AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Weltgesundheit - Bundeszentrale für ...

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Weltgesundheit - Bundeszentrale für ...
70. Jahrgang, 46–47/2020, 9. November 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
   Weltgesundheit
       Marylyn Addo                           Elena Sondermann
    „DAS VIRUS WIRD                           GLOBALE
    BEI UNS BLEIBEN“.                   GESUNDHEITSPOLITIK
     EIN GESPRÄCH                     ZWISCHEN ANSPRUCH UND
                                       WIDERSPRÜCHLICHKEITEN
        Robert Jütte
    ZUR GESCHICHTE                              Tine Hanrieder
  DER SCHUTZIMPFUNG                      GLOBALE GESUNDHEITS-
                                          SICHERUNG, NUR WIE?
     Thomas Gerlinger
    VARIATIONEN DER                       Susan Bergner ∙ Maike Voss
  PANDEMIEBEKÄMPFUNG                      DEUTSCHLAND ALS
                                       AKTEUR IN DER GLOBALEN
     Michael Krennerich
                                         GESUNDHEITSPOLITIK
      GESUNDHEIT
  ALS MENSCHENRECHT

                 ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                      FÜR POLITISCHE BILDUNG
             Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Weltgesundheit - Bundeszentrale für ...
Weltgesundheit
                                  APuZ 46–47/2020
MARYLYN ADDO                                      ELENA SONDERMANN
„DAS VIRUS WIRD BEI UNS BLEIBEN“.                 GLOBALE GESUNDHEITSPOLITIK ZWISCHEN
EIN GESPRÄCH                                      ANSPRUCH UND WIDERSPRÜCHLICHKEITEN
Sie hat an Impfstoffen gegen Ebola und MERS       Globale Gesundheitspolitik ist geprägt von Frag-
geforscht und leitet derzeit die Phase-1-Studie   mentierung und Ungleichheiten. „Health for all“
zur Erprobung eines Impfstoffs gegen Covid-19     bleibt ein fernes Ziel. Die Covid-19-Pandemie
am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.        rückt fehlende Steuerung, Einflussgefälle und
Marylyn Addo spricht über Impfstoffentwick-       konfligierende Ziele in die Öffentlichkeit, bietet
lung und den Verlauf der Covid-19-Pandemie.       aber auch Gelegenheit für Veränderungen.
Seite 04–07                                       Seite 28–34

ROBERT JÜTTE                                      TINE HANRIEDER
ZUR GESCHICHTE DER SCHUTZIMPFUNG                  GLOBALE GESUNDHEITSSICHERUNG,
Das Grundprinzip jeder Schutzimpfung ist die      NUR WIE?
bewusste Einführung krankheitserregenden          Wie kann globale Gesundheitssicherheit erreicht
Materials in ein gesundes Individuum. Es war      werden? Prioritätenkonflikte zwischen Han­dels­
bereits seit Jahrhunderten bekannt, wurde aber    recht und Gesundheitsschutz sowie zwischen pro-
erst mit der Kuhpockenimpfung zum bis heute       blemspezifischen und strukturellen Ge­sund­heits­
wichtigsten Instrument im Kampf gegen Seuchen.    maßnahmen, aber auch die Frage einer universellen
Seite 09–14                                       Krankenversicherung prägen die Debatten.
                                                  Seite 35–40
THOMAS GERLINGER
VARIATIONEN DER PANDEMIE­B EKÄMPFUNG              SUSAN BERGNER · MAIKE VOSS
Für wohl alle Gesundheitssysteme ist die Covid-   DEUTSCHLAND ALS AKTEUR IN DER
19-Pandemie eine neuartige Herausforderung.       GLOBALEN GESUNDHEITSPOLITIK
Viele Gesundheitssysteme antworten in ähnli-      Deutschland war schon vor der Covid-19-­
cher Weise auf diese Herausforderungen, und       Pande­mie ein immer wichtigerer Akteur in der
dennoch ist die Bandbreite der eingeschlagenen    globalen Gesundheitspolitik. Die Pandemie sorgt
Strategien recht groß.                            jedoch für zusätzliche Verschiebungen in der
Seite 15–21                                       globalen Gesundheitsordnung, die Deutschland
                                                  noch stärker ins Rampenlicht rücken lassen.
                                                  Seite 41–45
MICHAEL KRENNERICH
GESUNDHEIT ALS MENSCHENRECHT
Der Schutz der Gesundheit und eine angemesse-
ne Gesundheitsversorgung sind Bestandteile des
völkerrechtlich verankerten Menschenrechts auf
Gesundheit, das mit staatlichen Unterlassungs-
und Handlungspflichten einhergeht. Es kommt
auch in Zeiten von Covid-19 zum Tragen.
Seite 22–27
EDITORIAL
Lange konzentrierte sich die internationale Zusammenarbeit im Gesundheits-
bereich auf die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten und die Situation von
Armen, insbesondere im Globalen Süden. Im Lichte zunehmender gegenseitiger
Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt und eines gewachsenen Verständ-
nisses von Gesundheit als einem Zustand, den viele ineinander greifende soziale,
politische, wirtschaftliche und ökologische Faktoren beeinflussen, ist sie über
ihren ursprünglichen Fokus hinausgewachsen. Der Anspruch lautet heute,
„Gesundheit für alle“ zu ermöglichen – so die Priorität der Weltgesundheits­
organisation (WHO).
   Der gestiegene Stellenwert globaler Gesundheitspolitik spiegelt sich nicht
nur in erheblich gestiegenen Budgets seit den 1990er Jahren wider, sondern
auch in einer stark diversifizierten Akteurslandschaft. Multilaterale Akteure
wie die Weltbank haben ihre Aktivitäten auf dem Politikfeld ausgeweitet, und
neue nicht staatliche Akteure mit zum Teil engen Beziehungen zur Pharma-
industrie wie die Bill und Melinda Gates Stiftung oder die Impfallianz Gavi
haben sich etabliert. Die chronisch unterfinanzierte WHO, der als Koordinie-
rungsinstanz der Vereinten Nationen eine umso wichtigere Funktion zukommt,
befindet sich mit Blick auf Gelder und Einfluss zunehmend in Abhängigkeits-
und Konkurrenzverhältnissen.
   Die Covid-19-Pandemie, bei deren Bekämpfung bisher nationale Allein-
gänge den Takt vorgegeben haben, hat die Fragmentierung der Strukturen und
Interessen sowie die mangelnde Kohärenz in der globalen Gesundheitspolitik
deutlicher denn je zutage treten lassen. Im Fokus der Aufmerksamkeit zu
stehen, könnte sich für das Politikfeld jedoch auch als Reformkatalysator
erweisen und die Auseinandersetzung mit unbequemen Grundsatzfragen for-
cieren – darunter nicht zuletzt jene nach dem globalen Zugang zu Impfstoffen
und Medikamenten.

                                                  Anne-Sophie Friedel

                                                                              03
APuZ 46–47/2020

INTERVIEW

„DAS VIRUS WIRD BEI UNS BLEIBEN“
Ein Gespräch mit Marylyn Addo über die Suche nach einem Impfstoff
und den Verlauf der Covid-19-Pandemie

Frau Professorin Addo, die Frage,    Da geht es vor allem um die Si-       werden bestimmte Sachen abge-
auf die wahrscheinlich alle gerne    cherheit und Verträglichkeit ei-      fragt und Ein- und Ausschluss-
eine Antwort hätten: Wann ist        nes Impfstoffs oder einer Medi-       kriterien abgeprüft. Diese Pha-
die Covid-19-Pandemie vorbei?        kation. Bei Impfstoffen wollen        se-1-Studien werden nur an
Marylyn Addo – Das kann natür-       wir natürlich auch zeigen, ob         ganz gesunden jungen Proban-
lich keiner so richtig sagen. Aber   Immunantworten generiert wer-         den durchgeführt, weil das Mit-
die Spanische Grippe hat unge-       den, also ob es zum Beispiel eine     tel eben zum ersten Mal verab-
fähr zwei Jahre gedauert, und die    Antikörperbildung gibt. Dann          reicht wird. Und dann müssen
WHO schätzt, dass auch die Co-       kommt Phase 2 mit mehr Pro-           wir natürlich auch dafür sorgen,
vid-19-Pandemie innerhalb von        banden, in unserem Fall wären         dass im Labor die Proben rich-
zwei Jahren zu Ende sein wird.       das 600, in der man weitere Da-       tig verarbeitet werden, um Anti-
Wir sind jetzt schon fast bei ei-    ten zur Sicherheit erhebt, um         körper- oder T-Zellen-Antwor-
nem Jahr. Es ist schwierig vor-      auch seltenere Nebenwirkungen,        ten zu erheben. Es ist ein breites
herzusehen, wann sie ganz vor-       falls sie dann auftreten, zu erfas-   Spektrum.
bei sein wird, und was heißt das     sen. Aber in Phase 2 geht es vor
auch, „vorbei“? Das Virus wird       allem um die Dosisfindung. In         Sind Sie mit dem bisherigen
ja bei uns bleiben, aber nicht       Phase 3 geht es dann mit Zehn-        Verlauf der Studie zufrieden?
mehr zu den Einschränkun-            tausenden Probanden um die            – Wir sind ja erst seit ein paar
gen führen, die wir jetzt haben.     Wirksamkeit, also darum zu zei-       Wochen unterwegs, und bisher
Ich denke, dass wir im nächsten      gen: Sind die Leute, die geimpft      läuft alles nach Plan. Wir wer-
Sommer schon in einer anderen        sind, geschützt vor der Infekti-      den zwei Dosisgruppen verab-
Situation sein werden, weil dann     on, vor der wir schützen wollen?      reichen, und die Probanden der
der Winter vorbei ist und viel-                                            ersten Dosis, also der niedri-
leicht auch schon ein Impfstoff      Und wie sieht das im klinischen       gen Dosisgruppe, haben schon
einen Beitrag leisten kann. Das      Alltag aus?                           ihre erste Impfung von zweien
wäre derzeit meine Prognose.         – Bei unserem Beispiel ist es so,     erhalten.
                                     dass wir mit einem Auftrags-
Sie leiten als Prüfärztin die        forschungsinstitut, dem Clini-        Wie geht es nun weiter?
klinische Phase-1-Studie zur         cal Trial Center North, zusam-        – Wir planen, die Phase 2 noch
Erprobung eines Impfstoffs gegen     menarbeiten, das spezialisiert        im November bei den Behör-
Covid-19 am Universitätsklinikum     ist auf frühe klinische Phasen.       den einzureichen und wollen
Hamburg-Eppendorf. Wie darf          Da kommen die Probanden hin,          sie im Dezember initiieren, um
man sich das vorstellen?             und im Leitungsteam der Stu-          Anfang Januar die Probanden in
– Es gibt zur Medikamenten-          die begrüßen wir die Probanden        einem relativ engen Zeitrahmen
und auch zur Impfstoffzulas-         im Studienzentrum und klären          zu impfen. Daher wird Pha-
sung verschiedene Phasen der         sie mit auf, wie wir mit den ver-     se 2 nicht mehr nur in Ham-
klinischen Prüfung. In der ers-      schiedenen Teams zusammen             burg, sondern multizentrisch
ten Phase sind das normalerwei-      – es gibt ein Laborteam, ein kli-     durchgeführt, also an mindes-
se sehr kleine Studien, bei uns      nisches Team und ein Studien-         tens zehn Zentren innerhalb
sind das jetzt 30 Probanden, bei     team – die Studie durchführen         Deutschlands, die wir gera-
denen eine Substanz zum ersten       werden. Bevor es losgeht, wer-        de noch rekrutieren. Im Lau-
Mal am Menschen erprobt wird.        den die Probanden untersucht,         fe des Jahres 2021, je nachdem,

04
Weltgesundheit APuZ

wann wir die Daten der Phase 2      Ob die Impfung, die gegen Co-        nicht gegen impfen“. Und dann
haben, zumindest von Teilen         vid-19 zugelassen wird, einen        gibt es natürlich die Impfgegner,
der Studie, wird das Klinikum       so hohen Grad an Wirksamkeit         aber die sind eine relativ kleine
München die große Phase-            erreicht, ist noch nicht gegeben.    Gruppe, die Impfverunsicher-
3-Studie mit zwischen 20 000        Anhand der Daten, die bisher         ten schon eine größere, und da
und 30 000 Probanden auch           aus dem Tiermodell hervor-           hilft eigentlich nur Dialog, Auf-
multizentrisch durchführen.         gegangen sind, muss man eher         klärung und sich den Sorgen
                                    davon ausgehen, dass sie nicht       und Fragen und Nöten zu stel-
Weltweit wird momentan an über      hundertprozentig schützt vor         len. Auf gar keinen Fall sollte es
200 Impfstoffen gegen Covid-19      einer Infektion, sondern vor al-     eine Impfpflicht geben, das ist
geforscht. Dennoch steht immer      lem den Krankheitsverlauf er-        ja auch eine große Sorge. Das
wieder die Frage im Raum, ob es     leichtern kann. Diese Daten          ist überhaupt nicht geplant und
überhaupt einen Impfstoff gegen     liegen uns noch nicht vor. Ich       meines Erachtens auch nichts,
Covid-19 geben wird.                bin allerdings optimistisch, dass    was in irgendeiner Weise ver-
– Ich sage immer: In der Bio-       es einen Impfstoff geben wird.       folgt werden sollte. Die Strate-
medizin kann man nie Garanti-       Die Regulatoren haben ange-          gien, an wen der Impfstoff als
en geben. Es wird ja oft zitiert,   deutet, dass sie ab 50 Prozent       erstes gehen soll, wenn wir denn
dass es auch Erkrankungen           Schutzwirkung an eine konditi-       einen wirksamen und sicheren
gibt, gegen die wir bisher kei-     onelle Zulassung denken.             Impfstoff haben, werden der-
ne Impfstoffe gefunden haben,                                            zeit entwickelt. Momentan geht
zum Beispiel Aids. Da muss          Umfragen zeigen, dass sich in        man davon aus, dass Leute, die
man natürlich dazusagen, dass       Deutschland jede:r Dritte nicht      ein hohes Risiko haben oder
man normalerweise nach einer        gegen Covid-19 impfen lassen         mit vulnerablen Populationen
HIV-Infektion diese Infekti-        will, wenn ein Impfstoff verfügbar   arbeiten, sprich im Altersheim
on nicht ausheilt, sondern dann     ist. Wie erklären Sie sich diese     oder medizinisches Personal,
chronisch infiziert ist. Bei Co-    vergleichsweise hohe Impfskepsis     sich impfen lassen sollten und
vid-19 wissen wir ja zumindest,     in Deutschland?                      dass man dann versucht, die Ri-
dass ein normal immunkom-           – Ich weiß nicht, ob ich das jetzt   sikogruppen zu schützen, damit
petenter Mensch nach zwei bis       unbedingt als Impfskepsis be-        sie keine schweren Verläufe ha-
drei Wochen wieder genesen ist,     zeichnen würde. Es gibt Leute,       ben und man die Sterblichkeits-
und das versuchen wir mit ei-       die Angst haben, dass der Impf-      zahlen minimieren kann. Und
nem Impfstoff sozusagen nach-       stoff nicht sicher genug ist, weil   wie es dann weitergeht, ob man
zustellen oder zu verbessern.       er so schnell hergestellt wurde.     dann sagt, vielleicht sollten wir
In der klinischen Prüfung sind      Da muss man sagen, dass wir in       auch Kinder impfen oder Leh-
ungefähr 45 verschiedene Impf-      Deutschland einen Impfstoff­         rer, wird man sehen.
stoffe, die vielen Tausenden von    entwicklungsprozess haben,
Probanden gegeben wurden,           der zwar beschleunigt werden         Ein häufiges Argument ist auch,
und bisher zeigen die Daten,        kann, aber keine Einschrän-          dass im Moment noch unklar ist,
dass die meisten Impfstoffe sehr    kung der Anforderungen an            ob eine Wiederansteckung mit
gut vertragen wurden und Anti-      die Sicherheit eines Impfstoffs      Covid-19 möglich ist.
körper und T-Zellen generieren.     zulässt. Die zuständige Behör-       – Es sind schon Fälle einer
Das ist schon einmal erfreulich.    de, das Paul-Ehrlich-Institut,       Wiederansteckung beschrie-
Aber bisher gibt es noch keinen     achtet da sehr sehr genau drauf.     ben worden. Es scheint aber
Beweis der Schutzwirkung. In        Die Impfstoffe, die hier zugelas-    ein sehr seltenes Phänomen zu
Tierversuchen an Affen konn-        sen werden, haben das Sicher-        sein, wir sind ja auch noch früh
te man die schon dokumentie-        heitsprofil, das in Deutschland      in der Pandemie. Bei Wiederan-
ren, jetzt müssen wir sie noch      Standard ist. Ansonsten gibt es      steckung scheinen die Krank-
am Menschen zeigen. Und dann        vielleicht auch gerade in der jün-   heitsverläufe milder zu sein, und
müssen wir schauen, wie wirk-       geren Bevölkerung Leute, die         das ist ja auch ein Effekt: Wenn
sam der Impfstoff wird. Unsere      sagen, „Mensch, in 80 Prozent        Immunität da ist, also partielle
Masernimpfung ist zum Beispiel      der Fälle ist der Krankheitsver-     Immunität wie bei anderen Co-
zu 95 bis 98 Prozent wirksam.       lauf ein milder, da lasse ich mich   rona-Viren, dann hat man nicht

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APuZ 46–47/2020

so einen schlimmen Verlauf und         gen etc., und jetzt ist das Thema    Dinge zu sprechen, bei denen
muss vielleicht nicht ins Kran-        Impfstoff nochmal viel präsen-       ich das Gefühl habe, ich kann
kenhaus. Da sind noch viele Fra-       ter. Der Druck ist hoch, die me-     mit fundiertem Wissen Stel-
gen offen, sowohl zu natürlicher       diale Präsenz ist hoch, und dann     lung nehmen. Wenn mich jetzt
Immunität als auch zu Immuni-          ist es eine nochmal schnelle-        jemand zur Zusammensetzung
tät durch einen Impfstoff. Es ist      re Timeline. Wir haben damals        von Aerosolen fragt, würde ich
unbedingt notwendig, dass wir          bei Ebola schon gedacht „so          an einen anderen Experten ver-
an ganz vielen verschiedenen           schnell ist es noch nie gegan-       weisen. Aber zum Thema Impf-
Stellen Wissenschaft betreiben,        gen“, und jetzt ist es nochmal       stoffe, denke ich, kann ich ein
um die Krankheit besser zu ver-        schneller gewesen. Das ist schon     Stück weit zur Aufklärung und
stehen. Wir müssen an weiteren         eine neue Arbeitsbelastung,          Information der Bevölkerung
Medikamenten forschen, weil            auch das Team ist dem Druck          beitragen. Ich sehe das auch als
es auch noch Infektionen geben         der Öffentlichkeit ausgesetzt.       Teil der Arbeit. Wir werden aus
wird, wenn ein Impfstoff ver-          Aber insgesamt sind wir in der       öffentlichen Mitteln finanziert,
fügbar ist. Es werden sich wei-        Entwicklung solcher Impfstof-        insofern ist das auch Teil des
terhin Patienten mit Covid-19          fe jetzt – ich möchte nicht sagen    Zurückgebens. Wissenschaftler
infizieren, auch welche, die viel-     „erfahren“ –, aber wir haben         können Fakten kommunizie-
leicht schlechte Verläufe haben,       das schon mal gemacht, und wir       ren und beraten. Oft ist das ja
und da wollen wir doch unbe-           haben das auch schon mal in          so ein bisschen verwischt, weil
dingt Therapieoptionen haben.          einer Pandemie gemacht. Inso-        die Wahrnehmung war, dass die
Derzeit haben wir nur zwei mit         fern versuchen wir uns auf die       Wissenschaftler entscheiden.
geringer bis moderater Wirk-           Arbeit zu fokussieren, den küh-      Aber die Wissenschaft generiert
samkeit, die für andere Erkran-        len Kopf zu bewahren und uns         Fakten, kommuniziert Fakten
kungen entwickelt wurden. Da           nicht ablenken zu lassen.            und kann allenfalls Politik be-
ist noch sehr viel zu tun, und                                              raten. In der Politik werden die
auch deswegen sind die Maß-            Die Erwartungen an die Wissen-       Entscheidungen getroffen, und
nahmen, die wir ergreifen, also        schaft, eindeutige Antworten und     Politiker müssen verschiede-
Abstand, Hygiene und Masken,           Lösungen liefern zu können, sind     ne Aspekte auch außerhalb der
wesentlich. Die Pandemiebe-            in der Pandemie besonders hoch,      Wissenschaft mit in ihre Ent-
kämpfung steht auf mehreren            auch seitens der Politik. Was        scheidungen einfließen lassen.
Säulen, und ein Impfstoff ist nur      bedeutet das für Sie als Forsche-    Und die Medien spielen natür-
eine davon. „Wenn der Impf-            rin? Wie sehen Sie Ihre Rolle        lich auch eine Rolle für die öf-
stoff da ist, ist alles wieder gut“,   als öffentlich kommunizierende       fentliche Wahrnehmung. Da
ist kein realistisches Szenario.       Wissenschaftlerin?                   gibt es sicherlich noch Nach-
                                       – Das ist natürlich jetzt eine Si-   holbedarf: Die Wissenschafts-
Die Suche nach einem Impfstoff         tuation, in der wir bisher noch      kommunikation ist bisher nicht
gegen Covid-19 ist für Sie nicht       nicht so häufig waren, „wir“ als     im großen Stil in der wissen-
das erste Projekt dieser Art. Sie      Gesellschaft, aber auch „wir“ als    schaftlichen Ausbildung plat-
waren an der Entwicklung von           Wissenschaftler, und etwas, das      ziert und braucht in den Cur-
Impfstoffen gegen Ebola und            man im Nachgang dieser Pande-        ricula wahrscheinlich nochmal
gegen das MERS-Virus beteiligt.        mie nochmal mit Ruhe kritisch        einen anderen Stellenwert. Wir
Was ist dieses Mal anders?             beleuchten muss. Was ist in der      sind in einem total neuen me-
– Bei Ebola hatten wir auch viel       Wissenschaftskommunikation           dialen Umfeld mit Social Me-
Druck inmitten einer Pandemie.         in der Pandemie gut gelaufen?        dia, und wir müssen uns fragen,
Aber natürlich hat der Ebola-          Was ist vielleicht schwierig ge-     wie man belastbare Informati-
Ausbruch in Westafrika damals          wesen? Welche Sachen haben           onen so platzieren kann, dass
nicht das eigene Leben zum             zur Verunsicherung der Bevöl-        sie auch ankommen. Das wird
Stillstand gebracht. Jetzt haben       kerung beigetragen, und welche       jetzt schon sehr aktiv diskutiert
wir es zum ersten Mal mit einer        haben einen Beitrag geleistet,       an verschiedenen Stellen, und
Viruserkrankung zu tun, die die        so ein bisschen auch von der         es gab ja für sehr gute Wissen-
ganze Welt betroffen hat mit           Angst und dem Stress wegzu-          schaftskommunikation auch
„Lockdowns“, Schulschließun-           nehmen? Ich versuche, über die       Preise und Ehrungen.

06
Weltgesundheit APuZ

Noch stecken wir mitten in der      tigt und frühzeitig einen Test        sind die Gesundheitsämter sehr
Pandemie, und derzeit steigen       entwickelt hat und den auf der        gefordert, da gab es nicht ge-
die Infektionszahlen wieder stark   WHO-Seite frei verfügbar ge-          nug Personal. Aber das ist ja
an. Wie schätzen sie das aktuelle   macht hat. Dann haben sich in         auch schon erkannt worden. Es
Infektionsgeschehen ein?            Deutschland die Zentren bereit        gab jetzt auch mehrere Initia-
– Wir befinden uns in einer sehr    gemacht und sehr früh ange-           tiven, um an Universitätskli-
dynamischen Phase. Im Ver-          fangen, zum Beispiel bei Grip-        niken zum Beispiel Strukturen
hältnis zu unseren Nachbarlän-      peabstrichen auch schon auf           zu schaffen und Kapazitäten
dern in Europa steht Deutsch-       Covid-19 zu testen. Bis es im         zu erweitern, die für zukünf-
land noch verhältnismäßig gut       Januar mit dem frühen Aus-            tige Epidemien und Pandemi-
da, aber um es mit einer Game-      bruch in München so weit war,         en genutzt werden können.
of-Thrones-Analogie zu sagen:       hat man so sehr gut dokumen-          Und dann müssen wir wie ge-
„Winter is coming.“ Wir berei-      tieren können, dass wir hier kei-     sagt zum Thema Information
ten uns auf einen relativ harten    ne Hintergrundaktivität hatten        der Gesellschaft und zum Zu-
Winter vor. Wir hatten in den       wie zum Beispiel in Italien. Dort     sammenspiel zwischen Politik,
letzten Wochen noch relativ         war das Virus wahrscheinlich ja       Medien und Wissenschaft eine
überschaubare Krankenhausbe-        schon einige Wochen unterwegs,        Nachlese machen. Es wird mit
legungen, und nirgendwo ist das     bevor die ersten Fälle entdeckt       Sicherheit nicht unsere letzte
System an seine Kapazitätsgren-     wurden, und dann kam es zu ei-        Pandemie oder Epidemie sein.
zen gestoßen. Das war zum Teil      ner sehr bedrohlichen Situation.      Allein für Corona-Viren gab es
auch der Tatsache geschuldet,       Dadurch, dass wir in Deutsch-         in den letzten zwanzig Jahren
dass das Alter der Infizierten      land schon im Januar den ers-         drei große Ausbrüche: SARS
jetzt jünger war, aber wir sehen    ten Ausbruch hatten, waren            mit 10 Prozent Mortalität,
natürlich schon, dass in ver-       wir auch einfach früh vorberei-       MERS mit 40 Prozent Mortali-
schiedenen Regionen Deutsch-        tet und haben zügig begonnen,         tät und jetzt Covid-19. Wir ha-
lands die Belegungszahlen der       Infektionsketten aufzudecken.         ben sicherlich viel gelernt und
Krankenhäuser wieder hochge-        Dann haben wir ein sehr robus-        müssen sehen, was wir mitneh-
hen und es wieder mehr Inten-       tes Gesundheitssystem und gute        men in unsere nächste Runde.
sivpatienten gibt. Wir haben ei-    intensivmedizinische Kapazitä-        Das hört sich jetzt vielleicht ein
nen stetigen langsamen Anstieg,     ten. Wir haben niemals triagie-       bisschen provokant an, aber
den ich mit Besorgnis sehe. Ich     ren müssen, welcher Patient auf       wir befinden uns in einer ernst-
glaube, das deutsche System ist     Intensivstation geht und welcher      zunehmenden Situation für
sehr gut vorbereitet, trotzdem      ein Beatmungsgerät bekommt.           Deutschland und die Welt bei
sind die Appelle an die Bevöl-      Wir sind nie auch nur annähernd       einem im Vergleich harmlose-
kerung, dass wir alle auch in-      an die Grenzen der Belastbar-         ren Virus. Das ist natürlich ein
dividuell einen Beitrag leisten     keit unseres Gesundheitssys-          Stresstest und zeigt, was gut
können, gerechtfertigt. Wenn        tems gekommen und konnten             klappt und wo wir noch nach-
wir das einfach so laufen lassen,   noch Intensivpatienten aus an-        bessern müssen, sodass wir
dann drohen wir das zu verspie-     deren Ländern aufnehmen, und          beim nächsten Mal noch besser
len, was Deutschland bisher so      dennoch war auch das natürlich        reagieren können.
gut geleistet hat.                  ein Kraftakt.
                                                                          Das Interview führte
Welche Faktoren haben dazu          Und was hat weniger gut funktio-      Anne-Sophie Friedel per Telefon
beigetragen, dass Deutschland       niert? Oder anders gefragt: Was       am 21. Oktober 2020.
bisher vergleichsweise gut durch    sollten wir für die Zukunft aus der
die Pandemie gekommen ist?          Covid-19-Pandemie mitnehmen?
– Das ist sicher multifaktori-      – Wir haben gesehen, dass wir         MARYLYN ADDO
ell. Zum einen haben wir mit        im öffentlichen Gesundheits-          ist Professorin für Infektiologie
Herrn Drosten einen Top-Wis-        system noch ein bisschen mehr         und leitet die Sektion Infektio-
senschaftler in Deutschland,        Kapazitäten schaffen müssen.          logie am Universitäts­klinikum
der sich seit über zwanzig Jah-     Gerade bei der Nachverfolgung         Hamburg-Eppendorf.
ren mit Corona-Viren beschäf-       der Infektionsketten waren und        presse@uke.de

                                                                                                              07
Weltgesundheit APuZ

                          ZUR GESCHICHTE
                        DER SCHUTZIMPFUNG
                                            Robert Jütte

Die erste Schutzimpfung gegen eine Infektions-        um 1275 entstandenen „Regimen sanitatis Salerni-
krankheit war die Kuhpockenimpfung. Als ihr           tanum“, einem Gesundheitsratgeber in Versform
Entdecker gilt der englische Landarzt Edward          der Schule von Salerno im heutigen Italien, der
Jenner (1749–1823).01 Dass Kuhpocken, die beim        Rat: „Damit die Pocken nicht zum Tod der Kin-
Menschen nur lokale, meist von selbst ausheilen-      der führen/bringe den Gesunden Pockenmaterie
de Infektionen verursachen, Immunität gegen die       in die Adern.“02 Damit kann nur die sogenannte
gefährlichen Menschenpocken verleihen könnten,        Inokulation gemeint sein, die in Indien und Chi-
war in der bäuerlichen Bevölkerung im 18. Jahr-       na praktiziert wurde.03 Dazu entnahm man Per-
hundert durchaus bekannt. Auch Edward Jenner          sonen, die die Pocken gerade überstanden hat-
war in seiner Praxis schon früh mit dieser Vorstel-   ten, zumeist mit einem kleinen Messer oder einer
lung konfrontiert worden. 1780 begann er, Fäl-        Lanzette Material aus einer Pustel. Dieses über-
le von Patienten zu sammeln, die an Kuhpocken         trug man an Gesunde mittels Einritzung der Haut
erkrankt waren und anschließend nicht mehr an         an den Gliedmaßen. Auch unter den Steppenvöl-
den „Blattern“, wie man die Menschenpocken            kern des Kaukasus kannte man dieses Verfahren.
damals nannte. Der entscheidende Versuch fand         So berichtet der Philosoph Voltaire (1694–1778)
am 14. Mai 1796 statt: Damals impfte Jenner den       in einem seiner Briefe: „Die Weiber im Tscher-
achtjährigen James Phipps mit einer Kuhpocken-        kessenland haben seit undenklichen Zeiten im
pustel, die sich auf dem Arm der Viehmagd Sarah       Gebrauch, ihren Kindern, wenn sie sechs Monate
Nelmes gebildet hatte. Wie erwartet, entwickelte      sind, die Blattern zu geben, indem sie in die durch
sich bei dem Knaben ein leichtes Fieber, das bald     einen Schnitt gemachte Öffnung des Armes eine
abklang. Nach sechs Wochen wagte es Jenner, ihn       Blatter setzen, welche sie von dem Leib eines an-
künstlich mit Menschenpocken zu infizieren. Das       deren Kindes genommen und sorgfältig aufge-
riskante Experiment glückte – der Junge erkrankte     hoben haben. Diese in den Arm gesetzte Blatter
nicht. Jenner sah sich bestätigt und veröffentlich-   bringt die gleiche Wirkung hervor, welche der
te 1798 seine Entdeckung in einer Schrift über die    Sauerteig im Brote tut, sie gärt und breitet die ihr
Wirkung der Kuhpockenimpfung, die ihn rasch           eingeprägten Eigenschaften im ganzen Blut aus.
berühmt machte und zu Recht in die Annalen der        Die Blattern von diesem Kind, welchem man die
Medizingeschichte eingegangen ist. Die „Vakzi-        künstliche Pocke eingesetzt hat, braucht man, um
nation“ – der Terminus ist von dem lateinischen       diese Krankheit wieder anderen Kindern mitzu-
Wort vacca für „Kuh“ abgeleitet – war erfunden.       teilen. Dieser Kreis wird im Tscherkessenland be-
                                                      ständig aufrechterhalten, und wenn unglückli-
                 VORLÄUFER                            cherweise keine Pocke im Land zu haben ist, zeigt
              DER VAKZINATION                         man sich dort ebenso bestürzt, wie man andern-
                                                      orts über ein schlimmes Jahr klagt.“04
Das Grundprinzip jeder Schutzimpfung, die be-             Bis heute sind die Einführung und das Be-
wusste Einführung krankheitserregenden Materi-        kanntwerden der Inokulation in Europa mit dem
als in ein gesundes Individuum, um dieses vor ei-     Namen der Gattin des englischen Botschafters
ner schweren Krankheit zu schützen, war bereits       in Konstantinopel, Lady Mary Wortley Monta-
seit Jahrhunderten bekannt. Allerdings war dieses     gu (1689–1762), verbunden. Sie war zwar nicht
Wissen in Europa bis zum frühen 18. Jahrhundert       die Erste, die die Erfolge von osmanischen Ärz-
nicht vorhanden oder wieder in Vergessenheit ge-      ten mit dem „Blattern-Beltzen“, wie man die Me-
raten. So findet sich in einer späten Fassung des     thode auf Deutsch nannte, durch ihre Briefe in

                                                                                                        09
APuZ 46–47/2020

England bekanntmachte. Ihr persönliches Bei-                           Wenngleich in einigen zeitgenössischen medi-
spiel – sie ließ 1718 ihren Sohn auf diese Weise                   zinischen Schriften Befürworter der Inokulation
impfen – sowie ihr gesellschaftlicher Stand trugen                 bereits von einer Befreiung der Menschheit von der
aber entscheidend dazu bei, dass die Inokulation                   Pocken-Geißel träumten, so konnte das nicht gera-
fast überall in Europa bei Ärzten und Laien auf                    de risikoarme Verfahren diese hohen Erwartungen
Interesse stieß. Ihr gelang es, auch den englischen                schon aufgrund der weitgehenden Beschränkung
König George I. (1660–1727) nach anfänglicher                      auf die gesellschaftliche Elite nicht erfüllen.
Skepsis davon zu überzeugen, seine Enkel imp-
fen zu lassen.                                                               UMSTRITTENER FORTSCHRITT
     Die Inokulation blieb allerdings meist auf den
Adel und die städtische Oberschicht begrenzt.05                    Längst nicht alle waren von dem Nutzen der neu-
Die Gründe für die zögerliche Durchsetzung der                     en, weniger gefährlichen Vakzination überzeugt.
Praxis waren vielfältig. Wie später auch bei der                   Jenners Veröffentlichung zog eine heftige Kon-
Vakzination hatten einige religiöse Bedenken und                   troverse nach sich, die von England auf andere
sahen darin einen Eingriff in die göttliche Vorse-                 Länder übergriff.06 So bezeichnete etwa der Ber-
hung. Andere wiederum hatten Zweifel an der                        liner Arzt und Philosoph Marcus Herz (1747–
Wirksamkeit des Verfahrens, denn der Verlauf des                   1803) die Kuhpockenimpfung mittels einer klei-
Immunisierungsversuchs war nicht oder allenfalls                   nen Einritzung der Haut unter Verwendung einer
schwer vorherzusagen. Selbst wenn der Impfstoff                    Lanzette als „Brutalimpfung“. Doch blieben die
von jemandem stammte, dessen Krankheit mild                        Kritiker unter den Ärzten eine Minderheit. Man
verlaufen war, so konnte der Impfling gleichwohl                   kann vielmehr zu Beginn des 19. Jahrhunderts
schwer erkranken oder gar sterben. Nach einer                      überall in Europa eine ansteigende Impfeuphorie
zeitgenössischen Schätzung betrug das Risiko,                      unter Medizinern beobachten. So eröffnete bei-
am „Blatter-Beltzen“ zu sterben, immerhin noch                     spielsweise der Arzt Johann Immanuel Bremer
1 : 182. Das war zwar erheblich geringer als das                   (1745–1816) im Jahr 1800 in Berlin eine „Vacci-
Sterberisiko im Falle einer natürlichen Erkran-                    nations-Schule“, an der er interessierten Kollegen
kung an den Menschenpocken, der damals fast je-                    die Impftechnik beibrachte. Mit welchem Enthu-
der Achte erlag, jedoch konnte es passieren, dass                  siasmus und mit welchen Erwartungen die positiv
es durch eine Impfung überhaupt erst zu einem                      eingestellten Ärzte sich damals an Impfkampag-
lokalen Pockenausbruch kam. Nicht zuletzt war                      nen beteiligten, zeigt eine Schrift von 1803. „Die
eine Impfung mancherorts mit beträchtlichen                        Pocken sind ausgerottet“, verkündete der Erfur-
Kosten verbunden. Insbesondere die wegen ihrer                     ter Medizinprofessor August Friedrich Hecker
Expertise hochgepriesenen englischen Impfärzte                     (1763–1811) auf dem Titelblatt seines gleichna-
verlangten zum Teil horrende Honorare.                             migen Buches. Das war eine kühne medizinische
                                                                   Utopie; denn bekanntlich wurden die Pocken erst
01 Vgl. Wolfgang U. Eckart (Hrsg.), Jenner. Untersuchungen         1980, also fast 180 Jahre später, von der Weltge-
über die Ursachen und Wirkungen der Kuhpocken, Berlin 2016.        sundheitsorganisation für „ausgerottet“ erklärt.
02 Zit. nach Karl Sudhoff, Zum Regimen Sanitatis Salernitanum,     1804 ließ der Bückeburger Arzt Bernhard Chris-
in: Archiv für Geschichte der Medizin 8/1915, S. 352–373, hier
                                                                   toph Faust (1755–1842) in großer Auflage ein
S. 355.
03 Vgl. Chandrakant Lahariya, A Brief History of Vaccines and
                                                                   Flugblatt drucken, das in Gasthöfen und anderen
Vaccination in India, in: The Indian Journal of Medical Research   öffentlichen Orten aufgehängt werden sollte.07 Es
139/2014, S. 491–511; Angela Ki Che Leung, „Variolation“ and       trug den Titel: „Zuruf an die Menschen: Die Blat-
Vaccination in Late Imperial China, Ca 1570–1911, in: Stanley A.   tern, durch Einimpfung der Kuhpocken, auszu-
Plotkin (Hrsg.), History of Vaccine Development, New York 2011,
S. 5–12.
04 Sammlung verschiedener Briefe des Herrn von Voltaire            06 Vgl. Eberhard Wolff, Einschneidende Maßnahmen. Pocken-
die Engländer und andere Sachen betreffend, Jena 1747, www.        schutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg
welcker-online.de/Texte/Voltaire/Briefe_Engl/briefe_england.       des frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1998; Michael Bennett,
pdf, S. 35.                                                        War Against Smallpox: Edward Jenner and the Global Spread
05 Vgl. Eberhard Wolff, „Triumph! Getilget ist des Scheusals       of Vaccination, Cambridge 2020.
lange Wuth“. Die Pocken und der hindernisreiche Weg ihrer Ver-     07 Vgl. Robert Jütte, Bernhard Christoph Faust, Von der
drängung durch die Pockenschutzimpfung, in: Hans Wilderotter       Gesundheit, in: Ein solches Jahrhundert vergißt sich nicht
(Hrsg.), Das große Sterben. Seuchen machen Geschichte, Berlin      mehr. Lieblingstexte aus dem 18. Jahrhundert, München 2000,
1995, S. 158–189.                                                  S. 527–532.

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Weltgesundheit APuZ

rotten.“ Selbst Pfarrer beteiligten sich vielerorts   geglaubten Seuche hing zum Teil damit zusam-
an dieser Impfpropaganda. Faust hatte übrigens        men, dass man erst in den späten 1820er Jahren
die originelle Idee, an jedem 14. Mai – dem Tag,      erkannte, dass der Impfschutz nicht ein ganzes
an dem Edward Jenner seine erste Vakzination          Leben lang anhielt und mittels Revakzination
durchgeführt hatte – das sogenannte Krengelfest       aufgefrischt werden musste.
zu feiern, bei dem die Kinder zu Ehren von Jen-
ner einen Umzug veranstalteten. Dabei wurde ein                      MEILENSTEINE DER
Arm aus Porzellan mit nachgebildeten Impfpus-                     IMPFSTOFFENTWICKLUNG
teln durch den Ort getragen. Jedes Kind, das sich
im Anschluss von Faust impfen ließ, bekam eine        Nachdem Edward Jenner der Wirksamkeitsnach-
Brezel, in Ostwestfalen „Krengel“ genannt. Das        weis einer Impfung gegen die Menschenpocken
Fest wird heute noch gefeiert, aber eher folklo-      mit dem Kuhpockenvirus erbracht hatte, mach-
ristisch und ohne die ursprüngliche klare gesund-     ten sich in dem durch den Mediziner Robert
heitspolitische Botschaft.                            Koch (1843–1910) und den Chemiker Louis Pas-
    Dass ein solcher materieller Anreiz über-         teur (1822–1895) eingeleiteten Zeitalter der Bak-
haupt notwendig war, hängt mit dem Wider-             teriologie zahlreiche Forscher auf die Suche nach
stand breiter Bevölkerungsschichten zusammen,         ähnlich schützenden Lebendimpfstoffen.08 Die-
die sich aus den unterschiedlichsten Gründen          se weisen sehr geringe Mengen funktionsfähi-
nicht impfen lassen wollten. Das geschah mit          ger Keime auf, die so abgeschwächt sind, dass sie
Argumenten, die man zum Teil noch heute bei           sich zwar noch vermehren, die Krankheit aber
Impfgegnern antrifft. Nicht wenige Laien, aber        aufgrund genetischer Veränderungen nicht mehr
auch Ärzte, waren überzeugt, dass die Vakzi-          auslösen können. Die Applikation erfolgt entwe-
nation gesundheitsschädlich sei. Selbst den Be-       der durch eine Injektion oder oral als Schluck-
fürwortern war nicht verborgen geblieben, dass        impfung. Ein erster Hoffnungsträger der frühen
mit der Impfung auch andere Krankheiten über-         Impfstoffentwicklung, das von Robert Koch An-
tragen werden konnten, etwa durch unsaube-            fang der 1890er Jahre entdeckte „Wundermittel“
re Lanzetten. In der Tat war die Art und Wei-         Tuberkulin – eine Mischung aus abgeschwäch-
se, wie damals der Impfstoff gewonnen wurde,          ten Tuberkelbazillen mit Glycerin und Wasser –,
höchst problematisch. In der ersten Hälfte des        versagte zwar als Impfstoff gegen Tuberkulose,
19. Jahrhunderts wurde nämlich das sogenann-          leistet aber bis heute in Form eines Hauttests in
te Überimpfen angewandt, bei dem man humane           der Diagnostik gute Dienste. Erst der Mikrobio-
Lymphe verwendete, die man aus der Impfpus-           loge Albert Calmette (1863–1933) und der Ve-
tel eines kurz zuvor geimpften Kindes gewonnen        terinärmediziner Camille Guérin (1872–1961)
hatte. Der Übertragung von Krankheiten wie Sy-        entwickelten nach Experimenten mit einem ab-
philis war auf diese Weise Tür und Tor geöffnet.      geschwächt virulenten Mykobakterium in den
Erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ging     1920er Jahren erfolgreich einen Lebendimpfstoff
man dazu über, tierische Lymphe zu verwenden,         gegen Tuberkulose.
indem man Impfpusteln auf der Kuhhaut durch               Auch mit sogenannten Totimpfstoffen wurde
Infektion künstlich hervorrief. Ferner traten re-     bereits im 19. Jahrhundert experimentiert. Eini-
gelmäßig Unverträglichkeitsreaktionen auf, die        ge der heute noch aktuellen Schutzimpfungen ba-
im Einzelfall sogar zum Tode oder zu schweren         sieren auf diesem Prinzip. Dabei sind vor allem
Impfschäden führten.                                  zwei Typen zu unterscheiden: zum einen Toxoid­
    Das andere Argument der Impfgegner, die           impf­stoffe wie jene gegen Diphtherie, Pertussis
sich schon früh nicht nur in Deutschland zu Ver-      (Keuchhusten) und Tetanus, in denen das jewei-
einen zusammenschlossen, lautete: Die Vakzinati-      lige Toxin durch spezielle Verfahren seine to-
on ist nicht nur gefährlich, sondern auch unwirk-     xischen Eigenschaften verloren hat, die antige-
sam. In den Augen der Skeptiker war dies sogar        ne Wirkung aber erhalten bleibt; zum anderen
statistisch belegbar, denn obwohl ein großer Teil
der Bevölkerung bereits geimpft war, kam es im
                                                      08 Vgl. die Übersicht bei Jana Claudia Jeuck, Die Einführung
19. Jahrhundert an verschiedenen Orten zu Po-         der Masernimpfung in der BRD 1960–1980 im Spiegel medizini-
ckenepidemien, die zahlreiche Opfer forderten.        scher Fachjournale und der Laienpresse, Dissertation, Universität
Das Wiederaufflammen einer schon fast besiegt         zu Köln 2017, S. 26–40.

                                                                                                                    11
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inaktivierte Impfstoffe wie jene gegen Cholera,       von Tollwut mit dem von ihm hergestellten Impf-
Hepatitis-A, Tollwut und Polio, bei denen das         stoff behandelt wurden, stellte sich dessen Wirk-
krankheitsverursachende Virus unter Einwirkung        samkeit heraus.09
verschiedener Substanzen, aber auch durch Hit-            Pasteur entwickelte noch drei weitere Impf-
ze oder Strahlung seine Infektiosität verliert und    stoffe, was ihn zu einem der bedeutendsten Ver-
zur Herstellung von Impfstoffen verwendet wer-        treter der frühen Impfstoffforschung macht: 1879
den kann. 1896 entwickelte Wilhelm Kolle (1868–       gegen Geflügelcholera, 1880 gegen Milzbrand,
1935), ein Mitarbeiter Robert Kochs, einen durch      1883 gegen Schweinerotlauf. Er hatte somit den
Hitze abgetöteten und durch Phenolzugabe kon-         überzeugenden Nachweis geführt, dass – zumin-
servierbar gemachten Cholera-Impfstoff. Der           dest im Prinzip – eine Impfung fortan vor beliebi-
Bakteriologe Waldemar Haffkine (1860–1930)            gen Infektionskrankheiten schützen konnte.
forschte ab 1895 an einem Totimpfstoff gegen die          An einem weiteren Totimpfstoff forschte im
Pest. Verschiedene klinische Studien wurden mit       20. Jahrhundert Jonas Edward Salk (1914–1995).
schwankenden Ergebnissen in Indien und China          Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der späte-
durchgeführt. In einem Fall führte die Verunrei-      re Nobelpreisträger John Franklin Enders (1897–
nigung des Impfstoffs mit Tetanussporen dazu,         1985) durch Viruszüchtung in Zellkulturen die
dass alle mit dieser Charge Geimpften starben         Forschung entscheidend vorangebracht. Auf die-
und die Nutzung von Haffkines Vakzin ein ab-          ser Grundlage gelang es Salk, einen Impfstoff ge-
ruptes Ende fand.                                     gen Kinderlähmung zu entwickeln, für den die
    Ein Meilenstein der Impfgeschichte war 1885       Viren durch Formalin inaktiviert wurden. Dieser
ein waghalsiger Heilversuch an dem neunjährigen       geriet allerdings in die Schlagzeilen, nachdem 1955
Bäckerssohn Joseph Meister, der von einem toll-       bei mehreren Kindern, die mit einer Charge aus der
wütigen Hund gebissen worden war. Man brach-          Produktion des kalifornischen Impfstoffherstellers
te ihn zu Louis Pasteur nach Paris, der damals        Cutter-Laboratories geimpft worden waren, Läh-
bereits zahlreiche Tierversuche mit dem Toll-         mungserscheinungen auftraten und es zu Todesfäl-
wuterreger unternommen hatte. Er benutzte da-         len kam. Versehentlich war ein Impfstoff verwen-
bei eine abgeschwächte infektiöse Suspension, die     det worden, der noch infektiöses Material enthielt.
er aus dem getrockneten Rückenmark eines toll-        Der Virologe Albert Sabin (1906–1993) entwickelte
wutinfizierten Kaninchens gewonnen hatte. Die         daraufhin einen oralen Impfstoff auf der Basis von
damit geimpften Hunde erwiesen sich fortan als        lebenden, aber in ihrer Virulenz abgeschwächten
immun gegen die Krankheit. Um nach dem Hun-           Polio-Viren, der in der Bundesrpublik mit der ein-
debiss einer Tollwut-Infektion vorzubeugen, be-       gängigen Werbebotschaft „Schluckimpfung ist süß
kam auch Joseph Meister zunächst eine Injektion       – Kinderlähmung ist grausam“ beworben wurde.
einer 14 Tage lang getrockneten Hirnmasse eines           Mit der Entdeckung des HI-Virus Anfang der
infizierten Kaninchens und schließlich über einen     1980er Jahre begann ein weiteres Kapitel der Ge-
Zeitraum von zehn Tagen zwölf Injektionen mit         schichte der Impfstoffentwicklung. Als man den
immer frischerem, also auch zunehmend virulen-        Virologen Robert Gallo im Anschluss an die Pres-
tem Material. Bei der letzten Injektion handelte es   sekonferenz 1984, auf der die Entdeckung des
sich um voll virulente Tollwut-Viren, mit der Pas-    Aids-Erregers bekanntgegeben wurde, fragte,
teur also überprüfte, ob der Patient nach der Be-     wann ein Impfstoff gegen die gefürchtete Krank-
handlung immun war. Nachdem Joseph Meister            heit bereitstehen würde, antwortete er: „In zwei
über mehrere Monate keine Symptome einer In-          Jahren“. Inzwischen sind mehr als 35 Jahre ver-
fektion mit Tollwut zeigte, wurde er aus der ärzt-    gangen. Noch immer ist der große Durchbruch
lichen Obhut entlassen. Die Nachricht über den        nicht in Sicht, obwohl bereits Milliardenbeträge in
augenscheinlichen Erfolg der postexpositionellen      die Entwicklung einer Schutzimpfung gegen Aids
Impfung begründete Pasteurs Ruf in Frankreich.        investiert wurden. Der Wissenschaftsjournalist
Wie die medizingeschichtliche Forschung durch         Jon Cohen vertritt die Auffassung, dass es bei der
die Auswertung der Labortagebücher nachgewie-         Suche nach einem Impfstoff lange Zeit vor allem
sen hat, kann die mutmaßliche „Heilung“ von Jo-       an koordinierten Forschungsanstrengungen und
seph Meister zwar keinesfalls als ein Beleg für die
Wirksamkeit des damals von Pasteur verwende-          09 Vgl. Hervé Bazin, L’Histoire des vaccinations, Paris 2008,
ten Impfstoffs gelten. Aber als immer mehr Fälle      S. 264 f.

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erst in zweiter Linie an Geld gemangelt habe.10              gesellen betrug damals etwas mehr als einen Gul-
Daneben gibt es noch andere Faktoren, die seiner             den. 1815 folgte das Großherzogtum Baden dem
Meinung nach ebenfalls für Verzögerungen und                 bayerischen Vorbild, 1818 das Königreich Würt-
Rückschläge verantwortlich sind, etwa die halb-              temberg, 1821 das Königreich Hannover. Sachsen
herzige Unterstützung durch Politiker, die den               und der Stadtstaat Hamburg dagegen erließen bis
Kampf gegen Aids lange nicht als gesundheits-                Anfang der 1870er Jahre kein Impfgesetz. Auch
politische Priorität einstuften, oder die Interessen         Preußen hatte keines, übte aber auf andere Weise
der internationalen Pharmakonzerne, die an Me-               Druck auf die Bevölkerung aus, sich gegen die Po-
dikamenten verdienen wollen. Doch gibt es in-                cken impfen zu lassen. So wurden nur jene Kin-
zwischen Anzeichen dafür, dass man aus der Ver-              der zur Schule oder zur Ausbildung zugelassen,
gangenheit und den Fehlschlägen gelernt hat. Seit            die einen Impfschein vorweisen konnten. Als in-
1996 existiert die International Aids Vaccine Ini-           folge des Deutsch-französischen Krieges 1870/71
tiative, eine gemeinnützige Einrichtung, die sich            wieder eine große Pockenepidemie mit Hundert-
darum bemüht, die fast kaum noch überschauba-                tausenden Todesopfern die Bevölkerung heim-
ren internationalen Forschungsanstrengungen zu               suchte, griff das neu geschaffene Deutsche Reich
koordinieren und auch finanziell zu unterstützen.            zu Zwang: Am 5. Februar 1874 wurde das Reichs­
Nachdem man anfangs den Weg beschritten hat-                 impf­ge­setz trotz Widerstand aus Kreisen der or-
te, dem Virus den Infektionsweg mit Antikörpern              ganisierten Impfgegner im Reichstag angenom-
gegen sein Hüllprotein zu blockieren, versuchen              men. Es sah nicht nur die Pflichtimpfung gegen
die meisten Aids-Forscher nun Impfstoffe zu ent-             Pocken im Säuglingsalter vor, sondern auch eine
wickeln, die nicht nur die auf Antikörpern be-               Wiederimpfung im Alter von zwölf Jahren.
ruhende Antwort des menschlichen Immunsys-                       Auch nach der Verabschiedung des Reichs­
tems stimulieren, sondern sich auch die zelluläre            impf­ge­setzes wurde die Frage, inwieweit ein „Vor-
Abwehr zunutze machen. Inzwischen ist es auch                sorgestaat“ das Recht hat, seine Bürger per Gesetz
möglich, Hybridviren herzustellen, mit denen                 zur Impfung zu zwingen, immer wieder heftig dis-
sich die Schutzwirkung bei Menschenaffen bes-                kutiert, und bis in die Zeit der Weimarer Republik
ser als bislang möglich testen lässt, bevor an klini-        hinein beschäftigte der Streit um die Impfpflicht
sche Versuche bei Menschen zu denken ist. Denn               den Reichstag. Die Fronten gingen quer durch die
Impfversuche an Freiwilligen stellen weiterhin ein           Parteien. Jenseits der öffentlichkeitswirksamen,
großes Problem dar.                                          durch konträre Meinungen aufgeheizten Debatten
                                                             war dagegen die Impfpraxis bis 1933 durch einen
        ZWANG ODER FREIWILLIGKEIT?                           „pragmatischen Paternalismus“ gekennzeichnet.11
                                                             Das heißt, der Staat bestand weiterhin auf dem
Eng mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und               Impfzwang, setzte ihn aber nicht mit aller Ge-
den Debatten um das Für und Wider der Vakzina-               walt durch. Das lag nicht zuletzt an Berichten über
tion verwoben, ist die Geschichte der Impfpolitik.           Impfschäden, die immer wieder an die Öffentlich-
In einigen deutschen Territorien war bereits weni-           keit gelangten. Diese erreichten aber meist nicht
ge Jahre nach der Erfindung der Vakzination ein              die Dimension des sogenannten Lübecker Impf-
mehr oder weniger rigider Impfzwang eingeführt               unglücks von 1930, als 77 Kinder infolge der Injek-
worden. Den Anfang machte 1807 Bayern, nach-                 tion eines kontaminierten Tuberkulose-­Impfstoffs
dem ein Appell des Königs, sich gegen Pocken                 starben und weitere 131 Impflinge erkrankten.12
impfen zu lassen, wenig Resonanz in der Bevöl-               Aufgrund dieser Katastrophe verzögerte sich die
kerung gefunden hatte. Das entsprechende Ge-                 Einführung der Impfung gegen Tuberkulose mit
setz schrieb vor, dass alle über Dreijährigen, die           dem Bacillus Calmette-Guérin in Deutschland bis
noch nie die Pocken gehabt hatten, bis zum 1. Juli           nach dem Zweiten Weltkrieg. Spätestens seit die-
1808 geimpft sein sollten. Für jedes nicht rechtzei-
tig geimpfte Kind sollten die Eltern je nach Ver-            11 Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in
mögen eine Geldbuße in Höhe von einem bis acht               Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2017,
                                                             S. 132.
Gulden zahlen – der Tagelohn eines Handwerker-
                                                             12 Vgl. Eckart Roloff/Karin Henke-Wendt, Das Lübecker Impf-
                                                             unglück von 1930 und ein schneller Prozess, in: dies., Geschädigt
10 Vgl. Jon Cohen, Shots in the Dark. The Wayward Research   statt geheilt. Große deutsche Medizin- und Pharmaskandale,
for an AIDS Vaccine, New York 2001.                          Stuttgart 2018, S. 19–33.

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sem tragischen Ereignis ging es also im politischen                 Deutsche Grüne Kreuz, die mit finanzieller Förde-
Diskurs nicht mehr nur um die Vakzination, son-                     rung durch die Gesundheitsbehörden Impfkampa-
dern auch um Impfungen gegen eine Vielzahl von                      gnen organisierten. 1972 wurde die Ständige Impf-
Krankheiten.                                                        kommission (STIKO) eingerichtet, nach deren
    Selbst das nationalsozialistische Regime, das                   Empfehlungen sich die Gesundheitsbehörden in
die Volksgesundheit über die individuelle Ge-                       Impffragen richten. Ihre Empfehlungen gelten in-
sundheit stellte, unterdrückte nicht die Impfkri-                   zwischen als medizinischer Standard. Die seit 1874
tik. Das hing nicht nur damit zusammen, dass                        bestehende Impfpflicht gegen Pocken wurde gut
einige seiner führenden Vertreter, zum Beispiel                     hundert Jahre nach ihrer Einführung schrittweise
Rudolf Hess, mit alternativen Heilmethoden lieb-                    aufgehoben: Ab 1976 entfiel die Erstimpfung. 1983
äugelten. Das „Dritte Reich“ verfolgte außer mit                    wurde die Pockenimpfpflicht schließlich komplett
Blick auf die Wehrmacht in der Impfpolitik ei-                      aufgehoben. Gleichzeitig wurden auch alle gesetz-
nen pragmatischen Ansatz. Der wichtigste Grund                      lichen Zwangsimpfungen beseitigt.
waren erfolgreiche Werbekampagnen der Phar-                             Im vereinten Deutschland ist seit Längerem
maindustrie für eine freiwillige Impfung mittels                    eine „liberale Wende des Präventionsdiskurses“
Broschüren, Radiobeiträgen und Aufklärungsfil-                      zu beobachten,13 in dem verstärkt an den Einzel-
men. So erreichte man Ende der 1930er Jahre etwa                    nen als „präventives Selbst“ appelliert wird, die
eine Impfquote von 90, oft über 95 Prozent bei                      eigene Lebensführung gemäß gesundheitlichen
der Diphtherieschutzimpfung, während diese bei                      Kriterien auszurichten. Seit Inkrafttreten des In-
der Pflichtimpfung gegen Pocken im Schnitt zwi-                     fektionsschutzgesetzes 2001 kann eine Impfpflicht
schen 60 und 80 Prozent lag. In Deutschland setz-                   jedoch jederzeit wieder eingeführt werden. Nach
te also schon vor der Mitte des 20. Jahrhunderts                    Paragraf 20 Absatz 6 und Absatz 7 des Infektions-
eine Entwicklung ein, die man als den Übergang                      schutzgesetzes bedarf es lediglich einer einfachen
von der staatlichen Impfpflicht zur Privatisierung                  Rechtsverordnung, um Impfungen verbindlich zu
der Gesundheitsvorsorge bezeichnen kann.                            machen. So beschloss der Bundestag im Novem-
    Nach 1945 bestimmten in der Bundesrepu-                         ber 2019 eine bundesweite Impfpflicht gegen Ma-
blik und in der DDR unterschiedliche Prophyla-                      sern an allen deutschen Schulen, bei Tagesmüttern
xe-Konzepte das gesundheitspolitische Handeln.                      und für Kindertagesstätten, aber auch in anderen
Dabei rückte vor allem die Schluckimpfung gegen                     Gemeinschaftseinrichtungen wie Flüchtlingsun-
Poliomyelitis in den Blickpunkt, nachdem die Po-                    terkünften sowie für medizinisches Personal.
cken seit Ende der 1970er Jahre deutschland- und
weltweit keine Gefahr mehr darstellten, denn die                                         SCHLUSS
erfolgreiche Bekämpfung einer weiteren Kinder-
krankheit versprach einen Prestigegewinn im Sys-                    Mit Blick auf den fast zweihundertjährigen Kampf
temwettbewerb. Die DDR war stolz darauf, inter-                     gegen Menschenpocken kann kein Zweifel daran
national als Vorsorgestaat par excellence zu gelten,                bestehen, dass es einen kausalen Zusammenhang
doch war sie damit keine Biodiktatur. Aus den für                   zwischen dem endgültigen Verschwinden dieser
die Planwirtschaft typischen Defiziten erwuchs in                   Seuche Anfang der 1980er Jahre und einer konse-
der Impffrage ein Pragmatismus, wenngleich sich                     quenten Massenimpfung gibt. Bei anderen Infekti-
die DDR-Regierung auf internationaler Ebene im-                     onskrankheiten ist die historische Evidenz nicht so
mer wieder mit Erfolgen ihres staatlich gelenkten                   eindeutig. Derzeit wartet die Welt auf einen wirk-
Präventionsprogramms brüstete. In der Bundesre-                     samen Impfstoff gegen Covid-19. Nach einer aktu-
publik waren es vor allem zivilgesellschaftliche Ver-               ellen Meinungsumfrage würde sich mit 67 Prozent
eine, wie beispielsweise die Deutsche Vereinigung                   eine Mehrheit der Deutschen für eine Impfung ge-
zur Bekämpfung der Kinderlähmung oder das                           gen das neuartige Corona-Virus entscheiden.14 In
                                                                    der Gruppe der G7-Staaten liegt die Bundesrepu-
                                                                    blik damit allerdings nur auf dem vorletzten Platz.
13 Martin Lengwiler/Jeannette Madarász (Hrsg.), Das präven-
tive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik,
                                                                    ROBERT JÜTTE
Bielefeld 2010, S. 22.
14 Vgl. Felix Eick, Jeder dritte Deutsche momentan gegen eine
                                                                    leitete bis 2020 das Institut für Geschichte der
Covid-19-Impfung, 2. 9. 2020, www.welt.de/wirtschaft/article​214​   Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart.
826898.                                                             robert.juette@igm-bosch.de

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                     VARIATIONEN
               DER PANDEMIEBEKÄMPFUNG
           Staatliche Handlungsstrategien gegen Covid-19
                                        Thomas Gerlinger

In den vergangenen Jahrzehnten war zumindest          in ländlichen. Auch Lebensformen, also die Rolle
im wohlhabenden Teil der Welt kein Land von           der Familie, die Integration von Alten in die Ge-
einer sich derart rasch ausbreitenden Infektions-     sellschaft oder der Anteil von Single-Haushalten,
krankheit mit einem so großen Bedrohungspo-           und vor allem das Ausmaß von Armut in einer
tenzial wie Covid-19 betroffen. Die Bekämpfung        Gesellschaft, beispielsweise beengte Wohnver-
der Pandemie erfolgte – wie zumeist bei Infek-        hältnisse oder die Angewiesenheit auf öffentliche
tionskrankheiten – unter hohem Zeitdruck und          Verkehrsmittel, können Einfluss auf die Verbrei-
unter den Bedingungen großer Unsicherheit.01          tung eines Virus und die Wirksamkeit von Prä-
Der hohe Zeitdruck resultierte aus der leichten       ventionsmaßnahmen haben. Die personelle und
Übertragbarkeit des Virus und dem potenziell          technische Ausstattung der für die öffentliche
gefährlichen Krankheitsverlauf, die große Unsi-       Gesundheit zuständigen Einrichtungen beein-
cherheit aus dem unzureichenden Wissen über           flusst die Chancen, die Bevölkerung bei der Ein-
das Virus. Letztere betraf vor allem die Übertra-     dämmung des Virus zu unterstützen, die Einhal-
gungswege, etwa die Rolle von Tröpfchen- und          tung von Bestimmungen zu kontrollieren oder
Schmierinfektion sowie von Aerosolen, und die         die Nachverfolgung potenziell Infizierter zu ge-
Infektiosität des Virus, etwa den Zusammenhang        währleisten. Schließlich hängen die Sterbequote
von leichtem Krankheitsverlauf bei Kindern und        und die Häufigkeit schwerer Krankheitsverläu-
Übertragbarkeit durch Kinder sowie die Dau-           fe auch davon ab, wie gut das medizinische Ver-
er der Infektiosität von Infizierten. Damit war       sorgungssystem auf die Behandlung einer großen
es auch nur schwer möglich, eine wissensbasierte      Zahl Schwerstkranker vorbereitet ist.
Antwort auf die Frage nach geeigneten Präven-             Die Gesundheitssysteme sahen sich also mit
tionsmöglichkeiten zu geben, zum Beispiel nach        der Herausforderung konfrontiert, auf unter-
dem sicheren Abstand zu Infizierten, dem Sinn         schiedlichsten Feldern geeignete, auf die spezifi-
eines Mund-Nasen-Schutzes und einer Schlie-           schen Probleme zugeschnittene Maßnahmen zur
ßung von Erziehungs- und Bildungseinrichtun-          Eindämmung der Pandemie zu treffen.
gen sowie der Dauer einer Quarantäne von Infi-
zierten. Antworten auf diese Fragen waren – und                      MA ẞ NAHMEN
sind in vielen Fällen heute noch – umstritten oder                GEGEN DIE PANDEMIE
haben sich im Zeitverlauf geändert.
    Die Ausgangssituationen zur Eindämmung            Wohl für alle Länder gilt, dass die Dynamik der
der Pandemie und zur Begrenzung ihrer gesund-         weltweiten Virusübertragung anfangs unter-
heitlichen Folgen waren und sind von Land zu          schätzt wurde. Die Regierungen in Europa stuf-
Land unterschiedlich. Dies betraf sowohl die          ten die von dem neuen Virus ausgehende Gefahr
Übertragungsgeschwindigkeit und die Verbrei-          im Frühjahr 2020 überwiegend als gering ein.
tungswege des Virus als auch die Präventions-         Erst dramatische Bilder aus Norditalien, wenig
möglichkeiten. In Ländern und Regionen mit ei-        später aus Spanien und auch aus Frankreich, so-
ner hohen Bevölkerungsdichte beziehungsweise          wie steigende Infektionszahlen veranlassten die
einem hohen Bevölkerungsanteil in Ballungsge-         politischen Entscheidungsträgerinnen und Ent-
bieten und einer hohen räumlichen Mobilität ver-      scheidungsträger in anderen Ländern, rasch dras-
breitet sich ein Virus im Allgemeinen schneller als   tische Maßnahmen zu ergreifen. Viele Regierun-

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