Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau - Kreativer Umgang mit dem Bestand

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Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau - Kreativer Umgang mit dem Bestand
Hessisches Ministerium für Wirtschaft,
Energie, Verkehr und Wohnen

3. Hessischer Preis
für Innovation und Gemeinsinn
im Wohnungsbau

                                           Kreativer
                                         Umgang mit dem
                                            Bestand
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau - Kreativer Umgang mit dem Bestand
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

            INHALT
            Seite:

            2        ——› 3. HESSISCHER PREIS FÜR INNOVATION UND GEMEINSINN IM WOHNUNGSBAU
            		Kreativer Umgang mit dem Bestand

            8        ——› NEUES WOHNEN IM BESTAND
            		Christian Holl, BDA Hessen

            10       ——› AUSGEZEICHNETE UND NOMINIERTE PROJEKTE
            12       ——› Standorte der 41 PROJEKTE
                     14   Der Oberhof in Ober-Erlenbach

                     18   AP2 — Das Quartiershaus in Praunheim

                     22   AdAptiv in Frankfurt am Main

                     26   Der Robinienhof in Sichertshausen

                     30   Die Mensch*Meierei in Unterrieden

                     34   Das Studico in Darmstadt

                     38   Die Alte Kelterei in Arnshain

                     42   Die Wohnhof Treysa GmbH

                     46   Das Alte Gericht in Wiesbaden

                     50   Die Kirche St. Martin in Martinsthal

                     54   Das Martin-Luther-Haus in Hanau

                     58   Das Haus Diener in Hofheim am Taunus

            62       ——› ANHANG
            		            Jury, Bildnachweise, Impressum

            In Kooperation mit:
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau - Kreativer Umgang mit dem Bestand
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

Der Hessische Preis für Innovation
und Gemeinsinn im Wohnungsbau

Wohnungsbau und Quartiersentwicklung müssen bereits
heute einer vielfältigeren, aber auch alternden Bevölkerung,
neuen Lebensentwürfen und dem Bedürfnis nach Gemein­
schaft und sozialem Miteinander gerecht werden.

Adäquate Wohnformen, gute nachhaltige Archi­         »Noch viel zu selten ist Wohnungsbau
tektur und eine hohe Lebensqualität drinnen wie      Baustein einer neuen Umbaukultur.
draußen sind dafür unerlässlich.
                                                     Durch Umnutzung des Bestands und
Dies kann nicht allein durch Neubau erreicht         gerade durch kreatives Weiterbauen
wer­den, sondern geschieht vielfach innerhalb
gewachsener Strukturen. Hier schaffen innovative
                                                     können aber nicht nurWohnbedürfnisse                                        1
Projekte unkonventionell zusätzlichen Wohnraum       Gestalt annehmen, auch der Flächen­
und sie werden häufig von engagierten Wohn­          verbrauch und CO2-Ausstoß werden
gruppen selbst oder in Zusammenarbeit mit
                                                     reduziert.«
weiteren kreativen Akteuren entwickelt.

Derartige Ideen und Ansätze verdienen es, einem
                                                     Tarek Al-Wazir
breiteren Fachpublikum zugänglich gemacht und
                                                     Hessischer Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen
unterstützt zu werden.

Dies hat sich der Hessische Preis für Innovation und Gemein­
sinn seit 2018 zur Aufgabe gemacht und dabei 2022 zum
dritten Mal aus einer Vielzahl von Einsendungen beispiel­
gebende Projekte prämiert.
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau - Kreativer Umgang mit dem Bestand
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

    3. HESSISCHER PREIS FÜR
    INNOVATION UND GEMEINSINN
    IM WOHNUNGSBAU
    Kreativer Umgang mit dem Bestand

    Das Land Hessen lobte 2022 zum dritten Mal den »Hessischen Preis für
    Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau« aus. Das Hessische Minis-
    terium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen kooperierte bei der
    Auslobung mit der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen. Gesucht
    wurden dieses Mal Projekte, die im Gebäudebestand für zusätzlichen
    Wohnraum sorgen.
    Mit dem Preis möchte das Land Immobilien, in denen bisher nicht gewohnt
    wurde, als Ressource für Wohnraum in den Fokus rücken und die Chancen,
    die in deren Umwandlung und Ergänzung liegen, sichtbar machen.

                Hintergrund                                      vielerorts noch immer der Mut und die Risiko­
2
                                                                 bereitschaft, die Umwandlung z. B. bisheriger
                Bereits in der »Leipzig-Charta« von 2007 wurde
                                                                 Nichtwohngebäude in attraktiven und bedarfs­
                Innenentwicklung vor Außenentwicklung
                                                                 gerechten Wohnraum anzugehen.
                gefordert, um so einen wichtigen Beitrag zur
                Reduzierung des Flächenverbrauchs zu leisten.    Mit der Entwicklung von großen umfangreich
                Die »Neue Leipzig-Charta« aus dem Jahr 2020      versiegelten Arealen wie den aufgegebenen
                betont angesichts der aktuellen Herausforde­     Militärflächen der 90er und 2000er Jahre und
                rungen die transformative Kraft der Städte und   mit der teilweisen Wiedernutzung ihres histo­
                wirbt für das Management und die Umnutzung       rischen wie neuzeitlichen Gebäudebestands
                des Bestands.                                    wurden viele Erfahrungen gemacht. Vor allem
                                                                 Künstler und Unternehmen der Kreativwirtschaft
                Auch beim bundesweiten Tag der Architektur
                                                                 eigneten sich in vergangenen Jahrzehnten alte
                2022, der dieses Jahr unter dem Motto »Archi­
                                                                 Fabrikgebäude und Produktionsstätten am
                tektur baut Zukunft« stattfand, lag ein beson­
                                                                 Stadtrand an, um dort – zum Teil ohne vorheri­
                derer Fokus auf den Aspekten Nachhaltigkeit,
                                                                 gen umfangreichen Ausbau – zu arbeiten und
                Ressourcenschonung und Kreislaufwirtschaft.
                                                                 zu wohnen.
                Zahlreiche Projekte befassten sich mit der
                Weiter- und Umnutzung von Gebäudebestand,        Zunehmend bieten sich – bedingt durch wirt­
                mit der Aufstockung und Umnutzung von Nicht­     schaftlichen und demografischen Struktur­
                wohngebäuden u. a. zu Wohnraum.                  wandel, aber auch durch Geschäftsaufgaben,
                                                                 Insolvenzen oder alternative Arbeitsmodelle im
                Gestiegene Preise für Boden, Material und
                                                                 Zuge der Corona-Pandemie – weitere Gebäu­
                Personal verdeutlichen aktuell noch einmal
                                                                 detypen an, die ihren ursprünglichen Bestim­
                Ressourcenknappheit und eingeschränkte Ver­
                                                                 mungszweck verloren haben, z. B. Bürobauten,
                fügbarkeit. Stichworte wie Urban Mining, graue
                                                                 Einzelhandelsgebäude, Hotels oder landwirt­
                Energie oder Umbaukultur fallen immer öfter.
                                                                 schaftliche Nebengebäude.
                Wie die Bundesarchitektenkammer in die­
                sem Zusammenhang anmerkte, fehlen aber
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Goldene Energie und eine                          einen Schritt weiter und forderten 2021 eine
neue Umbaukultur                                  »Umbauordnung« bzw. die Änderung der
                                                  Musterbauordnung, da die bisherigen Bauord­
Bisherige Nichtwohngebäude oder auch lange
                                                  nungen auf Neubau und Ersatzbau ausgerichtet
leerstehende Gebäude bieten »Potenziale,
                                                  seien.
welche sich in neue gestalterische Qualitäten
ummünzen lassen. […] Inzwischen gibt es etliche   Auch im aktuell angespannten hessischen Woh­
gute Beispiele dafür, dass sich vorhandene        nungsmarkt kann die Umnutzung des Bestands
auch abgeschriebene Substanz ansehnlich voll­     helfen – mitunter unkonventionell – zusätzlichen
enden und mit neuem Leben erfüllen lässt.« wie    Wohnraum bereitzustellen und dies möglichst
es im Handbuch zur Umbaukultur, das 2021 von      inmitten gewachsener Quartiere mit vorhande­
der Bundesstiftung Baukultur herausgegeben        ner Infrastruktur.
wurde, heißt.
                                                  Derartige Umwandlungen sind keine alleinige
Folgerichtig bezeichnet die Bundesstiftung den    Lösung zur Beseitigung der aktuellen Woh­
Gebäudebestand nicht als ›graue Energie‹, son­    nungsknappheit, aber das Kommunizieren
dern als ›goldene Energie‹ und fordert – auch     erfolgreicher Umwandlungsvorhaben, strategi­
was die gesetzlichen Rahmenbedingungen            scher Ansätze und wertvoller Hinweise für die
und Regularien sowie den Planungsprozess an­      Praxis tragen dazu bei, den Bestand als wert­
geht – eine »neue Umbaukultur, die auf Pflegen,   volle Ressource zu erkennen und zu nutzen.
Reparieren, Sanieren und kreatives Weiterbauen    Viele dieser Bestandsimmobilien liegen in den
setzt«.                                           (Innen)Städten und damit genau dort, wo am                                         3
                                                  meisten Wohnungen fehlen.
Bundesarchitektenkammer und Länderkam­
mern wie auch Architects4Future gingen noch

    Abriss muss
erschwert, Bestand
priorisiert werden.
           Bundesarchitektenkammer
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INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

                Auslobung                                          Von Bedeutung war darüber hinaus, auf welche
                                                                   Art und Weise die vorgeschlagenen Projekte
                Hier setzte der Hessische Preis für Innovation
                                                                   realisiert wurden oder werden, z. B. durch un­
                und Gemeinsinn im Wohnungsbau thematisch
                                                                   gewöhnliche Konstellation und Art der Zusam­
                an. Mit dieser Auslobung wurden besonders
                                                                   menarbeit von Akteuren, und welche Instru­
                Projekte angesprochen, die einen kreativen
                                                                   mente, Verfahren, Finanzierungsmodelle und
                Umgang mit bestehender Gebäudesubstanz
                                                                   Trägerschaften dabei eine Rolle spielen.
                aufweisen. Dies bezog sich neben dem eigent­
                lichen Umbau z. B. auf die Wiedernutzung           Sowohl Bauherrinnen und Bauherren, Architek­
                vorhandener bzw. recycelter Materialien und        tinnen und Architekten, Träger, Vereine, Verbän­
                Bauteile oder auf nachhaltige Energie- oder        de, Kirchen, Projektinitiativen und Bürgerinnen
                Mobilitätskonzepte, ferner auf besondere           und Bürger, Kommunen und andere Organisa­
                ­soziale oder gestalterische Konzepte.             tionen konnten Beiträge einreichen.

                Eingereicht werden konnten – unabhängig, ob
                in der Stadt, an der Peripherie oder im länd­
                                                                   Preisgeld
                lichen Raum gelegen – seit 2015 in Hessen reali­
                sierte oder aktuell geplante Projekte, bei denen   Der Preis war mit 75.000 Euro Preisgeld ausge­
                z. B. Bürogebäude, gewerbliche Gebäude,            stattet. Die Aufteilung des Preisgelds oblag der
                Kaufhäuser, Hotels, Sonderbauten wie K
                                                     ­ irchen      Jury. Das Verfahren war zweistufig aufgebaut.
                oder Parkhäuser oder auch ursprünglich land­       In einer ersten Stufe bewarben sich die Teilneh­
                wirtschaftliche Gebäude für Wohnzwecke um­         merinnen und Teilnehmer anhand eines kurzen
                gewandelt werden. In den Projekten mussten         Projektsteckbriefs. Die Jury wählte diejenigen
                mindestens zwei Wohneinheiten geschaffen           Projekte aus, die sich für eine zweite Stufe quali­
4               worden oder geplant sein. Die Nichtwohn­           fizierten, in welcher diese Beiträge dann detail­
                gebäude mussten als solche errichtet worden        lierter aufbereitet wurden. (Jury siehe Seite 63)
                sein. Nicht gemeint war die Revitalisierung von
                vorhandener Bausubstanz, die nun als Zweit­
                wohnsitz oder Feriendomizil genutzt wird.

                Wichtig war dem Auslober, dass die Ideen und
                vorgeschlagenen Maßnahmen innovativ sind,
                modellhaften Charakter haben und umsetzbar
                sind, z. B. durch private oder gemeinnützige
                Träger wie auch von öffentlichen Wohnungs­
                bauunternehmen.
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Die eingereichten Bewerbungen wurden anhand folgender
Kriterien bewertet:
  Innovationsgrad und Nachhaltigkeit

  Bereitstellung eines attraktiven und marktgerechten Wohnungsangebots

  Gestaltqualität / baukultureller Anspruch

  Funktionale und soziale Einbettung in das Quartier

  (projektabhängige) Berücksichtigung des historischen Erbes / Denkmalpflege

  Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Kosten der gefundenen Lösung

  Übertragbarkeit
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                Auszeichnungen und Preisverleihung              Homburg / Ober-Erlenbach, der Robinien­
                                                                hof in Fronhausen-Sichertshausen und die
                Neun der insgesamt eingereichten 40 Projekte
                                                                Mensch*Meierei in Witzenhausen / Unterrieden.
                aus ganz Hessen teilen sich für ihre kreative
                Umnutzung von Nichtwohngebäuden den
                                                                Staatssekretär Jens Deutschendorf gratulierte
                »Hessischen Preis für Innovation und Gemein­
                                                                den Siegerprojekten und überreichte ihnen im
                sinn im Wohnungsbau«. Die Preisverleihung
                                                                Oberhof, einer ehemals landwirtschaftlichen
                fand Ende August 2022 im Bad Homburger
                                                                Domäne und heute ein genossenschaftlich
                Stadtteil Ober-Erlenbach statt.
                                                                organisiertes Wohnprojekt, die Urkunden.

                Einen ersten Preis in Höhe von jeweils 11.000
                                                                Anerkennungen, dotiert mit jeweils 5.000 Euro,
                Euro erhielten insgesamt fünf Projekte: zwei
6                                                               sprach die Jury für das Studierendenwohn-
                Projekte in Frankfurt am Main, das zukünfti­
                                                                heim Studico in Darmstadt, die Alte Kelterei in
                ge genossenschaftliche Wohnprojekt in der
                                                                Kirtorf / Arnshain, die Wohnhof Treysa GmbH
                ehemaligen Akademie der Arbeit sowie das
                                                                in ­Schwalmstadt und das Alte Gericht ­in
                Quartiershaus Praunheim, der Oberhof in Bad
                                                                ­Wiesbaden aus.
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau - Kreativer Umgang mit dem Bestand
7
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau - Kreativer Umgang mit dem Bestand
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

    NEUES WOHNEN IM BESTAND
    Christian Holl, BDA Hessen

                Die Maxime für die kommenden Jahre im                  nehmen, heißt nicht in erster Linie neue Häuser
                Bauen ist der Erhalt des Bestehenden und der           so zu bauen, dass deren Bauteile irgendwann
                sensible Umgang mit den Materialien, Bau­              einmal wieder verwendet werden können. Es
                teilen und Strukturen, die bereits vorhanden           heißt auch nicht zu suggerieren, es gelte d
                                                                                                                 ­ en
                sind: »Bauen muss vermehrt ohne Neubau                 Bestand und das Baumaterial daraufhin zu
                auskommen. Priorität kommt dem Erhalt und              untersuchen, wie man daraus am besten etwas
                dem materiellen wie konstruktiven Weiterbauen          Neues entwickeln könnte.
                des Bestehenden zu und nicht dessen leichtfer­
                tigem Abriss. Die »graue Energie«, die vom Ma­         Wirklich im Sinne der Kreislaufwirtschaft wäre
                terial über den Transport bis zur Konstruktion         es, schlicht und ergreifend einfach erst einmal
                in Bestandsgebäuden steckt, wird ein wichtiger         so viel wie möglich stehen zu lassen. Denn
                Maßstab zur energetischen Bewertung sowohl             viele der im Bau verwendeten Materialien und
                im Planungsprozess als auch in den gesetzli­           Produkte, allen voran Beton, lassen sich eigent­
                chen Regularien. Wir brauchen eine neue Kultur         lich nur dann auf der gleichen Qualitätsstufe
8               des Pflegens und Reparierens.«                         erhalten, also ohne erneute Zufuhr von Wasser,
                                                                       Energie und weiteres Material wie Bindemittel,
                So hatte es der BDA in seinem 2020 veröffent­          wenn das Gebäude, für das er verwendet wur­
                lichten Manifest »Das Haus der Erde« postuliert.       de, erhalten bleibt. Das neue Ideal der Kreis­
                Es ist angesichts der enormen Herausforde­             laufwirtschaft entbindet uns im Bauen gerade
                rungen, dem Klimawandel zu begegnen und                nicht davon, dem Bestand eine sehr viel höhere
                den CO²-Ausstoß zu reduzieren, kaum mehr               Aufmerksamkeit zu schenken, als das derzeit
                hinnehmbar, dass Abriss in den meisten Fällen          der Fall ist.
                immer noch genehmigungsfrei ist. So wird
                laufend wertvolle – sanierungsfähige – Bausubs­        Wir sind hierbei aufgefordert, tatsächlich Neues
                tanz abgerissen. In den Jahren 2015 bis 2019           zu leisten: Nämlich das Neue als eine stetige
                wurden, so ermittelten es die Architects4Future,       Aneignung und Anverwandlung der bestehen­
                »im Jahr durchschnittlich rund 1,9 Mio. qm             den Bausubstanz zu verstehen. Darin liegt ein
                Wohnfläche und 7,5 Mio. qm Nutzfläche abge­            noch nicht ausreichend erkanntes gestalte­
                                              rissen – ohne Prüfung,   risches Potenzial, denn das Bauen mit dem
                                              ob das Vorhandene        Vorhandenen erlaubt es, die Fülle des Beste­
                                              als Gebäude insge­       henden als Ausdrucksmittel zu nutzen, daraus
                                              samt oder zumindest      Ornamente zu entwickeln, neue Kombinationen
                                              einzelne seiner Bau­     zu wagen. Mit dem Schwerpunkt auf dem­­Be­
                                              teile weiter genutzt     stand könnte die Architektur gegenüber einer
                                              werden können.«          am Neubau gemessenen Ästhetik lebendiger
                                                                       werden, an Ausdrucksmöglichkeiten gewinnen.
                                              Demgegenüber
                                              steht auch im Bauen      Architektinnen und Architekten müssten die
                                              das neue Ideal der       Veränderungen durch Nutzerinnen und Nutzer
                                              Kreislaufwirtschaft.     nicht als Beschädigung verstehen, sondern als
                                              Dieses Ideal ernst zu    das Fortführen des Potenzials, das ihnen die
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

Architektur eröffnet. Die Aufgabe, die sich stellt,   neue Qualitäten öffnen. Nutzungsoffene Räume
ist also auch eine nicht zu unterschätzende           für die Gemeinschaft, aneignungsfreundliche
kulturelle Herausforderung. Und es ist eine, der      Konzepte haben hier eine große Chance – und
gerade nicht mit schematischen Musterlösun­           damit kann genau das umgesetzt werden, was
gen begegnet werden kann, die mit standardi­          im standardisierten Neubau so schmerzlich
sierten Modellen über das hinweggehen, was            ­vermisst wird.
den Bestand und dessen sozialen Wert aus­
macht. Nur so kann es dann auch praktikabel           Umbau im Bestand ist gerade keine Praxis, die
werden, Sanierung nicht als Bedrohung einer           sich reduzieren ließe auf technische oder wirt­
sozial verantwortlichen Vermietungspraxis zu          schaftliche Aspekte bzw. auf ihre vom Sozialen
positionieren und dabei energetische Ertüch­          entkoppelte, technokratische Umsetzung. Es ist
tigung gegen bezahlbaren Wohnraum auszu­              im Gegenteil, eine Chance, Modelle des Ge­
spielen.                                              meinsamen zu entwickeln. Und so ist es viel­
                                                      leicht kein Zufall, dass sich im Bestand Hinweise
Das Bauen im Bestand bietet enorme Poten­             dafür finden lassen, wie das Wohnen in Zukunft
ziale auch für einen anderen, zukunftsfähigen         gedacht werden kann: als gemeinschaftlich
Wohnungsbau. Wenn sich die Rahmenbedin­               orientiertes Wohnen, als Alternative zum Ein­
gungen, die Prämissen ändern, unter denen die         familienhaus, mit großzügigen Raumangebo­
Häuser gebaut worden sind, wenn sich über             ten für die gemeinsame Nutzung und damit
die ursprüngliche Nutzung und Bauabsicht              letztlich auch als Reaktion auf demografische
ein neues Programm oder eine neue Funktion            Entwicklungen.
legt, entstehen produktive Leerräume, die
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

     Ausgezeichnete und
     nominierte Projekte

10
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

              Robinienhof in Fronhausen / Sichertshausen

              DIE AUSZEICHNUNGEN

  1. PREIS    Auszeichnungen mit einem Preisgeld von jeweils 11.000 Euro
              erhielten folgende Projekte:
                Oberhof in Bad Homburg / Ober-Erlenbach
                Robinienhof in Fronhausen / Sichertshausen
                Ehemalige Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main /
                Bockenheim
                Quartiershaus AP2 in Frankfurt am Main / Praunheim
                Mensch*Meierei in Witzenhausen / Unterrieden
                                                                                                          11

ANERKENNUNG
              Anerkennungen mit einem Betrag von jeweils 5.000 Euro
              ­wurden ausgesprochen für die Projekte:

                Studico Studierendenwohnheim ín Darmstadt
                Alte Kelterei in Kirtorf / Arnshain
                Wohnhof Treysa in Schwalmstadt / Treysa
                Altes Gericht in Wiesbaden
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     STANDORTE DER
     41 PROJEKTE
                                                                                           HOFGEISMAR

                                                                                           GREBENSTEIN
                                                                                  BREUNA

                                                                KORBACH                                     WITZENHAUSEN
                                                                                             KASSEL (2)

                                                                                                              ESCHWEGE

                                                                           SCHWALMSTADT

                                                         MARBURG

                                                FRONHAUSEN                  KIRTORF

                                                   BIEBERTAL

                                                         GIESSEN
                                                                                                          DIPPERZ
12                                                       LICH

                                                                       HUNGEN

                                                      FRIEDBERG

                                       BAD HOMBURG
                                                                                  WÄCHTERSBACH
                                    OBERURSEL
                                                  FRANKFURT A.M. (5)
                                                              HANAU
                    WIESBADEN (2)

                                   HOFHEIM               OFFENBACH (3)
          ELTVILLE

                                           DARMSTADT (2)
                                                            GROß-UMSTADT

                                         OBER-RAMSTADT             HÖCHST I.O.
                                                FISCHBACHTAL
                                                                     LÜTZELBACH
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

KOMMUNE             PROJEKTNAME                                                               PREIS

BAD HOMBURG         Oberhof Ober-Erlenbach                                                    1. PREIS                       ——› S. 14

BIEBERTAL           Scheunenumbau Frankenbach                                                 PHASE 1

BREUNA              Modernes Wohnen in alten Mauern                                           PHASE 1

DARMSTADT           Studico Studierendenwohnheim                                              ANERKENNUNG                    ——› S. 34

                    Soziales Ausbildungs- und Integrationszentrum Eberstadt                   PHASE 1

DIPPERZ             Schwab'scher Hof                                                          PHASE 1

ELTVILLE            Kirche St. Martin Martinsthal                                             NOMINIERT                      ——› S. 50

ESCHWEGE            Revitalisierung ehemalige Stockfabrik                                     PHASE 1

FISCHBACHTAL        Alte Post Billings                                                        PHASE 1

FRANKFURT AM MAIN   AP2 – Quartiershaus Praunheim                                             1. PREIS                       ——› S. 18

                    AdAptiv – Ehemalige Akademie der Arbeit Bockenheim                        1. PREIS                       ——› S. 22

                    Wohn- und Apartmenthaus Lyoner Straße                                     PHASE 1

                    Transformation Frankfurter Philosophicum                                  PHASE 1

                    Wohnhäuser Sonnemannstraße                                                PHASE 1

FRIEDBERG           Studierendenwohnheim »In der Burg«                                        PHASE 1

FRONHAUSEN          Robinienhof Sichertshausen                                                1. PREIS                       ——› S. 26

GIESSEN             Scheunenausbau Rödgen                                                     PHASE 1

GREBENSTEIN         Wohnkonzept Blauer Wandstein                                              PHASE 1

GROSS-UMSTADT       Kreativ@Halle Richen                                                      PHASE 1

HANAU               Martin Luther Haus                                                        NOMINIERT                      ——› S. 54      13
HÖCHST / ODW.       Dreiseithof Pfirschbach                                                   PHASE 1

HOFGEISMAR          MehrGenerationenHof Friedrichsdorf                                        PHASE 1

HOFHEIM             Haus Diener                                                               NOMINIERT                      ——› S. 58

HUNGEN              Umbau Scheune                                                             PHASE 1

KASSEL              Salzmann-Höfe Bettenhausen                                                PHASE 1

                    Landwirtschaftlicher Resthof Immenhausen                                  PHASE 1

KIRTORF             Alte Kelterei Arnshain                                                    ANERKENNUNG                    ——› S. 38

KORBACH             Mehrgenerationenwohnen im Baudenkmal                                      PHASE 1

LICH                Alte Schulhöfe                                                            PHASE 1

LÜTZELBACH          Umbau Scheune Rimhorn                                                     PHASE 1

MARBURG             Sonnenhof Gisselberg                                                      PHASE 1

OBER-RAMSTADT       Weberhaus                                                                 PHASE 1

OBERURSEL           Aumühle                                                                   PHASE 1

OFFENBACHAM MAIN    Hau-Fabrik                                                                PHASE 1

                    Umbau Parkhaus                                                            PHASE 1

                    Ricker-Fabrik                                                             PHASE 1

SCHWALMSTADT        Wohnhof Treysa GmbH                                                       ANERKENNUNG                    ——› S. 42

WÄCHTERSBACH        Alte Schule Hesseldorf                                                    PHASE 1

WIESBADEN           Altes Gericht                                                             ANERKENNUNG                    ——› S. 46

                    Pressehaus                                                                PHASE 1

WITZENHAUSEN        Mensch*Meierei Unterrieden                                                1. PREIS                       ——› S. 30
1. PREIS

     DER OBERHOF
     IN OBER-ERLENBACH
     Ein Treffpunkt im und für den Stadtteil
     Planung: acr+ architekten | Antje Riedl, Bad Homburg | www.lebensraum-oberhof.de

                 Die Hofanlage des Oberhofs im Bad Homburger Stadtteil Ober-Erlenbach be-
                 herbergt nach der Fertigstellung der Umbauarbeiten überwiegend Wohnnutzung,
                 ergänzt durch soziale und kulturelle Angebote wie ein Stadtteil- und Familien-
                 zentrum, ein Jugendzentrum, eine Stadtteilbibliothek, eine Beratungsstelle der
                 Diakonie sowie Ateliers, einen Hofladen mit Café und einen Frisör. Es sind 29
                 Wohnungen entstanden, die alle genossenschaftlich vermietet werden. 16 dieser
                 Wohnungen befinden sich im Bestand. Mit den unterschiedlichen Wohnungs-
                 formen und -größen werden Menschen aller Altersgruppen und Lebensformen
                 angesprochen. Die Altersstruktur der Bewohner reicht von 0 bis 91 Jahre.

     Ursprüngliche Nutzung                                         umstellte und Teile der Räumlichkeiten Architekten,
                                                                   Künstlern und Gewerbetreibenden überließ, die
14   Der Oberhof war eine hessische Staatsdomäne mit
                                                                   einen kleinen Teil der ungenutzten Stallungen für ihre
     Pächterhaus, Landarbeiterhaus, Stallungen, Scheu­
                                                                   Zwecke ausbauten. Auf dem Oberhof wurde vom
     nen, Fruchtspeicher und Offenstall. Er wurde in der
                                                                   NABU lange Zeit die historische Obstpresse bedient,
     ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abschnittsweise als
                                                                   um die umliegenden Streuobstwiesenernte zu Saft
     Dreiseithof erbaut. Im Nord-, im West- und im Südflü­
                                                                   und Apfelwein zu verarbeiten. Ober-Erlenbach ist
     gel befanden sich in den Erdgeschossen Stallungen,
                                                                   dank des (Verfahrens)Erfinders Josef Baumann die
     Traktor- und Kutschengaragen und in den Dachstüh­
                                                                   Geburtsstätte des Süßmostverfahrens. Veranstaltun­
     len Fruchtspeicher. In den 1960er Jahren kam an der
                                                                   gen im Rahmen der Apfel- und Streuobstwiesen-Rou­
     östlichen Grenze des rund 7.000 qm großen Grund­
                                                                   te, die Bad Homburger Kunstwerkstatt, das Ernte­
     stücks eine Halle hinzu, die anfangs als Offenstall,
                                                                   dankfest u. a. zogen und ziehen viele Besucherinnen
     später als Maschinenhalle diente. Ende der 1990er
                                                                   und Besucher in den Oberhof. Mit der Zeit entstand
     Jahre wurde der Oberhof als Einzelkulturdenkmal im
                                                                   hier ein Ort der Gemeinschaft, der mit der Veräuße­
     geschichtlichen Sinn in die Denkmalliste des Landes
                                                                   rung der Domäne im zunächst geplanten Bieterver­
     Hessen aufgenommen.
                                                                   fahren 2008 zu zerbrechen drohte.
     Der Oberhof liegt zentral im Bad Homburger Stadt­
     teil Ober-Erlenbach, welcher von der Kernstadt
     durch die A5 getrennt ist. Ober-Erlenbach ist dörflich        Circa zwölf Jahre bis zur Realisierung des
     geprägt, war es doch bis in die 1970er Jahre unab­            Mehrgenerationen-Wohnprojekts
     hängig und dem Wetteraukreis zugehörig. Erst im
                                                                   2008 wurde das seit 1997 im ehemaligen Kälbchen-
     Rahmen der Gebietsreform wurde Ober-Erlenbach
                                                                   stall der Anlage ansässige Architektenbüro acr+
     ein Stadtteil von Bad Homburg.
                                                                   architekten auf den beabsichtigten Verkauf des
     Bis Mitte der 1990er Jahre wurde der Oberhof land­            Oberhofs durch die Hessische Landgesellschaft
     wirtschaftlich genutzt und war der Öffentlichkeit nicht       (HLG) aufmerksam und wurde vom Ortsbeirat auf­
     zugänglich. Mit dem Pächterwechsel 1996 kam eine              grund seines engen Bezugs zur Liegenschaft um die
     junge Landwirts-Familie auf den Hof, die den kon­             Entwicklung eines Nutzungskonzepts gebeten. Schon
     ventionellen Betrieb auf ökologische Landwirtschaft           in dieser Phase interessierten sich sehr viele Personen
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

für das künftige gemeinschaftliche Wohnprojekt, dar­          eine Verkaufsausschreibung hätte die Domäne in die
unter viele Bewerberinnen und Bewerber für bezahl­            Hände des meistbietenden Investors gegeben und
                                                                                                                                           15
baren Wohnraum. Von Beginn an äußerte auch die                der Verein, der sich den Erhalt und die Umnutzung
Diakonie Raumbedarf, ebenso der Verein für psycho­            der Liegenschaft zum Ziel gesetzt hatte, wäre im
soziale Hilfe, die Stadtteilbibliothek, die Krabbelstube      Bieterverfahren nicht zum Zug gekommen.
und die Volkshochschule.
                                                              2012 erwarb schließlich die Stadt Bad Homburg
Zu dieser Zeit wurde der Verein »Lebensraum Ober­             – nach längerer kontroverser Diskussion im Stadt­
hof« gegründet, u. a. mit dem Ziel, auf kommunaler            parlament – im Rahmen ihres Vorkaufsrechts die Im­
Ebene besser wahrgenommen zu werden. Zahlrei­                 mobilie vom Land Hessen und entschied sich für das
che Projektvorstellungen in den Fraktionen und bei            Konzept des Vereins. Die Stadt trat und tritt in drei
öffentlichen Veranstaltungen rückten das geplante             unterschiedlichen Rollen auf: als Eigentümerin und
Mehrgenerationenprojekt zunehmend in die öffent­              Erbpachtgeberin, Genehmigungsbehörde und als
liche Wahrnehmung. So erhielt der Verein z. B. über           Genossenschaftsmitglied.
4.000 Unterschriften aus der Bevölkerung, mit denen
                                                              Parallel dazu wurde die Genossenschaft »Unser Ober­
die geplante Nutzung der Hofanlage als Mehrge­
                                                              hof e.G.« gegründet, bestehend aus fünf engagierten
nerationenprojekt unterstützt werden konnte. Denn

              Der Umgang mit dem Bestand ist nicht historisierend, sondern
            integriert moderne Elemente, zum Beispiel bei den neuen teilweise
            verglasten Zugängen in den ehemaligen großen Stallungsportalen.
                Das Projekt ist auf andere große landwirtschaftliche Höfe
            übertragbar. Das Trägermodell ist eine nicht an Rendite orientierte
              Genossenschaft, die langfristig bezahlbaren Wohnraum sichert.
                                              Holger Zimmer (Jurymitglied)
1. PREIS

                Ehrenamtlichen, dem Vorsitzenden des Vereins           Drei Haus-im-Haus-Atelierhäuser über
                Lebensraum Oberhof und Vertretern der Stadt.           jeweils drei Ebenen mit 120 qm und mit
                Nach weiteren zwei Jahren lag ein rechtskräf­          Garten
                tiger Bebauungsplan vor und die Planungen
                                                                       Ein Loft im historischen Sprengwerk über
                wurden konkretisiert. Die Ankermieter, die von
                                                                       dem ehemaligen Kuhstall
                Anfang an dabei sein wollten, bestätigten ihr
                Interesse und Engagement und auch die Stadt            Drei Wohnungen im historischen Fachwerk
                verpflichtete sich zur Anmietung von rund              des ehemaligen Pächterhauses mit Garten
                800 qm im Nordflügel für die Stadtteilbiblio­
                                                                    Im Neubau des Ostflügels sind 13 Wohnungen
                thek, das Jugendzentrum sowie das Stadtteil-
                                                                    mit 48 qm bis 99 qm untergebracht. Sämtliche
                und Familienzentrum. Nach Grundsteinlegung
                                                                    Wohnungen verfügen über Westbalkone oder
                und Baubeginn im Mai 2019 – und nach einem
                                                                    -terrassen und elf dieser Neubau-Wohnungen
                verheerenden Dachstuhlbrand im Südflügel
                                                                    sind barrierefrei. Neben den rund 40 % barriere­
                im August 2020 – wurde im September 2021
                                                                    freien Wohnungen sind auch das Stadtteil- und
                ­endlich die Fertigstellung des Mehrgeneratio­
                                                                    Familienzentrum, die Arztpraxis, die Diakonie,
                nenprojekts gefeiert. Rund 4.500 qm Wohn-
                                                                    die Stadtteilbibliothek sowie das Jugendzen­
                Nutzfläche konnten an die nicht an Rendite
                                                                    trum, der Hofladen und der Frisör barrierefrei
                orientierte Genossenschaft übergeben werden.
                                                                    erreichbar.

                                                                    Alle Wohnungen im Oberhof werden genos­
                Neuer Wohnraum im »Vierseithof«                     senschaftlich vermietet. Die Mieterinnen und
                                                                    Mieter werden Mitglieder der Genossenschaft
                Von den insgesamt 29 neuen Wohneinheiten
                                                                    und erwerben über die Genossenschaftsanteile
                im Oberhof befinden sich 16 im denkmal­
                                                                    Mietrecht. Die Mietflächen sind spekulationsfrei.
                geschützten Westflügel und Südflügel. Sie
16                                                                  Die Mieten liegen mit 11,50 bis 12,50 Euro pro
                passen sich den historischen Strukturen an
                                                                    qm deutlich unter dem üblichen Quadratmeter­
                und sind schonend in den Bestand eingefügt.
                                                                    preis in der Region.
                Bemerkenswert ist die effiziente Erschließung
                des Obergeschosses eines Gebäudeteils über          Der öffentlich zugängliche Innenhof des Ober­
                einen Laubengang, der auch Begegnungen              hofs mit Spielplatz und vielen Sitzgelegenhei­
                fördert. Die Wohnungen im Bestand umfassen:         ten ist autofrei und lädt nicht nur die Bewohne­
                                                                    rinnen und Bewohner, sondern auch Menschen
                   Eine Ein-Zimmer-Wohnung mit 40 qm im
                                                                    aus dem Stadtteil oder umliegenden Gemein­
                   ehemaligen Kälbchenstall mit Kreuzgrat­
                                                                    den zum Verweilen ein. Der alte Baumbestand,
                   gewölben und Sandsteinsäulen
                                                                    ein Ahorn und ein Nussbaum, wurde erhalten
                   Acht Maisonettewohnungen von 80 qm bis           und mit historischen Apfelsorten ergänzt.
                   160 qm (drei bis sechs Zimmer) in den histori­
                                                                    Der Stellplatznachweis wurde auf Basis der Bad
                   schen Dachstühlen mit Balkonen und Gärten
                                                                    Homburger Satzung geführt. Aufgrund der
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                       Der Oberhof war bereits vor dem Umbau und ist nach
                       wie vor ein öffentlicher Ort, der Charakter der Vierseit-­
                       Hofanlage wurde in gelungener architektonischer
                       ­Form gewahrt. Es ist eine lebendige Nutzungsmischung
                        entstanden.

vielfältigen Nutzungen wurde ein Gleichzeitig­    Da aus Gründen des Denkmalschutzes keine
keits-Schlüssel entwickelt, um Parkplätze nach    Solardächer möglich waren, versorgt ein eige­
Nutzungszeiten tagsüber, abends bzw. nachts       nes Blockheizkraftwerk die Gebäude über ein
und am Wochenende mehrfach zu belegen.            Nahwärmenetz. Der Neubau erfüllt den KfW 55                                      17
                                                  Standard, die Wohnungen in den historischen
                                                  Gebäuden genügen den Anforderungen an ein
Nachhaltiges Bauen im Denkmal                     KfW-Denkmal. Ein Innenwanddämmsystem auf
                                                  Kalziumsilikatbasis sorgt für behagliche Ober­
Die Nutzungen sind sensibel in die vorhan­
                                                  flächentemperaturen. Eine Außendämmung
denen Strukturen eingefügt, die Eingriffe in
                                                  kam aus Gründen des Denkmalschutzes nicht
den historischen Bestand konnten minimiert
                                                  in Frage. Die historischen Dachstühle wurden
werden. Alte Toröffnungen, die im Laufe der
                                                  ertüchtigt, sodass sie mit 27,5 cm Zellulosedäm­
landwirtschaftlichen Nutzung zugemauert wur­
                                                  mung und zusätzlichen Holzweichfaserplatten
den, sind wieder geöffnet worden und bilden
                                                  die Anforderungen an den Wärmeschutz über­
nun großzügig verglaste Eingangsbereiche.
                                                  durchschnittlich erfüllen.
Die Stallungen weisen teilweise aufwändige
Kreuzgewölbe und weit gespannte Tonnenge­         35 cbm Staukästen puffern bei Starkregenereig­
wölbe auf, die von Sandsteinsäulen getragen       nissen die Wassermengen, um das Entwässe­
werden. Die Dachstühle wiederum bestehen          rungssystem zu entlasten. Die Gärten werden
aus schönen Sprengwerken und gut erhalte­         naturnah und mit Gemeinschaftsflächen mit
nen Tragwerken. All dies konnte beim Ausbau       heimischen Gehölzen, Stauden und Hochbee­
größtenteils sichtbar erhalten werden. Ziegel,    ten gestaltet. Sie kommen ohne Zäune und
Holz und Bruchsteine, die beim Umbau anfie­       Trennungen aus. Das kürzlich neu gebaute
len, sind wieder verwendet worden. Historische    Palettenhaus beherbergt Fahrräder und in
Fenster wurden saniert und zu Kastenfenstern      einem separaten Raum die Müllcontainer. Es
ertüchtigt. Sowohl der Innenbereich als auch      wird zudem begrünt und dient als vertikaler
die Fassaden wurden mit natürlichen, nach­        Kräutergarten.
haltigen Materialien saniert. Das Landesamt für
Denkmalpflege bezuschusste die Sanierung
alter Metall-Sprossenfenster und bauzeitlicher
Holzfenster.
1. PREIS

     AP2 — DAS QUARTIERSHAUS
     IN PRAUNHEIM
     Von der Werkstatt zum Wohnraum für Künstler
     und Geflüchtete
     Planung: BSMF mbH, Frankfurt am Main | www.bsmf.de

                 Nachdem die Praunheimer Werkstätten ihren Betrieb 2015 einstellten,
                 wurde im Stadtteil die Einrichtung eines inklusiven Quartiershauses diskutiert.
                 2016 übernahm die KEG die Liegenschaft und begann mit den Sanierungs-
                 und Umbau­arbeiten. Das Gebäude stellt nun Wohnraum für Geflüchtete bereit,
                 ermöglicht aber auch kulturelle Aktivitäten und bietet Raum für Künstler und
                 einen Jugendclub. Der Umbau zeichnet sich durch behutsamen Umgang mit
                 den prägenden Fassaden und historischen Einbauten aus.

18

     Das Bestandsgebäude des neuen Quartiershauses in       Vor dem Hintergrund des steigenden Interesses an
     Praunheim ist ein Kulturdenkmal, welches in den 60er   gemeinschaftlichen Wohnformen zum einen und den
     Jahren als »Beschützende Werkstatt« errichtet wurde.   Erfordernissen des Bundesteilhabegesetztes zum
     Neben den Werkhallen und den Umkleide- und             anderen, wurden gemeinschaftliche und inklusive
     Sanitärräumen umfassten die »Praunheimer Werkstät­     Wohnprojekte in der ehemaligen Werkstatt diskutiert
     ten« einen Speisesaal nebst Küche sowie Sozial- und    und ein Konzept zur Entwicklung des Gebäudes im
     Verwaltungsräume. Als Ende 2015 der Träger der         Sinne eines inklusiven Quartiershauses entworfen. Es
     Werkstatt den Standort aufgab und das Gebäude aus      beinhaltete die Schaffung von gemeinschaftlichen
     der Nutzung fiel, war das Interesse an einer sozial    und inklusiven Wohnangeboten (vorgesehen waren
     ausgerichteten Folgenutzung des Gebäudes im            mindestens zehn Wohneinheiten), Atelier- und Aus­
     Stadtteil groß.                                        stellungsräumen für Kunstschaffende, Räume für eine
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        Geflüchtete in einem architektonisch und baukulturell interessanten,
        denkmalgeschützten Gebäudekomplex mit Wohnraum zu versorgen,
           wird im positiven Sinne als »radikal« und innovativ gewertet.
        Das Projekt AP2 ist ein vielversprechendes Beispiel für einen durch
      Umnutzung ehemaliger Werkstattbauten entstandenen aktiven Quartiers­­
       baustein, der Praunheim vielfältige Impulse gibt, eine hohe Akzeptanz
      hat und prinzipiell auf viele andere städtische Quartiere übertragbar ist.
                                             Prof. Nanni Grau (Jurymitglied)

bürgerschaftliche Nutzung sowie die Unterbrin­          Das Gebäude gliedert sich in mehrere Berei­
gung eines Jugendclubs aus dem Stadtteil mit            che: Der ehemalige Verwaltungstrakt mit dem
offenen Angeboten für die Bewohnerinnen und             Haupteingang liegt im Nordosten des Gesamt­
Bewohner sowie weitere Interessierte.                   komplexes. Das Eingangsfoyer erschließt die
                                                        Verwaltungsräume und ein angegliedertes
Anfang 2016 übernahm die Konversions-Grund­
                                                        Saalfoyer den ehemaligen Speisesaal und
stücksentwicklungsgesellschaft mbH (KEG) als
                                                        die Küche. Der große Saal selbst grenzt einen
neue Eigentümerin die Liegenschaft. Wegen
                                                        ­Innenhof mit Terrasse im Osten ab. Verwal­
des hohen und vor allem dringlichen Bedarfs
                                                        tungstrakt und Werkstattgebäude sind durch
an Unterkunftsmöglichkeiten für Geflüchtete,                                                                                                 19
                                                        einen eingeschossigen Gebäuderiegel ver­
entschied sie, das bereits leerstehende Gebäu­
                                                        bunden, der sich zur Terrasse und zum grünen
de vorrangig für eben diesen Personenkreis zu
                                                        Hof hin öffnet. Den westlichen Abschluss des
nutzen, wobei die ursprüngliche Konzeptidee
                                                        Gesamtkomplexes bilden die ehemaligen
eines Quartiershauses den Referenzrahmen
                                                        Werkhallen, die sich auf zwei nord-südlich
bildete.
                                                        orientierten Geschossen erstrecken.

                                                        Eine Sonderstellung nehmen die beiden Kopf­
Behutsamer Umgang mit der Substanz                      bauten des Werkstattgebäudes ein. Im nördli­
                                                        chen und südlichen »Kopf« des Gebäuderiegels
Gestalt und Volumen des Baudenkmals blie­
                                                        liegen die Treppenhäuser. Die Kopfbauten sind
ben bei den Umbau- und Sanierungsarbeiten
                                                        durch Fugen und Brandabschnitte vom Haupt­
ebenso erhalten wie besondere historische
                                                        riegel getrennt. Sie wurden als Wasch- und
Ausstattungen, z. B. die einzigartigen histori­
                                                        Umkleideräume für die Werkstatt geplant und
schen Waschbrunnen, die bauzeitlichen Fliesen
                                                        weisen eine geringere Geschosshöhe auf.
wie auch der Terrazzoboden, ferner die die
Fassade prägenden Fenster in Betonrahmen
sowie die Innenwände mit markanten Vergla­
                                                        Die neue Nutzungsstruktur
sungen. Sukzessive werden einzelne Elemente
des Gebäudes je nach Zustand und Funktion               Die Verortung der neuen Nutzungsarten folgt
instandgesetzt und überarbeitet. Es werden              der Gliederung des Gesamtkomplexes. Im
dabei Lösungen umgesetzt, die dem Gebäude               zweiten Obergeschoss des ehemaligen Ver­
und seinem Denkmalstatus gerecht werden, wie            waltungstraktes sind die beiden Vier-Zimmer
beispielsweise die bauzeitliche Farbgebung              Künstlerwohnungen untergebracht, im ersten
der neu eingesetzten Brandschutztüren. Für die          Obergeschoss befindet sich der Jugendclub.
Fassade mit ihrem heute nicht mehr lieferbaren          Im Erdgeschoss liegen der Eingangsbereich,
Klinkerformaten wird derzeit ein Sanierungs­            die Küche und der Saal. Letzterer wird als sol­
konzept erarbeitet.                                     cher erhalten und für größere Veranstaltungen
1. PREIS

                                                   Das durch Kunst und Kultur belebte Mit-
                                                   einander ist entscheidend für
                                                   die positive, identitätsstiftende Ent-
                                                   wicklung des Ortes und die hohe
                                                   Akzeptanz der Unterkunft im Stadtteil.

     genutzt sowie u. a. zur Hausaufgabenbetreuung der      Die beiden Wohnungen werden über die Vermitt­
     in der Unterkunft lebenden Kinder oder für Angebote    lungsplattform basis e. V. über ein Konzeptverfahren
     an die Bewohnerschaft und weitere Interessierte.       vergeben.

     Die Unterkünfte für Geflüchtete befinden sich in       Auch der Jugendclub ist durch die Kinder- und
     der rund 600 qm großen, drei-geschossigen Werk­        Jugendarbeit in das umliegende Quartier integriert.
     statthalle. Ihre Baustruktur bestimmt das Konzept      Dabei wird besonderer Wert auf die Gleichberechti­
20
     der Unterbringung. Je Geschoss wurden unter­           gung aller Kinder und Jugendlichen jedweder Her­
     schiedliche Raumkonstellationen geschaffen, so         kunft gelegt.
     dass alleinstehende Männer und Familien getrennt
                                                            Das Gelände des Quartiershauses verfügt über einen
     auf verschiedenen Ebenen untergebracht sind. Auf
                                                            eigenen Innenhof und einen kleinen Garten. Die Ge­
     jeder Fensterachse wurden Trockenbauwände er­
                                                            staltung des Freiraumes befindet sich in der Umset­
     richtet. Es entstanden Räume für zwei Personen im
                                                            zung. So werden u. a. ein Spielbereich für die Kinder,
     Obergeschoss und für vier bis sechs Personen im
                                                            ein Abstellplatz für Kinderwagen und andere Fahrge­
     Erdgeschoss, die durch einen Mittelflur erschlossen
                                                            räte sowie eine Sitzecke als Treffpunkt eingerichtet.
     und an die beiden Treppenhäuser in den Kopfbau­
     ten angeschlossen werden. An diese Treppenhäu­         Das Quartiershaus verfügt nur über fünf PKW-Stell­
     ser angegliedert liegen die Bäder, die Küchen zur      plätze. Vor dem Hintergrund der Art der Nutzung und
     Selbstversorgung, Wasch- und Trockenräume sowie        der direkten Anbindung an den ÖPNV (Bushaltestel­
     Aufenthaltsbereiche.                                   le) wurde diese geringe Zahl der Stellplätze gemäß
                                                            dem tatsächlichen Bedarf nach der Stellplatzsatzung
     Im Untergeschoss entstanden in gleicher Weise
                                                            der Stadt Frankfurt genehmigt. Neu eingerichtet wur­
     apartmentartige Räume mit Schlaf- und Wohnraum
                                                            den zusätzliche Fahrradabstellplätze.
     sowie eigener Kitchenette für eine flexible Belegung
     und größere Familien.

     Durch die Umnutzung der Liegenschaft wurden            Einbettung in das Quartier
     insgesamt 57 Räume für bis zu 180 Geflüchtete ge­
                                                            Das Gebäude liegt am Rande des historischen Stadt­
     schaffen. Die beiden Vier-Zimmer-Wohnungen sind
                                                            teilkerns, am Ufer der Nidda, deren Grünflächen
     als geförderte Atelierwohnungen explizit an vier
                                                            zum sogenannten Frankfurter GrünGürtel gehören.
     junge Kunstschaffende vermietet, die in ihrer Arbeit
                                                            Der GrünGürtel umspannt den gesamten inner­
     Geflüchtete einbeziehen. So geben sie z. B. Kunst-
                                                            städtischen Bereich Frankfurts. Die Umgebung ist
     und Musikworkshops für die Bewohnerinnen und
                                                            hauptsächlich geprägt durch reine Wohnnutzung.
     Bewohner der Unterkunft, musizieren gemeinsam
                                                            In der Nachbarschaft befinden sich ein Hotel sowie
     mit Geflüchteten und begleiten Feste und Feiern.
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kirchliche und caritative Einrichtungen. Der bürger­
schaftlich getragene Verein Kunstwerk Praunheim e. V.
hat seinen Sitz ebenfalls im Quartier und ist Partner
einiger Kunstaktionen.

Durch seine langjährige Nutzung ist das Gebäu­
de ein wichtiger Ort der Identifikation im Stadtteil,
was das hohe bürgerschaftliche Interesse an einer
sozialen und kulturellen Weiternutzung des Ge­
bäudes erklärt. Das ehrenamtliche Engagement der
Nachbarschaft im Rahmen der Flüchtlingshilfe ist in
dieser Einrichtung besonders groß. Es bestehen zu­
dem gute und lebendige Kontakte zu den Vereinen
und Gemeinden im Stadtteil, die zu einer Reihe von
offenen und k
            ­ ooperativen Veranstaltungen führen,
wie beispielsweise gemeinsames Fastenbrechen, ein
­Adventsbasar oder ein Hofflohmarkt.

Das Projekt erreicht durch vielfältige Angebote und
durch Öffnung der Liegenschaft im Erdgeschoss und
Hof eine Verzahnung und eine hohe Durchdringung
mit dem umgebenden Quartier und gibt als aktiver
Quartiersbaustein vielfältige Impulse.

Die Nutzergruppen – FLUK, Kunstschaffende, Jugend­
club – entwickelten zusammen mit kulturinteressier­
ten Bewohnerinnen und Bewohnern im Stadtteil
ein Selbstverständnis als »Kulturort Praunheim«.        Feste werden in unterschiedlichen Kooperationen
In diesem Selbstverständnis bildet das ehemalige        gemeinsam geplant und organisiert. Sie öffnen sich
Werkstattgebäude den Ankerpunkt, das die verschie­      – je nach Schwerpunkt – für alle Bewohnerinnen und
denen Initiativen, Vereine und Kirchengemeinden         Bewohner des Stadtteils und der Nachbarschaft. Der
im Stadtteil einbezieht. Angebote, Workshops oder       Eigentümer des Gebäudes, die KEG, ist Teil dieses
                                                        Netzwerks und unterstützt die gemeinsam geplanten
                                                        und organisierten Angebote.

                                                        Die zügige Umnutzung und die explizite Unterstüt­
                                                        zung dieser Entwicklung durch die KEG verhinderten
                                                        das Brachfallen des Gebäudes und die Gefahr spe­
                                                        kulativer Interessen an dem Areal. Hinzu kommt die
                                                        Schaffung von günstigem Wohnraum mit einer Miete
                                                        von rund 3 Euro pro qm für die Atelierwohnungen.
1. PREIS

     ADAPTIV IN FRANKFURT AM MAIN
     Leben in der Ehemaligen Akademie der
     Arbeit – Große Pläne auf kleiner Fläche
     Architektonische Idee: MMA Manuel Mauder Architekten mit Prof. Marion Goerdt, Frankfurt | www.adaptiv-frankfurt.de

     Durch Umbau eines zunächst vom Abriss bedrohten Institutsgebäudes mitten
     in Frankfurt entsteht nun ein gemeinschaftliches und generationenübergreifendes
     Wohnprojekt für rund 90 Personen. Die ehemalige Akademie der Arbeit des
     Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) ist ein wichtiges Zeugnis deutscher
     Arbeiterinnen- und Arbeiter-Emanzipation. In den 50er Jahren im Zuge des
     Wiederaufbaus der Frankfurter Universität auf dem Campus Bockenheim errichtet,
     ermöglichte sie Menschen ohne Abitur ein Hochschulstudium und diente dem
     DGB als Forschungsinstitut – in unmittelbarer Nähe des Instituts für Sozialfor-
     schung um Horkheimer und Adorno. Diese Vergangenheit will AdAptiv aufgreifen
     und selbst – neben der Schaffung von Wohnraum – mit eigenen Veranstaltungen
     zu einem öffentlichen Bildungsort im Quartier werden.

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     Die Akademie der Arbeit in Frankfurt-Bockenheim                Strategien zur Umnutzung des Bestands

     Der in den 50er Jahren entstandene Campus Bocken­              Eine direkte Umnutzung des Bestands hätte aufgrund
     heim, in dem u. a. das Senckenberg Museum liegt,               der hohen Fixkosten für den Immobilienerwerb eine
     soll nach dem vollständigen Wegzug der Universität             viel zu hohe Nettokaltmiete von rund 20 Euro pro
     zum »KulturCampus« weiterentwickelt und mit Instituti­         qm zur Folge gehabt – bei schlechter Wohnquali­
     onen wie der Hochschule für Musik und Darstellende­            tät. Grund und Boden der Liegenschaft wird nun in
     Kunst angereichert und – auch für Wohnzwecke –­                Erbpacht von der Stadt Frankfurt übernommen und
     deutlich nachverdichtet werden. Als Gelenk soll der            die Immobilie von der AdAptiv BauGeno eG (i.G.)
     KulturCampus den angrenzenden Stadtteil Bocken­                erworben. Die Architekten der Gruppe AdAptiv
     heim mit dem Stadtzentrum verbinden. Ein öffent­               haben zudem eine Entwurfsstrategie entwickelt, die
     licher Park soll sich als grünes Band durch das Quartier       mit möglichst geringem Einsatz von Mitteln möglichst
     legen und zum Rückgrat des Campus werden.                      viel Wohnfläche schafft. Dazu werden die zulässige
                                                                    GRZ durch Anbauten und die zulässige Höhe durch
     Das Grundstück der ehemaligen Akademie liegt als
                                                                    Aufstockung ausgeschöpft. Der Rückbau einer
     potenzielles Bindeglied zwischen Campus und Bo­
                                                                    schadstoffbelasteten Leichtbauaufstockung von zwei
     ckenheim und mit seiner Ostseite am grünen Band,
                                                                    Nutzgeschossen und einem Installationsgeschoss
     während die Westseite direkt an ein Wohnquartier
                                                                    ­ermöglicht die Neuerrichtung von vier Wohnge­
     anschließt. Das Bestandsgebäude ist eine zweiflügeli­
                                                                    schossen für circa 45 Personen. Im Bestand werden
     ge Anlage mit dazwischen liegendem Erschließungs­
                                                                    künftig ebenfalls etwa 45 Personen wohnen.
     kern. Nach Westen orientiert es sich trotz der offenen
     Bauweise eher an der gegenüberliegenden Block­                 Die geplante Nutzung (Clusterwohnungen) setzt
     randstruktur, nach Süden und Osten an der typischen            eine größere Gebäudetiefe voraus als sie im Bestand
     Campus-Struktur aus Einzelbauwerken.                           ­gegeben ist. Ausgreifende Aufstockungen schaffen
                                                                    daher die notwendige Tiefe und stellen gleichzeitig
                                                                    die Struktur für eine externe Laubengang
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

                ­DasProjekt beabsichtigt einen kreativen Umgang mit einem
              sehr individuellen Gebäudebestand und ist ein mutiges Beispiel
              für ein gemeinschaftliches und alle Generationen ansprechendes
                  Wohnprojekt, das in einem sehr hochpreisigen Umfeld ­
               bezahlbaren Wohnraum schaffen möchte. Die Rechtsform ist
               eine Genossenschaft, was eine langfristig stabile Kostenmiete
                gewährleistet, darüber hinaus soll – bei insgesamt geringem
                   privaten Wohnflächenkonsum – auch ein hoher Anteil
                            geförderten Wohnraums entstehen.
                                               Philipp Rabsahl (Jurymitglied)

erschließung und räumliche Aufwertung der unteren               rung im Inneren und die Aktivierung untergenutzter
Geschosse bereit. Diese Ergänzungen erfolgen in                 Flächen (Abgrabungen ermöglichen eine höherwer­
Holzbauweise. Die Erschließung wird umstrukturiert              tige Nutzung des Souterrains, der Mittelflur wird zur
und in einer offenen Struktur zentralisiert.                    Service-Zone von durchgesteckten Wohnungen u. a.)
                                                                werden dazu beitragen, die niedrige Flächeneffizienz
Durch diese baulichen Kniffe konnte die errechne­
                                                                des Bestandes von 52 % auf 72 % zu erhöhen.
te Miete auf 14,80 Euro pro qm (Stand: November
2020) gesenkt werden. Die geschickte Umstrukturie­
1. PREIS

     Baukulturell wertvolle, aber über-
     wiegend als »nicht umnutzbar«                                                        NutzungsMix: Maxi

     geltende und vom Abriss bedrohte                                                Wgs und andere Wohnformen

     Universitätsgebäude können sehr                                                              Clusterwohnen
                                                                                       gemeinschaftliche Bereiche
     wohl kreativ für Wohnzwecke                                           Doppelnutzung Gewerbe / gem. Bereiche

     »adaptiert« werden.                                                                                Gewerbe

                Baurechtliche Fragestellungen                      Nachhaltiges Bauen und Urban Mining

                Da durch die Umnutzung der Bestandsschutz          Klimaschutz, Ökologie und damit nachhaltiges
                erlischt, wird es, bedingt durch das Alter des     Bauen sind für AdAptiv ein zentrales Anliegen.
                Gebäudes, an vielen Stellen zu Komplikationen      Nachhaltigkeit wird nicht nur als reine Energie-
                kommen, z. B. hinsichtlich Brandschutz, Schall­    Einsparung, sondern in einem umfassenderen
                schutz, Statik, Barrierefreiheit.                  Sinn verstanden: Erhöhung der lokalen Arten­
                                                                   vielfalt, Senkung der Gebäude- und Umge­
                Der rechtskräftige B-Plan ignoriert den Bestand,
                                                                   bungstemperatur und Verbesserung des lokalen
                da man bei der Planerstellung von einem Ab­
24                                                                 Klimas, Überflutungsschutz und schonender
                riss ausgegangen war. Auch aus diesem Grund
                                                                   Umgang mit Trinkwasser, Energieerzeugung
                erlischt mit der Umnutzung der Bestandsschutz
                                                                   und sparsamer Energieverbrauch, Kreislaufwirt­
                und somit müssen Befreiungen erwirkt werden,
                                                                   schaft und Ressourcenbewusstsein.
                selbst wenn baulich nichts verändert würde.
                ­Dafür werden seitens der Stadt Kompensations­     Bauteile, Einbauten, Möbel des Bestands u. a.
                maßnahmen verlangt, die ein ohnehin kom­           sollen auf ihre Wiederverwendbarkeit hin
                plexes Projekt zusätzlich verteuern. Im Sinne      untersucht und nach Möglichkeit direkt vor Ort
                nachhaltiger Bestandsentwicklung wäre ein          erneut eingesetzt oder anderen Projekten zur
                nutzungs­unabhängiger Bestandsschutz wün­          Verwendung angeboten werden, so etwa die
                schenswert.                                        zurückgebaute Stahlkonstruktion der 70er-Jah­
                                                                   re-Aufstockung für notwendige Abfangungen
                Eine verlässliche Kostenberechnung ist für ein
                                                                   und größere Durchbrüche. Dies spart nicht
                gemeinschaftliches Wohnprojekt ein zentrales
                                                                   nur Entsorgung und Herstellung, sondern
                Kriterium und hier angesichts der vielen Unklar­
                                                                   auch den zweifachen Transport. Bei Ergänzung
                heiten im Bestand (tatsächliche Materialstärken
                                                                   und Renovierung von Bauteilen wird auf die
                und -güten, Schadstoffbelastung, fehlende
                                                                   spätere Wiederausbaubarkeit von Konstruktio­
                Bestandsstatiken u. a.) nur mit erheblichem
                                                                   nen geachtet, Verbundkonstruktionen sollen
                Voruntersuchungsaufwand möglich, den die
                                                                   vermieden werden, »sortenreine« Bauweisen
                Projektgruppe rein aus Eigenmitteln, ohne
                                                                   den Vorzug erhalten. Anfängliche Ideen einer
                Zugang zu Fremdkapital bestreiten muss – mit
                                                                   weiterreichenden Wiederverwendung von
                zunächst ungewissem Ausgang. Abbruch und
                                                                   Bauteilen mussten aufgegeben werden, da dies
                Neubau wären dagegen wesentlich einfacher
                                                                   ein ständiges flexibles Reagieren des Entwurfs
                und sicherer zu kalkulieren.
                                                                   auf andernorts gefundene oder verfügbare
                                                                   Materialien und deren Dimensionen erfordert
                                                                   hätte – im Planungsrecht nicht vorgesehen und
                                                                   in den aktuellen Verwaltungsstrukturen nicht
                                                                   umsetzbar.
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

Einbindung in das bestehende Quartier                  nach derartigen Wohnformen, die zudem auf
                                                       gelebte Nachbarschaft und Quartiers-Engage­
Die Akademie will künftig auch Anlaufstelle für
                                                       ment setzen, steigt jedoch.
das Quartier sein und gestalterisch selbstbe­
wusst auftreten. Das Gebäude soll sich an den
klar gegliederten Nachbarbauten des Architek­
                                                       Organisation und Finanzierung
ten Ferdinand Kramer orientieren, gleichzeitig
aber einen zeitgemäßen baulichen Ausdruck              Alle Wohnungen können zur (Kosten-)Miete
finden. Jenseits immer dickerer Dämmpakete             (bei Genossenschaften: Nutzungsentgelt) an­
soll es zeigen, dass Ressourcenschonung,               gemietet werden und alle Bewohnerinnen und
Recyclingfähigkeit, ökologische Baustoffe              Bewohner treten in die Genossenschaft ein.
und Gebäudebegrünung auch repräsentative               Hinzu kommt, dass die Wohnungen förder­
Qualitäten annehmen können und nachhaltige             fähig geplant werden, so dass im Falle einer
Architektur großen Spaß machen kann. Das               Finanzierbarkeit auch geförderter Wohnraum
Projekt soll nicht nur sozial erfolgreich, sondern     realisiert werden kann.
auch baulich so attraktiv werden, dass selbst
                                                       Die Konversions-Grundstücksentwicklungs­
konventionelle Investoren eine Nachahmung in
                                                       gesellschaft mbH (KEG) hatte die ehemalige
Erwägung ziehen können.
                                                       Akademie der Arbeit 2019 erworben, um sie
Der Entwurf greift bei größtmöglichem                  für eine gemeinwohlorientierte Nutzung zu
Substanzerhalt den offenen Charakter des               sichern. 2020 stellte sie das Areal zur Vergabe
­Ursprungsbaus auf und schafft statt des aktuell       nach Konzept durch die Stadt zur Verfügung.
recht hermetisch wirkenden Baus ein einladen­          Das Verfahren konnte AdAptiv e. V. für sich ent­
des Haus, u. a. mit einer öffentlich zugänglichen      scheiden. Das innerstädtische Gebäude wird
Sockelzone. Hier soll ein lebendiger »Quartiers­       somit dauerhaft der Spekulation entzogen, eine
anker« und Treffpunkt entstehen, der neben             Renditeorientierung wird dadurch ausgeschlos­                                    25
einem sozialen Gastronomie-Angebot auch                sen und bezahlbarer Wohnraum im Innenstadt­
Veranstaltungen organisiert.                           bereich langfristig gesichert.

                                                       Zum vollständig zirkulären Bauen ist es noch
Modernes innerstädtisches Wohnen                       ein weiter Weg und Pilotprojekte sind ohne
                                                       umfangreiche Förderung nicht umsetzbar.
Das Projekt ist autofrei konzipiert, da die zentrale
                                                       AdAptiv versucht punktuell dazu beizutragen.
Lage mit einer hervorragenden Anbindung
an den ÖPNV und einem kurzen Weg zum
Hauptbahnhof dies problemlos ermöglichen.
Gemeinschaftliche Lastenräder, Fahrrad-Rik­
schas und geschützte Fahrrad-Stellplätze sollen
den Verzicht auf das Auto erleichtern.

Das gemeinschaftliche und generationsüber­
greifende Wohnprojekt (Altersmischung von
je einem Drittel 0-30 Jahre, 30-50 Jahre sowie
Ü50) bietet vor allem Cluster-Wohnungen an,
die für Wohngemeinschaften wie auch Fami­
lienwohnungen genutzt werden können. Alle
Bewohnerinnen und Bewohner teilen sich flexi­
bel umnutzbare gemeinschaftliche Flächen wie
Speisesaal / Lounge, Werkstatt, Gästezimmer.
Eine ausgewogene Balance zwischen Begeg­
nungs- und Rückzugsmöglichkeiten bleibt das
Ziel. Die Typologie des Clusterwohnens wird in
Frankfurt noch kaum angeboten. Die Nachfrage
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