AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Weltgesundheit - Bundeszentrale für ...
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70. Jahrgang, 46–47/2020, 9. November 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Weltgesundheit Marylyn Addo Elena Sondermann „DAS VIRUS WIRD GLOBALE BEI UNS BLEIBEN“. GESUNDHEITSPOLITIK EIN GESPRÄCH ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIDERSPRÜCHLICHKEITEN Robert Jütte ZUR GESCHICHTE Tine Hanrieder DER SCHUTZIMPFUNG GLOBALE GESUNDHEITS- SICHERUNG, NUR WIE? Thomas Gerlinger VARIATIONEN DER Susan Bergner ∙ Maike Voss PANDEMIEBEKÄMPFUNG DEUTSCHLAND ALS AKTEUR IN DER GLOBALEN Michael Krennerich GESUNDHEITSPOLITIK GESUNDHEIT ALS MENSCHENRECHT ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Weltgesundheit APuZ 46–47/2020 MARYLYN ADDO ELENA SONDERMANN „DAS VIRUS WIRD BEI UNS BLEIBEN“. GLOBALE GESUNDHEITSPOLITIK ZWISCHEN EIN GESPRÄCH ANSPRUCH UND WIDERSPRÜCHLICHKEITEN Sie hat an Impfstoffen gegen Ebola und MERS Globale Gesundheitspolitik ist geprägt von Frag- geforscht und leitet derzeit die Phase-1-Studie mentierung und Ungleichheiten. „Health for all“ zur Erprobung eines Impfstoffs gegen Covid-19 bleibt ein fernes Ziel. Die Covid-19-Pandemie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. rückt fehlende Steuerung, Einflussgefälle und Marylyn Addo spricht über Impfstoffentwick- konfligierende Ziele in die Öffentlichkeit, bietet lung und den Verlauf der Covid-19-Pandemie. aber auch Gelegenheit für Veränderungen. Seite 04–07 Seite 28–34 ROBERT JÜTTE TINE HANRIEDER ZUR GESCHICHTE DER SCHUTZIMPFUNG GLOBALE GESUNDHEITSSICHERUNG, Das Grundprinzip jeder Schutzimpfung ist die NUR WIE? bewusste Einführung krankheitserregenden Wie kann globale Gesundheitssicherheit erreicht Materials in ein gesundes Individuum. Es war werden? Prioritätenkonflikte zwischen Handels bereits seit Jahrhunderten bekannt, wurde aber recht und Gesundheitsschutz sowie zwischen pro- erst mit der Kuhpockenimpfung zum bis heute blemspezifischen und strukturellen Gesundheits wichtigsten Instrument im Kampf gegen Seuchen. maßnahmen, aber auch die Frage einer universellen Seite 09–14 Krankenversicherung prägen die Debatten. Seite 35–40 THOMAS GERLINGER VARIATIONEN DER PANDEMIEB EKÄMPFUNG SUSAN BERGNER · MAIKE VOSS Für wohl alle Gesundheitssysteme ist die Covid- DEUTSCHLAND ALS AKTEUR IN DER 19-Pandemie eine neuartige Herausforderung. GLOBALEN GESUNDHEITSPOLITIK Viele Gesundheitssysteme antworten in ähnli- Deutschland war schon vor der Covid-19- cher Weise auf diese Herausforderungen, und Pandemie ein immer wichtigerer Akteur in der dennoch ist die Bandbreite der eingeschlagenen globalen Gesundheitspolitik. Die Pandemie sorgt Strategien recht groß. jedoch für zusätzliche Verschiebungen in der Seite 15–21 globalen Gesundheitsordnung, die Deutschland noch stärker ins Rampenlicht rücken lassen. Seite 41–45 MICHAEL KRENNERICH GESUNDHEIT ALS MENSCHENRECHT Der Schutz der Gesundheit und eine angemesse- ne Gesundheitsversorgung sind Bestandteile des völkerrechtlich verankerten Menschenrechts auf Gesundheit, das mit staatlichen Unterlassungs- und Handlungspflichten einhergeht. Es kommt auch in Zeiten von Covid-19 zum Tragen. Seite 22–27
EDITORIAL Lange konzentrierte sich die internationale Zusammenarbeit im Gesundheits- bereich auf die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten und die Situation von Armen, insbesondere im Globalen Süden. Im Lichte zunehmender gegenseitiger Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt und eines gewachsenen Verständ- nisses von Gesundheit als einem Zustand, den viele ineinander greifende soziale, politische, wirtschaftliche und ökologische Faktoren beeinflussen, ist sie über ihren ursprünglichen Fokus hinausgewachsen. Der Anspruch lautet heute, „Gesundheit für alle“ zu ermöglichen – so die Priorität der Weltgesundheits organisation (WHO). Der gestiegene Stellenwert globaler Gesundheitspolitik spiegelt sich nicht nur in erheblich gestiegenen Budgets seit den 1990er Jahren wider, sondern auch in einer stark diversifizierten Akteurslandschaft. Multilaterale Akteure wie die Weltbank haben ihre Aktivitäten auf dem Politikfeld ausgeweitet, und neue nicht staatliche Akteure mit zum Teil engen Beziehungen zur Pharma- industrie wie die Bill und Melinda Gates Stiftung oder die Impfallianz Gavi haben sich etabliert. Die chronisch unterfinanzierte WHO, der als Koordinie- rungsinstanz der Vereinten Nationen eine umso wichtigere Funktion zukommt, befindet sich mit Blick auf Gelder und Einfluss zunehmend in Abhängigkeits- und Konkurrenzverhältnissen. Die Covid-19-Pandemie, bei deren Bekämpfung bisher nationale Allein- gänge den Takt vorgegeben haben, hat die Fragmentierung der Strukturen und Interessen sowie die mangelnde Kohärenz in der globalen Gesundheitspolitik deutlicher denn je zutage treten lassen. Im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen, könnte sich für das Politikfeld jedoch auch als Reformkatalysator erweisen und die Auseinandersetzung mit unbequemen Grundsatzfragen for- cieren – darunter nicht zuletzt jene nach dem globalen Zugang zu Impfstoffen und Medikamenten. Anne-Sophie Friedel 03
APuZ 46–47/2020 INTERVIEW „DAS VIRUS WIRD BEI UNS BLEIBEN“ Ein Gespräch mit Marylyn Addo über die Suche nach einem Impfstoff und den Verlauf der Covid-19-Pandemie Frau Professorin Addo, die Frage, Da geht es vor allem um die Si- werden bestimmte Sachen abge- auf die wahrscheinlich alle gerne cherheit und Verträglichkeit ei- fragt und Ein- und Ausschluss- eine Antwort hätten: Wann ist nes Impfstoffs oder einer Medi- kriterien abgeprüft. Diese Pha- die Covid-19-Pandemie vorbei? kation. Bei Impfstoffen wollen se-1-Studien werden nur an Marylyn Addo – Das kann natür- wir natürlich auch zeigen, ob ganz gesunden jungen Proban- lich keiner so richtig sagen. Aber Immunantworten generiert wer- den durchgeführt, weil das Mit- die Spanische Grippe hat unge- den, also ob es zum Beispiel eine tel eben zum ersten Mal verab- fähr zwei Jahre gedauert, und die Antikörperbildung gibt. Dann reicht wird. Und dann müssen WHO schätzt, dass auch die Co- kommt Phase 2 mit mehr Pro- wir natürlich auch dafür sorgen, vid-19-Pandemie innerhalb von banden, in unserem Fall wären dass im Labor die Proben rich- zwei Jahren zu Ende sein wird. das 600, in der man weitere Da- tig verarbeitet werden, um Anti- Wir sind jetzt schon fast bei ei- ten zur Sicherheit erhebt, um körper- oder T-Zellen-Antwor- nem Jahr. Es ist schwierig vor- auch seltenere Nebenwirkungen, ten zu erheben. Es ist ein breites herzusehen, wann sie ganz vor- falls sie dann auftreten, zu erfas- Spektrum. bei sein wird, und was heißt das sen. Aber in Phase 2 geht es vor auch, „vorbei“? Das Virus wird allem um die Dosisfindung. In Sind Sie mit dem bisherigen ja bei uns bleiben, aber nicht Phase 3 geht es dann mit Zehn- Verlauf der Studie zufrieden? mehr zu den Einschränkun- tausenden Probanden um die – Wir sind ja erst seit ein paar gen führen, die wir jetzt haben. Wirksamkeit, also darum zu zei- Wochen unterwegs, und bisher Ich denke, dass wir im nächsten gen: Sind die Leute, die geimpft läuft alles nach Plan. Wir wer- Sommer schon in einer anderen sind, geschützt vor der Infekti- den zwei Dosisgruppen verab- Situation sein werden, weil dann on, vor der wir schützen wollen? reichen, und die Probanden der der Winter vorbei ist und viel- ersten Dosis, also der niedri- leicht auch schon ein Impfstoff Und wie sieht das im klinischen gen Dosisgruppe, haben schon einen Beitrag leisten kann. Das Alltag aus? ihre erste Impfung von zweien wäre derzeit meine Prognose. – Bei unserem Beispiel ist es so, erhalten. dass wir mit einem Auftrags- Sie leiten als Prüfärztin die forschungsinstitut, dem Clini- Wie geht es nun weiter? klinische Phase-1-Studie zur cal Trial Center North, zusam- – Wir planen, die Phase 2 noch Erprobung eines Impfstoffs gegen menarbeiten, das spezialisiert im November bei den Behör- Covid-19 am Universitätsklinikum ist auf frühe klinische Phasen. den einzureichen und wollen Hamburg-Eppendorf. Wie darf Da kommen die Probanden hin, sie im Dezember initiieren, um man sich das vorstellen? und im Leitungsteam der Stu- Anfang Januar die Probanden in – Es gibt zur Medikamenten- die begrüßen wir die Probanden einem relativ engen Zeitrahmen und auch zur Impfstoffzulas- im Studienzentrum und klären zu impfen. Daher wird Pha- sung verschiedene Phasen der sie mit auf, wie wir mit den ver- se 2 nicht mehr nur in Ham- klinischen Prüfung. In der ers- schiedenen Teams zusammen burg, sondern multizentrisch ten Phase sind das normalerwei- – es gibt ein Laborteam, ein kli- durchgeführt, also an mindes- se sehr kleine Studien, bei uns nisches Team und ein Studien- tens zehn Zentren innerhalb sind das jetzt 30 Probanden, bei team – die Studie durchführen Deutschlands, die wir gera- denen eine Substanz zum ersten werden. Bevor es losgeht, wer- de noch rekrutieren. Im Lau- Mal am Menschen erprobt wird. den die Probanden untersucht, fe des Jahres 2021, je nachdem, 04
Weltgesundheit APuZ wann wir die Daten der Phase 2 Ob die Impfung, die gegen Co- nicht gegen impfen“. Und dann haben, zumindest von Teilen vid-19 zugelassen wird, einen gibt es natürlich die Impfgegner, der Studie, wird das Klinikum so hohen Grad an Wirksamkeit aber die sind eine relativ kleine München die große Phase- erreicht, ist noch nicht gegeben. Gruppe, die Impfverunsicher- 3-Studie mit zwischen 20 000 Anhand der Daten, die bisher ten schon eine größere, und da und 30 000 Probanden auch aus dem Tiermodell hervor- hilft eigentlich nur Dialog, Auf- multizentrisch durchführen. gegangen sind, muss man eher klärung und sich den Sorgen davon ausgehen, dass sie nicht und Fragen und Nöten zu stel- Weltweit wird momentan an über hundertprozentig schützt vor len. Auf gar keinen Fall sollte es 200 Impfstoffen gegen Covid-19 einer Infektion, sondern vor al- eine Impfpflicht geben, das ist geforscht. Dennoch steht immer lem den Krankheitsverlauf er- ja auch eine große Sorge. Das wieder die Frage im Raum, ob es leichtern kann. Diese Daten ist überhaupt nicht geplant und überhaupt einen Impfstoff gegen liegen uns noch nicht vor. Ich meines Erachtens auch nichts, Covid-19 geben wird. bin allerdings optimistisch, dass was in irgendeiner Weise ver- – Ich sage immer: In der Bio- es einen Impfstoff geben wird. folgt werden sollte. Die Strate- medizin kann man nie Garanti- Die Regulatoren haben ange- gien, an wen der Impfstoff als en geben. Es wird ja oft zitiert, deutet, dass sie ab 50 Prozent erstes gehen soll, wenn wir denn dass es auch Erkrankungen Schutzwirkung an eine konditi- einen wirksamen und sicheren gibt, gegen die wir bisher kei- onelle Zulassung denken. Impfstoff haben, werden der- ne Impfstoffe gefunden haben, zeit entwickelt. Momentan geht zum Beispiel Aids. Da muss Umfragen zeigen, dass sich in man davon aus, dass Leute, die man natürlich dazusagen, dass Deutschland jede:r Dritte nicht ein hohes Risiko haben oder man normalerweise nach einer gegen Covid-19 impfen lassen mit vulnerablen Populationen HIV-Infektion diese Infekti- will, wenn ein Impfstoff verfügbar arbeiten, sprich im Altersheim on nicht ausheilt, sondern dann ist. Wie erklären Sie sich diese oder medizinisches Personal, chronisch infiziert ist. Bei Co- vergleichsweise hohe Impfskepsis sich impfen lassen sollten und vid-19 wissen wir ja zumindest, in Deutschland? dass man dann versucht, die Ri- dass ein normal immunkom- – Ich weiß nicht, ob ich das jetzt sikogruppen zu schützen, damit petenter Mensch nach zwei bis unbedingt als Impfskepsis be- sie keine schweren Verläufe ha- drei Wochen wieder genesen ist, zeichnen würde. Es gibt Leute, ben und man die Sterblichkeits- und das versuchen wir mit ei- die Angst haben, dass der Impf- zahlen minimieren kann. Und nem Impfstoff sozusagen nach- stoff nicht sicher genug ist, weil wie es dann weitergeht, ob man zustellen oder zu verbessern. er so schnell hergestellt wurde. dann sagt, vielleicht sollten wir In der klinischen Prüfung sind Da muss man sagen, dass wir in auch Kinder impfen oder Leh- ungefähr 45 verschiedene Impf- Deutschland einen Impfstoff rer, wird man sehen. stoffe, die vielen Tausenden von entwicklungsprozess haben, Probanden gegeben wurden, der zwar beschleunigt werden Ein häufiges Argument ist auch, und bisher zeigen die Daten, kann, aber keine Einschrän- dass im Moment noch unklar ist, dass die meisten Impfstoffe sehr kung der Anforderungen an ob eine Wiederansteckung mit gut vertragen wurden und Anti- die Sicherheit eines Impfstoffs Covid-19 möglich ist. körper und T-Zellen generieren. zulässt. Die zuständige Behör- – Es sind schon Fälle einer Das ist schon einmal erfreulich. de, das Paul-Ehrlich-Institut, Wiederansteckung beschrie- Aber bisher gibt es noch keinen achtet da sehr sehr genau drauf. ben worden. Es scheint aber Beweis der Schutzwirkung. In Die Impfstoffe, die hier zugelas- ein sehr seltenes Phänomen zu Tierversuchen an Affen konn- sen werden, haben das Sicher- sein, wir sind ja auch noch früh te man die schon dokumentie- heitsprofil, das in Deutschland in der Pandemie. Bei Wiederan- ren, jetzt müssen wir sie noch Standard ist. Ansonsten gibt es steckung scheinen die Krank- am Menschen zeigen. Und dann vielleicht auch gerade in der jün- heitsverläufe milder zu sein, und müssen wir schauen, wie wirk- geren Bevölkerung Leute, die das ist ja auch ein Effekt: Wenn sam der Impfstoff wird. Unsere sagen, „Mensch, in 80 Prozent Immunität da ist, also partielle Masernimpfung ist zum Beispiel der Fälle ist der Krankheitsver- Immunität wie bei anderen Co- zu 95 bis 98 Prozent wirksam. lauf ein milder, da lasse ich mich rona-Viren, dann hat man nicht 05
APuZ 46–47/2020 so einen schlimmen Verlauf und gen etc., und jetzt ist das Thema Dinge zu sprechen, bei denen muss vielleicht nicht ins Kran- Impfstoff nochmal viel präsen- ich das Gefühl habe, ich kann kenhaus. Da sind noch viele Fra- ter. Der Druck ist hoch, die me- mit fundiertem Wissen Stel- gen offen, sowohl zu natürlicher diale Präsenz ist hoch, und dann lung nehmen. Wenn mich jetzt Immunität als auch zu Immuni- ist es eine nochmal schnelle- jemand zur Zusammensetzung tät durch einen Impfstoff. Es ist re Timeline. Wir haben damals von Aerosolen fragt, würde ich unbedingt notwendig, dass wir bei Ebola schon gedacht „so an einen anderen Experten ver- an ganz vielen verschiedenen schnell ist es noch nie gegan- weisen. Aber zum Thema Impf- Stellen Wissenschaft betreiben, gen“, und jetzt ist es nochmal stoffe, denke ich, kann ich ein um die Krankheit besser zu ver- schneller gewesen. Das ist schon Stück weit zur Aufklärung und stehen. Wir müssen an weiteren eine neue Arbeitsbelastung, Information der Bevölkerung Medikamenten forschen, weil auch das Team ist dem Druck beitragen. Ich sehe das auch als es auch noch Infektionen geben der Öffentlichkeit ausgesetzt. Teil der Arbeit. Wir werden aus wird, wenn ein Impfstoff ver- Aber insgesamt sind wir in der öffentlichen Mitteln finanziert, fügbar ist. Es werden sich wei- Entwicklung solcher Impfstof- insofern ist das auch Teil des terhin Patienten mit Covid-19 fe jetzt – ich möchte nicht sagen Zurückgebens. Wissenschaftler infizieren, auch welche, die viel- „erfahren“ –, aber wir haben können Fakten kommunizie- leicht schlechte Verläufe haben, das schon mal gemacht, und wir ren und beraten. Oft ist das ja und da wollen wir doch unbe- haben das auch schon mal in so ein bisschen verwischt, weil dingt Therapieoptionen haben. einer Pandemie gemacht. Inso- die Wahrnehmung war, dass die Derzeit haben wir nur zwei mit fern versuchen wir uns auf die Wissenschaftler entscheiden. geringer bis moderater Wirk- Arbeit zu fokussieren, den küh- Aber die Wissenschaft generiert samkeit, die für andere Erkran- len Kopf zu bewahren und uns Fakten, kommuniziert Fakten kungen entwickelt wurden. Da nicht ablenken zu lassen. und kann allenfalls Politik be- ist noch sehr viel zu tun, und raten. In der Politik werden die auch deswegen sind die Maß- Die Erwartungen an die Wissen- Entscheidungen getroffen, und nahmen, die wir ergreifen, also schaft, eindeutige Antworten und Politiker müssen verschiede- Abstand, Hygiene und Masken, Lösungen liefern zu können, sind ne Aspekte auch außerhalb der wesentlich. Die Pandemiebe- in der Pandemie besonders hoch, Wissenschaft mit in ihre Ent- kämpfung steht auf mehreren auch seitens der Politik. Was scheidungen einfließen lassen. Säulen, und ein Impfstoff ist nur bedeutet das für Sie als Forsche- Und die Medien spielen natür- eine davon. „Wenn der Impf- rin? Wie sehen Sie Ihre Rolle lich auch eine Rolle für die öf- stoff da ist, ist alles wieder gut“, als öffentlich kommunizierende fentliche Wahrnehmung. Da ist kein realistisches Szenario. Wissenschaftlerin? gibt es sicherlich noch Nach- – Das ist natürlich jetzt eine Si- holbedarf: Die Wissenschafts- Die Suche nach einem Impfstoff tuation, in der wir bisher noch kommunikation ist bisher nicht gegen Covid-19 ist für Sie nicht nicht so häufig waren, „wir“ als im großen Stil in der wissen- das erste Projekt dieser Art. Sie Gesellschaft, aber auch „wir“ als schaftlichen Ausbildung plat- waren an der Entwicklung von Wissenschaftler, und etwas, das ziert und braucht in den Cur- Impfstoffen gegen Ebola und man im Nachgang dieser Pande- ricula wahrscheinlich nochmal gegen das MERS-Virus beteiligt. mie nochmal mit Ruhe kritisch einen anderen Stellenwert. Wir Was ist dieses Mal anders? beleuchten muss. Was ist in der sind in einem total neuen me- – Bei Ebola hatten wir auch viel Wissenschaftskommunikation dialen Umfeld mit Social Me- Druck inmitten einer Pandemie. in der Pandemie gut gelaufen? dia, und wir müssen uns fragen, Aber natürlich hat der Ebola- Was ist vielleicht schwierig ge- wie man belastbare Informati- Ausbruch in Westafrika damals wesen? Welche Sachen haben onen so platzieren kann, dass nicht das eigene Leben zum zur Verunsicherung der Bevöl- sie auch ankommen. Das wird Stillstand gebracht. Jetzt haben kerung beigetragen, und welche jetzt schon sehr aktiv diskutiert wir es zum ersten Mal mit einer haben einen Beitrag geleistet, an verschiedenen Stellen, und Viruserkrankung zu tun, die die so ein bisschen auch von der es gab ja für sehr gute Wissen- ganze Welt betroffen hat mit Angst und dem Stress wegzu- schaftskommunikation auch „Lockdowns“, Schulschließun- nehmen? Ich versuche, über die Preise und Ehrungen. 06
Weltgesundheit APuZ Noch stecken wir mitten in der tigt und frühzeitig einen Test sind die Gesundheitsämter sehr Pandemie, und derzeit steigen entwickelt hat und den auf der gefordert, da gab es nicht ge- die Infektionszahlen wieder stark WHO-Seite frei verfügbar ge- nug Personal. Aber das ist ja an. Wie schätzen sie das aktuelle macht hat. Dann haben sich in auch schon erkannt worden. Es Infektionsgeschehen ein? Deutschland die Zentren bereit gab jetzt auch mehrere Initia- – Wir befinden uns in einer sehr gemacht und sehr früh ange- tiven, um an Universitätskli- dynamischen Phase. Im Ver- fangen, zum Beispiel bei Grip- niken zum Beispiel Strukturen hältnis zu unseren Nachbarlän- peabstrichen auch schon auf zu schaffen und Kapazitäten dern in Europa steht Deutsch- Covid-19 zu testen. Bis es im zu erweitern, die für zukünf- land noch verhältnismäßig gut Januar mit dem frühen Aus- tige Epidemien und Pandemi- da, aber um es mit einer Game- bruch in München so weit war, en genutzt werden können. of-Thrones-Analogie zu sagen: hat man so sehr gut dokumen- Und dann müssen wir wie ge- „Winter is coming.“ Wir berei- tieren können, dass wir hier kei- sagt zum Thema Information ten uns auf einen relativ harten ne Hintergrundaktivität hatten der Gesellschaft und zum Zu- Winter vor. Wir hatten in den wie zum Beispiel in Italien. Dort sammenspiel zwischen Politik, letzten Wochen noch relativ war das Virus wahrscheinlich ja Medien und Wissenschaft eine überschaubare Krankenhausbe- schon einige Wochen unterwegs, Nachlese machen. Es wird mit legungen, und nirgendwo ist das bevor die ersten Fälle entdeckt Sicherheit nicht unsere letzte System an seine Kapazitätsgren- wurden, und dann kam es zu ei- Pandemie oder Epidemie sein. zen gestoßen. Das war zum Teil ner sehr bedrohlichen Situation. Allein für Corona-Viren gab es auch der Tatsache geschuldet, Dadurch, dass wir in Deutsch- in den letzten zwanzig Jahren dass das Alter der Infizierten land schon im Januar den ers- drei große Ausbrüche: SARS jetzt jünger war, aber wir sehen ten Ausbruch hatten, waren mit 10 Prozent Mortalität, natürlich schon, dass in ver- wir auch einfach früh vorberei- MERS mit 40 Prozent Mortali- schiedenen Regionen Deutsch- tet und haben zügig begonnen, tät und jetzt Covid-19. Wir ha- lands die Belegungszahlen der Infektionsketten aufzudecken. ben sicherlich viel gelernt und Krankenhäuser wieder hochge- Dann haben wir ein sehr robus- müssen sehen, was wir mitneh- hen und es wieder mehr Inten- tes Gesundheitssystem und gute men in unsere nächste Runde. sivpatienten gibt. Wir haben ei- intensivmedizinische Kapazitä- Das hört sich jetzt vielleicht ein nen stetigen langsamen Anstieg, ten. Wir haben niemals triagie- bisschen provokant an, aber den ich mit Besorgnis sehe. Ich ren müssen, welcher Patient auf wir befinden uns in einer ernst- glaube, das deutsche System ist Intensivstation geht und welcher zunehmenden Situation für sehr gut vorbereitet, trotzdem ein Beatmungsgerät bekommt. Deutschland und die Welt bei sind die Appelle an die Bevöl- Wir sind nie auch nur annähernd einem im Vergleich harmlose- kerung, dass wir alle auch in- an die Grenzen der Belastbar- ren Virus. Das ist natürlich ein dividuell einen Beitrag leisten keit unseres Gesundheitssys- Stresstest und zeigt, was gut können, gerechtfertigt. Wenn tems gekommen und konnten klappt und wo wir noch nach- wir das einfach so laufen lassen, noch Intensivpatienten aus an- bessern müssen, sodass wir dann drohen wir das zu verspie- deren Ländern aufnehmen, und beim nächsten Mal noch besser len, was Deutschland bisher so dennoch war auch das natürlich reagieren können. gut geleistet hat. ein Kraftakt. Das Interview führte Welche Faktoren haben dazu Und was hat weniger gut funktio- Anne-Sophie Friedel per Telefon beigetragen, dass Deutschland niert? Oder anders gefragt: Was am 21. Oktober 2020. bisher vergleichsweise gut durch sollten wir für die Zukunft aus der die Pandemie gekommen ist? Covid-19-Pandemie mitnehmen? – Das ist sicher multifaktori- – Wir haben gesehen, dass wir MARYLYN ADDO ell. Zum einen haben wir mit im öffentlichen Gesundheits- ist Professorin für Infektiologie Herrn Drosten einen Top-Wis- system noch ein bisschen mehr und leitet die Sektion Infektio- senschaftler in Deutschland, Kapazitäten schaffen müssen. logie am Universitätsklinikum der sich seit über zwanzig Jah- Gerade bei der Nachverfolgung Hamburg-Eppendorf. ren mit Corona-Viren beschäf- der Infektionsketten waren und presse@uke.de 07
Weltgesundheit APuZ ZUR GESCHICHTE DER SCHUTZIMPFUNG Robert Jütte Die erste Schutzimpfung gegen eine Infektions- um 1275 entstandenen „Regimen sanitatis Salerni- krankheit war die Kuhpockenimpfung. Als ihr tanum“, einem Gesundheitsratgeber in Versform Entdecker gilt der englische Landarzt Edward der Schule von Salerno im heutigen Italien, der Jenner (1749–1823).01 Dass Kuhpocken, die beim Rat: „Damit die Pocken nicht zum Tod der Kin- Menschen nur lokale, meist von selbst ausheilen- der führen/bringe den Gesunden Pockenmaterie de Infektionen verursachen, Immunität gegen die in die Adern.“02 Damit kann nur die sogenannte gefährlichen Menschenpocken verleihen könnten, Inokulation gemeint sein, die in Indien und Chi- war in der bäuerlichen Bevölkerung im 18. Jahr- na praktiziert wurde.03 Dazu entnahm man Per- hundert durchaus bekannt. Auch Edward Jenner sonen, die die Pocken gerade überstanden hat- war in seiner Praxis schon früh mit dieser Vorstel- ten, zumeist mit einem kleinen Messer oder einer lung konfrontiert worden. 1780 begann er, Fäl- Lanzette Material aus einer Pustel. Dieses über- le von Patienten zu sammeln, die an Kuhpocken trug man an Gesunde mittels Einritzung der Haut erkrankt waren und anschließend nicht mehr an an den Gliedmaßen. Auch unter den Steppenvöl- den „Blattern“, wie man die Menschenpocken kern des Kaukasus kannte man dieses Verfahren. damals nannte. Der entscheidende Versuch fand So berichtet der Philosoph Voltaire (1694–1778) am 14. Mai 1796 statt: Damals impfte Jenner den in einem seiner Briefe: „Die Weiber im Tscher- achtjährigen James Phipps mit einer Kuhpocken- kessenland haben seit undenklichen Zeiten im pustel, die sich auf dem Arm der Viehmagd Sarah Gebrauch, ihren Kindern, wenn sie sechs Monate Nelmes gebildet hatte. Wie erwartet, entwickelte sind, die Blattern zu geben, indem sie in die durch sich bei dem Knaben ein leichtes Fieber, das bald einen Schnitt gemachte Öffnung des Armes eine abklang. Nach sechs Wochen wagte es Jenner, ihn Blatter setzen, welche sie von dem Leib eines an- künstlich mit Menschenpocken zu infizieren. Das deren Kindes genommen und sorgfältig aufge- riskante Experiment glückte – der Junge erkrankte hoben haben. Diese in den Arm gesetzte Blatter nicht. Jenner sah sich bestätigt und veröffentlich- bringt die gleiche Wirkung hervor, welche der te 1798 seine Entdeckung in einer Schrift über die Sauerteig im Brote tut, sie gärt und breitet die ihr Wirkung der Kuhpockenimpfung, die ihn rasch eingeprägten Eigenschaften im ganzen Blut aus. berühmt machte und zu Recht in die Annalen der Die Blattern von diesem Kind, welchem man die Medizingeschichte eingegangen ist. Die „Vakzi- künstliche Pocke eingesetzt hat, braucht man, um nation“ – der Terminus ist von dem lateinischen diese Krankheit wieder anderen Kindern mitzu- Wort vacca für „Kuh“ abgeleitet – war erfunden. teilen. Dieser Kreis wird im Tscherkessenland be- ständig aufrechterhalten, und wenn unglückli- VORLÄUFER cherweise keine Pocke im Land zu haben ist, zeigt DER VAKZINATION man sich dort ebenso bestürzt, wie man andern- orts über ein schlimmes Jahr klagt.“04 Das Grundprinzip jeder Schutzimpfung, die be- Bis heute sind die Einführung und das Be- wusste Einführung krankheitserregenden Materi- kanntwerden der Inokulation in Europa mit dem als in ein gesundes Individuum, um dieses vor ei- Namen der Gattin des englischen Botschafters ner schweren Krankheit zu schützen, war bereits in Konstantinopel, Lady Mary Wortley Monta- seit Jahrhunderten bekannt. Allerdings war dieses gu (1689–1762), verbunden. Sie war zwar nicht Wissen in Europa bis zum frühen 18. Jahrhundert die Erste, die die Erfolge von osmanischen Ärz- nicht vorhanden oder wieder in Vergessenheit ge- ten mit dem „Blattern-Beltzen“, wie man die Me- raten. So findet sich in einer späten Fassung des thode auf Deutsch nannte, durch ihre Briefe in 09
APuZ 46–47/2020 England bekanntmachte. Ihr persönliches Bei- Wenngleich in einigen zeitgenössischen medi- spiel – sie ließ 1718 ihren Sohn auf diese Weise zinischen Schriften Befürworter der Inokulation impfen – sowie ihr gesellschaftlicher Stand trugen bereits von einer Befreiung der Menschheit von der aber entscheidend dazu bei, dass die Inokulation Pocken-Geißel träumten, so konnte das nicht gera- fast überall in Europa bei Ärzten und Laien auf de risikoarme Verfahren diese hohen Erwartungen Interesse stieß. Ihr gelang es, auch den englischen schon aufgrund der weitgehenden Beschränkung König George I. (1660–1727) nach anfänglicher auf die gesellschaftliche Elite nicht erfüllen. Skepsis davon zu überzeugen, seine Enkel imp- fen zu lassen. UMSTRITTENER FORTSCHRITT Die Inokulation blieb allerdings meist auf den Adel und die städtische Oberschicht begrenzt.05 Längst nicht alle waren von dem Nutzen der neu- Die Gründe für die zögerliche Durchsetzung der en, weniger gefährlichen Vakzination überzeugt. Praxis waren vielfältig. Wie später auch bei der Jenners Veröffentlichung zog eine heftige Kon- Vakzination hatten einige religiöse Bedenken und troverse nach sich, die von England auf andere sahen darin einen Eingriff in die göttliche Vorse- Länder übergriff.06 So bezeichnete etwa der Ber- hung. Andere wiederum hatten Zweifel an der liner Arzt und Philosoph Marcus Herz (1747– Wirksamkeit des Verfahrens, denn der Verlauf des 1803) die Kuhpockenimpfung mittels einer klei- Immunisierungsversuchs war nicht oder allenfalls nen Einritzung der Haut unter Verwendung einer schwer vorherzusagen. Selbst wenn der Impfstoff Lanzette als „Brutalimpfung“. Doch blieben die von jemandem stammte, dessen Krankheit mild Kritiker unter den Ärzten eine Minderheit. Man verlaufen war, so konnte der Impfling gleichwohl kann vielmehr zu Beginn des 19. Jahrhunderts schwer erkranken oder gar sterben. Nach einer überall in Europa eine ansteigende Impfeuphorie zeitgenössischen Schätzung betrug das Risiko, unter Medizinern beobachten. So eröffnete bei- am „Blatter-Beltzen“ zu sterben, immerhin noch spielsweise der Arzt Johann Immanuel Bremer 1 : 182. Das war zwar erheblich geringer als das (1745–1816) im Jahr 1800 in Berlin eine „Vacci- Sterberisiko im Falle einer natürlichen Erkran- nations-Schule“, an der er interessierten Kollegen kung an den Menschenpocken, der damals fast je- die Impftechnik beibrachte. Mit welchem Enthu- der Achte erlag, jedoch konnte es passieren, dass siasmus und mit welchen Erwartungen die positiv es durch eine Impfung überhaupt erst zu einem eingestellten Ärzte sich damals an Impfkampag- lokalen Pockenausbruch kam. Nicht zuletzt war nen beteiligten, zeigt eine Schrift von 1803. „Die eine Impfung mancherorts mit beträchtlichen Pocken sind ausgerottet“, verkündete der Erfur- Kosten verbunden. Insbesondere die wegen ihrer ter Medizinprofessor August Friedrich Hecker Expertise hochgepriesenen englischen Impfärzte (1763–1811) auf dem Titelblatt seines gleichna- verlangten zum Teil horrende Honorare. migen Buches. Das war eine kühne medizinische Utopie; denn bekanntlich wurden die Pocken erst 01 Vgl. Wolfgang U. Eckart (Hrsg.), Jenner. Untersuchungen 1980, also fast 180 Jahre später, von der Weltge- über die Ursachen und Wirkungen der Kuhpocken, Berlin 2016. sundheitsorganisation für „ausgerottet“ erklärt. 02 Zit. nach Karl Sudhoff, Zum Regimen Sanitatis Salernitanum, 1804 ließ der Bückeburger Arzt Bernhard Chris- in: Archiv für Geschichte der Medizin 8/1915, S. 352–373, hier toph Faust (1755–1842) in großer Auflage ein S. 355. 03 Vgl. Chandrakant Lahariya, A Brief History of Vaccines and Flugblatt drucken, das in Gasthöfen und anderen Vaccination in India, in: The Indian Journal of Medical Research öffentlichen Orten aufgehängt werden sollte.07 Es 139/2014, S. 491–511; Angela Ki Che Leung, „Variolation“ and trug den Titel: „Zuruf an die Menschen: Die Blat- Vaccination in Late Imperial China, Ca 1570–1911, in: Stanley A. tern, durch Einimpfung der Kuhpocken, auszu- Plotkin (Hrsg.), History of Vaccine Development, New York 2011, S. 5–12. 04 Sammlung verschiedener Briefe des Herrn von Voltaire 06 Vgl. Eberhard Wolff, Einschneidende Maßnahmen. Pocken- die Engländer und andere Sachen betreffend, Jena 1747, www. schutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg welcker-online.de/Texte/Voltaire/Briefe_Engl/briefe_england. des frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1998; Michael Bennett, pdf, S. 35. War Against Smallpox: Edward Jenner and the Global Spread 05 Vgl. Eberhard Wolff, „Triumph! Getilget ist des Scheusals of Vaccination, Cambridge 2020. lange Wuth“. Die Pocken und der hindernisreiche Weg ihrer Ver- 07 Vgl. Robert Jütte, Bernhard Christoph Faust, Von der drängung durch die Pockenschutzimpfung, in: Hans Wilderotter Gesundheit, in: Ein solches Jahrhundert vergißt sich nicht (Hrsg.), Das große Sterben. Seuchen machen Geschichte, Berlin mehr. Lieblingstexte aus dem 18. Jahrhundert, München 2000, 1995, S. 158–189. S. 527–532. 10
Weltgesundheit APuZ rotten.“ Selbst Pfarrer beteiligten sich vielerorts geglaubten Seuche hing zum Teil damit zusam- an dieser Impfpropaganda. Faust hatte übrigens men, dass man erst in den späten 1820er Jahren die originelle Idee, an jedem 14. Mai – dem Tag, erkannte, dass der Impfschutz nicht ein ganzes an dem Edward Jenner seine erste Vakzination Leben lang anhielt und mittels Revakzination durchgeführt hatte – das sogenannte Krengelfest aufgefrischt werden musste. zu feiern, bei dem die Kinder zu Ehren von Jen- ner einen Umzug veranstalteten. Dabei wurde ein MEILENSTEINE DER Arm aus Porzellan mit nachgebildeten Impfpus- IMPFSTOFFENTWICKLUNG teln durch den Ort getragen. Jedes Kind, das sich im Anschluss von Faust impfen ließ, bekam eine Nachdem Edward Jenner der Wirksamkeitsnach- Brezel, in Ostwestfalen „Krengel“ genannt. Das weis einer Impfung gegen die Menschenpocken Fest wird heute noch gefeiert, aber eher folklo- mit dem Kuhpockenvirus erbracht hatte, mach- ristisch und ohne die ursprüngliche klare gesund- ten sich in dem durch den Mediziner Robert heitspolitische Botschaft. Koch (1843–1910) und den Chemiker Louis Pas- Dass ein solcher materieller Anreiz über- teur (1822–1895) eingeleiteten Zeitalter der Bak- haupt notwendig war, hängt mit dem Wider- teriologie zahlreiche Forscher auf die Suche nach stand breiter Bevölkerungsschichten zusammen, ähnlich schützenden Lebendimpfstoffen.08 Die- die sich aus den unterschiedlichsten Gründen se weisen sehr geringe Mengen funktionsfähi- nicht impfen lassen wollten. Das geschah mit ger Keime auf, die so abgeschwächt sind, dass sie Argumenten, die man zum Teil noch heute bei sich zwar noch vermehren, die Krankheit aber Impfgegnern antrifft. Nicht wenige Laien, aber aufgrund genetischer Veränderungen nicht mehr auch Ärzte, waren überzeugt, dass die Vakzi- auslösen können. Die Applikation erfolgt entwe- nation gesundheitsschädlich sei. Selbst den Be- der durch eine Injektion oder oral als Schluck- fürwortern war nicht verborgen geblieben, dass impfung. Ein erster Hoffnungsträger der frühen mit der Impfung auch andere Krankheiten über- Impfstoffentwicklung, das von Robert Koch An- tragen werden konnten, etwa durch unsaube- fang der 1890er Jahre entdeckte „Wundermittel“ re Lanzetten. In der Tat war die Art und Wei- Tuberkulin – eine Mischung aus abgeschwäch- se, wie damals der Impfstoff gewonnen wurde, ten Tuberkelbazillen mit Glycerin und Wasser –, höchst problematisch. In der ersten Hälfte des versagte zwar als Impfstoff gegen Tuberkulose, 19. Jahrhunderts wurde nämlich das sogenann- leistet aber bis heute in Form eines Hauttests in te Überimpfen angewandt, bei dem man humane der Diagnostik gute Dienste. Erst der Mikrobio- Lymphe verwendete, die man aus der Impfpus- loge Albert Calmette (1863–1933) und der Ve- tel eines kurz zuvor geimpften Kindes gewonnen terinärmediziner Camille Guérin (1872–1961) hatte. Der Übertragung von Krankheiten wie Sy- entwickelten nach Experimenten mit einem ab- philis war auf diese Weise Tür und Tor geöffnet. geschwächt virulenten Mykobakterium in den Erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ging 1920er Jahren erfolgreich einen Lebendimpfstoff man dazu über, tierische Lymphe zu verwenden, gegen Tuberkulose. indem man Impfpusteln auf der Kuhhaut durch Auch mit sogenannten Totimpfstoffen wurde Infektion künstlich hervorrief. Ferner traten re- bereits im 19. Jahrhundert experimentiert. Eini- gelmäßig Unverträglichkeitsreaktionen auf, die ge der heute noch aktuellen Schutzimpfungen ba- im Einzelfall sogar zum Tode oder zu schweren sieren auf diesem Prinzip. Dabei sind vor allem Impfschäden führten. zwei Typen zu unterscheiden: zum einen Toxoid Das andere Argument der Impfgegner, die impfstoffe wie jene gegen Diphtherie, Pertussis sich schon früh nicht nur in Deutschland zu Ver- (Keuchhusten) und Tetanus, in denen das jewei- einen zusammenschlossen, lautete: Die Vakzinati- lige Toxin durch spezielle Verfahren seine to- on ist nicht nur gefährlich, sondern auch unwirk- xischen Eigenschaften verloren hat, die antige- sam. In den Augen der Skeptiker war dies sogar ne Wirkung aber erhalten bleibt; zum anderen statistisch belegbar, denn obwohl ein großer Teil der Bevölkerung bereits geimpft war, kam es im 08 Vgl. die Übersicht bei Jana Claudia Jeuck, Die Einführung 19. Jahrhundert an verschiedenen Orten zu Po- der Masernimpfung in der BRD 1960–1980 im Spiegel medizini- ckenepidemien, die zahlreiche Opfer forderten. scher Fachjournale und der Laienpresse, Dissertation, Universität Das Wiederaufflammen einer schon fast besiegt zu Köln 2017, S. 26–40. 11
APuZ 46–47/2020 inaktivierte Impfstoffe wie jene gegen Cholera, von Tollwut mit dem von ihm hergestellten Impf- Hepatitis-A, Tollwut und Polio, bei denen das stoff behandelt wurden, stellte sich dessen Wirk- krankheitsverursachende Virus unter Einwirkung samkeit heraus.09 verschiedener Substanzen, aber auch durch Hit- Pasteur entwickelte noch drei weitere Impf- ze oder Strahlung seine Infektiosität verliert und stoffe, was ihn zu einem der bedeutendsten Ver- zur Herstellung von Impfstoffen verwendet wer- treter der frühen Impfstoffforschung macht: 1879 den kann. 1896 entwickelte Wilhelm Kolle (1868– gegen Geflügelcholera, 1880 gegen Milzbrand, 1935), ein Mitarbeiter Robert Kochs, einen durch 1883 gegen Schweinerotlauf. Er hatte somit den Hitze abgetöteten und durch Phenolzugabe kon- überzeugenden Nachweis geführt, dass – zumin- servierbar gemachten Cholera-Impfstoff. Der dest im Prinzip – eine Impfung fortan vor beliebi- Bakteriologe Waldemar Haffkine (1860–1930) gen Infektionskrankheiten schützen konnte. forschte ab 1895 an einem Totimpfstoff gegen die An einem weiteren Totimpfstoff forschte im Pest. Verschiedene klinische Studien wurden mit 20. Jahrhundert Jonas Edward Salk (1914–1995). schwankenden Ergebnissen in Indien und China Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der späte- durchgeführt. In einem Fall führte die Verunrei- re Nobelpreisträger John Franklin Enders (1897– nigung des Impfstoffs mit Tetanussporen dazu, 1985) durch Viruszüchtung in Zellkulturen die dass alle mit dieser Charge Geimpften starben Forschung entscheidend vorangebracht. Auf die- und die Nutzung von Haffkines Vakzin ein ab- ser Grundlage gelang es Salk, einen Impfstoff ge- ruptes Ende fand. gen Kinderlähmung zu entwickeln, für den die Ein Meilenstein der Impfgeschichte war 1885 Viren durch Formalin inaktiviert wurden. Dieser ein waghalsiger Heilversuch an dem neunjährigen geriet allerdings in die Schlagzeilen, nachdem 1955 Bäckerssohn Joseph Meister, der von einem toll- bei mehreren Kindern, die mit einer Charge aus der wütigen Hund gebissen worden war. Man brach- Produktion des kalifornischen Impfstoffherstellers te ihn zu Louis Pasteur nach Paris, der damals Cutter-Laboratories geimpft worden waren, Läh- bereits zahlreiche Tierversuche mit dem Toll- mungserscheinungen auftraten und es zu Todesfäl- wuterreger unternommen hatte. Er benutzte da- len kam. Versehentlich war ein Impfstoff verwen- bei eine abgeschwächte infektiöse Suspension, die det worden, der noch infektiöses Material enthielt. er aus dem getrockneten Rückenmark eines toll- Der Virologe Albert Sabin (1906–1993) entwickelte wutinfizierten Kaninchens gewonnen hatte. Die daraufhin einen oralen Impfstoff auf der Basis von damit geimpften Hunde erwiesen sich fortan als lebenden, aber in ihrer Virulenz abgeschwächten immun gegen die Krankheit. Um nach dem Hun- Polio-Viren, der in der Bundesrpublik mit der ein- debiss einer Tollwut-Infektion vorzubeugen, be- gängigen Werbebotschaft „Schluckimpfung ist süß kam auch Joseph Meister zunächst eine Injektion – Kinderlähmung ist grausam“ beworben wurde. einer 14 Tage lang getrockneten Hirnmasse eines Mit der Entdeckung des HI-Virus Anfang der infizierten Kaninchens und schließlich über einen 1980er Jahre begann ein weiteres Kapitel der Ge- Zeitraum von zehn Tagen zwölf Injektionen mit schichte der Impfstoffentwicklung. Als man den immer frischerem, also auch zunehmend virulen- Virologen Robert Gallo im Anschluss an die Pres- tem Material. Bei der letzten Injektion handelte es sekonferenz 1984, auf der die Entdeckung des sich um voll virulente Tollwut-Viren, mit der Pas- Aids-Erregers bekanntgegeben wurde, fragte, teur also überprüfte, ob der Patient nach der Be- wann ein Impfstoff gegen die gefürchtete Krank- handlung immun war. Nachdem Joseph Meister heit bereitstehen würde, antwortete er: „In zwei über mehrere Monate keine Symptome einer In- Jahren“. Inzwischen sind mehr als 35 Jahre ver- fektion mit Tollwut zeigte, wurde er aus der ärzt- gangen. Noch immer ist der große Durchbruch lichen Obhut entlassen. Die Nachricht über den nicht in Sicht, obwohl bereits Milliardenbeträge in augenscheinlichen Erfolg der postexpositionellen die Entwicklung einer Schutzimpfung gegen Aids Impfung begründete Pasteurs Ruf in Frankreich. investiert wurden. Der Wissenschaftsjournalist Wie die medizingeschichtliche Forschung durch Jon Cohen vertritt die Auffassung, dass es bei der die Auswertung der Labortagebücher nachgewie- Suche nach einem Impfstoff lange Zeit vor allem sen hat, kann die mutmaßliche „Heilung“ von Jo- an koordinierten Forschungsanstrengungen und seph Meister zwar keinesfalls als ein Beleg für die Wirksamkeit des damals von Pasteur verwende- 09 Vgl. Hervé Bazin, L’Histoire des vaccinations, Paris 2008, ten Impfstoffs gelten. Aber als immer mehr Fälle S. 264 f. 12
Weltgesundheit APuZ erst in zweiter Linie an Geld gemangelt habe.10 gesellen betrug damals etwas mehr als einen Gul- Daneben gibt es noch andere Faktoren, die seiner den. 1815 folgte das Großherzogtum Baden dem Meinung nach ebenfalls für Verzögerungen und bayerischen Vorbild, 1818 das Königreich Würt- Rückschläge verantwortlich sind, etwa die halb- temberg, 1821 das Königreich Hannover. Sachsen herzige Unterstützung durch Politiker, die den und der Stadtstaat Hamburg dagegen erließen bis Kampf gegen Aids lange nicht als gesundheits- Anfang der 1870er Jahre kein Impfgesetz. Auch politische Priorität einstuften, oder die Interessen Preußen hatte keines, übte aber auf andere Weise der internationalen Pharmakonzerne, die an Me- Druck auf die Bevölkerung aus, sich gegen die Po- dikamenten verdienen wollen. Doch gibt es in- cken impfen zu lassen. So wurden nur jene Kin- zwischen Anzeichen dafür, dass man aus der Ver- der zur Schule oder zur Ausbildung zugelassen, gangenheit und den Fehlschlägen gelernt hat. Seit die einen Impfschein vorweisen konnten. Als in- 1996 existiert die International Aids Vaccine Ini- folge des Deutsch-französischen Krieges 1870/71 tiative, eine gemeinnützige Einrichtung, die sich wieder eine große Pockenepidemie mit Hundert- darum bemüht, die fast kaum noch überschauba- tausenden Todesopfern die Bevölkerung heim- ren internationalen Forschungsanstrengungen zu suchte, griff das neu geschaffene Deutsche Reich koordinieren und auch finanziell zu unterstützen. zu Zwang: Am 5. Februar 1874 wurde das Reichs Nachdem man anfangs den Weg beschritten hat- impfgesetz trotz Widerstand aus Kreisen der or- te, dem Virus den Infektionsweg mit Antikörpern ganisierten Impfgegner im Reichstag angenom- gegen sein Hüllprotein zu blockieren, versuchen men. Es sah nicht nur die Pflichtimpfung gegen die meisten Aids-Forscher nun Impfstoffe zu ent- Pocken im Säuglingsalter vor, sondern auch eine wickeln, die nicht nur die auf Antikörpern be- Wiederimpfung im Alter von zwölf Jahren. ruhende Antwort des menschlichen Immunsys- Auch nach der Verabschiedung des Reichs tems stimulieren, sondern sich auch die zelluläre impfgesetzes wurde die Frage, inwieweit ein „Vor- Abwehr zunutze machen. Inzwischen ist es auch sorgestaat“ das Recht hat, seine Bürger per Gesetz möglich, Hybridviren herzustellen, mit denen zur Impfung zu zwingen, immer wieder heftig dis- sich die Schutzwirkung bei Menschenaffen bes- kutiert, und bis in die Zeit der Weimarer Republik ser als bislang möglich testen lässt, bevor an klini- hinein beschäftigte der Streit um die Impfpflicht sche Versuche bei Menschen zu denken ist. Denn den Reichstag. Die Fronten gingen quer durch die Impfversuche an Freiwilligen stellen weiterhin ein Parteien. Jenseits der öffentlichkeitswirksamen, großes Problem dar. durch konträre Meinungen aufgeheizten Debatten war dagegen die Impfpraxis bis 1933 durch einen ZWANG ODER FREIWILLIGKEIT? „pragmatischen Paternalismus“ gekennzeichnet.11 Das heißt, der Staat bestand weiterhin auf dem Eng mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und Impfzwang, setzte ihn aber nicht mit aller Ge- den Debatten um das Für und Wider der Vakzina- walt durch. Das lag nicht zuletzt an Berichten über tion verwoben, ist die Geschichte der Impfpolitik. Impfschäden, die immer wieder an die Öffentlich- In einigen deutschen Territorien war bereits weni- keit gelangten. Diese erreichten aber meist nicht ge Jahre nach der Erfindung der Vakzination ein die Dimension des sogenannten Lübecker Impf- mehr oder weniger rigider Impfzwang eingeführt unglücks von 1930, als 77 Kinder infolge der Injek- worden. Den Anfang machte 1807 Bayern, nach- tion eines kontaminierten Tuberkulose-Impfstoffs dem ein Appell des Königs, sich gegen Pocken starben und weitere 131 Impflinge erkrankten.12 impfen zu lassen, wenig Resonanz in der Bevöl- Aufgrund dieser Katastrophe verzögerte sich die kerung gefunden hatte. Das entsprechende Ge- Einführung der Impfung gegen Tuberkulose mit setz schrieb vor, dass alle über Dreijährigen, die dem Bacillus Calmette-Guérin in Deutschland bis noch nie die Pocken gehabt hatten, bis zum 1. Juli nach dem Zweiten Weltkrieg. Spätestens seit die- 1808 geimpft sein sollten. Für jedes nicht rechtzei- tig geimpfte Kind sollten die Eltern je nach Ver- 11 Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in mögen eine Geldbuße in Höhe von einem bis acht Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2017, S. 132. Gulden zahlen – der Tagelohn eines Handwerker- 12 Vgl. Eckart Roloff/Karin Henke-Wendt, Das Lübecker Impf- unglück von 1930 und ein schneller Prozess, in: dies., Geschädigt 10 Vgl. Jon Cohen, Shots in the Dark. The Wayward Research statt geheilt. Große deutsche Medizin- und Pharmaskandale, for an AIDS Vaccine, New York 2001. Stuttgart 2018, S. 19–33. 13
APuZ 46–47/2020 sem tragischen Ereignis ging es also im politischen Deutsche Grüne Kreuz, die mit finanzieller Förde- Diskurs nicht mehr nur um die Vakzination, son- rung durch die Gesundheitsbehörden Impfkampa- dern auch um Impfungen gegen eine Vielzahl von gnen organisierten. 1972 wurde die Ständige Impf- Krankheiten. kommission (STIKO) eingerichtet, nach deren Selbst das nationalsozialistische Regime, das Empfehlungen sich die Gesundheitsbehörden in die Volksgesundheit über die individuelle Ge- Impffragen richten. Ihre Empfehlungen gelten in- sundheit stellte, unterdrückte nicht die Impfkri- zwischen als medizinischer Standard. Die seit 1874 tik. Das hing nicht nur damit zusammen, dass bestehende Impfpflicht gegen Pocken wurde gut einige seiner führenden Vertreter, zum Beispiel hundert Jahre nach ihrer Einführung schrittweise Rudolf Hess, mit alternativen Heilmethoden lieb- aufgehoben: Ab 1976 entfiel die Erstimpfung. 1983 äugelten. Das „Dritte Reich“ verfolgte außer mit wurde die Pockenimpfpflicht schließlich komplett Blick auf die Wehrmacht in der Impfpolitik ei- aufgehoben. Gleichzeitig wurden auch alle gesetz- nen pragmatischen Ansatz. Der wichtigste Grund lichen Zwangsimpfungen beseitigt. waren erfolgreiche Werbekampagnen der Phar- Im vereinten Deutschland ist seit Längerem maindustrie für eine freiwillige Impfung mittels eine „liberale Wende des Präventionsdiskurses“ Broschüren, Radiobeiträgen und Aufklärungsfil- zu beobachten,13 in dem verstärkt an den Einzel- men. So erreichte man Ende der 1930er Jahre etwa nen als „präventives Selbst“ appelliert wird, die eine Impfquote von 90, oft über 95 Prozent bei eigene Lebensführung gemäß gesundheitlichen der Diphtherieschutzimpfung, während diese bei Kriterien auszurichten. Seit Inkrafttreten des In- der Pflichtimpfung gegen Pocken im Schnitt zwi- fektionsschutzgesetzes 2001 kann eine Impfpflicht schen 60 und 80 Prozent lag. In Deutschland setz- jedoch jederzeit wieder eingeführt werden. Nach te also schon vor der Mitte des 20. Jahrhunderts Paragraf 20 Absatz 6 und Absatz 7 des Infektions- eine Entwicklung ein, die man als den Übergang schutzgesetzes bedarf es lediglich einer einfachen von der staatlichen Impfpflicht zur Privatisierung Rechtsverordnung, um Impfungen verbindlich zu der Gesundheitsvorsorge bezeichnen kann. machen. So beschloss der Bundestag im Novem- Nach 1945 bestimmten in der Bundesrepu- ber 2019 eine bundesweite Impfpflicht gegen Ma- blik und in der DDR unterschiedliche Prophyla- sern an allen deutschen Schulen, bei Tagesmüttern xe-Konzepte das gesundheitspolitische Handeln. und für Kindertagesstätten, aber auch in anderen Dabei rückte vor allem die Schluckimpfung gegen Gemeinschaftseinrichtungen wie Flüchtlingsun- Poliomyelitis in den Blickpunkt, nachdem die Po- terkünften sowie für medizinisches Personal. cken seit Ende der 1970er Jahre deutschland- und weltweit keine Gefahr mehr darstellten, denn die SCHLUSS erfolgreiche Bekämpfung einer weiteren Kinder- krankheit versprach einen Prestigegewinn im Sys- Mit Blick auf den fast zweihundertjährigen Kampf temwettbewerb. Die DDR war stolz darauf, inter- gegen Menschenpocken kann kein Zweifel daran national als Vorsorgestaat par excellence zu gelten, bestehen, dass es einen kausalen Zusammenhang doch war sie damit keine Biodiktatur. Aus den für zwischen dem endgültigen Verschwinden dieser die Planwirtschaft typischen Defiziten erwuchs in Seuche Anfang der 1980er Jahre und einer konse- der Impffrage ein Pragmatismus, wenngleich sich quenten Massenimpfung gibt. Bei anderen Infekti- die DDR-Regierung auf internationaler Ebene im- onskrankheiten ist die historische Evidenz nicht so mer wieder mit Erfolgen ihres staatlich gelenkten eindeutig. Derzeit wartet die Welt auf einen wirk- Präventionsprogramms brüstete. In der Bundesre- samen Impfstoff gegen Covid-19. Nach einer aktu- publik waren es vor allem zivilgesellschaftliche Ver- ellen Meinungsumfrage würde sich mit 67 Prozent eine, wie beispielsweise die Deutsche Vereinigung eine Mehrheit der Deutschen für eine Impfung ge- zur Bekämpfung der Kinderlähmung oder das gen das neuartige Corona-Virus entscheiden.14 In der Gruppe der G7-Staaten liegt die Bundesrepu- blik damit allerdings nur auf dem vorletzten Platz. 13 Martin Lengwiler/Jeannette Madarász (Hrsg.), Das präven- tive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, ROBERT JÜTTE Bielefeld 2010, S. 22. 14 Vgl. Felix Eick, Jeder dritte Deutsche momentan gegen eine leitete bis 2020 das Institut für Geschichte der Covid-19-Impfung, 2. 9. 2020, www.welt.de/wirtschaft/article214 Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. 826898. robert.juette@igm-bosch.de 14
Weltgesundheit APuZ VARIATIONEN DER PANDEMIEBEKÄMPFUNG Staatliche Handlungsstrategien gegen Covid-19 Thomas Gerlinger In den vergangenen Jahrzehnten war zumindest in ländlichen. Auch Lebensformen, also die Rolle im wohlhabenden Teil der Welt kein Land von der Familie, die Integration von Alten in die Ge- einer sich derart rasch ausbreitenden Infektions- sellschaft oder der Anteil von Single-Haushalten, krankheit mit einem so großen Bedrohungspo- und vor allem das Ausmaß von Armut in einer tenzial wie Covid-19 betroffen. Die Bekämpfung Gesellschaft, beispielsweise beengte Wohnver- der Pandemie erfolgte – wie zumeist bei Infek- hältnisse oder die Angewiesenheit auf öffentliche tionskrankheiten – unter hohem Zeitdruck und Verkehrsmittel, können Einfluss auf die Verbrei- unter den Bedingungen großer Unsicherheit.01 tung eines Virus und die Wirksamkeit von Prä- Der hohe Zeitdruck resultierte aus der leichten ventionsmaßnahmen haben. Die personelle und Übertragbarkeit des Virus und dem potenziell technische Ausstattung der für die öffentliche gefährlichen Krankheitsverlauf, die große Unsi- Gesundheit zuständigen Einrichtungen beein- cherheit aus dem unzureichenden Wissen über flusst die Chancen, die Bevölkerung bei der Ein- das Virus. Letztere betraf vor allem die Übertra- dämmung des Virus zu unterstützen, die Einhal- gungswege, etwa die Rolle von Tröpfchen- und tung von Bestimmungen zu kontrollieren oder Schmierinfektion sowie von Aerosolen, und die die Nachverfolgung potenziell Infizierter zu ge- Infektiosität des Virus, etwa den Zusammenhang währleisten. Schließlich hängen die Sterbequote von leichtem Krankheitsverlauf bei Kindern und und die Häufigkeit schwerer Krankheitsverläu- Übertragbarkeit durch Kinder sowie die Dau- fe auch davon ab, wie gut das medizinische Ver- er der Infektiosität von Infizierten. Damit war sorgungssystem auf die Behandlung einer großen es auch nur schwer möglich, eine wissensbasierte Zahl Schwerstkranker vorbereitet ist. Antwort auf die Frage nach geeigneten Präven- Die Gesundheitssysteme sahen sich also mit tionsmöglichkeiten zu geben, zum Beispiel nach der Herausforderung konfrontiert, auf unter- dem sicheren Abstand zu Infizierten, dem Sinn schiedlichsten Feldern geeignete, auf die spezifi- eines Mund-Nasen-Schutzes und einer Schlie- schen Probleme zugeschnittene Maßnahmen zur ßung von Erziehungs- und Bildungseinrichtun- Eindämmung der Pandemie zu treffen. gen sowie der Dauer einer Quarantäne von Infi- zierten. Antworten auf diese Fragen waren – und MA ẞ NAHMEN sind in vielen Fällen heute noch – umstritten oder GEGEN DIE PANDEMIE haben sich im Zeitverlauf geändert. Die Ausgangssituationen zur Eindämmung Wohl für alle Länder gilt, dass die Dynamik der der Pandemie und zur Begrenzung ihrer gesund- weltweiten Virusübertragung anfangs unter- heitlichen Folgen waren und sind von Land zu schätzt wurde. Die Regierungen in Europa stuf- Land unterschiedlich. Dies betraf sowohl die ten die von dem neuen Virus ausgehende Gefahr Übertragungsgeschwindigkeit und die Verbrei- im Frühjahr 2020 überwiegend als gering ein. tungswege des Virus als auch die Präventions- Erst dramatische Bilder aus Norditalien, wenig möglichkeiten. In Ländern und Regionen mit ei- später aus Spanien und auch aus Frankreich, so- ner hohen Bevölkerungsdichte beziehungsweise wie steigende Infektionszahlen veranlassten die einem hohen Bevölkerungsanteil in Ballungsge- politischen Entscheidungsträgerinnen und Ent- bieten und einer hohen räumlichen Mobilität ver- scheidungsträger in anderen Ländern, rasch dras- breitet sich ein Virus im Allgemeinen schneller als tische Maßnahmen zu ergreifen. Viele Regierun- 15
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