Gut beraten, vielfältig fördern, Armut verhindern - Bericht zur Erwerbslosigkeit im Land Bremen
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? Gut beraten, vielfältig fördern, Armut verhindern Bericht zur Erwerbslosigkeit im Land Bremen www.arbeitnehmerkammer.de
— 4 HERAUSGEBER Arbeitnehmerkammer Bremen Die Fotos in diesem Bericht sind in vier verschiedenen Bürgerstraße 1 Beschäftigungsmaßnahmen entstanden: 28195 Bremen Telefon 0421.3 63 01 - 0 im MöbellagerNord, dem Wiederverwert-Laden des alz. Telefax 0421.3 63 01 - 89 Auf einer großen Verkaufsfläche werden hier Möbel, Klei- info@arbeitnehmerkammer.de dung, Haushaltsgegenstände oder Spielsachen angeboten. www.arbeitnehmerkammer.de (S. 8, 12, 35, 48, 53, 68, 78) Das alz ist seit 1984 als Dienstleister für Beschäftigung und Autorin Qualifizierung mit regionalem Schwerpunkt in Bremen-Nord Regine Geraedts tätig. Es eröffnet arbeitslosen Frauen und Männern Zugänge Arbeitnehmerkammer Bremen zum Erwerbsleben. im Blocklandgarten des bras e. V. auf dem ehemaligen Redaktion Gelände der Blocklanddeponie: Hier wird Gemüse nach Regine Geraedts ökologischen Kriterien angebaut und an soziale Einrichtun- Nathalie Sander gen abgegeben. (Titel, S. 41, 72) Arbeitnehmerkammer Bremen in einer Metallbau-Werkstatt des bras e.V.: Arbeitslose Frauen und Männer erhalten hier die Möglichkeit, verschie- Lektorat dene Fertigkeiten und Kenntnisse in der Metall- und Holz- Textgärtnerei, Bremen verarbeitung kennenzulernen. (S. 22, 26) Sarina Schöbel, Der bras e. V. bietet Arbeitsuchenden Angebote für Beschäfti- Arbeitnehmerkammer Bremen gung als Unterstützung für einen (Wieder-) Eintritt ins Berufs- leben. Gestaltung im BikePoint: Langzeitarbeitslose betreiben im Rahmen GfG / Gruppe für Gestaltung, Bremen eines InJobs (Integrationsjob) Fahrrad-Servicestationen. (S. 15, 46, 58) Fotografie Die gemeinnützige Waller Beschäftigungs- und Qualifizie- Kay Michalak / fotoetage rungsgesellschaft mbH WaBeQ führt Maßnahmen für Arbeit suchende Menschen durch. Ziel ist es, sie auf eine Tätigkeit Druck auf dem ersten Arbeits- und Ausbildungsmarkt vorzubereiten. Druckerei Brüggemann GmbH, Bremen Stand: Juni 2021
— 5 Inhalt 6 Vorwort 8 Messkonzepte, Datengrundlage und Definitionen 12 01 Die großen Linien: Vom Bremer Wirtschaftswunder bis zur Corona-Krise 18 01.1 Die Corona-Krise am Arbeitsmarkt 26 02 Die Strukturen der Arbeitslosigkeit im Land Bremen 34 02.1 Strukturelle Merkmale der Arbeitslosigkeit 46 03 Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsförderung 55 03.1 Förderung beruflicher Weiterbildung (FbW) 61 03.2 Öffentlich geförderte Beschäftigung 66 03.3 Unterstützung bei der Berufsausbildung 72 04 Hilfebedürftigkeit, Armut und Arbeitslosigkeit 79 Literatur
— 6 Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, Arbeitslosigkeit bleibt eine große Herausforderung im Land Bremen. In der Arbeitslosigkeit spiegeln sich wirtschaftliche Entwicklungen wider: Konjunkturelle Dellen, kleine und große Krisen, technologische Neu- erungen, der Wandel der Wirtschaftsstruktur, sich verändernde Nachfrage nach Qualifikationen und über allem ein Defizit an sozialversicherter Arbeit. Von den Folgen sind am Ende einzelne Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer betroffen: Individuell führt Arbeitslosigkeit zu Einkommensverlusten, oft zur Ent- wertung der im Laufe des Arbeitslebens erreichten Qualifikationen oder Berufserfahrung, und je länger sie dauert, umso schwieriger wird der Wiedereinstieg. Bremen und Bremerhaven können ein Lied davon sin- gen, wie sich die Arbeitslosigkeit und ihre Folgen in das Sozialgefüge beider Städte eingeschrieben haben. Umso wichtiger ist das, was Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsförderung dagegen zu tun vermögen. Die vor- liegende Studie macht Vorschläge für eine nachhaltige Arbeitsmarktstrategie, die mehr in die berufliche Aus- und Weiterbildung investiert und zugleich die Menschen mitnimmt, die an einem Arbeitsmarkt ohne ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten kaum mehr eine Chance bekommen. Als die Arbeit an der Studie begann, waren Bremen und Bremerhaven auf einem guten Weg. Es gab deutli- che Zuwächse bei der Beschäftigung, die Zahl der Arbeitslosen ging langsam zurück und auch die Langzeit- arbeitslosigkeit sank kontinuierlich. Dann hat uns die Corona-Pandemie erreicht. Ihre Auswirkungen sind seit dem Frühjahr 2020 in allen Lebensbereichen spürbar, auch auf dem Arbeitsmarkt. Noch nie waren so viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Kurzarbeit betroffen, der Ausbildungsmarkt erlebt heftige Einbrüche, die Arbeitslosigkeit steigt wieder und die Langzeitarbeitslosigkeit hat ein neues Höchstniveau erreicht. Die Studie musste kurzfristig noch einmal neu konzipiert werden. Schließlich sollten die nicht vorhersehbaren, aber einschneidenden neuen Entwicklungen auch Berücksichtigung finden.
— Vorwort — 7 Wie nachhaltig sich die Corona-Krise auswirken wird, wissen wir heute noch nicht. Ob nach einer unruhi- gen Phase wieder Normalität einkehrt und sich der bis 2019 eingeschlagene Pfad fortsetzt, oder ob sich die Ungleichgewichte am Arbeits- und Ausbildungsmarkt vergrößern und die soziale Spaltung vertiefen wer- den, ist noch ungewiss. Die Arbeitnehmerkammer wird die Entwicklungen weiter verfolgen und eine Folge- studie vorlegen. Am Ende unterstreicht die Corona-Krise aber nur, was die Aufgaben der Zukunft sind. Wir brauchen poli- tische Antworten auf einen beschleunigten wirtschaftlichen Strukturwandel und eine sich immer schneller verändernde Arbeitswelt: Eine faire Arbeitsmarktordnung, eine gute soziale Absicherung und eine Arbeits- marktpolitik, die Beschäftigung sichert, Ein- und Umstiege ermöglicht, Abstiege verhindert und sozialen Geleitschutz bietet. Dazu will die Studie anregen und einen kleinen Beitrag leisten. Peter Kruse Ingo Schierenbeck Präsident der Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen Arbeitnehmerkammer Bremen
— 9 Messkonzepte, Datengrundlage und Definitionen Erwerbs- und Arbeitslosigkeit – Die Arbeitslosenstatistik in Deutschland wird zwei unterschiedliche Messkonzepte nach den Vorgaben des Dritten Sozialgesetzbuchs (SGB III) geführt. Nach § 16 SGB III gelten Men- Auf den ersten Blick scheint der Unterschied zwi- schen als arbeitslos, die älter als 15 Jahre sind, aber schen Erwerbs- und Arbeitslosen ein sprachlicher zu das aktuelle gesetzliche Renteneintrittsalter noch sein, denn im alltäglichen Gebrauch werden beide nicht erreicht haben, die vorübergehend nicht in Begriffe synonym benutzt für Menschen, die ohne Beschäftigung sind, eine versicherungspflichtige Arbeit sind und eine Stelle suchen und doch nicht Arbeit von mindestens 15 Wochenstunden suchen, finden. Hinter den beiden Begriffen liegen aber sich bei der Agentur für Arbeit oder einem Job- zwei unterschiedliche Definitionen und Messkon- center arbeitslos gemeldet haben und deren Ver- zepte. mittlungsbemühungen zur Verfügung stehen. Mit einer Beschäftigung von mindestens 15 Stunden pro Die Erwerbslosenstatistik nutzt das internatio- Woche wird eine Person nicht mehr als arbeitslos, nal geltende Erwerbsstatuskonzept der Interna- sondern als nichtarbeitslos gezählt. tional Labour Organization (ILO), um die betrof- fene Personengruppe zu definieren. Erwerbslose Die Zahl der Erwerbslosen ist demnach der zentrale sind danach Menschen im Alter von 15 bis 74 Jah- Indikator für das Arbeitskräfteangebot am Arbeits- ren, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, in markt. Die Zahl der Arbeitslosen nimmt dagegen einem Zeitraum von vier Wochen aktiv nach Arbeit stärker eine sozialpolitische Perspektive ein und gesucht haben und sie innerhalb von zwei Wochen zeigt das Defizit an sozialversicherten Arbeitsstel- tatsächlich aufnehmen könnten. Dabei ist es uner- len auf. heblich, ob die Erwerbslosen bei einer staatlichen Institution gemeldet sind und/oder von dort Sozial- leistungen beziehen. Mit einer Erwerbstätigkeit von Gewählte Datengrundlage und mindestens einer Stunde pro Woche wird eine Per- Definitionen son nicht mehr als erwerbslos, sondern als erwerbs- tätig gezählt. In der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland steht die nach den Definitionen des SGB III von der Bundesagentur für Arbeit erstellte Arbeitslosen- statistik im Mittelpunkt. Sie wird auch in diesem Bericht zugrunde gelegt. Denn sie hat den Vorteil, dass sie wichtige Informationen nicht nur über das Ausmaß der Arbeitslosigkeit zur Verfügung stellt, sondern auch über ihre Strukturen und zudem Aus- wertungen auf Bundesländer- und Kommunalebene ermöglicht.
— 10 — Erwerbslosigkeit im Land Bremen – Bericht der Arbeitnehmerkammer Bremen Bei den Arbeitslosen lässt sich zwischen Kurz- und Auch die Kurzarbeit gehört zur Unterbeschäfti- Langzeitarbeitslosen unterscheiden. Als langzeit- gung. Um das volkswirtschaftliche Beschäftigungs- arbeitslos gelten nach § 18 Abs. 1 SGB III Men- defizit aus Kurzarbeit beziffern zu können, wird das schen, die ein Jahr und länger arbeitslos gemeldet von den Betrieben nicht benötigte Stundenvolumen sind. Bei der Dauer der Arbeitslosigkeit wird zwi- in Beschäftigungsäquivalente, also Vollzeitstellen, schen „schädlichen“ und „unschädlichen“ Unter- umgerechnet. brechungen unterschieden, die die Abgrenzung schwierig machen. Denn bei schädlichen Unterbre- chungen wird die Arbeitslosigkeit statistisch für Aufspaltung der Arbeitslosigkeit in beendet erklärt, obwohl sie faktisch weiter besteht. zwei Rechtskreise Das trifft beispielsweise dann zu, wenn jemand län- ger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank gemeldet Bis 2004 wurden Arbeitslose nach einheitlichem ist oder auch bei der Teilnahme an einer arbeits- Recht von den Arbeitsämtern (später in Agenturen marktpolitischen Maßnahme (mit Ausnahme von für Arbeit umbenannt) unterstützt. Danach wurde Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Ein- das soziale Sicherungssystem für Arbeitslose in gliederung). Nach Ende der Unterbrechung wird zwei Rechtskreise aufgespalten: das klassische Sys- die Person statistisch als Zugang in Arbeitslosigkeit tem der Arbeitslosenversicherung nach dem Drit- definiert und die Zählung der Dauer der Arbeits ten Sozialgesetzbuch (SGB III) und das Fürsorgesys- losigkeit beginnt wieder von vorn. tem nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II), die sogenannte Grundsicherung für Arbeitsuchende, Die Definition von Arbeitslosigkeit und ihrer sta- zumeist bekannter als Hartz IV. Sie ersetzte das frü- tistischen Beendigung durch Unterbrechungen here Bundessozialhilfegesetz. führt dazu, dass es zwar bei der Arbeitsverwaltung gemeldete, aber dennoch statistisch nicht sichtbare Der weit überwiegende Teil der Arbeitslosigkeit ist Arbeitslosigkeit gibt. Dadurch sind auch die Unter- seither im Rechtskreis SGB II verortet. Die Arbeits- auslastung des Arbeitskräfteangebots und das Defi- losenversicherung spielt dagegen nur noch eine zit an Arbeitsstellen unterzeichnet. In Deutschland untergeordnete Rolle. wird deshalb die Arbeitslosenstatistik durch die Sta- tistik zur Unterbeschäftigung ergänzt. Das Konzept Unterbeschäftigung versucht, sich an die Gesamt- Die Grundsicherung für Arbeit heit des Beschäftigungspotenzials anzunähern, das suchende am Arbeitsmarkt nicht nachgefragt wird. In diese Berechnung werden zusätzlich zu den registrier- Auch im Land Bremen bezieht der größte Teil der ten Arbeitslosen auch verdeckt Arbeitslose einbe- registrierten Arbeitslosen Leistungen der Grund- zogen: Teilnehmende an arbeitsmarktpolitischen sicherung von den zuständigen Jobcentern, das Maßnahmen, Menschen, die vorübergehend krank sogenannte Arbeitslosengeld II. Über sie berichtet sind und deshalb nicht unmittelbar in eine Beschäf- zusätzlich zur Arbeitslosenstatistik die Grundsiche- tigung vermittelt werden können, oder auch Ältere rungsstatistik. ab 58 Jahren, bei denen die Arbeitsverwaltung ihre Vermittlungsbemühungen eingestellt und ihnen des- Der Fokus der Grundsicherungsstatistik liegt auf halb einen Sonderstatus zugewiesen hat.1 den sogenannten Bedarfsgemeinschaften, also Haus- halten, in denen die Menschen ihren Lebensunter- halt nicht gemeinsam aus eigenen Kräften sichern können und die deshalb Leistungen nach dem SGB II erhalten. Dabei unterscheidet die Statis- tik nach erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und nichterwerbsfähigen Leistungsberechtigten (zumeist Kinder). Als Erwerbsfähige gelten Menschen 1 Der § 53a SGB II regelt einen Ausnahmetatbestand im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und dem für ältere Arbeitslose nach Vollendung des 58. Lebens- jahres im Geltungsbereich des SGB II. Danach endet die Zählung als Arbeitslose beziehungsweise Arbeitsloser, wenn innerhalb eines Jahres kein Vermittlungsvorschlag gemacht werden konnte, und zwar auch dann, wenn alle anderen Kriterien der Arbeitslosigkeit erfüllt sind und unabhängig von den Suchbemühungen und Wün- schen des oder der Betroffenen.
Messkonzepte, Datengrundlage und Definitionen — 11 gesetzlichen Renteneintrittsalter, die imstande sind, Anderen Nichtarbeitslosen ist die Aufnahme einer mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu Arbeit nicht zumutbar, weil sie Betreuungsverant- sein, und denen dies aufenthaltsrechtlich erlaubt ist. wortung für Kinder oder Angehörige tragen oder weil sie noch die Schule besuchen. Die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten untertei- len sich statistisch wiederum in zwei Untergruppen: Analog zur Langzeitarbeitslosigkeit in der Arbeitslo- Die Arbeitslosen nach der oben beschriebenen Defi- senstatistik gibt es in der Grundsicherungsstatistik nition des SGB III und die Nichtarbeitslosen. Nicht- das Merkmal des Langzeitleistungsbezugs. Langzeit- arbeitslose suchen aufgrund einer Sonderregelung leistungsbeziehende sind gemäß den Kennzahlen aktuell keine Beschäftigung oder sie stehen dem nach § 48a SGB II erwerbsfähige Leistungsberech- Arbeitsmarkt und der Stellenvermittlung auf abseh- tigte, die in den vergangenen 24 Monaten mindes- bare Zeit nicht zur Verfügung. Arbeitslose wechseln tens 21 Monate Leistungen nach dem SGB II bezo- ihren Status zu nichtarbeitslos durch Maßnahme- gen haben. Dies können gleichermaßen Arbeitslose teilnahmen, längere Erkrankung oder ab 58 Jahren. und Nichtarbeitslose sein. Abbildung 1: Momentaufnahme: Arbeitslosigkeit und Leistungsbezug im Land Bremen Arbeitslosen- und Grundsicherungsstatistik zum Stichtag März 2021 Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II): Arbeitslose insgesamt 97.787 Beziehende von Regelleistungen insgesamt (41.607) erwerbsfähige Arbeitslose SGB II Arbeitslose Leistungsberechtigte (ELB) SGB III (30.797) (69.145) (10.810) davon Langzeit- arbeitslose SGB II (17.830) nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte (NEF – zumeist Kinder) davon Langzeit- (28.642) arbeitslose SGB III (1.286) Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit
— 13 01 — Die großen Linien: Vom Bremer Wirtschaftswunder bis zur Corona-Krise Arbeitslosigkeit vergrößert die soziale Ungleichheit, historischer Tiefstand verzeichnet. Insgesamt waren verschlechtert das Bildungskapital der Gesellschaft, 3.100 Menschen beim damaligen Arbeitsamt gemel- lässt Potenziale ungenutzt und verursacht wirt- det. Es herrschte Vollbeschäftigung und die soge- schaftliche, soziale und psychische Belastungen bei nannte Sucharbeitslosigkeit war nur von kurzer den Betroffenen. Deshalb sind ihre Ursachen und Dauer: Neue Arbeit war schnell gefunden, und gut wirkungsvolle Maßnahmen gegen sie zentrale öko- verdienen konnte man im kleinsten Bundesland mit nomische und soziale Fragestellungen. seiner hafenwirtschaftlich und industriell geprägten Wirtschaftsstruktur auch ohne eine Ausbildung. Dabei spiegeln sich in der Arbeitslosigkeit vor allem wirtschaftliche Entwicklungen wider. Konjunktu- Doch der Nachkriegsboom war schon an sein Ende relle Dellen und Krisen, technologische Neuerun- gekommen. Im Gefolge der Ölpreiskrisen (1973 gen, der Wandel der Wirtschaftsstruktur, die damit und 1980/81) stieg die Arbeitslosigkeit bundes- einhergehenden Veränderungen der Nachfrage nach weit an. Im Land Bremen kamen weitere Umwäl- beruflichen Qualifikationen, Fehlentwicklungen zungen hinzu. Mitten in der allgemeinen Rezession auf dem Arbeitsmarkt – all diese Phänomene bil- begann im Seehandel die Containerrevolution. Sie den sich in den Arbeitslosenzahlen ab. Bremen und zwang viele bis dahin weltbekannte Häfen zur Auf- Bremerhaven können ein Lied davon singen. In der gabe. Auch die beschäftigungsintensiven stadtbre- Nachkriegszeit noch prosperierende Vorzeigestädte mischen Häfen kamen in Schwierigkeiten. In Bre- mit den geostrategisch wichtigen Häfen und einer merhaven gelang dagegen die Umstrukturierung: starken Industriebasis im Rücken, kam es nach der Bis Anfang der 1980er-Jahre stiegen die Übersee- Wirtschaftswunderphase zu Brüchen mit tief grei- häfen zur größten Containerumschlaganlage Euro- fenden Folgen. Das wirkt bis heute nach und hat pas auf. Doch für den Arbeitsmarkt hatte die neue sich tief in das Sozialgefüge beider Stadtgesellschaf- Transporttechnologie ihren Preis. Denn der Anteil ten eingeschrieben. der menschlichen Arbeit an den Kajen nahm ab, viele Hafenarbeiter wurden überflüssig und wurden Bis Mitte der 1970er-Jahre herrschte Vollbeschäf- nach Hause geschickt. Zugleich begannen alle gro- tigung in beiden Städten. Bei der ersten Erhebung ßen industriellen Arbeitgeber im Land Bremen zu zur Arbeitslosigkeit nach dem zweiten Weltkrieg im schwächeln. Auch die Stahlkrise traf Bremen hart. Jahr 1950 waren im Land Bremen 21.700 Arbeits- Bis 1980 stieg die Zahl der Arbeitslosen im kleins- lose registriert. Sie wurden schnell von einem ten Bundesland auf 14.800. Die weltweite Werf- Arbeitsmarkt aufgesogen, der im Wiederaufbau von tenkrise traf schließlich den Lebensnerv der bei- hohen Wachstumsraten geprägt war. Zehn Jahre den maritim geprägten Städte: Die Pleite der AG später gab es nur noch 4.500 Arbeitslose im Land Weser 1981 markiert den Beginn des großen Werf- Bremen. Selbst die Pleite der Borgward-Gruppe tensterbens in Bremen und Bremerhaven. Viele gut 1961, mit 20.000 Beschäftigten damals der größte bezahlte Arbeitsplätze, die bis dahin tausenden Arbeitgeber Bremens, war mitten im Wirtschafts- Arbeiterfamilien den Lebensunterhalt gesichert und wunder schnell verkraftet. 1970 wurde bei den ganze Stadtteile ernährt hatten, gingen unwieder- Arbeitslosenzahlen ein nie wieder erreichter bringlich verloren. Auf dem Höhepunkt der Krise
— 14 — Erwerbslosigkeit im Land Bremen – Bericht der Arbeitnehmerkammer Bremen 1988 lag die Arbeitslosenzahl bei über 42.000, die Das Phänomen der Sockelarbeits Arbeitslosenquote erreichte einen Höchststand von losigkeit 15,6 Prozent. Der kurze Rückblick zeigt: Seit den 1970er-Jah- Von diesem Aderlass erholte sich der Bremer ren ist der Arbeitsmarkt in Bremen vom Phänomen Arbeitsmarkt nicht mehr. Die Arbeitslosenzah- einer steigenden Sockelarbeitslosigkeit gekennzeich- len blieben fortan auf hohem Niveau. 1990 waren net. Jedes Konjunkturtief, jede Krise, jede Umstruk- im Land Bremen 39.000, zehn Jahre später turierung führte zu Entlassungen in den Betrieben 41.200 Arbeitslose registriert. Der bisherige Spit- und neuen Zugängen in die Arbeitslosigkeit. Doch zenwert von 53.200 arbeitslosen Bremerinnen wenn es danach mit der Wirtschaft wieder bergauf und Bremern wurde schließlich 2005 erreicht, als ging, fanden nicht alle, die zuvor ihren Job verlo- durch die damaligen Sozialstaatsreformen die bis- ren hatten, wieder neue Arbeit. Es blieb ein wach- herige Sozialhilfe abgeschafft wurde und viele sender Sockel von Arbeitslosen zurück, die lange erwerbsfähige Sozialhilfebedürftige nun statis- keine Beschäftigung mehr fanden. Eine sehr ähnli- tisch als Arbeitslose zählten. Der einmalige Hartz- che Entwicklung lässt sich über die Jahrzehnte im IV-Effekt erhöhte die Arbeitslosenzahl quasi über gesamten Bundesgebiet nachverfolgen. Nur waren Nacht beträchtlich, ehe sie sich bald wieder auf das die Einschnitte im Land Bremen heftiger und die Niveau des Jahres vor der Reform einpendelte. Ab anschließenden Erholungsphasen weniger stark aus- dann begann die Arbeitslosigkeit im Land Bremen geprägt. langsam, aber kontinuierlich zu sinken. 2010 lag sie bei 38.200, zuletzt 2019 bei jahresdurchschnittlich 35.700 Arbeitslosen. Abbildung 2: Die Sockelarbeitslosigkeit im Land Bremen baut sich mit jeder Krise weiter auf Arbeitslose und Arbeitslosenquote im Zeitverlauf 60.000 Effekt SGB II/Hartz IV 20 53.223 18 50.000 46.951 16 Finanz- Zweite Ölpreiskrise 42.226 marktkrise 38.705 14 40.000 39.820 12 36.730 Restrukturierung 30.000 31.532 10 Häfen, Werftenkrise Konjunktur- hoch 8 20.000 15.594 6 Vollbeschäftigung mit milder Rezssion 13.825 4 10.000 8.342 2 0 3.121 0 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 1. Hj. Arbeitslose gesamt Arbeitslosenquote in Prozent Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Darstellung © Arbeitnehmerkammer Bremen
— 01 Die großen Linien: Vom Bremer Wirtschaftswunder bis zur Corona-Krise — 15 Land Bremen gegeben. Dabei ist die Verschiebung von Vollzeit- zu Teilzeitstellen und damit die Ver- ringerung des Arbeitsvolumens noch nicht einmal eingerechnet. Seit dem Tiefpunkt 2005 sind im Land Bremen mehr als 63.000 neue sozialversicherte Arbeits- plätze entstanden. Das ist ein Plus von 23 Pro- zent. Selbst die Weltwirtschaftskrise 2007/2008 hat keinen erneut höheren Sockel von Arbeitslosig- keit hinterlassen – erstmals in einem wirtschaftli- chen Einbruch. Die daran anschließende Zeitspanne von 2009 bis 2019 wird oft als ein „goldenes Jahr- zehnt“ für Wirtschaft und Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland bezeichnet. Mit dem Zuwachs an Arbeitsplätzen ging auch im Land Bremen die Zahl der Arbeitslosen peu à peu zurück, denn Arbeitslo- sigkeit und Beschäftigung verhalten sich wie kom- munizierende Röhren. Das sind außerordentlich positive Entwicklungen. Das quantitative Miss- verhältnis zwischen gemeldeten Arbeitslosen und offenen Stellen hat sich in der Folge deutlich ent- spannt. Ausgeglichen ist es aber nicht: 2019 stan- den 35.700 Menschen ohne Arbeit 7.400 gemelde- ten Arbeitsstellen gegenüber, rechnerisch kamen nun also knapp fünf Arbeitslose auf eine Stelle. Mismatch-Arbeitslosigkeit – wenn es nicht zusammenpasst Das quantitative Missverhältnis zwischen Arbeits- angebot und Nachfrage erklärt aber nicht alle Die Ursachen für diesen Sockel von verfestigter, Probleme am Bremer Arbeitsmarkt. Denn die struktureller und lange andauernder Arbeitslo- Arbeitslosen haben zwar von der verbesserten sigkeit sind vielfältig. Ein wesentlicher Grund ist, Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarkts profitiert, dass die in Krisenphasen entstandene Lücke zwi- aber nur begrenzt: Ihre Zahl ist mit der positiven schen der Zahl der suchenden Arbeitslosen und der Beschäftigungsentwicklung zurückgegangen und zu besetzenden Arbeitsstellen in den jeweils dar- dennoch hoch geblieben. Es ist also komplizierter. auf folgenden Phasen guter Konjunktur nicht mehr zur Gänze geschlossen werden konnte: Konstant Denn es gibt auch ein qualitatives Missverhält- überstieg das Arbeitskräfteangebot die Nachfrage, nis: Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage pas- und zwar deutlich. Um das statistisch zu illustrie- sen nicht immer gut zusammen. Wenn die forma- ren: 1995 kamen auf mehr als 40.000 Arbeitslose len Abschlüsse, Fähigkeiten und Erfahrungen der im Land Bremen nur 1.780 als offen gemeldete Stel- Arbeitslosen und die Anforderungen oder Vorstel- len. Rein rechnerisch gab es damit für jeden neu zu lungen der einstellenden Arbeitgeber zu weit ausei- besetzenden Arbeitsplatz fast 23 arbeitslose Bewer- nanderliegen, sprechen Expertinnen und Experten berinnen oder Bewerber. Zehn Jahre später, als von Mismatch-Arbeitslosigkeit. Es kann dann die die Arbeitslosenzahl auf den Spitzenwert von über paradox wirkende Situation entstehen, dass offene 53.000 Menschen stieg, waren 2.397 offene Stellen Arbeitsstellen nur schwer oder gar nicht besetzt gemeldet. Es kamen weiter gut 22 Arbeitslose auf werden können, während zugleich das Niveau der einen ausgeschriebenen Arbeitsplatz. Zugleich hatte Arbeitslosigkeit hoch bleibt.2 die Beschäftigung mit 270.000 sozialversicherten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einen his- torischen Tiefpunkt erreicht: Zu keinem Zeitpunkt hat es seit den statistischen Aufzeichnungen in der Nachkriegsgeschichte weniger Arbeitsplätze im 2 Bauer/Gartner (2014).
— 16 — Erwerbslosigkeit im Land Bremen – Bericht der Arbeitnehmerkammer Bremen Deutschland ist von beruflichen Arbeitsmärkten geprägt: Die Beschäftigung konzentriert sich vor allem auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit beruflichen und auch mit akademischen Abschlüs- sen, während die Arbeitslosigkeit bei Un- und Ange- lernten sehr hoch ist. Im langfristigen Trend haben sich die Arbeitsmarktchancen auf den verschie- Wer keinen Berufsabschluss vorweisen kann, hat denen Qualifikationsniveaus über die Jahre sogar in der Folge ein hohes Risiko, von Arbeitslosig- noch weiter auseinanderentwickelt. Auch im Land keit betroffen zu sein und länger ohne Beschäfti- Bremen mit seinem traditionell überdurchschnittli- gung zu bleiben. Das lässt sich an den qualifikati- chen Anteil von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- onsspezifischen Arbeitslosenquoten für das Land mern ohne Berufsabschluss haben sich die Chancen Bremen nachvollziehen. Während die Arbeitslosen- von Ungelernten immer mehr verschlechtert. Dazu quote von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben wesentlich der Wegfall von Einfacharbeits- mit Ausbildungsabschluss zuletzt 2019 bei 4,8 Pro- plätzen in der Hafenwirtschaft und im produzieren- zent und mit akademischem Abschluss sogar nur bei den Gewerbe und der allgemeine Nachfragerück- 3,3 Prozent lag, war sie bei Menschen ohne Berufs- gang nach ungelernten Arbeitskräften im Zuge des abschluss mit 30 Prozent ungleich höher, ja sogar Strukturwandels beigetragen. Angesichts einer sich dreimal so hoch wie die allgemeine Arbeitslosen- immer schneller wandelnden Arbeitswelt mit stei- quote, die sich auf 9,9 Prozent belief. Mit der Coro- genden Anforderungen wird sich diese Entwicklung na-Krise im Jahr 2020 ist die Arbeitslosenquote der voraussichtlich weiter verschärfen. Ungelernten besonders stark angestiegen. Abbildung 3: Arbeitslosigkeit trifft Ungelernte im besonderen Maß Arbeitslosenquoten nach Qualifikationsniveau Land Bremen Bremen Stadt Bremerhaven 40 % 40 % 40 % 35 % 35 % 35 % 30 % 30 % 30 % 25 % 25 % 25 % 20 % 20 % 20 % 15 % 15 % 15 % 10 % 10 % 10 % 5% 5% 5% 0% 0% 0% 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2015 2016 2017 2018 2019 2020 insgesamt ohne abgeschlossene betriebliche/schulische akademische Ausbildung Berufsausbildung Ausbildung Quelle: Bundesagentur für Arbeit; eigene Darstellung © Arbeitnehmerkammer Bremen
— 01 Die großen Linien: Vom Bremer Wirtschaftswunder bis zur Corona-Krise — 17 Ein nicht unerheblicher Teil der Arbeitslosigkeit im statistisch in der Unterbeschäftigung abbildet. In Land Bremen ist demnach auf einen qualifikatori- der von der Bundesagentur für Arbeit geführten Sta- schen Mismatch zurückzuführen. Es liegt auf der tistik zur Unterbeschäftigung werden zusätzlich zu Hand, dass dies zu verändern wäre durch das Anhe- den registrierten Arbeitslosen auch diejenigen in ben des Qualifikationsniveaus bei den Beschäftig- die Berechnung einbezogen, die an arbeitsmarkt- ten und Arbeitslosen ohne Abschluss und präventiv politischen Maßnahmen teilnehmen oder von der durch die Ausbildung der neu in den Arbeitsmarkt Arbeitsverwaltung einen Sonderstatus zugewiesen eintretenden jungen Generation, um den Zufluss in bekommen, weil sie vorübergehend erkrankt sind das Segment der Ungelernten zu stoppen.3 oder weil die Jobcenter ab einem Alter von 58 Jah- ren ihre Vermittlungsbemühungen eingestellt haben (§ 53a SGB II).4 Diese Menschen beziehen Arbeits- Arbeitslosigkeit und Unter losengeld I oder II, sie wollen und können arbei- beschäftigung ten, doch es fehlt ein passender Arbeitsplatz. Im landläufigen Verständnis gelten sie als Arbeitslose, Arbeitslosigkeit ist wesentlich das Resultat von in der Arbeitslosenstatistik tauchen sie aber nicht Ungleichgewichten am Arbeitsmarkt, das zeigen auf. Nach der Unterbeschäftigungsrechnung lag das die großen Linien der Arbeitsmarktentwicklun- Beschäftigungsdefizit im Land Bremen im Jahr 2019 gen im Land Bremen. Eines der Ungleichgewichte bei 49.500 fehlenden Arbeitsplätzen. ist durch das Nachfragedefizit bestimmt, die sich Abbildung 4: Das Defizit an Arbeitsstellen im Land Bremen bleibt groß Die Unterbeschäftigungsrechnung: Unterauslastung des Arbeitskräfteangebots 60.000 + Personen mit einem 50.000 Sonderstatus + Personen in arbeitsmarktpolitischen 40.000 Maßnahmen Arbeitslose 30.000 20.000 10.000 0 2016 2017 2018 2019 2020 Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Berechnung und eigene Darstellung © Arbeitnehmerkammer Bremen 4 Der § 53a SGB II regelt einen Ausnahmetatbestand für ältere Arbeitslose nach Vollendung des 58. Lebens- jahres im Geltungsbereich des SGB II. Danach endet die Zählung als Arbeitslose beziehungsweise Arbeitsloser, wenn innerhalb eines Jahres kein Vermittlungsvorschlag gemacht werden konnte, und zwar auch dann, wenn alle anderen Kriterien der Arbeitslosigkeit erfüllt sind und unabhängig von den Suchbemühungen und Wün- 3 Bauer/Gartner (2014). schen des oder der Betroffenen.
— 18 — Erwerbslosigkeit im Land Bremen – Bericht der Arbeitnehmerkammer Bremen 01.1 das Instrument bis weit in das Jahr 2021 hinein positiv wirken und nicht nur Arbeitsplatzverluste Die Corona-Krise verhindern, sondern auch die Binnennachfrage stüt- zen. am Arbeitsmarkt Doch die Perspektiven bleiben ungewiss. Denn die Corona-Krise beschleunigt und verstärkt die Der bis 2019 währende grundsätzlich positive Herausforderungen, die die digitale und ökologi- Trend der Erholung am bremischen Arbeitsmarkt sche Transformation schon vorher an Wirtschaft im vergangenen Jahrzehnt setzte sich im Jahr 2020 und Arbeitswelt stellten. Dabei reagiert der Bre- nicht fort. Denn schon im ersten Halbjahr hat die mer Wirtschaftsstandort mit seiner fossilen Indus Corona-Krise tiefe Spuren hinterlassen und eine gra- triebasis und der Ausrichtung auf den Außenhandel vierende ökonomische Krise ausgelöst. Im Frühjahr besonders sensibel auf Veränderungen und Stö- war das wirtschaftliche Leben in ganz Deutschland rungen der Exportindustrie. Viele Expertinnen und in vielen Bereichen stark eingeschränkt oder gänz- Experten befürchten zudem bleibende Corona-Schä- lich zum Erliegen gekommen. Im Sommer gab es den für besonders betroffene Wirtschaftszweige eine leichte Erholung, während das letzte Quartal wie die Luftfahrt, die Hotelbranche, bei denen das des Jahres erneut von Einschränkungen für Bran- wichtige Tagungs- und Konferenzgeschäft dauer- chen wie dem Gastgewerbe und dem Einzelhan- haft einzubrechen droht, oder den stationären Ein- del gekennzeichnet war. Der weitere Verlauf bleibt zelhandel. Sie könnten eine Welle von Unterneh- schwer abzuschätzen. mensinsolvenzen auslösen und für die Beschäftigten würde auf die Kurzarbeit die Arbeitslosigkeit folgen. Die unmittelbaren Auswirkungen der Krise auf den Arbeitsmarkt konnten über das arbeitsplatz Es gibt aber auch Gewinner der Krise wie die erhaltende Instrument der Kurzarbeit abgemil- IT-Branche oder den Online-Handel. Wenn die dert werden. Kurzarbeit ist eine Form der temporä- Jahre 2021 oder 2022 postcorona das von Expertin- ren Arbeitszeitverkürzung. Sie soll dazu beitragen, nen und Experten prognostizierte Wachstum bringt, dass absehbar vorübergehende Auftragsrückgänge werden hier neue Arbeitsplätze entstehen, wäh- bei Unternehmen überbrückt werden können, ohne rend anderswo Beschäftigung verloren geht. Erneut dass Entlassungen nötig werden. Die Arbeitge- stehen regionale Arbeitsmärkte vor der Frage, wie ber sollen ihre qualifizierten und eingearbeiteten die Herausforderungen des Strukturwandels bewäl- Beschäftigten auch in wirtschaftlich schwierigen tigt und der Transfer der Beschäftigten von den Zeiten halten können, die Beschäftigten sollen nicht schrumpfenden in die wachsenden und zukunfts gekündigt und in die Arbeitslosigkeit geschickt wer- trächtigen Branchen gelingen kann. Sinnvoll wäre den. Für beide Seiten bedeutet das Sicherheit und es, den Beschäftigten in Kurzarbeit Weiterbildungs- bei einer Besserung der wirtschaftlichen Lage bleibt möglichkeiten zu offerieren, die solche Umstiege ihnen die Neusuche erspart. Der Einkommensausfall möglich machen. Bisher ist die Weiterbildung in in der Phase der Kurzarbeit wird den Beschäftigten Kurzarbeit restriktiv an das Interesse des Unterneh- teilweise durch die Zahlung von Kurzarbeitergeld mens gebunden. durch die Arbeitslosenversicherung ausgeglichen. Weil die Bundesregierung die Kurzarbeitsdauer ver- längert und die Lohnersatzleistung erhöht hat, wird „Die Corona-Krise hinterlässt tiefe Spuren am Arbeitsmarkt. Zugleich wird deutlich, dass sie die Herausforderungen der digitalen und ökologischen Transformation beschleunigt und verstärkt, vor der Wirt- schaft und Arbeitswelt derzeit stehen.“
— 01 Die großen Linien: Vom Bremer Wirtschaftswunder bis zur Corona-Krise — 19 Kurzarbeit in der Corona-Krise Die von den Betrieben tatsächlich realisierte Kurz- arbeit lässt sich erst mit einem längeren Nachlauf In einem bisher nie gekannten Ausmaß haben statistisch darstellen. Zum Zeitpunkt der Berichts- Arbeitgeber im Jahr 2020 von der Möglichkeit der legung lagen für das Land Bremen die Daten für Kurzarbeit Gebrauch gemacht: Im Land Bremen die ersten zehn Monate 2020 vor. Binnen kürzester haben von März bis August 7.250 Betriebe für bis Zeit stieg die Kurzarbeitsquote im Land Bremen von zu 154.000 ihrer Beschäftigten konjunkturelle Kurz- 0,1 Prozent im Februar auf 8,1 Prozent im März, arbeit angemeldet. Betroffen waren nahezu alle sprang im April auf 21,6 Prozent und verharrte bei Branchen, Schwerpunkte waren aber besonders die 21,3 Prozent im Mai. Für zwei Monate war gut jede Automobilherstellung, die Stahlindustrie, der Groß- beziehungsweise jeder fünfte Beschäftigte im Land und Einzelhandel, die Logistik, die Leiharbeit und Bremen in Kurzarbeit. Um sich das Ausmaß besser das Hotel- und Gaststättengewerbe. Die enormen vor Augen führen zu können: In den beiden Spitzen- Zahlen zeigen die Verunsicherung der Arbeitgeber monaten April und Mai mussten 72.300 beziehungs- im zweiten Quartal 2020. Aufgrund neuer Eindäm- weise 70.875 Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mungsmaßnahmen gegen die Pandemie wurde im mer ihre Arbeitszeit ganz oder teilweise reduzieren. November 2020 wieder mehr Kurzarbeit angezeigt Allein im April waren Arbeitsstunden im Umfang als in den Monaten zuvor, der absolute Spitzenmo- von 38.121 Vollzeitstellen am Arbeitsmarkt nicht nat im Jahr 2020 bleibt aber der April. mehr nachgefragt. Bis zum Juli sank die Zahl der Beschäftigten in Kurzarbeit auf 39.180. Zum Ver- gleich: Im gesamten Jahr 2019 waren jahresdurch- schnittlich 302 Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mer in Kurzarbeit. Abbildung 5: Die Kurzarbeit im Land Bremen erreicht Spitzenwerte Anzeigen von Kurzarbeit und tatsächlich realisierte Kurzarbeit im Jahr 2020 140.000 120.000 100.000 80.000 60.000 40.000 20.000 0 20 20 0 20 20 20 20 20 20 0 0 0 02 02 02 02 20 20 20 20 20 20 20 20 .2 .2 .2 .2 n. b. r. ai n. l. g. p. är kt ov ez Ju Ap Au M Ja Ju Fe Se M O D N Anzahl der tatsächlich betroffenen Beschäftigten Eingegangene Anzeigen über Kurzarbeit von Betrieben Anzahl der tatsächlich potenziell betroffenen Beschäftigten Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Darstellung Lesehinweis: Die Anzeigen von Kurzarbeit und die potenziell betroffenen Beschäftigten werden statistisch in dem Monat gezählt, in dem sie eingehen. Für viele Beschäftigte währt die Phase der Kurzarbeit aber länger als nur einen Monat. Bei den tatsächlich von Kurzarbeit Betroffenen werden alle Beschäftigten gezählt, die in dem betreffenden Monat Kurzarbeitsgeld beziehen mussten. Ihre Anzahl ist deshalb größer als die der Anmeldungen. © Arbeitnehmerkammer Bremen
— 20 — Erwerbslosigkeit im Land Bremen – Bericht der Arbeitnehmerkammer Bremen Kaum eine Branche war von Kurzarbeit so stark Unterbeschäftigung in der betroffen wie das Gastgewerbe. Im April 2020, Corona-Krise dem bisherigen Höhepunkt der coronabeding- ten Arbeitsmarktkrise, waren in Bremen 78,8 Pro- Auch Kurzarbeit ist ein Ausdruck von Unterbeschäf- zent der Beschäftigten im Gastgewerbe in Kurzar- tigung. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in beit. Auf Bundesebene waren es mit 65,4 Prozent Kurzarbeit sind zwar nicht arbeitslos, ihre Arbeits- etwas weniger. Betrachtet man dagegen die Abso- leistung wird aber nicht in dem Umfang gebraucht, lutzahlen der Beschäftigten in Kurzarbeit, liegt das wie es im Arbeitsvertrag vereinbart wurde. beschäftigungsstarke verarbeitende Gewerbe vorn. Dabei werden die Beschäftigten nicht unbedingt Dabei war es zu keinem Zeitpunkt unmittelbar von ganz nach Hause geschickt, wenn ein Betrieb Kurz- Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie betroffen. arbeit anmeldet („Kurzarbeit Null“). Häufig ist nur Ursächlich ist ein Mix verschiedener Entwicklungen ein Teil der im Arbeitsvertrag vereinbarten Arbeits- ein sich schon vorher abzeichnender Abschwung, stunden betroffen. Um sichtbar zu machen, in wel- zusätzliche pandemiebedingte Absatzeinbußen und chem Umfang die Beschäftigung in einer Krise Engpässe in den globalen Lieferketten. Betroffen zurückgeht, werden die Kurzarbeitsstunden in der sind der Fahrzeugbau, die Luft- und Raumfahrt, die Statistik zusammengezählt und in Vollzeitstellen Stahlindustrie, aber auch die Hafenwirtschaft. Diese umgerechnet. Die sogenannten Vollzeitäquivalente Branchen waren zumeist schon vor dem Ausbruch in Kurzarbeit erreichten im April 2020 einen his- der Pandemie in einer beginnenden Rezession und torischen Rekordwert: Im Land Bremen wurde im standen vor der Notwendigkeit einer grundlegenden Umfang von 36.379 Vollzeitstellen die Arbeitskraft Neustrukturierung. Das Gleiche gilt für Teile des von Beschäftigten nicht mehr nachgefragt. Im Mai stationären Einzelhandels. waren es noch immer 30.247 Vollzeitäquivalente. Abbildung 6: Das am Arbeitsmarkt nicht nachgefragte Beschäftigungspotenzial ist groß Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Kurzarbeit im Land Bremen 100.000 90.000 80.000 70.000 60.000 50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0 Fe 019 är 19 Ap 019 ai 9 n. 9 Ju 19 Au 019 p. 9 kt 19 ov 19 ez 19 9 0 är 20 0 20 20 Ju 20 0 0 0 0 0 Au 02 Se 02 2 1 1 Se 01 Ja 01 Fe 02 Ap 02 02 02 20 20 20 20 20 0 0 20 20 20 20 20 2 .2 2 2 .2 .2 .2 2 .2 2 2 .2 .2 n. b. r. l. g. n. b. r. ai n. l. g. p. kt ov M Ja Ju M Ju M O D N M O N Hochrechnung realisierte Kurzarbeit Unterbeschäftigung mit realisierter Kurzarbeit (in Vollzeitäquivalenten) Unterbeschäftigung ohne Kurzarbeit Arbeitslosigkeit Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Berechnung; eigene Darstellung © Arbeitnehmerkammer Bremen
— 01 Die großen Linien: Vom Bremer Wirtschaftswunder bis zur Corona-Krise — 21 „Das Jahr 2020 begann mit einem Defizit von etwa 52.000 Arbeitplätzen, die für den Ausgleich von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt fehlten.“ Mit dem Konzept Unterbeschäftigung wird versucht, sich rechnerisch an die Gesamtheit des Beschäfti- gungspotenzials anzunähern, das am Arbeitsmarkt nicht nachgefragt wird. Unter Berücksichtigung der in Vollzeitstellen umgerechneten Kurzarbeit fehl- ten im Jahresdurchschnitt 2019 im Land Bremen 49.500 Arbeitsplätze für den Ausgleich von Ange- bot und Nachfrage am Arbeitsmarkt. Das Jahr 2020 begann im Januar und Februar mit einem Defi- zit von jeweils etwa 52.000. Im März machte sich die coronabedingte Kurzarbeit bereits bemerkbar und im April erreichte das mit dem Unterbeschäf- tigungskonzept berechnete Beschäftigungsdefizit einen Spitzenwert von 89.200. Für die Monate bis September liegen lediglich Hochrechnungen der Statistik der Bundesagentur für Arbeit vor, für das letzte Quartal 2020 fehlen sie noch. Demnach sinkt die Unterbeschäftigung zum Jahresende deutlich, doch die Zahl der für den Marktausgleich fehlenden Arbeitsplätze bleibt auf sehr hohem Niveau. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in der Corona-Krise Die Auswirkungen der Krise zeigen sich auch in der Arbeitslosigkeit mit sichtbar deutlichen Zuwäch- sen. Ab dem zweiten Quartal 2020 lässt sich im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg beobachten, der im August einen Höhepunkt erreichte und danach etwas kleiner wurde. Von März bis August 2020 stieg die Zahl der Arbeitslosen von 36.000 zunächst um 22,6 Prozent auf mehr als 44.000 und ging bis Dezember wieder leicht zurück auf 40.844. Damit lag sie 16 Prozent über dem Vorjahresmonat.
— 22 — Erwerbslosigkeit im Land Bremen – Bericht der Arbeitnehmerkammer Bremen Abbildung 7: Die Corona-Krise lässt die Arbeitslosigkeit ansteigen Arbeitslosenzahlen 2019 und 2020 im Land Bremen im Vergleich 45.000 40.844 40.000 35.291 35.000 30.000 Jan. Feb. Mär. Apr. Mai Jun. Jul. Aug. Sep. Okt. Nov. Dez. Arbeitslosigkeit 2019 Arbeitslosigkeit 2020 Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Darstellung © Arbeitnehmerkammer Bremen
— 01 Die großen Linien: Vom Bremer Wirtschaftswunder bis zur Corona-Krise — 23 Dabei spielen verschiedene Einflussfaktoren eine verloren. Deshalb muss es zügig gelingen, neue Rolle, wesentlich ist aber, dass weniger Arbeitslose Perspektiven zu eröffnen. Angesichts der zurück- eine neue Stelle antreten konnten: Der Bestand an gegangenen Arbeitskräftenachfrage ist das her- gemeldeten Arbeitsstellen ging zurück, und das Ver- ausfordernd. Zumal sich nach Personengruppen dif- hältnis Arbeitslose zu offenen Stellen verschlech- ferenziert auch in der Corona-Krise Unterschiede in terte sich deutlich. Im Spitzenmonat August kamen der Betroffenheit von Arbeitslosigkeit abzeichnen: acht Arbeitslose auf eine offene Stelle. Besonders deutlich fällt der Anstieg bei Beschäf- tigten ohne abgeschlossene Berufsausbildung aus. Ob in der Corona-Krise ein neuer Anstieg der Umso mehr bedarf es der Investitionen in Aus- und Sockelarbeitslosigkeit droht und viele der jetzt Weiterbildung, die zu einem beruflichen Abschluss Arbeitslosen zu Langzeitarbeitslosen werden, darü- führen. Das gilt aber nicht nur für Ungelernte, son- ber werden die nächsten Monate entscheiden. Denn dern auch für ausgebildete Fachkräfte, die ihre je länger kurzfristig arbeitslos gewordene Arbeit- Arbeit in der Krise verloren haben. Bei ihnen gilt nehmerinnen und Arbeitnehmer ohne neue Arbeits- es, durch die Förderung beruflicher Weiterbildung stelle bleiben, umso mehr verschlechtern sich ihre Umstiege mindestens auf ihrem Qualifikationsni- Chancen bei Bewerbungen und gehen bereits erwor- veau zu ermöglichen und Abstiege zu verhindern. bene berufliche und personale Kompetenzen wieder Abbildung 8: Bei den Ungelernten steigt die Arbeitslosenquote in der Krise am stärksten Arbeitslosenquoten nach Qualifikationsniveau im Land Bremen Land Bremen Bremen Stadt Bremerhaven 40 % 40 % 40 % 35 % 35 % 35 % 30 % 30 % 30 % 25 % 25 % 25 % 20 % 20 % 20 % 15 % 15 % 15 % 10 % 10 % 10 % 5% 5% 5% 0% 0% 0% 20 20 20 20 20 20 19 19 19 9 9 9 19 19 19 20 20 20 19 19 19 01 01 01 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 .2 .2 .2 n. n. n. r. r. r. n. n. n. r. r. r. l. l. l. l. l. l. kt kt kt Ap Ap Ju Ju Ap Ju Ap Ap Ju Ju Ap Ju Ja Ja Ja Ja Ja Ja O O O insgesamt ohne abgeschlossene Meister Diplom Berufsausbildung betriebliche/schulische akademische Ausbildung Ausbildung Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Darstellung © Arbeitnehmerkammer Bremen
— 24 — Erwerbslosigkeit im Land Bremen – Bericht der Arbeitnehmerkammer Bremen Noch eine weitere Gruppe bietet Anlass zur Sorge, weil sie in der Corona-Krise im besonderen Maß von steigender Arbeitslosigkeit betroffen ist: die Jüngeren unter 25 Jahre. Dazu gehören junge Men- schen, die 2020 mit ihrer Ausbildung fertig gewor- den, von ihrem Betrieb aber nicht übernommen worden sind und jetzt dringend Berufserfahrung sammeln müssen. Dazu gehören ebenso Jugendli- che, die mit einer Ausbildung ins Berufsleben star- ten wollten und keine Lehrstelle gefunden haben, weil sich Ausbildungsbetriebe in der Krise zurück- halten. Auch Kündigungswellen treffen oftmals zuerst die jungen Beschäftigten, weil bei ihnen der Kündigungsschutz weniger stark wirkt. Die junge Generation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mern braucht aber Zukunftsperspektiven, damit sie nicht den Anschluss verliert und viele zu den Lang- zeitarbeitslosen von morgen werden. Abbildung 9: Die Jugendarbeitslosigkeit steigt Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe 15 bis unter 25 Jahre im Land Bremen im Vergleich 2019/2020 5.500 5.090 5.000 4.500 4.000 3.974 3.972 3.500 3.488 3.320 3.000 2.500 Jan. Feb. Mär. Apr. Mai Jun. Jul. Aug. Sep. Okt. Nov. Dez. Jugendarbeitslosigkeit 2019 Jugendarbeitslosigkeit 2020 Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Darstellung © Arbeitnehmerkammer Bremen
— 01 Die großen Linien: Vom Bremer Wirtschaftswunder bis zur Corona-Krise — 25 Langzeitarbeitslosigkeit in der Corona-Krise Schon jetzt wirkt sich die Corona-Krise negativ auf die Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit aus. Dabei war im Land Bremen die Zahl der Menschen, die ohne Unterbrechungen länger als 12 Monate arbeitslos registriert waren, seit 2016 kontinuierlich zurückgegangen. Zuletzt hatte sie sich auf einen Wert um 14.500 eingependelt. Mit dem Beginn der Krise zogen die Zahlen jedoch an und sind von März bis Dezember 2020 um 3.450 oder 24 Pro- zent auf nun 17.800 gestiegen. Im gleichen Monat des Vorjahres, im Dezember 2019, lag die Zahl der Langzeitarbeitslosen noch bei 14.250, ein Abstand von 24 Prozent. Diese Erhöhung erklärt sich zum einen mit mehr Übertritten aus der Kurzzeit- in die Langzeitarbeitslosigkeit, weil weniger Menschen bei der Stellensuche erfolgreich und deshalb län- ger als 12 Monate arbeitslos sind. Zum anderen sind in der Corona-Krise die Fördermaßnahmen weniger geworden, die wegen der vom Gesetzgeber getrof- fenen Definition von Langzeitarbeitslosigkeit dafür sorgen, dass sich – unabhängig von der tatsächli- chen Dauer der Arbeitslosigkeit – der Statuswechsel von arbeitslos zu langzeitarbeitslos in der Statistik zeitlich verschiebt (siehe Seite 10 und Seite 22). Abbildung 10: Die Langzeitarbeitslosigkeit zieht an Langzeitarbeitslosigkeit im Land Bremen im Vergleich 2019/2020 19.000 18.000 17.000 16.000 15.000 14.000 13.000 12.000 11.000 10.000 Jan. Feb. Mär. Apr. Mai Jun. Jul. Aug. Sep. Okt. Nov. Dez. Langzeitarbeitslosigkeit 2019 Langzeitarbeitslosigkeit 2020 Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Darstellung © Arbeitnehmerkammer Bremen
— 27 02 — Die Strukturen der Arbeitslosigkeit im Land Bremen Aufspaltung der Arbeitslosigkeit in arbeitsmarktpolitischer Förderung, bei der Zumut- zwei Rechtskreise barkeit einer Arbeitsaufnahme und bei den Chan- cen auf eine nachhaltige Rückkehr in gesicherte Bis 2004 wurden Arbeitslose nach einheitlichem Beschäftigung. Recht von den Arbeitsämtern (später in Agenturen für Arbeit umbenannt) unterstützt. Danach wurde Oft wird übersehen, dass auch der Rechtskreis das soziale Sicherungssystem für Arbeitslose in SGB II in sich in zwei verschiedene Sphären gespal- zwei Rechtskreise aufgespalten: das klassische Sys- ten ist: Die Leistungsberechtigten werden je nach tem der Arbeitslosenversicherung nach dem Drit- dem Status der Arbeitsuche als „arbeitslos“ oder ten Sozialgesetzbuch (SGB III) und das Fürsorgesys- „nichtarbeitslos“ (darunter dennoch arbeitsu- tem nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II), chend oder nicht arbeitsuchend) kategorisiert. Zu zumeist bekannter als Hartz IV. Der weit überwie- den Nichtarbeitslosen gehören die bereits erwähn- gende Teil der Arbeitslosigkeit ist seither im Rechts- ten verdeckt arbeitslosen Unterbeschäftigten, also kreis SGB II verortet. Die Arbeitslosenversicherung Arbeitslose in Maßnahmen, ältere Arbeitslose ab spielt dagegen nur noch eine untergeordnete Rolle: einem Alter von 58 Jahren, bei denen die Jobcen- Gerade einmal jede und jeder vierte Arbeitslose im ter ihre Vermittlungsbemühungen eingestellt haben Land Bremen erhält Leistungen aus dem Versiche- (§ 53a SGB II), und vorübergehend Erkrankte. Auch rungssystem. Das SGB III begrenzt sich auf den bes- wer einer bezahlten Arbeit von 15 Stunden pro ser gestellten, anteilig aber nur kleinen Kreis der Woche oder mehr nachgeht, ist nicht arbeitslos. Die Arbeitslosen, der ausreichende Vorbeschäftigungs- größte Gruppe sind aber erwerbsfähige Menschen, zeiten aufweist und zumeist schnell wieder einen die zwar auf die Grundsicherung für Arbeitsu- Arbeitsplatz findet. Wer nach Auslaufen des zeitlich chende angewiesen sind, aus anerkannten Gründen5 begrenzten Anspruchs auf Arbeitslosengeld seine aber dennoch keine Arbeitsstelle suchen müssen. Existenz nicht selbstständig sichern kann, wech- Dazu gehören junge Menschen, die noch zur Schule selt vom SGB III in das SGB II und damit von der gehen, und erwachsene Erwerbsfähige, die Kin- Agentur für Arbeit zu den Jobcentern, die gemein- der erziehen oder Angehörige pflegen (siehe S. 11, same Einrichtungen der jeweiligen Kommune und siehe auch S. 73 f.). der Agentur für Arbeit sind. Dabei gibt es zwischen den beiden Rechtskreisen deutliche Unterschiede bei der materiellen Absicherung – das Arbeitslo- sengeld orientiert sich als Lohnersatzleistung am vorherigen Lebensstandard, die auch Arbeitslo- sengeld II genannte Grundsicherung für Arbeitsu- chende am Existenzminimum –, beim Zugang zu 5 Nach § 10 SGB II ist für erwerbsfähige Hilfebedürf- tige eine Arbeit insbesondere dann nicht zumutbar, wenn sie Kinder erziehen, Angehörige pflegen oder zur Schule gehen. Sie werden dann wegen mangelnder Ver- fügbarkeit nicht als arbeitslos gezählt.
— 28 — Erwerbslosigkeit im Land Bremen – Bericht der Arbeitnehmerkammer Bremen Abbildung 11: Die Arbeitslosenversicherung hat an Bedeutung verloren Entwicklung der Arbeitslosigkeit nach Rechtskreisen im Land Bremen 60.000 50.000 40.000 30.000 30.980 30.608 39.820 29.902 30.002 40.452 42.280 33.084 30.239 27.884 38.256 30.027 42.378 29.977 37.022 26.881 30.281 27.196 29.713 31.057 41.144 20.000 10.000 10.698 14.968 11.109 6.449 6.398 6.589 8.506 6.392 8.023 8.254 7.803 7.922 6.747 7.725 7.114 7.171 0 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 Arbeitslose im SGB III Arbeitslose im SGB II Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Darstellung © Arbeitnehmerkammer Bremen Die Arbeitslosenstatistik befasst sich ausschließ- Bildungsinvestitionen und Verschlechterung des lich mit den Menschen ohne Arbeit, die dem Sta- Qualifikationsniveaus des Arbeitsangebots. Für die tus „arbeitslos“ zugeordnet sind. Über diese Gruppe betroffenen Menschen kann Langzeitarbeitslosig- – und nur über diese Gruppe – lässt sich in den fol- keit sozialen Abstieg, Verarmung und Resignation genden Abschnitten mehr erfahren. bedeuten. Die Vermeidung von Langzeitarbeitslo- sigkeit gilt aus all diesen Perspektiven und Gründen als besonders wichtiges politisches Ziel. Kurzzeitarbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit, Dauer Die Abbildung 12 zeigt die Entwicklung der Arbeits- arbeitslosigkeit losigkeit im Land Bremen für beide Rechtskreise. War im Jahr 2008 mit 48 Prozent beinahe jeder So wie die Entwicklung der Arbeitslosigkeit im oder jede zweite Arbeitslose langzeitarbeitslos, ist Kontext mit den wirtschaftlichen Entwicklungen die Zahl der Arbeitslosen in den Folgejahren insge- zu sehen ist, so gibt die Dauer der Arbeitslosigkeit samt in kleinen Schritten gesunken, die der Lang- Auskunft über das Ausmaß der Verfestigung von zeitarbeitslosen sogar noch etwas schneller, sodass Beschäftigungslosigkeit. Kurze Sucharbeitslosigkeit, ihr Anteil 2019 bei 41 Prozent lag. In der Stadt Bre- auch Arbeitslosigkeitsphasen zur Umorientierung, merhaven ist er im gleichen Zeitraum sogar von Weiterbildung und anschließend erfolgreichen Neu- 51,3 Prozent auf 36,8 Prozent gesunken. positionierung, sind Elemente eines funktionieren- den Arbeitsmarkts, dagegen ist lange andauernde Arbeitslosigkeit Ausdruck seiner Dysfunktionalität. Sie führt individuell zur Entwertung bereits erreich- ter Abschlüsse und Qualifikationen, aus gesell- schaftlicher Sicht zur Entwertung bereits getätigter
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