedeutung verlieren. denheit der Beschäftigten mittel- oder langfristig erhöhen wird. 6. Die Unternehmenskultur wird grundlegend neu definiert. In den Jahren 2020 und 2021 hat sich aufgrund von Covid-19 in 7. Um Beschäftigte zur Selbststeuerung zu befähigen, müssen der Arbeitswelt für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Unternehmen besser kommunizieren. eine neue Normalität eingestellt. Gehen wir davon aus, dass die 8. Homeoffice hat positive Auswirkungen auf Kreativität und In- Ursachen für die Veränderungen bestehen bleiben, dann würde novationskraft, die gefördert und unterstützt werden sollten. die derzeitige Praxis weiter angewendet und perfektioniert wer- den. Sollte die Pandemie „offiziell“ als beendet erklärt werden, Nicht mehr „das Management“ steuert die Belegschaft; vielmehr wird die neue Normalität zumindest in einigen Branchen und steuern sich die Einzelnen zunehmend selbst – in ihrem Tages- Teilen der Bevölkerung weiterhin bestehen bleiben. ablauf, in ihrer Erreichbarkeit, in ihrem Lernwillen und im Stress- management8. Dabei werden Unternehmensgrenzen durch neue Die einmal eingetretenen Veränderungen – oder auch: Grenzüber- Kooperationsmodelle, zum Beispiel mit Freiberuflern, durchläs- schreitungen – hin zur Digitalisierung haben bekanntlich bereits siger und Hierarchien werden flacher. Die Kommunikation wird in jetzt Veränderungen der Unternehmenskulturen, der Zusammen- den virtuellen Formaten direkter und effektiver. Transparenz in arbeit innerhalb des eigenen „Hauses“ und mit Kunden oder Drit- den virtuellen Werkzeugen und die permanente Erreichbarkeit ten, der Organisation und Führung nach sich gezogen. Vor- und wird größer, was das Risiko von Überlastung und Überwachung Nachteile sind sichtbar geworden und werden wahrscheinlich zu mit sich bringt. Diese Entwicklungen erfordern neue Steue- einem neuen Mix aus Präsenz- und Remote-Arbeit führen. rungs- und Führungsmodelle in der Zusammenarbeit von Teams und in den Organisationen. 6 | .public 02-21 | Schwerpunkt Corona
Wenn diese Thesen zutreffen, sind Arbeits- und Privatleben dau- erhaft viel enger miteinander verwoben als bisher. Durch eine per- manente Erreichbarkeit und die Verfügbarkeit von Arbeitsmitteln steigen die Möglichkeiten, „schnell noch etwas fertig zu machen“, gleichermaßen wie der Erwartungsdruck, genau dies auch zu tun. „OPERATIVE HEKTIK ERSETZT GEISTIGE WINDSTILLE.“ Paul Eugen Bleuler10 Ist diese Form der Arbeit nun besser als vorher? Nur dann, wenn die Unternehmen Regeln definieren, die eine Überlastung oder Überforderung des Einzelnen verhindern und ihr oder ihm gleichzeitig genügend Vertrauen entgegenbringen und Freiheit lassen, ihre oder seine Arbeit selbstverantwortlich einzuteilen. Geschieht das nicht, sieht das neue Hamsterrad zwar schöner aus, dreht sich aber noch schneller als vorher. „DIE MENSCHEN WÄHNEN, WO GESCHÄFTIGKEIT SEI, WAS BLEIBT DA GESCHEHE AUCH ETWAS.“ Adolf Schafheitlin9 In der Pandemie haben wir neue Grenzen erfahren und viele bisherige Grenzen eingerissen. Dabei haben wir Erfahrungen Büros werden nach der Corona-Pandemie andere Funktionen gemacht, die teilweise gut, akzeptabel, aber oft auch inakzep- erfüllen müssen, weil Arbeit auch in Zukunft im Homeoffice, tabel sind. Handlungsspielräume haben sich verändert, Hori- von unterwegs und an anderen Orten wie Coworking Spaces zonte verschoben. In den nächsten Jahren wird das Terrain neu stattfinden kann. Permanente digitale Kollaboration wird da- abgesteckt werden. Denn wir brauchen Grenzen, als Individuen her zum Normalzustand und Arbeit in einem heute noch kaum und als Gesellschaft, um Zugehörigkeit zu ermöglichen, Rollen- vorstellbaren Maße omnipräsent. Zugleich verliert die Festan- findung zu erleichtern und ein Selbstverständnis auszubilden. stellung an Bedeutung. Um eine Bindung von Mitarbeiterinnen Grenzen sind nicht zuletzt Orientierungsmarken. und Mitarbeitern zu gewährleisten, muss Unternehmenskultur grundlegend neu definiert werden. Führungskräfte und Be- Unternehmen und Behörden werden daran arbeiten, Grenzen schäftigte müssen viele Fähigkeiten neu erlernen. Führungs- neu zu verhandeln. Diejenigen, die jetzt die Vor- und Nachteile kräfte müssen anders kommunizieren, ihre Mitarbeiterinnen digitalen Arbeitens erlebt haben, werden manche Grenzver- und Mitarbeiter anders befähigen und auch anders steuern. schiebungen konsolidieren, andere vielleicht zurücknehmen Die Beschäftigten müssen neben Selbst- und Zeitmanagement wollen. In jedem Falle wird es darüber Verhandlungen geben, es die Fähigkeit mitbringen und entwickeln, eigenständiger zu wird zu diskutieren und zu ringen sein, um den neuen Normal- agieren und zu entscheiden. zustand zu gestalten und zu vereinbaren. • 1 Christoph Martin Wieland (1733–1813). Deutscher Dichter, Übersetzer und Herausgeber, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Aufklärung. 2 arcus Fabius Quintilianus (um 30–96). Römischer Rhetor, Schriftsteller, Lehrer der Beredsamkeit und Erzieher des Kaisers Domitian. M 3 Heraklit (um 520 v. Chr.). 4 Adam Smith (1723–1790). Schottischer Moralphilosoph, Aufklärer und gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie. 5 D21-Digital-Index 2020–2021, https://initiatived21.de/app/uploads/2021/02/d21-digital-index-2020_2021.pdf, Seite 44 (abgerufen am 17.08.21). 6 Vgl. https://initiatived21.de/app/uploads/2021/06/new-normal_das-richtige-mass.pdf (abgerufen am 17.06.2021). 7 https://initiatived21.de/app/uploads/2021/06/new-normal_kultur-zusammenarbeit-fuehrung.pdf (abgerufen am 17.06.2021). 8 Siehe auch .public 03-2020 (S. 38 ff.): „Überlebensstrategien in unsicheren Arbeitsumgebungen – Job Crafting in der öffentlichen Verwaltung“ (https://publikation.msg. group/publikationsarchiv/fachartikel/1053-public-03-2020_job-crafting/file) (abgerufen am 17.08.21). 9 Adolf Schafheitlin (1852–1917), deutscher Lyriker. 10 Paul Eugen Bleuler (1857–1939), Schweizer Psychiater. Schwerpunkt Corona | .public 02-21 | 7
„ICH WÜNSCHE MIR, DASS DIE WERTSCHÄTZUNG DER GESUNDHEITSÄMTER, DIE IM ZUGE DER PANDEMIE GESTIEGEN IST, SO HOCH BLEIBT.“ Dr. Siegfried Eichin, Amtsleiter und msg: Vielen Dank, Frau Wurdak und Herr Dr. Eichin, dass Sie sich zu diesem Interview bereiterklärt und sich die Zeit genommen Sabrina Wurdak , Leiterin Fachgebiet haben. Pandemiemanagement vom Dr. Eichin: Sehr gerne. Es ist für uns als Gesundheitsamt eine Gesundheitsamt Tuttlingen im gute Möglichkeit, um uns sichtbar zu machen und zu zeigen, wie Gespräch mit Regina Welsch, es bei uns im Moment zugeht. Es sind gerade harte Zeiten – im- mer noch. Aber mit der Impfung ist jetzt zumindest Land in Sicht. Lead Business Consultant, msg Public Sector. msg: Bitte stellen Sie sich unseren Leserinnen und kurz vor. Wurdak: Gerne. Ich leite seit Oktober letzten Jahres das Fach- gebiet Pandemiemanagement beim Gesundheitsamt Tuttlingen und bin hauptsächlich für alle organisatorischen Fragestellun- gen zuständig. 8 | .public 02-21 | Interview
Dr. Eichin: Und ich bin seit 2007 der Leiter des Gesundheitsamts Meldung verpflichtet. Und zwar unverzüglich, ohne schuldhaftes in Tuttlingen. Ich wurde am Ende meiner Laufbahn noch mit die- Verzögern. Spätestens nach 24 Stunden muss die Meldung bei ser Pandemie beglückt und freue mich, diese Situation beglei- uns im Gesundheitsamt eingetroffen sein. Früher ging das ana- ten zu können. Im Auge des Orkans sozusagen. log per Fax, jetzt läuft das über das Meldesystem DEMIS. DEMIS soll für alle Infektionskrankheiten genutzt werden, wurde aber msg: Welche Aufgaben übernimmt das Gesundheitsamt in Tutt- erst mal für die Covid-19-Fälle vorgezogen. Wir haben dann die lingen normalerweise, das heißt, wenn keine Pandemie herrscht? Vorgabe, die Ermittlungen durchzuführen, die Zusammenhänge zu ergänzen. Das bedeutet, dass wir in der Regel bei den Patien- Dr. Eichin: Wir haben ein breites Spektrum an Aufgaben. Das fängt ten anrufen, fragen, wie es ihnen geht, welche Krankheitssymp- mit dem Infektionsschutz an, was ja auch die Pandemie elementar tome sie haben, welche Kontakte sie hatten und so weiter. Die betrifft. Es geht um Prävention, zum einen um Infektionsprävention, Fragen unterscheiden sich natürlich von Krankheit zu Krankheit. zum anderen um Prävention beispielsweise in Form von Gesundheits- Bei Hepatitis B muss ich anders fragen als bei einer Corona- konferenzen. Es geht um Gutachten des Amtsärztlichen Dienstes – Meldung. Dann sortieren wir die Fälle nach bestimmten Krite- von beamtenrechtlichen Gutachten über Gerichtsgutachten bis hin rien. Das heißt nach Verdachtsfällen, nach Ansteckungsfällen. zu Einzelgutachten aufgrund verschiedener Gesetzesgrundlagen. Und dementsprechend schreibt das Infektionsgesetz bestimmte Und dann haben wir noch einige Nischenthemen, wie beispielswei- Maßnahmen vor. Die Meldung geht dann weiter an das Landes- se die Trinkwasserüberwachung als eigenes Teilgebiet des Infekti- gesundheitsamt, bei uns ist das in Stuttgart, von dort nach Berlin onsschutzes. Hierbei geht es auch um die Wasserqualität. zum Robert Koch-Institut und von dort an die WHO. Es ist ein ge- stuftes Verfahren. Jede Stelle filtert noch mal und macht die agg- Aktuell haben wir es primär mit dem Infektionsschutz zu tun. regierten Daten dann für die nächste Ebene verwertbar. Die WHO Aber grundsätzlich ist die Arbeit im Gesundheitsamt sehr span- ist die internationale Institution, die final die Maßnahmen trifft. Im nend und vielfältig. Ich habe es noch nie bereut, diesen Weg ein- Falle von Covid-19 war es die Feststellung der Pandemie. geschlagen zu haben. VON HEUTE AUF MORGEN GAB ES NICHTS msg: Im Moment dreht sich fast alles um Covid-19. Wie hat die ANDERES MEHR ALS COVID-19, DIE Pandemie den Alltag im Gesundheitsamt verändert? FALLBEARBEITUNG UND DIE MELDUNG. Dr. Eichin: Los ging es Anfang letzten Jahres. Im Februar war die Lage noch ganz entspannt. Man hatte zwar von Corona gehört, msg: Ihre Aufgabe ist es also, die Infektionsketten nachzuvollziehen? aber das Thema war bei uns noch nicht präsent. Im März, April, Mai, da ging es dann richtig zur Sache. Von jetzt auf gleich hat Dr. Eichin: Genau. Aber das machen wir nicht nur bei Covid-19, Corona alles beherrscht. Das Telefon hat nicht mehr aufgehört zu sondern auch bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei einer klingeln, die E-Mail-Postfächer wurden überflutet. Unsere gesam- Salmonelleninfektion. Wenn uns ein Fall gemeldet wird, rufen ten Kräfte waren gefordert – von heute auf morgen gab es nichts wir die betroffene Person an und fragen, ob sie im Lebensmit- anderes mehr als Covid-19, die Fallbearbeitung und die Meldung. telbereich arbeitet. Wir weisen sie darauf hin, dass sie nicht wei- terarbeiten darf, stellen auch den Betrieb infrage, klären, ob es ABER GRUNDSÄTZLICH IST DIE ARBEIT weitere Fälle gibt etc. Diese Maßnahmen unterscheiden sich von IM GESUNDHEITSAMT SEHR SPANNEND Krankheit zu Krankheit. Aktuell wird der gesamte Workflow von UND VIELFÄLTIG. Corona dominiert. Aber es gibt natürlich noch andere Krankhei- ten. Nur gehen die in der Wahrnehmung gerade unter. Trotzdem bearbeiten wir sie natürlich, gar keine Frage. msg: Können Sie uns kurz beschreiben, wie eine solche Fall- bearbeitung abläuft? Wurdak: Wir haben verschiedene Teams, die den Ablauf bear- beiten: Ein Team bearbeitet den Befundeingang, sortiert die an- Dr. Eichin: Ja gerne. Der Ablauf ist für alle meldepflichtigen kommenden Befunde nach Krankheiten vor und leitet sie an die Krankheiten gleichlaufend. Wir folgen dabei den Regelungen des Fallerfassung. Dort werden die Fälle in unserem Datensystem Infektionsschutzgesetzes. Wenn ein niedergelassener Arzt bei erfasst. Dann geht es weiter in den Bereich Ermittlungen, wo jemandem eine meldepflichtige Krankheit feststellt, ist er zur die Personen so kontaktiert werden, wie Herr Dr. Eichin es eben Interview | .public 02-21 | 9
geschildert hat. Dieses Ermittlungsteam verschickt auch die Dr. Eichin: Wir haben hier im Haus zum Glück jemanden, der Kontaktpersonenliste, die die Betroffenen ausfüllen – das läuft programmieren kann. Das heißt, wir haben selbst eine Datenbank mittlerweile elektronisch ab. Diese Listen gehen dann an unser programmiert, in der wir ab einem bestimmten Zeitpunkt die Akten Kontaktpersonenmanagement, wo die Kontaktpersonennach- hochgeladen haben. Wir hatten zu einem bestimmten Zeitpunkt verfolgung stattfindet. Außerdem machen wir auch die Termin- einen Schnitt gemacht. Die alten Akten haben wir in Papierform vergabe für unser Abstrichzentrum, für die PCR-Abstriche. Und abgelegt, die neuen Akten in elektronischer Form. Und ab diesem wir haben eine Bürger-Hotline für den Landkreis. An die ist auch Zeitpunkt waren wir digitalisiert. Wir hatten dann die Datenbank die Hotline für das Kreisimpfzentrum angegliedert. Dann haben auf unsere eigenen Bedürfnisse weiterentwickelt und zugeschnit- wir noch den Bereich Corona-Recht, wo es um alle rechtlichen ten – dank der Programmiermöglichkeiten bei uns im Haus. Anfragen zur Verordnung geht. Und ich glaube, das war es. VON DER POLITIK BEKAMEN WIR msg: Wie hat sich diese Situation auf Ihre anderen Aufga- UNHEIMLICH VIEL UNTERSTÜTZUNG benbereiche ausgewirkt? Sie sind ja zum Beispiel auch für UND WERTSCHÄTZUNG. Einschulungsuntersuchungen zuständig. Wenn nun alle Res- sourcen abgezogen wurden, gab es sicher an vielen Stellen einen Engpass. msg: Bekamen Sie auch von außen Systeme zur Verfügung gestellt? Dr. Eichin: Ja natürlich. Manche Themen konnten wir einfach nicht mehr bearbeiten. Die haben wir schlicht und einfach einge- Dr. Eichin: Wir haben ja schon lange die OctoWare-Fachanwen- stellt, anders war es nicht möglich. Das Personal wurde komplett dung, die allerdings für eine elektronische Akte nicht ausreicht. auf die Fallbearbeitung umgestellt, auf die Pandemiebewälti- Da ging auf die Schnelle zwar manches, aber eben nicht alles. Die gung. Aber es gab auch Rückhalt vonseiten der Vorgesetzten, komplette elektronische Akte war daher eine hier im Haus ent- und früher oder später hatten alle Verständnis für unsere Lage. wickelte Datenbank. Die OctoWare-Datenbank haben wir immer Es gab eine hohe Akzeptanz, dass wir in der Pandemie manche noch. Sie wurde weiterentwickelt und von uns parallel geführt. Dinge eben nicht bearbeiten können. msg: Welche Unterstützung haben Sie beispielsweise von der DER DIGITALISIERUNGSPROZESS WURDE Politik bekommen? UNGLAUBLICH BESCHLEUNIGT. msg: Gab es innovative Wege, die Sie einschlagen konnten, um die Herausforderungen zu bewältigen? Dr. Eichin: Ja, die gab es. Ein ganz zentraler Punkt ist die Digi- talisierung. In der ersten Welle, zu Beginn der Pandemie, hat- ten wir einen Aktenschrank, der war zweieinhalb Meter breit, und da waren die ganzen aktuellen Infektionsfälle drin. Alle Infektionen, die in Tuttlingen gemeldet wurden, hatten Platz in diesem Schrank. Aber im Verlauf der Pandemie waren die zwei- einhalb Meter irgendwann voll. Das war dann der Zeitpunkt, wo wir uns überlegt haben, wie wir weitermachen können. Der Di- gitalisierungsprozess wurde unglaublich beschleunigt. Dieser Prozess war in den Jahren zuvor schon angedacht. Jetzt wurde er in einer enormen Schnelle – von jetzt auf gleich per Knopf- druck – realisiert. Das war für mich mit das Erstaunlichste im gesamten Verlauf der Pandemie. msg: Wie wurde das realisiert? Wie können wir uns das vorstellen? Arbeiten unter Corona-Bedingungen 10 | .public 02-21 | Interview
Dr. Eichin: Von der Politik bekamen wir unheimlich viel Unter- den. Mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten. Daher sind stützung und Wertschätzung. Zum Beispiel, indem wir Personal wir auch sehr froh, dass wir mit Frau Wurdak eine Mitarbeiterin innerhalb des Gesundheitsamts umschichten und auch Perso- haben, die sich rein um die Organisation, um die Teams, um die nal von anderen Bereichen zuziehen konnten. Wir hatten ja in- Aufstellung und um das Funktionieren der Teams kümmern kann. nerhalb des Landratsamtes zig Personen, teilweise auf Abruf, teilweise auch längerfristig zugeordnet, die für uns bestimmte msg: Welche Arbeitsprozesse, die durch die Pandemie neu ent- Aufgaben übernommen haben. Die Aufgaben wurden auch, und standen sind, werden bleiben? hier fängt die Geschichte von Frau Wurdak an, weiter aufgesplit- tet. Wir hatten dann plötzlich nicht mehr die Bearbeitung der Dr. Eichin: Was mit Sicherheit bleiben wird, ist die Digitalisie- kompletten Vorgänge in einem Kopf, in einer Hand. Wir haben rung, die digitale Akte. Im Moment sind wir mitten im Umstel- es aufgeteilt: Eine Person hat beispielsweise den Fax-Eingang lungsprozess auf die Plattform SORMAS2. Denn wir werden bearbeitet, eine andere Person hat, die Fallbearbeitung über- unsere eigenentwickelte elektronische Akte irgendwann durch nommen und eine weitere Person hat sich um die Kontaktperso- SORMAS ersetzen. Das ist, denke ich, das Eindrucksvollste. In nennachverfolgung gekümmert. An dieser Stelle würde ich jetzt der Arbeitsorganisation, hier würde ich einfach mal spekulieren, gerne an Frau Wurdak übergeben, denn das war ihr Aufgabenbe- werden wir nicht mehr auf unsere ursprüngliche Mitarbeiterzahl reich, als sie hier bei uns gestartet ist. zusammenschrumpfen. Corona wird uns mit Sicherheit noch länger begleiten, auch wenn die Impfung zunächst einmal viel Wurdak: Gerne. Als ich letzten Oktober angefangen habe, hatten Entlastung bringt. Aber ich denke, unter der Herausforderung, wir aus den verschiedenen Ämtern des Landratsamtes zwar sehr jederzeit schnell Ressourcen etablieren zu müssen, wird sich die viel Personal, das aber immer nur für eine gewisse Zeitspanne Organisation mit Sicherheit verändern müssen. im Einsatz war. Das heißt, es mussten immer wieder neue Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter eingelernt werden. Dadurch hat die msg: Und hat die Pandemie auch Innovationsbedarf aufgezeigt, Qualität der Arbeit sehr gelitten, gerade bei der Dynamik einer der jetzt zwar noch nicht umgesetzt ist, den Sie sich aber für die Pandemie, wo eigentlich alle immer auf dem aktuellen Stand sein Zukunft wünschen? sollten. Es war eine enorme Herausforderung für das Kernteam des Gesundheitsamts, immer wieder Unterstützungskräfte aus Wurdak: Eine große Herausforderung sind die Schnittstellen zu anderen Ämtern neu einzulernen, teilweise wöchentlich. Das hat anderen Programmen, wie zum Beispiel rescuetrack3 oder die di- sehr viel Energie gekostet. Daher waren wir froh und dankbar, als gitale Einreiseanmeldung4, und damit verbunden die sich immer wir die Genehmigung bekamen, für die einzelnen Teams befristet wieder ändernden Zuständigkeiten. So haben beispielsweise die Personal einzustellen. Also wir haben viele neue Mitarbeiterinnen Gesundheitsämter Zugriff auf das digitale Einreiseportal und und Mitarbeiter für ein Jahr befristet eingestellt. Das machen wir waren eine ganze Weile auch dafür zuständig. Jetzt hat sich das zurzeit immer noch, obwohl die Inzidenz gerade sinkt.1 Und wir ha- geändert, jetzt sind die Ortspolizeibehörden zuständig. Aber die ben auch noch Aushilfen aus dem Landratsamt, von der Bundes- haben gar keinen Zugriff auf das Portal. Wir aber müssen wirklich wehr, vom Zoll, von den Stadtwerken und auch Studentinnen und jeden Tag die Daten aus dem Portal exportieren. Und Sie können Studenten. Sie sehen, das ist sehr gemischt, und auch die Anzahl sich vorstellen, dass die Gemeinden, wenn sie von uns die Da- der Personen variiert stark. Zu Hochzeiten, so um den Dezember ten bekommen, auch bei uns anrufen und nachfragen: bei jeder 2020 herum, hatten wir um die 130 Personen. Jetzt haben wir Fallkonstellation, bei jedem offenen Punkt. Hier würden wir uns noch zwischen 70 und 80. wünschen, dass auch auf politischer Ebene bedacht wird, mit welchen Programmen die Gesundheitsämter arbeiten. Zumal msg: Wie groß ist Ihr Kernteam hier in Tuttlingen? jetzt auch noch einige dazugekommen sind, inklusive der Apps, wie zum Beispiel die luca-App. Hier wäre es ganz wichtig, dass Dr. Eichin: Knappe 20 Personen. Darunter auch viele Teilzeitkräf- alles aus einem Guss und gut umzusetzen ist. Denn die Fachan- te. Da kann man sich ungefähr vorstellen, wie sehr wir gewachsen wendung SORMAS ist für die Covid-Fallbearbeitung natürlich sind. Um ein Mehrfaches der ursprünglichen Besetzung. Das hat super und gut, bringt uns aber nichts, wenn die Schnittstellen natürlich auch zur Folge gehabt, dass die ganzen Prozesse um- nicht funktionieren. Wir müssen jetzt sehen, dass wir Lösungen gestellt werden mussten. Wenn wir früher einen Fall hatten, dann dafür finden, denn wir sind verpflichtet, endgültig auf SORMAS hat den eine Person vom Eingang bis zum Abschluss bearbeitet. umzustellen. Dass es hier noch ein bisschen reibungsloser lau- Das hat sich extrem geändert. Wir sind ein Großbetrieb gewor- fen würde, wäre ein Wunsch von mir. Interview | .public 02-21 | 11
msg: Fühlen Sie sich jetzt besser vorbereitet auf einen zukünfti- wir zunächst eine Entlastung. Welche Wirkung die Impfung da- gen Ausbruch einer Pandemie beispielsweise? bei hat, müssen wir abwarten. Die nächste Saison wird zeigen, ob die Zahlen dann wieder nach oben gehen. Ich denke, dass ICH DENKE, IM MOMENT SIND WIR wir nach der nächsten Saison, was das anbelangt, etwas mehr WIRKLICH BESTENS VORBEREITET AUF Klarheit bekommen. Letztendlich ist die Pandemie für uns etwas DIE BEWÄLTIGUNG EINER PANDEMIE. Neues. Wir lernen täglich dazu. Die Dinge sind weiterhin span- nend und offen. Dr. Eichin: Ich denke, im Moment sind wir wirklich bestens vor- LETZTENDLICH IST DIE PANDEMIE FÜR UNS bereitet auf die Bewältigung einer Pandemie. Was weiterhin ETWAS NEUES. WIR LERNEN TÄGLICH DAZU. ein wichtiges Thema sein wird, ist das Personal. Wir sind in der Pandemie natürlich gewaltig gewachsen. Aber auch nach der Pandemie oder wenn die Fallzahlen sinken, brauchen wir ge- msg: Zum Abschluss interessiert uns noch, was Sie sich von der nug Fachleute. Fachleute, die keine detaillierten Einweisungen Politik wünschen. brauchen. Geschulte Leute, die eine Ausbildung gemacht haben. Das fängt bei den Ärzten an – Ärzte sind Mangelware im Gesund- Dr. Eichin: Ich persönlich wünsche mir für den Öffentlichen heitsamt – und geht über die Gesundheitsaufseher bis zu den Gesundheitsdienst insgesamt, dass die Wertschätzung, die im sozialmedizinischen Assistenten. Wir haben hier auch langfristig Zuge der Pandemie gestiegen ist, so hoch bleibt. Wir wissen na- einen Engpass und müssen darüber nachdenken, wie wir den türlich, dass wir ein wichtiger Baustein im Infektionsschutz sind, lösen können. und das sollte auch entsprechend gewürdigt werden. Als Zwei- tes wünsche ich mir, dass sich das in der personellen und materi- msg: Jetzt sinken die Inzidenzzahlen zum Glück deutschland- ellen Ausstattung zeigt. Wobei es am Materiellen nicht klemmt, weit. Denken Sie, dass wir nun Land in Sicht haben, beziehungs- es ist das Personal, das fehlt. Von Ärzten über für den Infektions- weise denken Sie, dass die Pandemie bald überstanden ist, schutz ausgebildetes Personal bis hin zu speziellen Fachkräften, Herr Dr. Eichin? so wie Frau Wurdak hier bei uns: die ein Gesundheitsamt kennt, mit all seinen Aufgaben, die im Gesundheitsbereich Erfahrung Dr. Eichin: Dass die Inzidenzen sinken, hängt mit Sicherheit mit hat und die Organisation auch entsprechend leiten kann. So mehreren Faktoren zusammen. Wir haben zum einen die Maß- müsste ein Gesundheitsamt der Zukunft aufgestellt sein, auch nahmen. Wir haben als zweites, ganz wichtiges Instrument die dann, wenn Corona keine große Bedeutung mehr hat. Impfungen. Und wir haben das Wetter. Die Corona-Viren reagie- ren offensichtlich empfindlich auf klimatische Bedingungen. ICH PERSÖNLICH WÜNSCHE MIR FÜR DEN ÖFFENTLICHEN GESUNDHEITSDIENST Die Entwicklung des R-Wertes – liegt er über eins, steigen die INSGESAMT, DASS DIE WERTSCHÄTZUNG, Zahlen, liegt er unter eins, sinken sie – hängt nicht nur von einem DIE IM ZUGE DER PANDEMIE GESTIEGEN IST, Faktor ab, sondern von vielen. Wir haben das ja in der Vergan- SO HOCH BLEIBT. genheit bei der Grippeausbreitung gesehen. Im Herbst geht es los, im Frühjahr hört es auf. Egal was wir tun, es ist immer das gleiche Spiel, über all die Jahre. Und so könnte ich mir das auch msg: Vielen Dank, Frau Wurdak, Herr Dr. Eichin. Das war ein sehr bei Covid-19 vorstellen. Das heißt, über den Sommer bekommen interessantes, aufschlussreiches Gespräch. • 1 Zum Zeitpunkt des Interviews am 09.06.2021. 2 Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System, siehe auch: https://www.sormas-oegd.de/ (abgerufen am 01.07.2021). 3 http://www.rescuetrack.de/de-de/ (abgerufen am 11.07.2021). 4 https://www.einreiseanmeldung.de/#/ (abgerufen am 11.07.2021). 12 | .public 02-21 | Interview
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E-AKTE UND DIE DIGITALISIERUNG DER VERWALTUNG Haben die bisherigen Einführungsbestrebungen die erwarteten Effekte erzielt und wie geht es weiter? Bestandsaufnahme und Ausblick | von CARSTEN SCHAEFER Das Thema E-Akte ist seit 20 Jahren – mit unterschiedlicher In- Ganz überwiegend treffen diese Zielstellungen auch auf die tensität – ein Dauerbrenner, wenn es um die Digitalisierung und Bundesländer zu. Verbunden mit den E-Government-Gesetzen Effizienzsteigerung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland wurden Zeitpunkte für die Einführung der E-Akte vorgesehen. geht. Anfang der 2000er-Jahre begannen in den ersten Bundes- ländern die Bestrebungen, die E-Akte in größerem Umfang einzu- WIE SIEHT DIE AKTUELLE SITUATION IM SOMMER 2021 AUS? führen. Auch in der Bundesverwaltung haben sich erste Behörden mit der elektronischen Aktenführung befasst. Mit dem vom BMI Mit Ausnahme weniger Bundesländer, die bereits umfassend die veröffentlichten modularen „Organisationskonzept elektronische E-Akte nutzen, wie beispielsweise Sachsen, Brandenburg und Verwaltungsarbeit“ wurde ab 2011 ein Handlungsrahmen für die Mecklenburg-Vorpommern, befinden sich die Landesverwal- Einführung der E-Akte in den Behörden geschaffen. Mit dem tungen und der Bund in unterschiedlichen Phasen der E-Akte- E-Government-Gesetz des Bundes (Oktober 2013) und den ab Einführung. Die ursprünglichen Terminvorgaben (siehe E-Govern- 2015 schrittweise verabschiedeten E-Government-Gesetzen der ment-Gesetze) für die Einführung der E-Akte erwiesen sich oft- Bundesländer beziehungsweise analogen gesetzlichen Regelun- mals als zu ehrgeizig. gen wurde unter anderem der rechtliche Rahmen für die Einfüh- rung der E-Akte geschaffen. Grundsätzlich verfolgen die Einfüh- WAS WAREN DIE AUSSCHLAGGEBENDEN GRÜNDE FÜR DEN rungsprojekte die folgenden Zielstellungen: ZEITLICHEN VERZUG? • „Schnelles“ Auffinden bearbeitungsrelevanter Informationen 1. Unterstützung durch die Führungsebenen • rtsunabhängiger, kontinuierlicher Zugriff auf Informationen O Die Digitalisierung ist eine der zentralen Aufgaben der Be- • egfall von Medienbrüchen W hördenleitungen, um die Zukunftsfähigkeit der Verwaltung • eschleunigte Abwicklung der Prozesse B sicherzustellen. Dies gilt für die landes- und bundesweite • rhöhte Transparenz E Steuerung gleichermaßen wie für die jeweiligen Einführungs- • utomatische Nachweisführung (Revisionssicherheit) A projekte in den Behörden. Das grundsätzliche Bekenntnis zur • nterstützung flexibler Arbeitsweisen U E-Akte als die informationstechnische Basis der Digitalisie- • ereinfachter Austausch von Informationen und Dokumenten V rung ist in den Behördenleitungen vorhanden. Bei der aktiven • „ Wegfall von Papierfluten“ nachhaltigen Unterstützung in den Projekten als „Vorreiter“ 14 | .public 02-21 | Schwerpunkt Corona
für die Behörden und als aktive Unterstützung der Einfüh- hungsweise müssen die bestehenden Datenschutz- und IT- rungsprojekte gibt es aus unserer Beratungserfahrung jedoch Sicherheitskonzepte bei den IT-Dienstleistern und in den Behör- noch Verbesserungspotenzial. den angepasst werden. Die E-Akte-Projekte sind hierbei in vielen Fälle der Anstoß, dies regelkonform umzusetzen. Allerdings 2. Leistungsfähigkeit der IT-Dienstleister führt dies auch zu weiteren zeitlichen Verzögerungen. Parallel mit den Einführungsprojekten befanden beziehungswei- se befinden sich die IT-Dienstleister in den Bundesländern und 6. Aktuelle Schriftgutverwaltung in den Behörden im Bund in einer sowohl organisatorischen (Stichwort: Zentrali- In vielen Behörden werden überwiegend Hybridakten geführt. sierung, Standardisierung) als auch technologischen (Stichwort: Das bedeutet, Teile der Akten werden elektronisch (Datei- Cloud, IT-Security) Umbruchphase, verbunden mit der schwieri- ablagen und E-Mail-Postfächer) und andere Teile in Papier ge- gen Personalbeschaffung aufgrund der hohen Nachfrage nach führt. Das Scannen der eingehenden Papierunterlagen wird qualifiziertem IT-Personal. Neben der Einführung der E-Akte überwiegend nicht konsequent umgesetzt, und dort, wo es der mussten und müssen weitere Großvorhaben wie beispielsweise Fall ist, wird selten ersetzend gemäß der TR RESISCAN (BSI TR die OZG-Umsetzung oder die E-Rechnung durchgeführt werden. 03138) gescannt. Das heißt, die gescannten Papierunterlagen Dies führte und führt zu einer Überlastung der IT-Dienstleister müssen dann zusätzlich aufbewahrt werden, da eine weit ver- und damit verbundenen Verzögerungen. breitete Unsicherheit hinsichtlich der konkreten Umsetzung der TR RESISCAN, verbunden mit einem aufwendigen Zertifi- 3. Personelle Ressourcen in den Verwaltungen zierungsverfahren, besteht. Erschwerend für die Einführungs- An diesem Punkt muss zwischen den benötigten Ressourcen für projekte sind auch die bestehenden Aktenpläne, die für die die landes- beziehungsweise bundesweite zentrale Einführungs- Einführung der E-Akte überwiegend stark angepasst werden steuerung, die weitgehend mit den erforderlichen Ressourcen müssen (Aktenplanrevision), um die konsequente Dreistufigkeit ausgestattet wurde, und den jeweiligen Einführungsprojekten in (Akte-Vorgang-Dokument) abbilden zu können. den Behörden vor Ort unterschieden werden. Hier wurden die Auf- gaben für das Projektmanagement und die organisatorische und WELCHE AUSWIRKUNGEN HAT DIES AUF DIE UMSETZUNG technische Projektarbeit an Beschäftigte übertragen, die nur teil- DER ZIELSTELLUNGEN? weise von ihren Linienaufgaben freigestellt wurden und dadurch ein extrem hohes Arbeitsvolumen über lange Zeiträume leisten Bedingt durch diese Umstände orientieren sich die Behörden mussten. Auch die erforderlichen Schlüsselqualifikationen in Or- bei der Einführung der E-Akte überwiegend nicht an der organi- ganisation und Technik, Datenschutz und Datensicherheit sowie satorisch sowie technisch bestmöglichen Umsetzung der elekt- in der Schriftgutverwaltung und Aktenplanrevision stellen in den ronischen Aktenführung. Vielmehr fokussieren sie sich zunächst Projekten teilweise einen Engpass dar. auf die Abbildung bestehender Ist-Prozesse mit minimalen orga- nisatorischen Anpassungen in den Behörden, um die Einführung 4. Auswahl von Standardprodukten, die dann umfangreich an innerhalb der vorgegebenen Zeitrahmen umsetzen zu können. „Landesspezifika“ angepasst wurden beziehungsweise werden Die folgenden Aufgabenpakete werden beziehungsweise wur- Den Bundesländern sowie dem Bund wurden in den Vergabe- den meist auf spätere Zeitpunkte umgeplant: verfahren für die E-Akte erwartungsgemäß Standardprodukte, beispielsweise von Fabasoft, PDV oder Ceyoniq, bezuschlagt, die • O ptimierung der Prozesse grundsätzlich die Anforderungen an die elektronische Aktenfüh- • rsetzendes Scannen E rung und Vorgangsbearbeitung abdeckten. Doch anstatt diese • Integration von Fachverfahren, aktenrelevantes Schriftgut Standardprodukte zügig einzuführen, wurden umfangreiche wird von den Fachverfahren gespeichert (Vollständigkeit der zusätzliche „landesspezifische“ Funktionen gefordert und um- elektronischen Akte) fangreiche Zusatzentwicklungen durchgeführt, was wiederum zu • A nalyse der Formerfordernisse, insbesondere für die Aus- einem erheblichen zeitlichen Verzug im Rahmen der Einführungs- gangsprozesse vorhaben führte. • A usstattung der Arbeitsplätze (mobile Technik) 5. Hohe Anforderungen an Datenschutz und IT-Sicherheit In den Behörden, die bereits vollständig mit der E-Akte ausge- Durch die europäische Datenschutzgrundverordnung und die stattet und im Regelbetrieb sind, konnten trotz der beschriebe- geänderten IT-Grundschutzanforderungen mussten bezie- nen Probleme die wesentlichen Zielstellungen der E-Akte-Ein- Schwerpunkt Corona | .public 02-21 | 15
führung erreicht werden. Bei den folgenden Zielstellungen ist Diese Einschätzung wird sich durch Corona noch einmal ver- noch deutliches Verbesserungspotenzial vorhanden: schärft haben.3 Behörden, die bereits die E-Akte eingeführt ha- ben und über mobile IT-Ausstattung verfügen, sind deutlich bes- rtsunabhängiger, • O kontinuierlicher Zugriff auf Informatio- ser mit den coronabedingten Veränderungen zurechtgekommen.4 nen (Ausstattung mit mobiler Technik, Sicherstellung der IT- Sicherheit) WELCHE ANFORDERUNGEN ERGEBEN SICH IN DEN egfall von Medienbrüchen (behördenübergreifendes Arbei- • W NÄCHSTEN JAHREN IM KONTEXT E-AKTE UND MEDIEN- ten und behördenübergreifende Geschäftsgänge sowie Inte- BRUCHFREIER PROZESSE FÜR DIE BEHÖRDEN? gration der Fachverfahren) • S chnellere Abwicklung der Prozesse (durch Prozessoptimie- In dieser Situation ergeben sich für die Verwaltung zwei Hand- rung und -integration, Nutzung von qualifizierten elektroni- lungsstränge. Der erste bezieht sich darauf, alle Anstrengungen schen Signaturen in den Ausgangsprozessen) zu unternehmen, um die E-Akte schnellstmöglich flächende- egfall von Papierfluten (konsequentes ersetzendes Scan- • W ckend in den Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen nen, TR-ESOR-konforme Speicherung) einzuführen. Dies sollte zumindest für die Bundesländer und den Bund bis Ende 2025 möglich sein, wenn folgende Aspekte UND DANN KAM CORONA! berücksichtigt werden: Ohne eine detaillierte Analyse der Auswirkungen von Corona auf ohe • H Standardisierung in den Umsetzungsprojekten und die unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung und ohne Diskus- Nachnutzung der Erfahrungen und konzeptionellen Vorarbei- sion über Vor- und Nachteile von mobilem Arbeiten lässt sich ten aus laufenden Projekten feststellen, dass die Corona-Pandemie und die damit verbunde- • K onsequente Vernetzung der Projektleitungen in den Umset- nen Kontakteinschränkungen die Digitalisierungsdefizite der öf- zungsprojekten je Bundesland beziehungsweise im Bund, um fentlichen Verwaltung und in den Schulen transparent gemacht Know-how-Transfer sicherzustellen hat. Um die coronabedingten Kontakteinschränkungen umset- • E inführung der E-Akte muss stärker als Führungsaufgabe ver- zen zu können, mussten die Tätigkeiten vor Ort in den Verwaltun- standen und aktiv durch die Behördenleitung unterstützt werden gen deutlich reduziert werden. • A ufbau von TR RESISCAN Taskforces, um die einzelnen Pro- jekte bei der Umsetzung des ersetzenden Scannens zu un- Nur durch massive Investitionen, insbesondere in Hardware und terstützen, sowie übergreifende Abstimmung zu möglichen deren Einbindung über VPN in die sicheren Verwaltungsnetze, Zertifizierungen mit dem BSI sowie durch großen persönlichen Einsatz der Beschäftigten • B erücksichtigung des auch nach Corona bestehenden Wun- und durch teilweise Nutzung privater Infrastruktur konnte die sches vieler Beschäftigter, mittels adäquater technischer Arbeitsfähigkeit, wenn auch zum Teil mit Einschränkungen, si- Ausstattung (zum Beispiel Laptops) zumindest teilweise mo- chergestellt werden. So hat beispielsweise der Bund zwischen bil zu arbeiten Mai und September 2020 rund 40.000 Laptops beschafft1 und die Beschäftigten damit ausgestattet. Der zweite, mindestens ebenso wichtige Handlungsstrang be- trifft die Phase nach der Einführung der E-Akte. Dabei sollten Darüber hinaus ist es mehr als deutlich geworden, dass es fast die folgenden Handlungsfelder im Mittelpunkt stehen: keine durchgehend medienbruchfreien Prozesse zwischen den Verwaltungsebenen der Länder und dem Bund gibt. 1. Handlungsfeld Prozessoptimierung Nachdem sich der Betrieb der E-Akte in den Behörden einge- Bereits die Studie der msg systems zur IT-Konsolidierung in der schwungen hat, ist es erforderlich, zunächst die schriftgutba- öffentlichen Verwaltung von 2019 ergab, dass die Befragten das sierten Prozesse im Funktionsumfang der E-Akte und die Vor- Thema E-Akte mit 37 Prozent als Top-Herausforderung und gangsbearbeitung zu optimieren. Liegt der Schwerpunkt bei der 46 Prozent als mittelgroße Herausforderung sahen. Das Thema elek- Einführung der E-Akte auf den Posteingangs- und Postausgangs- tronische Vorgansbearbeitung schätzten 28 Prozent als Top-Her- prozessen, sollten jetzt im Rahmen der Prozessanalyse die Kern-, ausforderung und 58 Prozent als mittelgroße Herausforderung.2 Unterstützungs- und Führungsprozesse betrachtet werden. 16 | .public 02-21 | Schwerpunkt Corona
Nach einer Prozesserhebung werden die Prozesse auf Optimie- werden. Die Behörden müssen in Abstimmung mit den IT-Dienst- rungspotenziale untersucht. Dabei gibt es drei grundlegende leistern eine Roadmap zur Prozessintegration entwickeln und Ansätze: Schwerpunkte für die (technische) Anbindung definieren. ptimierung • O nach definierten Kriterien, beispielsweise die Mit Robotic Process Automation (RPA) ist bereits eine in ande- Reduzierung der Durchlaufzeit ren Branchen, wie Versicherungen und Banken, etablierte Tech- ptimierung • O durch andere Koordination der Zusammenar- nologie verfügbar. RPA ermöglicht es einerseits, wiederkehrende beit, wie zum Beispiel der Wegfall von Prozessschritten Prozessabläufe durch Robots ausführen zu lassen und damit die • ptimierung durch Prozessautomatisierung und -integration, O Durchlaufzeiten erheblich zu senken. Andererseits kann diese das heißt die durchgehende Nutzung von IT-Verfahren und Technologie auch für die prozessorientierte, auch behörden- deren Integration übergreifende Kopplung von IT-Verfahren genutzt werden. Auch im Behördenumfeld wurden erste Projekte innerhalb kurzer Zeit Im Fokus der Prozessoptimierung sollten die behördlichen Prozes- mit großem Erfolg durchgeführt. Ein Beispiel hierfür ist der Ein- se mit entweder hohen Fallzahlen oder hohem internen Bearbei- satz von Software-Robots, um von Verwaltungsgerichten per tungsaufwand liegen. Durch die Optimierung und Standardisierung elektronischem Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) an- sollte auch die Anzahl der Prozessvarianten reduziert werden. geforderte Akten einer Bundesbehörde automatisiert in deren Kernanwendung zu suchen, die erforderlichen Aktenbestandtei- Bereits die Prozessoptimierung im Rahmen der beiden erstge- le zu extrahieren, zu exportieren und per EGVP an die anfordern- nannten Ansätze wird deutliche Vorteile für die Behörden bringen. den Verwaltungsgerichte zurückzusenden. Allerdings lassen sich ohne den dritten Ansatz, die Prozessinteg- ration, durchgängig medien- und systembruchfreie Prozesse in- Die Nutzung von RPA-Technologien im Umfeld der E-Akte für die nerhalb von und zwischen Behörden noch nicht umsetzen. Prozessautomation und Verfahrensintegration von E-Akte und Fachverfahren ist auch deshalb für die IT-Dienstleister und Behör- 2. Handlungsfeld Prozessintegration den interessant, weil sie ganz überwiegend durch Konfiguration Die IT-Verfahrenslandschaft in den Behörden ist durch den und nicht durch Programmierung umgesetzt werden kann. Dies Einsatz ganz unterschiedlicher Fachverfahren zur Unterstüt- verbessert die Umsetzungsgeschwindigkeit und die Agilität. zung der Aufgabenerfüllung geprägt. Diese sind historisch ge- wachsen, basieren auf unterschiedlichen Technologien sowie FAZIT Datenbanken und verfügen über unterschiedliche Schnittstellen. Mit der Einführung der E-Akte wird die informationstechnische Die E-Akte ist die Voraussetzung für Prozessoptimierung und Basis für alle aktenrelevanten Informationen geschaffen. Sofern Prozessintegration. Damit bildet sie das Fundament der Ver- in den Fachverfahren Informationen vorgehalten beziehungs- waltungsdigitalisierung. Die Einführungsprojekte liegen oftmals weise erstellt werden, die aktenrelevant sind, werden technische hinter den ursprünglichen Zeitvorgaben. Aus unseren Projekt- Schnittstellen erforderlich. Bisher wurden für die Kopplung der rfahrungen nach gut 18 Monaten Corona hat sich gezeigt, dass IT-Verfahren jeweils Schnittstellen zwischen diesen Verfahren im- Behörden mit eingeführter E-Akte die Auswirkungen besser plementiert. Prozessintegrationsplattformen, die es ermöglichen, kompensieren konnten als die Behörden ohne E-Akte. Mit der medienbruchfreie Prozesse über unterschiedliche IT-Verfahren Einführung der E-Akte beginnt die Phase der behördlichen zu orchestrieren, sind bei den IT-Dienstleistern der öffentlichen Prozessoptimierung, -automatisierung und -integration. In den Verwaltung noch nicht Standard. Dies wird sich in den nächsten nächsten fünf Jahren werden die Voraussetzungen geschaffen Jahren ändern, doch in der Zwischenzeit müssen die Fachverfah- für integrierte medien- und systembruchfreie Prozesse, die durch ren weiter über direkte Schnittstellen an die E-Akte angebunden Robots optimiert und perspektivisch KI unterstützt sind. • 1 https://www.heise.de/news/Regierung-schafft-mehr-als-40-000-Computer-fuer-Homeoffice-an-4921189.html (abgerufen am 08.07.2021). 2 https://www.yumpu.com/de/document/read/62916562/03-2019-msg-studienband, S. 14 (abgerufen am 24.06.2021). 3 Die msg Studie „IT-Konsolidierung in der öffentlichen Verwaltung 2021“ wird im November 2021 veröffentlicht (https://www.msg.group/public-sector/studie). 4 Initiative D21 (Hrsg.): DAS NEUE NORMAL DER ARBEITSWELT NACH DER PANDEMIE. AUF DAS RICHTIGE MASS KOMMT ES AN. https://initiatived21.de/app/uploads/2021/06/new-normal_das-richtige-mass.pdf, S. 4 (abgerufen am 24.06.2021). Schwerpunkt Corona | .public 02-21 | 17
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