Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF: Bedingungsloses Grundeinkommen

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Analysen und Berichte                                                           Monatsbericht des BMF
                                                                                                 November 2021

Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim
BMF: Bedingungsloses Grundeinkommen

     ● Im folgenden Artikel wird die Kurzfassung eines Gutachtens des unabhängigen Wissenschaftli-
       chen Beirats beim BMF wiedergegeben.

     ● Gutachten und Stellungnahmen des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF sind als Beitrag zum
       allgemeinen Diskurs zu verstehen und geben nicht notwendigerweise die Meinung des BMF
       wieder.

     ● Ein bedingungsloses, existenzsicherndes Grundeinkommen (BGE) ist nach den Berechnungen
       des Beirats nicht finanzierbar.

     ● Hohe Grenzsteuersätze zur Finanzierung hätten erhebliche negative Arbeitsmarktreaktionen
       zur Folge.

     ● Anders als das bestehende System der sozialen Sicherung ignoriere ein BGE wichtige Faktoren
       der Bedürftigkeit und führe dadurch zu Ausgabensteigerungen.

   Einleitung                                              In seinem im September veröffentlichten Gutach-
                                                           ten1 fragt der Wissenschaftliche Beirat beim BMF,
Seit Jahren wird in Deutschland ein BGE disku-             inwieweit das BGE eine finanzierbare Alternative
tiert, das allen Bürgerinnen und Bürgern als fester,       zu dem bestehenden System der sozialen Absiche-
monatlicher Betrag ausbezahlt wird, ohne dies an           rung in Deutschland darstelle.
Bedingungen zu knüpfen. Das BGE soll jedem ein
existenzsicherndes Einkommen garantieren, wo-
bei die Vorschläge der Befürwortenden eines BGE                Hoher Finanzierungsbedarf bei
in der Regel nicht detailliert ausgearbeitet sind. Ge-         einem existenzsichernden BGE
mein ist ihnen die Hoffnung, mit einem BGE Kin-
der- und Altersarmut sowie Hartz IV zu beenden.            Wenn das BGE das bisherige soziokulturelle Exis-
Bei erwerbsfähigen Bedürftigen bräuchte es keiner          tenzminimum für alle Bürgerinnen und Bürger ga-
stigmatisierenden Bedürftigkeitsprüfung mehr. Bei          rantieren will, muss es sich an den Leistungen des
Langzeitarbeitslosen könnten die Sanktionen ent-           bestehenden Systems der Grundsicherung orien-
fallen, wenn diese aktuell bestehenden Verpflich-          tieren. Der Regelbedarf soll die alltäglichen Kos-
tungen nicht nachkommen.                                   ten des Lebensunterhalts abdecken. Er liegt im
                                                           Jahr 2021 für Erwachsene bei monatlich 446 Euro,

                                                           1   Die Langfassung ist abrufbar unter https://www.
                                                               bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/
                                                               Ministerium/Wissenschaftlicher-Beirat/Gutachten/
                                                               bedingungsloses-grundeinkommen.html

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Analysen und Berichte                                                                         Monatsbericht des BMF
          Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF: Bedingungsloses Grundeinkommen                   November 2021

für Kinder je nach Alter zwischen 283 Euro und                           1.119 Mrd. Euro. Zur Gegenfinanzierung können aus
373 Euro.                                                                dem Sozialbudget die Leistungen der gesetzlichen
                                                                         Arbeitslosenversicherung und die Einkommens-

                                                                                                                                     Analysen und Berichte
Während der Regelsatz bundeseinheitlich festge-                          leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung he-
legt wird, werden die Leistungen für Unterkunft                          rangezogen werden, sowie sämtliche Förder- und
und Heizung regional entsprechend den Mietni-                            Fürsorgesysteme, wie z. B. Kindergeld, Elterngeld,
veaus differenziert. So sind etwa in München die                         Grundsicherung für Arbeitsuchende und Grundsi-
Mietkosten je nach Art der Bedarfsgemeinschaft                           cherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie
zwischen 40 Prozent und 50 Prozent höher als für                         Wohngeld. Beiträge zur Kranken- und der sozialen
vergleichbaren Wohnraum in Berlin. Solche regi-                          Pflegeversicherung können nicht gegengerech-
onal unterschiedlichen Bedarfe können bei einem                          net werden, da die entsprechende Versicherung als
existenzsichernden BGE nicht berücksichtigt wer-                         Teil des soziokulturellen Existenzminimums wei-
den. Es muss daher so hoch angesetzt werden, dass                        terhin mitfinanziert werden muss. Die Ansprüche
auch der höchste Bedarf durch das BGE vollständig                        aus der gesetzlichen Rentenversicherung haben Ei-
abgedeckt wird.                                                          gentumscharakter und stehen ebenfalls nicht zur
                                                                         Gegenfinanzierung zur Verfügung. Das gesamte
Bedingungslosigkeit erfordert, dass Erwachsenen                          Einsparpotenzial beläuft sich somit auf maxi-
und Kindern unabhängig von der Familiengröße                             mal 232 Mrd. Euro. Damit verbleibt eine Finanzie-
jeweils das gleiche Grundeinkommen ausbezahlt                            rungslücke von 887 Mrd. Euro. Die Abgabenquote
wird. Der Bedarf steigt jedoch unterproportional                         stiege damit selbst dann von 41,3 Prozent auf etwa
mit der Familiengröße und ist regional sehr unter-                       67,0 Prozent an, wenn durch die höheren Steuer-
schiedlich. Das BGE verzichtet darauf, dies bei der                      sätze wider Erwarten keine Beschäftigungsverluste
Bedarfsberechnung zu berücksichtigen, und führt                          einträten.
damit im Vergleich zum gegenwärtigen System der
Grundsicherung zu einer Umverteilung zugunsten
größerer Familien und zugunsten von Personen in                              Simulationsrechnungen:
Regionen mit niedrigem Mietniveau.                                           Verhaltensanpassungen und
Konkret müsste das BGE mindestens so angesetzt
                                                                             Gegenfinanzierung
werden, dass Alleinstehende in München weiter-
hin das soziokulturelle Existenzminimum in Höhe                          Der Beirat hat mithilfe des ifo Mikrosimulations-
von maximal 1.208 Euro monatlich erhalten wür-                           modells Arbeitsangebotseffekte mit in die Betrach-
den. Für Kinder ergibt sich aus der gleichen Überle-                     tung einbezogen und dabei verschiedene Varianten
gung heraus ein Bedarf von 684 Euro. Eine vierköp-                       des BGE dem Status quo des Jahres 2021 gegen-
fige Familie erhielte damit ein BGE von 3.784 Euro                       überstellt (s. a. Tabelle 1). Dies erlaubt es, die fiska-
im Monat. In München läge sie damit 1.008 Euro                           lischen, arbeitsmarkt- und umverteilungspoliti-
über dem Mindestbedarf, in Berlin um 1.495 Euro.                         schen Auswirkungen des BGE in Abhängigkeit von
                                                                         seiner Höhe zu veranschaulichen. Von Befürwor-
Dies führt zu einem entsprechend höheren Finan-                          tenden wird oft unterstellt, dass ein BGE keine nen-
zierungsbedarf. Bezahlt man für einen Erwachse-                          nenswerten negativen Beschäftigungseffekte nach
nen im Monat 1.208 Euro und für ein Kind 684 Euro,                       sich ziehe. Auch ein solches Szenario wurde ergän-
so beträgt der jährliche Finanzierungsbedarf                             zend berechnet.

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Analysen und Berichte                                                                           Monatsbericht des BMF
             Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF: Bedingungsloses Grundeinkommen                     November 2021

  Überblick über die Simulationsrechnungen                                                                                    Tabelle 1

                                                                                                            Steuersätze mit (ohne)
          Szenario                      BGE pro Monat                          Finanzierung                 Verhaltensanpassung
 1: Einstieg in das BGE       175 Euro (mit                         Aufkommensneutrale                ---
                              Verhaltensanpassungen)                Abschaffung des steuerlichen
                              200 Euro (ohne Verhaltensanpas-       Grundfreibetrags und des
                              sung)                                 steuerlichen Kinderfreibetrags
 2: Absicherung des           446 Euro für Erwachsene;              Aufkommensneutrale                Erhöhung des aktuellen Steuertarifs
 alltäglichen Bedarfs         373 Euro für Minderjährige            Abschaffung der steuerlichen      um 12 (5,5) Prozentpunkte
                                                                    Freibeträge und der
                                                                    Regelleistungen in der
                                                                    Grundsicherung
 3: Standardvorschlag         1.000 Euro für Erwachsene;            Abschaffung der                   A: + 54,9 Prozentpunkte,
                              500 Euro für Minderjährige            steuerlichen Freibeträge,         Defizit 200 Mrd. Euro
                                                                    der Grundsicherung und des        (+ 46,0 Prozentpunkte,
                                                                    Arbeitslosengelds I, Anhebung     aufkommensneutral)
                                                                    des Einkommensteuertarifs         B: 90 Prozent, Defizit 147 Mrd. Euro
                                                                    (Variante A) beziehungsweise      (77 Prozent, aufkommensneutral)
                                                                    Einführung einer proportionalen
 4: Existenzsicherndes BGE    1.208 Euro für Erwachsene;                                              A: + 54,9 Prozentpunkte,
                                                                    Einkommensteuer (Variante B)
                              684 Euro für Minderjährige                                              404 Mrd. Euro Defizit
                                                                                                      (+ 54,9 Prozentpunkte, Defizit
                                                                                                      57 Mrd. Euro)
                                                                                                      B: 90 Prozent, Defizit 348 Mrd. Euro
                                                                                                      (88 Prozent, aufkommensneutral)
 Quelle: Wissenschaftlicher Beirat beim BMF

Bei weitgehender Beibehaltung des bestehenden                               Arbeitslosengeld II (ALG II) in Höhe von 446 Euro
Steuer- und Transfersystems, der gesetzlichen So-                           im Monat für Erwachsene entspricht und dem
zialversicherungen und der sozialstaatlichen Leis-                          höchsten Regelsatz für Kinder in Höhe von
tungen (Szenario 1), könnte ein BGE in Höhe von                             373 Euro. Dieses BGE ersetzt die bedarfsabhängi-
175 Euro pro Monat aufkommensneutral finanziert                             gen staatlichen Leistungen für den alltäglichen Be-
werden, wenn der steuerliche Grundfreibetrag und                            darf, nicht jedoch die Leistungen für Wohnen. Zur
der steuerliche Kinderfreibetrag abgeschafft wür-                           Gegenfinanzierung können, da die BGE-Zahlungen
den. Dies würde allerdings zu einer höheren Grenz-                          die maximale Steuerentlastung durch den steuer-
steuerbelastung führen, die wiederum zu einem                               lichen Grundfreibetrag und den Kinderfreibetrag
Beschäftigungsrückgang (in Vollzeitäquivalenten)                            (sächliches Existenzminimum und Freibetrag für
von 4,1 Prozent führt. Rund 3,2 Prozent der Be-                             Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf)
schäftigten würden in der Folge ihre Arbeit voll-                           übersteigen, die Steuerfreibeträge vollständig ge-
ständig aufgeben. Ohne die negativen Beschäfti-                             strichen werden. Die Simulationen weisen hier ei-
gungseffekte ließe sich ein BGE von 200 Euro im                             nen Rückgang des Arbeitsangebotsvolumens um
Monat aufkommensneutral finanzieren, wobei ver-                             knapp 14 Prozent aus. Etwa 3,6 Millionen Personen
fassungsrechtliche Probleme verblieben, da gegen                            würden sich dafür entscheiden, überhaupt nicht
die Befreiung des Existenzminimums von der Be-                              mehr zu arbeiten. Mit diesen Verhaltensanpassun-
steuerung verstoßen würde.                                                  gen ist eine Anhebung des gegenwärtigen Steuerta-
                                                                            rifs um 12 Prozentpunkte über den gesamten Ta-
In Szenario 2 wird die aufkommensneu­   trale                               rifverlauf notwendig. Die Haushaltseinkommen
Einführung eines partiellen BGE betrachtet,                                 sinken im Durchschnitt um über 8 Prozent. Haus-
das dem im Jahr 2021 geltenden Regelsatz im                                 halte im untersten Einkommensdezil gewinnen

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Analysen und Berichte                                                                      Monatsbericht des BMF
            Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF: Bedingungsloses Grundeinkommen                November 2021

rund 33 Prozent hinzu, Haushalte im 2. und 3. Dezil                        staatliche Defizit beliefe sich im 3. Szenario auf
können mit einstelligen prozentualen Zuwächsen                             rund 200 Mrd. Euro jährlich, beim Szenario 4 be-
rechnen. Haushalte in den obersten drei Einkom-                            liefe sich das Defizit sogar auf über 400 Mrd. Euro.

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mensdezilen verlieren hingegen im Durchschnitt                             Bei Ersetzen der bestehenden Einkommensteuer
zwischen 13 Prozent und 19 Prozent.                                        durch eine proportionale Einkommensteuer von
                                                                           90 Prozent (Variante B) läge der Beschäftigungs-
                                                                           rückgang bei über 30 Prozent; das jährliche Defizit
    Dezil                                                                  läge bei 147 Mrd. Euro im Szenario 3 beziehungs-
                                                                           weise 348 Mrd. Euro in Szenario 4. Bereits ohne
    In der beschreibenden Statistik wird eine                              Berücksichtigung des Defizits verlören alle Haus-
    sortierte Liste beziehungsweise Verteilung                             haltstypen im Aggregat 9,7 Prozent an verfügbaren
    teils in Dezile (Zehntel) eingeteilt. Jedes De-                        Einkommen. Besonders stark wiederum wären die
    zil enthält dieselbe Anzahl von Daten (z. B.                           Verluste bei Paaren mit Kindern. Das verbleibende
    Messwerte); bei einer Liste mit 100 Daten                              Einkommen würde im großen Umfang umverteilt
    enthält jedes Dezil somit 10 Daten. Oft wer-                           werden. Die untersten Einkommen verdoppelten
    den Dezile verwendet, um Ungleichgewichte                              sich nahezu und auch die Einkommen des 2. bis
    in der Verteilung zwischen den jeweils „Un-                            5. Dezils stiegen deutlich an. Nettozahler wären die
    tersten“ und „Obersten“ (z. B. beim Einkom-                            Einkommensbezieher der obersten vier Dezile.
    men) deutlich zu machen.
                                                                           Ohne Anpassungen des Arbeitsangebots wäre ein
                                                                           existenzsicherndes BGE selbst durch die Abschaf-
In Szenario 3 wird ein BGE in Höhe von 1.000 Euro                          fung der steuerlichen Freibeträge und Anhebung
im Monat für Erwachsene und von 500 Euro im                                des Einkommensteuertarifs um 54,9 Prozent-
Monat für Kinder betrachtet. Es ersetzt neben den                          punkte (Variante A) aufkommensneutral nicht zu
bereits in Szenario 2 abgeschafften Sozialtransfers                        finanzieren. Eine aufkommensneutrale Gegenfi-
auch noch die bedarfsabhängige Wohnförderung                               nanzierung wäre allenfalls mit einer proportio-
und das ALG I, wenngleich dies das Existenzmini-                           nalen Einkommensteuer in Höhe von 88 Prozent
mum nicht mehr in jedem Fall sicherstellt. Zur Fi-                         möglich.
nanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
und der sozialen Pflegeversicherung werden wei-                            Bei solchen Grenzsteuersätzen stellt sich die Frage
terhin die Arbeitgeberbeiträge erhoben. Die Arbeit-                        nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit.
nehmerbeiträge werden jedoch abgeschafft und                               Durchschnittssteuersätze in einer Größenord-
das entstehende Defizit in den Sozialkassen durch                          nung von 75 Prozent und mehr rufen nach bisheri-
die allgemeine Einkommensteuer finanziert. Inva-                           gen Rechtsprechungslinien ernsthafte verfassungs-
liditätsbezogene Leistungen und Leistungen der                             rechtliche Probleme hervor.
Kinder- und Jugendhilfe bleiben erhalten.

Unter Berücksichtigung von Verhaltensanpassun-                                 Der kostspielige Verzicht auf
gen zeigt sich sowohl bei einem BGE von 1.000 Euro                             Information
für Erwachsene und 500 Euro für Kinder (Szena-
rio 3) als auch bei einem existenzsichernden BGE in                        Während in der Informationsgesellschaft gemein-
Höhe von 1.208 Euro für Erwachsene und 684 Euro                            hin Daten und Informationen eine immer höhere
für Kinder, dass eine aufkommensneutrale Ge-                               Bedeutung beigemessen wird, verzichtet ein BGE
genfinanzierung selbst bei einer Erhöhung des ge-                          selbst auf wichtige Informationen, die jetzt be-
genwärtigen Steuertarifs um 54,9 Prozentpunkte                             reits vorliegen und einfach zu erheben sind. Per-
(Variante A) nicht möglich wäre. Das Arbeitsvo-                            sonen mit erhöhtem Förderbedarf sind dann nicht
lumen würde um 27,5 Prozent zurückgehen, das                               mehr zu identifizieren, wenn Informationen zu

                                                                        41
Analysen und Berichte                                                                       Monatsbericht des BMF
          Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF: Bedingungsloses Grundeinkommen                 November 2021

Vermögen, Familienstand, Alter, Erwerbsfähigkeit,                        Personenkreis, der mit seinen Steuern das BGE zum
Intensität der Arbeitssuche und Ausbildung, tat-                         größten Anteil finanziert. Freizügigkeit umfasst im-
sächliche Mietkosten im Vergleich zum lokalen                            mer auch die Möglichkeit, sich den Zahlungen an
Mietniveau nicht mehr erhoben werden. Die Aus-                           ein großzügiges Sozialsystem durch Auswandern
gaben des BGE liegen damit wesentlich höher als                          zu entziehen. Zwar können sich Deutsche durch
der Betrag, der notwendig wäre, um allen Bürgen                          Wegzug nicht sofort und gänzlich der deutschen
ein existenzsicherndes Einkommen zu gewähren.                            Besteuerung entziehen. Aber die durch das Außen-
                                                                         steuergesetz vorgesehenen Einschränkungen gel-
Während ein BGE den Informationsbedarf hin-                              ten nur temporär und können einen weitgehenden
sichtlich der Bedürftigkeit senkt, wird der Infor-                       „brain drain“ und eine weitreichende Verlagerung
mationsbedarf an anderer Stelle jedoch deut-                             von Investitionen ins Ausland nicht verhindern.
lich ansteigen. Aufgrund der substanziell höheren
Grenzsteuersätze wird Schwarzarbeit attraktiver.
Deren Bekämpfung ist unabdingbar, wenn die Fi-                               Rechtliche Einordnung
nanzierung des BGE sichergestellt sein soll. Der
Staat muss daher die Kontrolle derjenigen ausdeh-                        Neben den ökonomischen Aspekten wären für eine
nen, die als Leistungsträger das BGE finanzieren.                        Einführung eines BGE auch zwei wichtige rechtli-
                                                                         che Fragen zu beantworten: Besitzt der Bund nach
                                                                         dem Grundgesetz (GG) die Gesetzgebungskompe-
   BGE und Freizügigkeit                                                 tenz für die Einführung eines BGE? Wäre ein BGE
                                                                         in der Sache mit der Verfassung vereinbar?
Die bisher vorgebrachten Argumente berücksich-
tigen nicht, dass Deutschland Mitglied der Euro-                         Eine Bundesgesetzgebungskompetenz ist nicht er-
päischen Union (EU) ist. Zu deren Grundfesten                            sichtlich. Der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1
gehören die EU-Freizügigkeitsregelungen, die es                          Nr. 12 GG, wonach die konkurrierende Bundes-
EU-Bürgerinnen und -Bürgern erlauben, sich in-                           kompetenz für die „Sozialversicherung“ vorgese-
nerhalb der EU frei anzusiedeln. Das gilt für Per-                       hen ist, passt nicht: denn alle Varianten des BGE, die
sonen, die sich entschließen, ihren Lebensmit-                           vorgeschlagen werden, sind gerade nicht nach dem
telpunkt aus einem anderen Land der EU nach                              Versicherungsprinzip ausgestaltet. Entsprechendes
Deutschland zu verlagern, und es gilt für Bürgerin-                      gilt für den Kompetenztitel der „öffentlichen Für-
nen und Bürger in Deutschland, die ihren Lebens-                         sorge“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG, denn hier ist kenn-
mittelpunkt in ein anderes Land der EU verlagern                         zeichnend, dass staatliche Leistungen einer konkre-
möchten.                                                                 ten Notsituation abhelfen sollen. Das ist beim BGE
                                                                         nicht der Fall. Rechtsfolge ist, dass den Ländern die
Personen mit unterdurchschnittlichen Erwerbs-                            Gesetzgebungszuständigkeit zukommt. Der Bund
möglichkeiten werden durch ein BGE angezogen,                            müsste daher zunächst eine Grundge­setz­änderung
vor allem, wenn das BGE Höhen erreicht, die deut-                        herbeiführen, um selbst gesetzgeberisch tätig wer-
lich über den Möglichkeiten zur Einkommenser-                            den zu können.
zielung im Heimatland der jeweiligen Person lie-
gen. Das macht das System wesentlich teurer als in                       Schwieriger sind inhaltliche Grenzen aus der Ver-
den Simulationen ausgewiesen und führt zu noch                           fassung zu bestimmen. Diese müssten anhand der
höheren Steuern.                                                         jeweils konkreten Vorschläge geprüft werden, ins-
                                                                         besondere, weil erhebliche Auswirkungen auf die
Wichtiger noch als diese Zuwanderungsanreize                             Staatsfinanzierung und auf das Sozialversiche-
erscheinen mögliche Abwanderungswirkungen                                rungssystem zu erwarten wären. Ein grundlegen-
für die Personen mit überdurchschnittlichen Er-                          der Umbau der Organisationsstruktur des Sozial-
werbseinkommen in Deutschland. Das ist der                               staats wird durch das GG nicht verhindert. Art. 87

                                                                      42
Analysen und Berichte                                                                     Monatsbericht des BMF
          Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF: Bedingungsloses Grundeinkommen               November 2021

Abs. 2 GG normiert zwar die Sozialversicherungs-                         Viele Posten des aktuellen Sozialbudgets stehen
träger, sofern sie mit Zuständigkeit über eine Bun-                      für eine Gegenfinanzierung nicht zur Verfügung.
deslandgrenze hinaus existieren, als mit Selbst-                         So entsteht mit der Einführung eines existenzsi-

                                                                                                                              Analysen und Berichte
verwaltung ausgestattete bundesunmittelbare                              chernden BGE ein Finanzierungsbedarf von knapp
Körperschaften. Das Sozialversicherungssystem                            900 Mrd. Euro jährlich. Simulationsrechnungen
könnte theoretisch jedoch abgeschafft werden, so-                        zeigen, dass bereits die Einführung eines partiel-
fern die grundrechtlich gebotenen Ziele anderwei-                        len BGE in Höhe der derzeit geltenden Regelsätze
tig erreicht werden.                                                     in der Grundsicherung zu weitreichenden negati-
                                                                         ven Arbeitsangebotsreaktionen führt. Ein wirklich
                                                                         existenzsicherndes BGE ist nicht mehr aufkom-
   Schlussbetrachtungen                                                  mensneutral zu finanzieren.

Die Idee eines BGE, das allen Bürgerinnen und                            Aus normativer Sicht ist ergänzend darauf hinzu-
Bürgern Existenzsicherung verspricht, gewinnt in                         weisen, dass das BGE mit einem umfassenden Ver-
Deutschland an Zustimmung. Das Gutachten des                             sorgungsanspruch das Subsidiaritätsprinzip ver-
Beirats zeigt jedoch, dass sich die Ausgaben eines                       letzt, das die Einzelverantwortung des Menschen
solchen Systems nicht finanzieren lassen. Die hö-                        in den Mittelpunkt stellt. Darauf hat der Beirat
heren Ausgaben beruhen zum einen darauf, dass                            bereits in einem Gutachten aus dem Jahre 2008
ein BGE Familiengröße und regionale Mieten                               hingewiesen.
nicht konditionieren kann und damit in vielen Fäl-
len über die reine Existenzsicherung hinausgeht.

                                                                      43
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