Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse

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Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse
Synthesebericht zur Ereignisanalyse

Hochwasser 2005
  in der Schweiz
Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse
Reissende Flüsse, steigende Fluten, rutschende Hänge

                                                 Keystone/Tischler

                                                                     Grosse Hochwasser kamen
                                                                     in der Vergangenheit vor, und
                                                                     sie werden auch in Zukunft
                                                                     auftreten. Um künftig besser
                                                                     gerüstet zu sein, sind Lehren
                                                                     aus solchen Ereignissen zu
                                                                     ziehen. Deshalb wurde das
                                                                     Hochwasser vom August 2005
                                                                     umfassend untersucht.

                                                                     Die Ergebnisse der «Ereignis-
                                                                     analyse Hochwasser 2005»
                                                                     sind in einem zweibändigen
                                                                     Fachbericht dokumentiert
                                                                     (vgl. Seite 23). Der vorliegen-
                                              Keystone/Della Bella
                                                                     de Synthesebericht fasst die
                                                                     wichtigsten Erkenntnisse und
                                                                     Empfehlungen zusammen.

                                              Keystone/Della Valle

                                                                     Reissende Engelberger Aa unterhalb von Engel-
                                                                     berg OW (23. August 2005, Foto oben), steigende
                                                                     Fluten am Vierwaldstättersee (24. August 2005,
                                                                     mittleres Bild), rutschende Hänge in der Nähe
                                                                     von Entlebuch LU (23. August 2005, Foto unten).
Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse
Liebe Leserin, lieber Leser

                                                                                                                                                             3
                                                                                            Keystone/Risch

Im August 2005 ergoss sich während Tagen sintflutartiger
Regen auf weite Gebiete der Alpennordseite, stellenweise
so viel wie noch nie, seit bei uns Niederschläge gemessen
werden. Binnen Stunden stieg der Spiegel einiger Seen auf
einen Höchststand an, Bäche und Flüsse wurden zu reis-
senden Strömen, Hänge kamen ins Rutschen. Sechs Men-
schen starben. Die materiellen Schäden beliefen sich auf
rund drei Milliarden Franken.

Vergleichbare und noch stärkere Ereignisse wird es auch in
Zukunft geben. Um zu verhindern, dass sie ähnliche oder
schlimmere Folgen haben, wollen und müssen wir den Hoch-
wasserschutz konsequent weiter betreiben. Der Anfang
dazu wurde schon vor geraumer Zeit gemacht, nämlich nach
den schweren Unwettern des Jahres 1987. Schutzbauten al-
lein genügen jedoch nicht. Jedes Bauwerk, das hat sich auch
2005 bestätigt, kann irgendwann überlastet werden.

Deshalb ist ein integrales Risikomanagement erforderlich.                                   Ausnahmezustand auf allen
Die Basis dafür ist umfassendes Wissen über die möglichen                                   Stufen: Wehrdienste im Einsatz in
Gefahren, also beispielsweise Gefahrenkarten, aber auch                                     Weesen SG (oben); Bundesräte
Prognosen über Niederschlag und Abfluss.                                                    Samuel Schmid in Sarnen OW
                                                                                            (rechts) und Moritz Leuenberger in
Der Schutz vor Naturgefahren ist eine politische Aufgabe                                    Ennetbürgen NW (rechts unten).
und eine Herausforderung für alle, die auf behördlicher
oder technischer Ebene damit befasst sind. Daneben sind
aber auch alle Bürgerinnen und Bürger gefordert. Mit Ei-
genverantwortung kann sich jede und jeder zu einem gu-
ten Teil vor Naturschäden schützen, wie diese Broschüre
auch zeigt.

Moritz Leuenberger
Vorsteher des Eidg. Departements für Umwelt, Verkehr,
Energie und Kommunikation UVEK                                                                                                   Keystone/Della Valle, Flüeler

                                                                                                                                               Reuters/Meier

                                                       In Ennetbürgen NW wurden
                                                       Strassen zu Kanälen, und im Vier-
                                                       waldstättersee dümpelte viel
                                                       Schwemmholz (Titelbild und rechts,
                                                       Aufnahme vom 23. August 2005).
Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse
Ursachen 2005

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                                                      Grau die Wolken, nass das Land                                             Schwierige Prognose

                                                      Schon zu Beginn der dritten Augustwoche regnete es vor                     Die Witterungslage, die sich im August 2005 einstellte,
                                                      allem in der Nordschweiz gebietsweise heftig. Der Som-                     wird von Meteorologen als Genuatief bezeichnet (Grafik
                                                      mer 2005 kehrte aber wieder zurück, zumindest vorüberge-                   rechts). Sie ist an sich keine Seltenheit. Aber die davon be-
                                                      hend: Am Dienstag (16. August) und Mittwoch (17. August)                   troffenen Gebiete und die zu erwartenden Regenmengen
                                                      sorgte ein Zwischenhoch für zwei warme, sonnige Tage                       werden von Einzelheiten der Zugbahn und der Geschwin-
                                                      (vgl. Grafik unten).                                                       digkeit bestimmt, die schwierig zu prognostizieren sind.
                                                      Danach bewegte sich ein Tiefdruckgebiet von Gross-                         Jedenfalls sind im August 2005 selbst erfahrene Fachleute
                                                      britannien gegen Frankreich. Auf seiner Ostflanke ström-                   vom Verlauf und der Wucht der Ereignisse überrascht wor-
                                                      ten zunehmend feuchte Luftmassen gegen die Schweiz und                     den – auch jene von MeteoSchweiz, dem nationalen Wet-
                                                      lösten zum Teil kräftige Gewitter aus; zuerst in der Zentral-              terdienst. Viele der damals gebräuchlichen Wettermodelle
                                                      schweiz (am Donnerstag, 18. August), später auch in der                    erkannten die tatsächliche Entwicklung erst kurz vor den
                                                      Ost- und Südschweiz (am Freitag und am Samstag).                           verheerenden Niederschlägen.
                                                      Das allein wäre zu dieser Jahreszeit nichts Aussergewöhn-                  Erste Hinweise auf grössere Regenmengen gab Meteo-
                                                      liches gewesen. Ähnliche Entwicklungen gibt es jeden                       Schweiz am Freitag (19. August) bekannt: 50 bis 100 Mil-
                                                      Sommer mehrmals. Doch dann baute sich die für das Hoch-                    limeter für Samstag bis Montag. Am Samstag (20. August)
                                                      wasserereignis entscheidende Dynamik auf: Am Samstag                       wurde die erwartete Menge auf «wahrscheinlich mehr als
                                                      (20. August) bildete sich über dem Golf von Genua ein so                   100 Millimeter» korrigiert.
                                                      genanntes Bodentief, welches in den folgenden zwei Tagen                   Am späten Sonntagvormittag (21. August), also mit dem
                                                      nur ganz langsam über Norditalien, die Adria und den Bal-                  Einsetzen der Starkniederschlagsphase, wurde die erste
                                                      kan ostwärts wanderte.                                                     Unwetterwarnung erstellt: «Bis am Dienstagmorgen wer-
                                                      In dieser Phase wurde fortwährend feuchtwarme Meeres-                      den am Alpennordhang verbreitet 80 bis 100 Millimeter
                                                      luft vom Mittelmeer her im Gegenuhrzeigersinn um die Al-                   Niederschlag erwartet. Da die Schneefallgrenze im Be-
                                                      pen herum verfrachtet. Das bewirkte auf der Alpennordseite                 reich von 2500 bis 3000 m ü. M. liegt, gelangt der grösste
                                                      anhaltende, intensive Landregen – anfangs grossflächig in                  Teil des Niederschlags zum Abfluss.» Aber die Realität war
                                                      den Voralpen und im Mittelland (21. August), später vor                    eine andere. In manchen Gebieten fielen bis am Dienstag
                                                      allem entlang dem Alpennordrand (22. August).                              gegen 200 Millimeter Niederschlag.

                                                      Wetterabläufe wie jener vom August 2005 ereignen sich in der Regel einige Male
                                                      pro Jahr. Aber nur selten fällt dabei so viel Regen während so langer Zeit über ein so
                                                      grosses Gebiet (Grafiken unten mit der Niederschlagsentwicklung vom 14. bis 23. August
                                                      2005). Die meteorologischen Abläufe vom August 2005 sind vergleichbar mit den
                                                      Starkniederschlägen vom Juni 1910, Juli 1977, August 1987 oder Mai 1999. Auch künftig
                                                      ist hierzulande mit intensiven und lang anhaltenden Niederschlägen zu rechnen – unter
                                                      Einbezug des globalen Klimawandels möglicherweise noch häufiger als bisher.
          Luzern im August 2005 (Keystone/Tischler)
                                                                                                                                                     5    10    20    30    40       60   80   100    130      mm

                                                                                                                                                                                               Karten: MeteoSchweiz

Regenmengen innerhalb von 48 Stunden                                                                           Regenmengen innerhalb von 24 Stunden (jeweils 08:00 – 08:00 Uhr)
(2-Tage-Summen in Millimetern)                                                                                 (Tagessummen in Millimetern)

    14. August                        15. August                16. August             17. August              Donnerstag, 18. August                          Freitag, 19. August
Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse
Höhendruckfelder bei 500 hPa (ca. 5700 m ü.M.)
                                                   am Montag, 22. August 2005, 14:00 Uhr (rechts).

Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten

Nachdem am Sonntag (21. August) die weitere Entwicklung
noch unterschätzt worden war, beschrieb die zweite Unwet-
terwarnung vom Montagmorgen (22. August) das volle Aus-
mass der Niederschläge. Zu diesem Zeitpunkt waren aber an
einigen Orten bereits massive Schäden aufgetreten.                                                         Karte: MeteoSchweiz

MeteoSchweiz hat daraus bereits die nötigen Konse-
                                                                                                                                                                             Golf von Genua
quenzen gezogen. Eine ganze Reihe von Verbesserungen
bei der Wetterprognostik tragen inzwischen dazu bei, auch                                                 Auslöser der intensiven Niederschläge war das Tiefdruckgebiet
extreme Situationen genauer erfassen und rascher beur-                                                    «Norbert», das über das aufgeheizte Mittelmeer zog und zeitweise
teilen zu können. So verfügt das regionale Prognose-                                                      über dem Golf von Genua und über der Adria verharrte (Genua-
modell von MeteoSchweiz seit Januar 2008 über eine spe-                                                   tief). Dabei wurden grosse Mengen feuchtwarmer Mittelmeerluft
ziell hohe Auflösung, um den topografischen Besonder-                                                     über einen längeren Zeitraum hinweg um die Ostalpen herum an
heiten des Alpenraums besser gerecht zu werden. In diesem                                                 den Alpennordrand geführt und dort gestaut. Am 21. und 22. Au-
numerischen Modell (COSMO-2) hat das Rechnungsgitter                                                      gust 2005, also innerhalb von 48 Stunden, fielen dadurch am
eine Maschenweite von lediglich 2,2 Kilometern.                                                           gesamten Alpennordhang der Schweiz mehr als 100 Millimeter
Seit einiger Zeit wird zudem die Unsicherheit, die jeder                                                  Niederschlag. Im Emmental, im Entlebuch, in Teilen des Berner
Wetter- und Niederschlagsprognose anhaftet, mit so ge-                                                    Oberlands und in einem Streifen, der von der Innerschweiz über
nannten Ensemble-Vorhersagen (COSMO-LEPS) quanti-                                                         das Rheintal bis nach Vorarlberg reichte, waren die Regenmengen
fiziert: Mehrere Vorhersagen werden mit unterschiedlichen                                                 sogar noch grösser. Dort gab es 22 Messstationen, die noch nie in
Anfangsbedingungen gerechnet. Dadurch lassen sich nicht                                                   ihrer langen Geschichte so hohe Niederschlagswerte registriert
nur bestimmte Entwicklungen prognostizieren, sondern                                                      hatten wie an diesen beiden Tagen (vgl. Beispiele unten). Lokale
auch die Wahrscheinlichkeiten ihres Eintreffens. Dieses                                                   Rekordwerte dürfen aber nicht überbewertet werden. In der
neue Element verändert aber nicht nur die Arbeitsmetho-                                                   Gesamtschau gelten die Niederschläge vom August 2005 als
dik der Prognostiker. Auch die Nutzer solcher Prognosen                                                   seltene, aber nicht als einmalige Ereignisse. Mit solchen Stark-
müssen den anspruchsvollen Umgang mit Wahrscheinlich-                                                     niederschlägen muss auch in Zukunft gerechnet werden.
keiten erst noch lernen.
Gerade in Krisensituationen sind aber letztlich eindeutige
und rasche Entscheidungen zu fällen. Angaben zur Zuver-
lässigkeit einer Niederschlagsprognose können dabei ein
Gewinn sein, sind aber gewiss auch eine grosse Herausfor-                                                 Auswahl lokaler Maximalwerte (innerhalb von 48 Stunden *)

derung für die jeweiligen Entscheidungsträger bei Fachstel-                                                Messstation           Niederschlags-    Bisheriger Höchstwert      Messreihe
                                                                                                                                    menge              (mit Messjahr)           seit
len, bei Führungsgremien und bei Interventionskräften.
                                                                                                           Einsiedeln SZ            152 mm            142 mm (1978)                 1900
                                                                                                           Engelberg OW             190 mm            153 mm (1991)                 1901
                                                                                                           Marbach LU               181 mm            165 mm (2004)                 1961
                                                                                                           Meiringen BE             205 mm            159 mm (1896)                 1889
                                                                                                           Napf BE                  178 mm            158 mm (1990)                 1978

                                                                                                          * Sonntag, 21. August (07:40 Uhr), bis Dienstag, 23. August (07:40 Uhr)

                                       11:12 Uhr                                    07:52 Uhr               19:01 Uhr                        07:37 Uhr
                                       1. Unwetterwarnung                           2. Unwetterwarnung      3. Unwetterwarnung               Entwarnung für West-
                                       von MeteoSchweiz:                            von MeteoSchweiz:       von MeteoSchweiz:                und Zentralschweiz
                                       Starkniederschläge,                          Starkniederschläge,     Starkniederschläge,
                                       mässige Intensität                           hohe Intensität         noch höhere Intensität

Samstag, 20. August                    Sonntag, 21. August                          Montag, 22. August                                       Dienstag, 23. August
Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse
Gerinne- und Hangprozesse 2005                                                                                                           Gefahr: Zustand, Umstand oder Vorgang, aus dem ein Schaden ent-
                                                                                                                                         stehen kann. Wenn natürliche Prozesse die Ursache sind, spricht man
                                                                                                                                         von Naturgefahren.

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                                   Überraschungen auf lokaler Ebene                                                                      Erst kommt das Wasser, dann der Berg

                                   An sich entsprach die Prozessvielfalt im August 2005 dem                                              Hochwasser sind in mehrfacher Hinsicht gefährlich und
                                   Gesamtbild, das auch schon frühere Grossereignisse prägte.                                            wirken sich je nach Gewässertyp auf ganz unterschiedliche
                                   Aber auf lokaler Ebene gab es manche Überraschung. So                                                 Weise aus. Das zeigte sich auch im August 2005:
                                   verursachte oberflächlich abfliessendes Niederschlagswas-                                             • Durch den Austritt von Wasser aus Bächen und Flüs-
                                   ser auch abseits von Gewässern erhebliche Schäden. Vor                                                  sen sowie durch die Ausuferung von stehenden Gewäs-
                                   allem überraschte die hohe Intensität der aufgetretenen                                                 sern gab es an vielen Orten dynamische bzw. statische
                                   Prozesse. An vielen Orten übertrafen das Volumen der Ab-                                                Überschwemmungen.
                                   flüsse, die Höhe der Seestände, die Dauer der Einwirkungen                                            • An vielen Stellen hatte das strömende Wasser eine grosse
                                   und die Menge der umgelagerten Feststoffe alle zuvor ge-                                                Erosionskraft. Uferböschungen stürzten ein oder rutschten
                                   machten Erfahrungen. Hauptsächliche Ursachen waren:                                                     ab. Dadurch wurden auch Bauwerke und Infrastruk-
                                   • Schwellenprozesse, wenn sich zum Beispiel das Ab-                                                     turen erfasst, die ausserhalb des eigentlichen Gerinne-
                                      flussverhalten eines Einzugsgebiets rasch ändert und so                                              bereichs lagen. An vielen Bach- und Flussabschnitten
                                      zu unerwartet hohen Abflüssen führt.                                                                 war die Seiten- und Tiefenerosion so stark, dass sich
                                   • Prozesswechsel, etwa der Übergang von Rutschungen                                                     Gerinne verlagerten. Das erodierte Material wurde
                                      zu Murgängen.                                                                                        weiträumig verfrachtet. Dabei kam es auch zu flächigen
                                   • Prozessverkettungen, etwa die Ablagerung von Rut-                                                     Ablagerungen von grobem Geschiebe ausserhalb der
                                      schungsmaterial in einem Gerinne und dessen Mobilisie-                                               Gerinne, zu so genannter Übersarung.
                                      rung durch das Hochwasser.                                                                         • In 25 Einzugsgebieten von Wildbächen lösten sich Mur-
                                                                                                                                           gänge, ein schnell fliessendes Gemisch aus Wasser und
                                                                                                                                           Feststoffen.
In Bächen, Flüssen und Seen                                                                                                              • An Engstellen wie Wehren, Brücken oder in Schlucht-
sammelte sich viel Schwemm-                                                                                                                strecken wurde oft der Abfluss durch Schwemmholz und
holz an, das sich an Engstellen                                                                                                            andere Feststoffe behindert. Hinter solchen Verklau-
verkeilte (unten, im Seitenka-                                             Emme bei Horben BE am 24. August 2005 (Schweizer Luftwaffe)
                                                                                                                                           sungen staute sich das Wasser auf, trat aus den Gerin-
nal der Aare in Bern Matte),                                                                                                               nen aus und suchte sich neue Abflusswege.
den Abfluss behinderte und an                                                                                                            • Als zunehmend gefährdet erwiesen sich schliesslich ein-
manchen Stellen zu Gerinne-                                                                                                                gedämmte Talflüsse. Dammbrüche ereigneten sich un-
ausbrüchen führte. Landesweit                                                                                                              terhalb von Meiringen an der Aare, andernorts kam es
sind im August 2005 mindes-                                                                                                                zum Überströmen von Dämmen. Dagegen weiteten sich
tens 110 000 Kubikmeter Holz                                                                                                               die Sickerströmungen, die an älteren Dämmen wie
mobilisiert und teils über weite                                                                                                           etwa beim Hagneckkanal auftraten, glücklicherweise
Strecken transportiert worden.                                                                                                             nicht zu grösseren Schäden aus.
Davon waren rund zwei Drittel
frisches Holz aus Rutschungen                                                                                                            Die grossen Niederschläge führten aber nicht nur zu
                                                                           h
und Uferanbrüchen (rechts).                                      b   ruc                                                                 Hochwasser und den damit verbundenen Gerinneprozes-
                                                              an
                                                       U   fer
Der Rest war zu gleichen Teilen                                                                                                          sen. Durch die intensiven Niederschläge wurden auch die
liegengebliebenes Sturmholz                                                                                                              Böden und der Untergrund so stark mit Wasser gesättigt,
sowie Bau- und Brennholz.                                                                                                                dass zahlreiche Hänge ihre Stabilität verloren: Es gab Rut-
                                                                                                                                         schungen (Erd- und Felsschollen bewegten sich auf ei-
                                                                                                                                         ner mehr oder weniger deutlich ausgeprägten Gleitfläche
                                                                                                                    Keystone/Lehmann     zu Tal) und Hangmuren (ein Gemisch aus Bodenmaterial
                                                                                                                                         und Wasser floss oberflächlich hangabwärts). Insgesamt
                                                                                                                                         wurden im August 2005 mehr als 5000 Rutschungen und
                                                                                                                                         Hangmuren dokumentiert.
Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse
Vorherrschende Prozesse
                                                                              bei Wildbächen:
                                                                              • Tiefen- und Seitenerosionen
                                                                              • Verklausungen
                                                                              • Dynamische Überschwem-
                                                                                mungen
                                                                              • Murgänge (Foto links)

                                                                                                                                                                                             7
                                                                                                              Unterschätzte Gefahren

                                                                                                              Viele Wildbäche und praktisch alle Gebirgsflüsse im Nie-
                                                                                                              derschlagsgebiet verzeichneten einen hohen Geschiebe-
                                                                                                              transport und starke Seitenerosion. Auch bei genügend
                                                                                                              grosser Abflusskapazität gab es deshalb an vielen Stellen
                                                                                                              Ablagerungen und Verklausungen, wodurch angrenzende
Rotlauibach bei Guttannen BE am 24. August 2005 (Keusen)
                                                                                                              Gebiete überflutet wurden. Bei Talflüssen wie der Emme,
Landquart oberhalb von Klosters GR am 25. August 2005 (Schweizer Luftwaffe)
                                                                              Vorherrschende Prozesse         der Kleinen Emme oder der Linth wurden die Schäden eben-
                                                                              bei Gebirgsflüssen:             falls vornehmlich durch Seitenerosion verursacht. Anders an
                                                                              • Seitenerosionen               der Aare unterhalb von Thun und an der Reuss unterhalb
                                                                              • Sohleneintiefungen
                                                                                (Tiefenerosionen)
                                                                                                              von Luzern. Dort wurden – trotz Dämpfung des Abflusses
                                                                              • Sohlenhebungen                durch die vorgelagerten Seen – die vorhandenen Abfluss-
                                                                                (Auflandungen)                kapazitäten überschritten.
                                                                              • Dynamische Überschwem-        Daneben gab es im August 2005 weitere Prozesse, die zu
                                                                                mungen
                                                                                                              grossen Schäden führten: oberflächlich abfliessendes
                                                                              • Gerinneverlagerungen
                                                                                (Foto links)                  Niederschlagswasser, aufstossendes Grundwasser
                                                                                                              und der Rückstau in Kanalisationen. Unklare Zuständig-
                                                                                                              keiten und mangelndes Bewusstsein bei Behörden, Planern,
                                                                                                              Eigentümern und Versicherungen gehören zu den Gründen,
                                                                                                              warum diese Prozesse in der Regel im Hochwasserschutz
                                                                                                              wenig Beachtung finden.

Aare bei Meiringen BE am 24. August 2005 (Schweizer Luftwaffe)
                                                                              Vorherrschende Prozesse
                                                                              bei Talflüssen:
                                                                              • Seitenerosionen
                                                                              • Sohleneintiefungen
                                                                                (Tiefenerosionen)
                                                                              • Sohlenhebungen
                                                                                (Auflandungen)
                                                                              • Überschwemmungen
                                                                              • Gefahr von Dammbrüchen
                                                                                (Foto links)

                                                                                                                                                              Häufig wird übersehen,
                                                                                                              Ursache von Gebäudeschäden                      dass Wasser nicht nur von
                                                                                                              in Sarnen OW im August 2005:
                                                                                                                                                              oben oder von der Seite kom-
                                                                                                              		    Grundwasseraufstoss
                                                                                                                                                              men kann, sondern auch von
                                                                                                              		    Überschwemmung
                                                                                                                                                              unten: Durch den Rückstau in
                                                                                                              		    Hangmure
                                                                                                                                                              Kanalisationen (Foto oben)
                                                                                                              		    Überschwemmung                            und durch den Aufstoss von

                                                                                                              		    Hangmure                                  Grundwasser (Grafik unten).
Brienzersee am 24. August 2005 (Schweizer Luftwaffe)                                                                Foto und Kartenvorlage: Kanton Obwalden
                                                                              Vorherrschende Prozesse
                                                                              bei Seen:
                                                                              • Schwemmholzteppiche
                                                                              • Statische Überschwemmungen
                                                                                (Foto links)
Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse
Folgen 2005

8
                                                         Die Schweiz im Ausnahmezustand                                  Grösster Gesamtschaden seit 1972

                                                         Unmittelbare Ursache des Hochwassers vom August waren           Durch das Hochwasser vom August 2005 entstand mit rund
                                                         die grossen Niederschläge in ausgedehnten Gebieten auf          3 Milliarden Franken der grösste finanzielle Gesamtscha-
                                                         der Alpennordseite. Zum verhängnisvollen Verlauf trug aber      den, den ein einzelnes Naturereignis in den letzten Jahr-
                                                         auch die Vorgeschichte bei. So war der August bereits zu-       zehnten in der Schweiz verursacht hatte (vgl. Grafik unten
                                                         vor sehr nass gewesen. Dadurch waren die Böden reichlich        mit Daten seit 1972). Es blieb nicht nur bei schlimmen Ver-
                                                         mit Wasser gesättigt und konnten den zusätzlichen Nieder-       wüstungen. In den Fluten und durch Rutschungen sind in
                                                         schlag nicht mehr aufnehmen. Zudem lag die Schneefall-          jenen Tagen auch 6 Menschen ums Leben gekommen.
                                                         grenze in der kritischen Woche meist über 2500 Meter,           Bei den materiellen Schäden gibt es einen bemerkens-
                                                         weshalb die Niederschläge kaum in Form von Schnee ge-           werten Unterschied zu früheren Ereignissen: Durch das
                                                         bunden wurden. Das Wasser floss überall rasch ab, liess         Hochwasser vom August 2005 wurden vorwiegend pri-
                                                         Bäche, Flüsse und Seen in kurzer Zeit anschwellen und           vate Bauten und Sachwerte geschädigt. Entsprechend
                                                         brachte Hänge und Böschungen ins Rutschen.                      trugen Privatpersonen und Firmen beziehungsweise de-
                                                         In der Schweiz wurde vor allem der Alpennordhang stark          ren Versicherungen die Hauptlast der Schäden. Mit rund
                                                         getroffen. Vom Simmental bis ins Glarnerland gab es kaum        2 Milliarden Franken waren die privaten Schäden drei-
                                                         ein Tal ohne grosse Schäden an Bach- und Flussläufen, Ver-      bis viermal so hoch wie bei allen anderen Hochwasser-
                                                         kehrswegen, Wohnhäusern, Gewerbe- und Industriebetrie-          ereignissen seit 1972. Besonders auffällig ist, dass sich etwa
Vergleichbare Daten zur                                  ben, Infrastrukturen oder an landwirtschaftlich genutztem       ein Viertel der privaten Schäden auf die Industrie- und Ge-
Schadensumme durch Hoch-                                 Land. Ganze Talschaften blieben für Tage völlig von der         werbegebiete von Emmen-Littau (im Kanton Luzern) und
wasser gibt es erst seit 1972.                           Umwelt abgeschnitten.                                           von Altdorf-Bürglen-Schattdorf (im Kanton Uri) konzent-
Seither hatte es noch nie so                             In den Alpen selbst gab es im Prättigau und im Unterenga-       rierte. Allein in diesen beiden Gebieten summierten sich
grosse Schäden durch Über-                               din grosse Schäden, und vom Emmental bis zum Zugersee           die Hochwasserschäden auf einen Betrag von über 500 Mil-
schwemmungen, Rutschungen                                sowie am Walensee und in anderen Gebieten der Ostschweiz        lionen Franken.
und Murgänge gegeben wie im                              blieb auch das Voralpengebiet nicht verschont. Im Mit-          Die übrigen Schäden beliefen sich auf rund 1 Milliarde
August 2005 (Grafik unten).                              telland wirkten sich die Hochwasser vor allem entlang der       Franken. Sie betrafen Infrastrukturen der öffentlichen
Rund 900 Gemeinden, knapp                                Aare und der Reuss verheerend aus. Zudem traten meh-            Hand (Wasserbauten, Strassen, Leitungen) und Eisenbahn-
ein Drittel aller Schweizer Ge-                          rere Seen über die Ufer: Brienzersee, Thunersee, Bielersee,     anlagen. Nur im Jahr 1987 hatte es in diesen Bereichen
meinden, waren betroffen.                                Sarnersee, Vierwaldstättersee, Lauerzersee.                     schon einmal höhere Schäden gegeben.
Bei der Betrachtung längerer                             Das betroffene Gebiet erstreckte sich aber auch noch über
Zeiträume verliert das Aus-                              den Alpenrhein hinaus nach Osten und Nordosten. In
mass der Schäden vom August                              Österreich wurden in den Bundesländern Vorarlberg, Tirol,
2005 allerdings die Einzigartig-                         Steiermark und Salzburg schwere Schäden verzeichnet, in
keit, welche es für die Zeit seit                        Deutschland war vor allem Südbayern betroffen.
1972 aufweist: Im 19. Jahr-
hundert haben sich mehrere
Hochwasser ereignet, welche                                                                                                                       Drei Viertel der Gesamtschaden-
ein vergleichbares oder viel-                                                                                                                     summe von rund 3 Milliarden
                                                                                                                                                  Franken konzentrierten sich auf
leicht noch grösseres Schadens-                                                                                                                   fünf Kantone: Bern, Luzern, Uri,
ausmass hatten.                                                                                                                                   Obwalden und Nidwalden.

                                                                                                                                                  Gesamtschadensumme 2005            2990
                                                                                                                                                  (in Millionen Franken)
                                                                                                                                                  Kanton Bern                         805
                                                                                                                                                  Kanton Luzern                       590
                                                                                                                                                  Kanton Uri                          365
                                                                                                                                                  Kanton Obwalden                     345
                                                                                                                                                  Kanton Nidwalden                    120
                                                                                                                                                  Kanton Graubünden                    85
                                                                                                                                                  Kanton Schwyz                        80
        1978                                                                                                                                      Kanton Aargau                        50
                                                                                                                                                  Kanton Zug                           35
                                                                                                                                                  Kanton St. Gallen                    35
                                                            1987                                                                                  Kanton Glarus                        25
                                                                                                                                                  Kanton Zürich                        15
     500 Mio. Franken
     400 Mio. Franken                                                                         1993                                                Kanton Solothurn                     10
     300 Mio. Franken
     200 Mio. Franken
                                                                                                                                                  übrige Kantone                       15
                        Jährliche Schäden durch Überschwemmungen, Rutschungen und Murgänge.
     100 Mio. Franken   Beträge teuerungsbereinigt (Preisbasis 2006; Erhebung WSL)                   1999                                         nicht kantonal zuweisbar            415
                                                                                                        2000
                                                                                                                2005
                                                                                                                       2007
Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse
Windisch AG am 22. August 2005 (Keystone/Della Bella)

                                                                                                                                                                                                                                                   9
Thun BE am 23. August 2005 (Keystone/Schneider)

                                                                                                                                                    Klosters GR am 24. August 2005 (Keystone/Balzarini)

                                                                                                                                                                              Gemeindedaten 2005
                                                                                                                                                                              Grosse Schäden ( > 2 Mio. Fr.)
                                                                                                                                                                              Mittlere Schäden ( 0,4 bis 2 Mio. Fr.)
                                                                                                                                                                              Kleine Schäden (
Hochwasser 2005 in der Schweiz - Synthesebericht zur Ereignisanalyse
Integrales Risikomanagement                                                                             Risiko: Grösse und Wahrscheinlichkeit eines möglichen Schadens,
                                                                                                         der durch eine vorhandene Gefahr entstehen kann. Das Risiko ist ab-
                                                                                                         hängig von der Eintretenswahrscheinlichkeit eines gefährlichen
                                                                                                         Prozesses und vom Ausmass des damit einhergehenden Schadens:
                                                                                                         Risiko = Wahrscheinlichkeit × Schaden

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                                         Einordnung im historischen Rückblick                            Nach oben offene Skalen

                                         Das Gesamtbild des Hochwassers vom August 2005 ent-             Im August 2005 gab es keine Gerinne- oder Hangprozesse,
                                         spricht letztlich dem Muster, das derartige Grossereignisse     die nicht schon früher aufgetreten wären. Dennoch hat-
                                         auch schon früher prägte. Im Zeitraum seit 1972, für den        ten die Ereignisse vom August 2005 eine eigene Charak-
                                         vergleichbare Zahlen vorliegen, sticht das Jahr 2005 aller-     teristik. Einerseits wirkten sich diese Hochwasser sehr
                                         dings durch die hohe Gesamtschadensumme heraus. Sie             grossräumig aus – vom Alpenraum über das Alpenvorland
                                         ist ohne Parallele (vgl. Seite 8).                              bis weit ins Mittelland hinein. Andererseits überraschte
                                         Aber eine Beobachtungsdauer von etwas mehr als drei Jahr-       an manchen Stellen die hohe Intensität der aufgetretenen
                                         zehnten hat nur wenig Aussagekraft. Deshalb drängt sich         Gerinne- und Hangprozesse, wodurch besonders grosse
                                         ein Vergleich mit historischen Ereignissen auf, auch wenn       Schäden entstanden.
                                         die entsprechenden Datengrundlagen mit grösseren Unsi-          Das führte vielerorts zu Situationen, die ausserhalb der lo-
                                         cherheiten behaftet sind. Frühere Ereignisse sind oft nur       kal vorhandenen Erfahrungen lagen. Daraus müssen
                                         lückenhaft dokumentiert. Zudem haben sich im Laufe der          jetzt Konsequenzen gezogen werden, die nicht nur für den
                                         Zeit viele Rahmenbedingungen verändert: Einerseits hat          Hochwasserschutz gelten, sondern für die Gefahren- und
                                         das Schadenpotenzial markant zugenommen, anderer-               Risikobeurteilung ganz allgemein: Auf der Skala der Er-
                                         seits sind die baulichen, technischen und organisatorischen     eignisintensitäten gibt es keine festgeschriebenen Maximal-
                                         Massnahmen zum Hochwasserschutz laufend weiterent-              werte. Alles ist möglich, auch das «Undenkbare».
                                         wickelt und verbessert worden.
 Seit Beginn des 19. Jahr-               Gesamthaft kann dennoch als erwiesen angesehen wer-
 hunderts haben sich in der              den, dass sich im 19. Jahrhundert mehrere Hochwasser er-
 Schweiz 16 grosse oder sehr             eignet haben, die – je nach Umrechnungsgrundlage – das
 grosse Hochwasser ereignet,             Schadensausmass von 2005 erreichen oder sogar übertref-
 die ein überkantonales Ein-             fen. Bei der Betrachtung dieses längeren Zeitraums verliert
 greifen nötig machten (Balken-          das Ausmass der Schäden vom August 2005 somit die
 diagramm unten). Sie verur-             Einzigartigkeit, die sich aus der kurzfristigen Perspektive                                      Die in der Vergangenheit gemach-
 sachten Schäden, die nach               ergibt. Bei aller Unschärfe in der Beurteilung ist deshalb                                       ten Erfahrungen gipfeln heute in der
 heutigem Geldwert zwischen              davon auszugehen, dass das Hochwasser vom August 2005                                            Erkenntnis, dass der Umgang mit
 500 Millionen* und einigen              kein singuläres Ereignis war und dass mit dem wieder-                                            Hochwassern ganzheitlich erfolgen
 Milliarden Franken betragen.            holten Auftreten ähnlicher Ereignisse auch in Zukunft ge-                                        muss: Vorbeugung, Bewältigung und
 Im 19. Jahrhundert hatten sol-          rechnet werden muss.                                                                             Regeneration ergänzen sich gegen-
 che Ereignisse oft Dutzende                                                                                                              seitig und müssen noch enger auf-
 von Todesopfern gefordert.                                                                                                               einander abgestimmt werden. Dazu
 Inzwischen gingen die Opfer-                                                                                                             sind umfassende Gefahrengrund-
 zahlen – dank umfassender                                                                                                                lagen nötig, die im Zentrum dieses
 Vorbeugung und verbesserter                                                                                                              Risikokreislaufs (unten) stehen.
 Bewältigung – stark zurück.

 * Das grösste Einzelereignis im
 Jahr 2007 (8./9. August) blieb mit
 Schäden von 380 Millionen Fran-
 ken unter diesem Schwellenwert.

                                                                                                                                                                    Bewältigung

 Überregionale                                                                                                                                                      Gefahren-
                                                                                                                                                  Vo r b e u

 Hochwasserereignisse                                                                                                                                              grundlagen
                                                                                                                                                                                      ion

 seit 1800
                                                                                                                                                                                  ra t

 in der Schweiz:                             1834    1852   1868                                                      1987       2005
                                                                                                                                                      gu

                                                                                                                                                               g
                                                                                                                                                                                ne

                                                                                                                                                                                 ge
                                                                                                                                                          n

                                                                                                                                                                            Re
 Sehr grosse Schäden

 Grosse Schäden

                        1800          1825          1850           1875   1900        1925        1950         1975           2000
11
                                                                                                              Schutzkonzepte im Wandel der Zeit

                                                                                                              Schritt für Schritt, und im Einklang mit technischen, wissen-
                                                                                                              schaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritten, wandeln
                                                                                                              sich im Laufe der Zeit auch die Schutzkonzepte. Grosse
                                                                                                              Ereignisse fördern deren Umsetzung.

Hochwasser 1868: Murgang in Zignau, Gemeinde Trun GR (Coaz)                                19. Jahrhundert:   Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird erstmals über um-
                                                                                           Vorbeugung         fassende Strategien zum Schutz vor Hochwassern debat-
                                                                                           Regeneration       tiert. Diese fachliche und politische Auseinandersetzung
                                                                                                              führt zu den Bundesgesetzen über die Forstpolizei (1876)
                                                                                                              bzw. die Wasserbaupolizei (1877). Gestützt auf diese ge-
                                                                                                              setzlichen Grundlagen unternimmt die öffentliche Hand
                                                                                                              grosse bauliche Anstrengungen, um Wildbäche zu sta-
                                                                                                              bilisieren und Talböden hochwassersicherer zu machen. In
                                                                                                              der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert sich auch
                                                                                                              die Deckung von Elementarschäden im Rahmen der obli-
                                                                                                              gatorischen Gebäudeversicherung.

                                                                                           1987:              Es gibt keinen vollständigen Schutz vor Naturgefahren.
                                                                                           Gefahren-          Spätestens nach den Ereignissen im Jahr 1987 reift die Er-
                                                                                           grundlagen         kenntnis, dass bauliche Massnahmen allein nicht genügen,
                                                                                                              um den Hochwasserschutz sicherzustellen. Bei den vorbeu-
                                                                                                              genden Massnahmen verschiebt sich die Rangordnung zu-
Hochwasser 1987: Seitenerosion in Gurtnellen UR (Comet)                                                       gunsten einer Raumnutzung, die sich den natürlichen
                                                                                                              Gegebenheiten anpasst, und einer Raumplanung, die den
                                                                                                              Gewässern den nötigen Raum zurückgibt. Dazu müssen vor-
                                                                                                              gängig Gefahrenkarten ausgearbeitet und Schutzziele
                                                                                                              formuliert werden: Was kann passieren bzw. was darf wo
                                                                                                              passieren? Nötig sind auch Strategien, die den Überlastfall
                                                                                                              berücksichtigen, und dazu gehört eine Notfallplanung, die
                                                                                                              das Restrisiko begrenzt. Die entsprechenden Grundsätze
                                                                                                              schlagen sich 1991 in den neuen Bundesgesetzen über den
                                                                                                              Wasserbau (WBG) bzw. den Wald (WaG) nieder.

                                                                                           2005:              Der Überlastfall ist Realität. Deshalb müssen die Grundsätze
                                                                                           Bewältigung        für den Hochwasserschutz ergänzt werden durch die Forde-
                                                                                                              rung nach robusten, überlastbaren Schutzkonzepten.
                                                                                                              Aber nicht nur bei der Vorbeugung besteht Handlungsbe-
                                                                                                              darf, sondern auch bei der Bewältigung ausserordentlicher
                                                                                                              Ereignisse. Mit einer wirksamen Vorsorge sowie einer opti-
Hochwasser 2005: Überschwemmungen in Schattdorf UR (Schweizer Luftwaffe)                                      mal vorbereiteten Intervention kann das Ausmass der Er-
Hochwasser 2005: Überschwemmungen im Berner Mattequartier (Schweizer Luftwaffe)                               eignisse und die Höhe der Schäden entscheidend begrenzt
                                                                                  Nicht erst 2005 zeigte      werden. Führungsgremien und Interventionskräfte müs-
                                                                                  sich, dass jede Schutz-     sen deshalb ihre Ausbildung verstärkt auf den Einsatz bei
                                                                                  massnahme überlastet        Naturereignissen ausrichten. Dazu ist nicht nur eine stär-
                                                                                  werden kann (Fotos          kere Vernetzung der vor Ort tätigen Akteure mit den ent-
                                                                                  links). Deshalb müssen      sprechenden Fachstellen nötig, sondern auch eine bessere
                                                                                  alle Möglichkeiten          Einbindung der betroffenen Bevölkerung.
                                                                                  genutzt werden, um
                                                                                  Schäden zu verhindern,
                                                                                  und das in allen Phasen
                                                                                  des Risikokreislaufs.
Vorbeugung

12
                                               Rangordnung der Massnahmen                                    Raumplanung und Objektschutz
                       Bewältigun   g
                                               Strittig bleibt häufig die Frage, welche vorbeugenden (prä-   Die effizienteste Vorbeugung besteht darin, den vorhan-
                                               ventiven) Massnahmen zum Schutz vor Hochwasser im Ein-        denen Naturgefahren auszuweichen und Risiken erst gar
                       Gefahren-
                                               zelfall zu treffen seien. Die Grundsätze dazu sind an sich    nicht einzugehen. Deshalb sind raumplanerische Massnah-
     Vo r b e u

                      grundlagen
                                         ion

                                               unmissverständlich festgelegt, und das nicht nur im Bun-      men rasch umzusetzen. Wo das nicht ausreicht, sind bau-
                                        ra t
         gu

                  g                            desgesetz über den Wasserbau (WBG) und in seiner Verord-      liche, technische oder organisatorische Massnahmen nötig,
                                    ne

                                    ge
             n

                               Re
                                               nung (WBV), sondern auch in den beiden Bundesgesetzen         um Gefahren abzuwenden und Risiken zu mindern. Dabei
                                               über die Raumplanung (RPG) und über den Wald (WaG).           erlangt der Objektschutz eine immer grössere Bedeutung:
 Bei der Vorbeugung gibt es                    Demnach haben Schutzkonzepte folgenden Ansprüchen             Durch einfache Vorkehrungen können grosse Schäden
 zwei grundsätzlich verschie-                  zu genügen:                                                   verhindert werden.
 dene Vorgehensweisen: Entwe-                  • sie mindern das Schadenpotenzial;                           Bauherrschaften und Planungsstellen sollen deshalb noch
 der werden die vorhandenen                    • sie erhalten die Funktionstüchtigkeit bestehender           stärker als bisher motiviert werden, Bauten und Anlagen
 Naturgefahren an der Gefah-                     wasserbaulicher Strukturen und Einrichtungen;               gefahrengerecht zu entwerfen, zu realisieren oder allenfalls
 renquelle oder im gefährdeten                 • sie werten natürliche Lebensräume auf.                      nachzubessern. Fachliche Beratung und Prämienanreize
 Gebiet abgewehrt (durch                                                                                     der Versicherungen zeigen in dieser Hinsicht bereits eine
 Massnahmen, die das Gefah-                    Der Hochwasserschutz ist somit in eine ganzheitliche Mass-    steuernde Wirkung.
 renpotenzial mindern), oder                   nahmenplanung einzubeziehen, die sich in der Regel aus
 die Raumnutzung passt sich                    verschiedenen Elementen zusammensetzt:
 den vorhandenen Naturge-                      • Im Vordergrund steht der sachgerechte Gewässer-
 fahren an (durch Massnahmen,                    unterhalt, um die vorhandenen Kapazitäten und
 die das Schadenpotenzial                        die Wirkung bereits erstellter Schutzbauten langfristig                   Vorkehrungen zum Objektschutz sind bereits im
 mindern). Vorrang haben jene                    zu sichern.                                                               Rahmen der Vorbeugung zu konzipieren. Bei tempo-
 Massnahmen, die das Schaden-                  • Zu den Unterhaltsmassnahmen gehört auch eine nach-                        rären Massnahmen ist entscheidend, dass sie rasch
 potenzial beeinflussen.                         haltige Schutzwaldpflege.                                                 verfügbar und einfach einzusetzen sind (unten).
                                               • Hohe Priorität haben raumplanerische Massnahmen.            Schuler

                                                 Eine Orts- und Landschaftsplanung, welche die vorhan-
                                                 denen Naturgefahren respektiert und Freiräume für
                                                 ausserordentliche Ereignisse schafft, ist die bessere
                                                 Vorbeugung als die nachträgliche Sicherung unüberlegt
                                                 ausgeschiedener Bauzonen durch teure Schutzbauten.
                                               • Nur dort, wo Gewässerunterhalt, Schutzwaldpflege und
                                                 raumplanerische Massnahmen nicht ausreichen, sind
                                                 naturnahe und landschaftsgerechte Schutzbauten
                                                 auszuführen.
                                               • Zur Minderung des Restrisikos sind schliesslich ein ange-
                                                 passter Objektschutz sowie eine umfassende Not-
                                                 fallplanung unerlässlich.

                                               Schweizer Luftwaffe                                                         Nidwaldner Sachversicherung

 Wirkungsvoller Objektschutz
 beim Kraftwerk Dallenwil NW:
 Dank einfachen Vorkehrungen
 im Wert von rund 15 000 Fran-
 ken konnte im August 2005
 ein potenzieller Schaden von
 über 6 Millionen Franken an
 Gebäuden und Anlagen ver-
 hindert werden (rechts).
13
Grosser Erneuerungsbedarf                                         Risiken verbleiben

Ganz allgemein sind Planungs- und Bauentscheide bewuss-           Die Hochwasserereignisse vom August 2005, und inzwi-
ter als bisher auf die vorhandenen Naturgefahren auszu-           schen auch jene vom Sommer 2007, zeigten in aller Deut-
richten. Dabei müssen alle Hochwasserschutzmassnahmen             lichkeit, dass der Überlastfall an vielen Orten Realität
konsequent auf ihr Verhalten bei ausserordentlichen Er-           geworden ist: Abflussmengen oder Geschiebevolumen wa-
eignissen geprüft werden: Auch bei extremen Abflüssen,            ren oft viel grösser als zuvor angenommen, wodurch die
Geschiebefrachten und Belastungen dürfen Schutzbauten             Belastungsgrenzen mancher vorbeugender Massnahmen
nicht kollapsartig versagen und zu einem unkontrollierten,        erreicht oder gar überschritten wurden.
sprunghaften Anwachsen der Schäden führen. Bei zeitge-            Die grosse Herausforderung besteht darin, die vorbeugen-
mässen Schutzkonzepten wird der Überlastfall deshalb              den Massnahmen innerhalb jener Unsicherheiten zu opti-
immer berücksichtigt. Die vorgesehenen Massnahmen müs-            mieren, die im Zusammenhang mit Naturgefahren immer
sen entsprechend ausgelegt sein und ein robustes Verhal-          verbleiben. Selbst sehr lange Messreihen weisen – statis-
ten aufweisen (vgl. Beispiel unten).                              tisch gesehen – grosse Streubereiche auf. Diesem Umstand
Diese Vorgabe erfüllen ältere Schutzbauten aber häufig            ist bei der Wahl der Dimensionierungsgrössen Rech-
nicht. Viele Bauwerke, die noch aus dem 19. Jahrhun-              nung zu tragen, während eine geeignete Systemwahl                       Die Skalen der Natur sind
dert stammen, genügen den heute geltenden technischen             sicherstellt, dass die getroffenen Massnahmen das ver-                  grundsätzlich «nach oben
und ökologischen Anforderungen nicht mehr. Dazu ge-               bleibende Risiko angemessen berücksichtigen. Zur Projek-                offen» . Zeitgemässe Schutz-
hören beispielsweise bedeutende Korrektionswerke wie              tierung aller vorbeugenden Massnahmen gehört deshalb                    konzepte tragen solchen Un-
etwa die Rhone im Wallis, das Linthwerk oder der Alpen-           die Klärung des Überlastfalls:                                          sicherheiten Rechnung, indem
rhein. Auch zahlreiche Schutzbauten, die in der Mitte des         • Welche Gebiete sind gefährdet?                                        sie sich im Extremfall robust
20. Jahrhunderts errichtet worden sind, müssen erneuert           • Welche Prozesse treten auf und wie beeinflussen sie sich              verhalten – also bei einer
und den heutigen Anforderungen angepasst werden. Ihre                gegenseitig?                                                         Überlastung nicht schlagartig
Dimensionierung basierte auf den Erfahrungen aus der              • Wie hoch ist die Intensität dieser Prozesse?                          versagen und den Schaden
Zeit zwischen 1927 und 1977, die vergleichsweise arm an                                                                                   sogar noch vergrössern, son-
aussergewöhnlichen Hochwassern war.                               Sind die Restrisiken erkannt, können sie durch einen an-                dern Raum lassen für ausser-
Der landesweite Erneuerungs- und Anpassungsbedarf beim            gepassten Objektschutz und eine umfassende Notfallpla-                  gewöhnliche Abflussmengen
baulichen Hochwasserschutz ist entsprechend gross. Im             nung auf ein akzeptables Mass reduziert werden. Aber beim               oder Geschiebevolumen.
Zuge dieser laufenden Arbeiten dürfen die Folgen des              Umgang mit Restrisiken gibt es keine Standardlösungen,                  Konkret erfordert dies geeig-
Klimawandels nicht übersehen werden. Sowohl Neu-                  weder bei Hochwassern noch bei anderen Naturgefahren.                   nete «Sicherheitsventile», die
bauten als auch Erneuerungsprojekte sind deshalb so zu            Jede Lokalität weist eine eigene Charakteristik auf, die                das betroffene Gerinne zu
konzipieren, dass sie mit verhältnismässig geringem Auf-          durch die jeweilige Topografie, Geologie, Hydrologie, Bo-               entlasten vermögen (etwa
wand auch an neue Rahmenbedingungen angepasst wer-                denbedeckung und Landnutzung bestimmt wird.                             durch die allmähliche und be-
den können (etwa an höhere saisonale Abflüsse oder an                                                                                     wusste Flutung vorbereiteter
einen erhöhten Feststofftransport).                                                                                                       Bereiche). Solche Schutzkon-
                                                                                                                                          zepte sind in den vergangenen
                                                                                                                                          Jahren beispielsweise an der
                                                                                                                                          Urner Reuss oder an der Engel-
                                                                                                                                          berger Aa (Grafik und Foto
                                                                                                                                          unten) realisiert worden und
                                                                                                                                          haben sich dort bewährt.

Entlastungen Buochs NW am 23. August 2005 (Schweizer Luftwaffe)

                                                                                                     Vierwaldstättersee

                                                                                       Ennetbürgen                         Buochs

                                                                                                                          max. 150 m3/s
                                                                                      Entlastungen Buochs

                                                                                                                          max. 240 m3/s

                                                                                            Vorentlastung
                                                                                                                                                Büren
                                                                                                                          max. 300 m3/s                        > 300 m3/s
                                                                                                                                             Engelberger Aa

                                                                                                             Oberdorf           EHQ-              Dallenwil
                                                                                                                            Kalibrierung
Bewältigung

14
                                               Einsätze in Wasser, Schlamm, Geröll                              Nötige Vorkehrungen treffen
                       Bewältigun   g
                                               Ausserordentlich war nicht nur der Verlauf des Hochwassers       Zu den Voraussetzungen einer erfolgreichen Intervention
                                               vom August 2005. Ausserordentlich waren auch die allge-          gehört einerseits, dass die nötigen Vorkehrungen getroffen
                       Gefahren-
                                               meine Hilfsbereitschaft und die Solidarität mit den Betrof-      worden sind. Andererseits darf der optimale Zeitpunkt für
     Vo r b e u

                      grundlagen
                                         ion

                                               fenen. Viele Angehörige von Feuerwehren, Polizeikorps,           den Einsatz nicht verpasst werden. Deshalb haben vorsorg-
                                        ra t
         gu

                  g                            Sanitätsdiensten, technischen Betrieben und Fachstellen          liche Massnahmen eine grosse Bedeutung. Sie werden
                                    ne

                                    ge
             n

                               Re
                                               taten weit mehr als nur ihre Pflicht. Auch Zivilschutz- und      längerfristig vorbereitet, aber erst unmittelbar vor einem
                                               Armeeeinheiten standen im Einsatz. Dazu packten zahllose         Ereignis eingeleitet, und sie tragen viel zur Minderung der
 Die Bewältigung beginnt                       Menschen freiwillig mit an.                                      Schäden und zum Schutz der Bevölkerung bei.
 nicht erst, wenn Bäche, Flüsse                Rückblickend kann gesagt werden, dass die zur Bewältigung        In erster Linie geht es dabei um eine umfassende Notfall-
 und Seen bereits angeschwol-                  der Ereignisse nötig gewordenen Interventionen grund-            planung, die auf den vorhandenen Gefahrengrundlagen
 len oder Hänge abgerutscht                    sätzlich erfolgreich verlaufen sind. Dies zeigt sich vor allem   aufbaut. Die Notfallplanung beschreibt sowohl die mög-
 sind, sondern setzt schon viel                durch einen Vergleich mit früheren Ereignissen ähnlichen         lichen Szenarien, die zu Einsätzen im Hochwasserfall führen
 früher ein: durch rechtzeitig                 Ausmasses. Noch im 19. Jahrhundert hatten überregionale          können, als auch die jeweils zu ergreifenden Massnahmen.
 vorbereitete Massnahmen, die                  Hochwasser regelmässig zahlreiche Opfer gefordert, und           Die Notfallplanung bedingt unter anderem:
 das Ausmass der Ereignisse                    das in einer Schweiz, die viel weniger dicht besiedelt war       • die Kenntnis der im Einsatzgebiet möglichen Gerinne-
 und die Höhe der Schäden                      als heute. Gegenüber damals sind die Opferzahlen im Au-             und Hangprozesse;
 mindern. Zu diesen vorsorg-                   gust 2005 deutlich geringer ausgefallen. Das ist einerseits      • die Bereitstellung des benötigten Materials;
 lichen Massnahmen gehört                      dem grossen persönlichen Einsatz zu verdanken, der auf al-       • die Schulung und Einübung von Einsätzen bei gefähr-
 eine gut vorbereitete Notfall-                len Stufen geleistet worden ist, andererseits aber auch den         lichen Gerinne- und Hangprozessen;
 organisation, deren Einsatz                   vielfältigen technischen Möglichkeiten, die inzwischen für       • die Regelung der Einsatzführung;
 durch Niederschlags- und Ab-                  die Intervention zur Verfügung stehen.                           • den Betrieb und die Sicherstellung der Kommunikations-
 flussvorhersagen sowie durch                  Das Ausmass und die Intensität der Ereignisse vom Au-               verbindungen während eines Einsatzes.
 Beobachtungen vor Ort aus-                    gust 2005 offenbarten aber auch organisatorische oder
 gelöst wird. Die vorsorglichen                technische Schwachstellen und personelle Engpässe.               Vorsorgliche Massnahmen können aber nur rechtzeitig er-
 Massnahmen tragen somit                       An einigen Orten wurden die Führungsgremien und In-              griffen werden, wenn die Vorhersagen (Niederschlags-
 entscheidend dazu bei, dass                   terventionskräfte von den sich überstürzenden Ereignis-          und Abflussvorhersagen) sowie die Beobachtungen vor
 die nachfolgenden Interven-                   sen überrascht.                                                  Ort verlässlich sind, wenn die entsprechenden Warnungen
 tionen (temporäre Schutzmass-                                                                                  rechtzeitig die Führungsgremien aller Stufen erreichen und
 nahmen, Bergung, Rettung,                                                                                      wenn die anschliessende Alarmierung auch von der Be-
 Schadenwehr) erfolgreich                                                                                       völkerung richtig verstanden wird.
 durchgeführt werden können.                                                                                    Das war im August 2005 häufig nicht der Fall. Längst nicht
                                                                                                                alle Betroffenen wussten genug, um im Rahmen ihrer Mög-
                                                                                                                lichkeiten, und seien sie noch so bescheiden, rechtzeitig und
                                                                                                                eigenverantwortlich zu handeln: Fahrzeuge aus Tiefgaragen
                                                                                                                holen, Keller räumen, Geräte und Anlagen aus gefährdeten
                                               Für die Intervention stehen heute technische und                 Räumen entfernen oder Türöffnungen abdichten. Auch sol-
                                               personelle Mittel zur Verfügung, dank denen Rettun-              che Massnahmen müssen vorgängig geplant sein.
                                               gen selbst aus misslichen Situationen möglich sind:              Die geringe Sensibilität der Bevölkerung in Bezug auf
                                               Spektakuläre Bergung eines Baggerführers aus der                 Hochwasser und andere Gefahren der Natur ist eine ge-
                                               Reuss bei Amsteg UR am 22. August 2005 (unten).                  nerelle Schwachstelle. Einerseits fehlen breit verankerte
                                                                                               RDB/Walker       Kenntnisse zu diesen Gefahren. Andererseits mangelt es
                                                                                                                auch am Bewusstsein, dass eigenverantwortliches und ge-
                                                                                                                fahrengerechtes Handeln einen entscheidenden Beitrag zur
                                                                                                                Minderung der Schäden leisten kann.
15
                                                                      Fachwissen vor Ort

                                                     Keystone/Risch   Zum Teil konnten die im August 2005 erkannten Schwach-
Die Hochwasserereignisse vom August 2005 waren                        stellen, ob sie nun organisatorische, technische oder perso-
eine harte Bewährungsprobe für das erst im Jahr                       nelle Ursachen hatten, bereits behoben werden. Vor allem
zuvor reformierte Verbundsystem Bevölkerungs-                         auf lokaler Ebene bestehen aber noch immer Lücken, um be-
schutz. Grundsätzlich hat es diese Probe bestanden                    drohlich anschwellende Hochwasser und andere Gefahren
(oben, Feuerwehr im Einsatz in Weesen). Dennoch                       der Natur besser als bisher bewältigen zu können.
gab es Probleme, weil die räumliche Ausdehnung,                       So muss etwa die Ausbildung von Führungsgremien und
die lange Dauer und der sprunghafte Verlauf der                       Interventionskräften vermehrt auf den Einsatz bei Hoch-
Ereignisse die Führungsgremien und Interventions-                     wassern ausgerichtet werden. Dabei sind Standard-
kräfte in einigen Fällen überfordert haben.                           situationen und Verhaltensregeln in die entsprechen-
                                                                      den Ausbildungsprogramme zu integrieren und konsequent
                                                                      einzuüben (analog zum Vorgehen beim Brandschutz oder
                                                                      bei der Chemiewehr).
                                                                      Im Ernstfall müssen sich die Führungsgremien und Inter-
                                                                      ventionskräfte aber auch auf Fachwissen vor Ort abstützen,
                                                                      um die Lage umfassend beurteilen und die richtigen Ent-
                                                                      scheidungen treffen zu können. Deshalb gilt es, das lokal
                                                                      vorhandene Wissen zu erhalten, gezielt zu ergänzen und
Verbundsystem Bevölkerungsschutz                                      besser verfügbar zu machen.
                                                                      Damit dieses Potenzial effizienter als bisher ausgeschöpft
Seit seiner Reform im Jahr 2004 ist der Bevölkerungsschutz            werden kann, ist auch eine bessere Einbindung der betrof-
als ziviles Verbundsystem organisiert, in dem 5 Partner-              fenen Bevölkerung notwendig. Deshalb braucht es zwischen
organisationen zusammenarbeiten: die Polizeikorps, die                der Fachwelt und der Bevölkerung intermediäre Personen
Feuerwehren, das Gesundheitswesen, die technischen Be-                (so genannte Multiplikatoren), die dank ihrer Netzwerke        Vorsorgliche Massnahmen
triebe der Gemeinden und der Kantone sowie der Zivil-                 sowohl Einblick in die fachlichen Grundlagen als auch in       zahlen sich rasch aus und sind
schutz. Sie stellen Führung, Schutz, Rettung und Hilfe bei            die lokalen Bedürfnisse und Befindlichkeiten haben (ana-       daher zu forcieren. Bereits ein
der Bewältigung ausserordentlicher Lagen sicher.                      log den bei Lawinendiensten bewährten Strukturen, samt         Vergleich der Ereignisse vom
Die Partnerorganisationen bewältigen solche Einsätze mit              entsprechend ausgebildeten und mit den örtlichen Verhält-      August 2005 mit jenen vom
modular aufbaubaren Mitteln. Die eingesetzten Interven-               nissen vertrauten Gefahrenfachleuten).                         August 2007 zeigt den Nutzen
tionskräfte werden der Art und dem Schweregrad der                                                                                   einer guten Vorsorge. Ein
Ereignisse angepasst und entsprechend verstärkt (unter Um-                                                                           Beispiel dafür sind die in der
ständen auch mit privaten und militärischen Mitteln).                                                                                Zwischenzeit im Berner Matte-
Zuständig sind die Kantone, aber die Hauptverantwor-                                                                                 quartier realisierten mobilen
tung für die Notfallplanung und die Notfallorganisation                                                                              Schutzsysteme (unten, im Ein-
liegt bei den Gemeinden. Zusätzlich kann der Bund im                                                                                 satz am 8. August 2007). Sie
Einvernehmen mit den Kantonen die Koordination bzw.                                                                                  haben geholfen, dass die Schä-
Führung bei der Bewältigung grosser Ereignisse überneh-                                                                              den in diesem Quartier trotz
men (Bundesgesetz über den Bevölkerungsschutz und                                                                                    ähnlich hoher Wasserstände
Zivilschutz, BZG). Reichen die zivilen Mittel nicht aus, dann                                                                        deutlich geringer waren als
können den zivilen Führungsgremien auch militärische Mit-                                                                            noch zwei Jahre zuvor.
tel zur Verfügung gestellt werden (subsidiärer Einsatz der                  Keystone/Della Valle

Armee).
Die Gesamtverantwortung für die Sicherheit der Bevölke-
rung liegt somit bei den jeweiligen Exekutiven (Gemein-
deräten, Kantonsregierungen, Bundesrat). Stehen mehrere
Partnerorganisationen gleichzeitig und während längerer
Zeit im Einsatz, wie dies beim Hochwasser vom August 2005
der Fall war, werden die Leitung und Koordination der an-
fallenden Aufgaben an fachlich versierte und politisch legi-
timierte Gremien übertragen: an die Führungsorgane der
Gemeinden und an die Führungsstäbe der Kantone.
Regeneration

16
                                                           Entscheidungen unter Zeitdruck                                   Handlungsgrundsätze
                       Bewältigun       g
                                                           Nach der unmittelbaren Bewältigung der Hochwasser                Für die Regeneration nach einem Schadenereignis gelten
                                                           folgte auch im August 2005 die bedeutend weniger spek-           die gleichen Grundsätze wie in der Phase der Vorbeugung
                       Gefahren-
                                                           takuläre, aber genauso anspruchsvolle Phase der Regene-          (vgl. Seite 12). Schwierigkeiten ergeben sich allerdings durch
     Vo r b e u

                      grundlagen
                                               ion

                                                           ration. So rasch wie möglich mussten verstopfte Gerinne          die besonderen Umstände. Zahlreiche Entscheidungen zu
                                            ra t
         gu

                  g                                        geräumt, beschädigte Dämme gesichert, Schlamm und                vielen Vorhaben müssen praktisch gleichzeitig gefällt wer-
                                         ne

                                          ge
             n

                                     Re
                                                           Schutt entfernt, blockierte Verkehrswege geöffnet und un-        den. Oft herrscht in dieser Phase ein Mangel an Fachleuten.
                                                           terbrochene Leitungen ersetzt werden, um einen angemes-          Zudem gibt es kaum standardisierte Verfahren und Ab-
 Regeneration ist nicht gleich-                            senen Schutz vor weiteren Bedrohungen zu gewährleisten           läufe für diese heikle Phase im Risikokreislauf.
 zusetzen mit einer möglichst                              und den Betrieb lebenswichtiger Infrastrukturen sicherzu-        Deshalb haben die zuständigen Fachstellen des Bundes
 raschen Wiederherstellung                                 stellen. Zu diesen Sofortmassnahmen gehörten auch vor-           kurz nach den Ereignissen vom August 2005 eine vorläu-
 des genau gleichen Zustands,                              gezogene präventive Massnahmen, um bestehende                    fige Liste mit Handlungsgrundsätzen verbreitet. Schlagwort-
 der in einem bestimmten                                   Sicherheitsdefizite möglichst rasch zu beheben.                  artig lässt sich ihr Inhalt unter dem Motto «Die raschen Lö-
 Gebiet vor einem schaden-                                 Unter grossem Zeitdruck und ohne umfassende Abklä-               sungen von heute dürfen nicht zum Problem von morgen
 reichen Hochwasser bestanden                              rungen mussten weitreichende Entscheidungen gefällt              werden» zusammenfassen:
 hatte. Vielmehr geht es in                                werden, denn die Betroffenen erwarteten schnelle und ver-        • Der beanspruchte Gewässerraum ist freizuhalten, der
 dieser Phase um den vorläu-                               bindliche Antworten über die Zukunft ihrer Häuser und Be-           Raumbedarf der Fliessgewässer zu respektieren (ge-
 figen Schutz der betroffenen                              triebe. Dabei ging es vor allem um das weitere Vorgehen,            mäss den Grundsätzen, die in den Wasserbaugesetzen
 Gebiete, um die angemessene                               die entsprechenden Baubewilligungsverfahren, die Dauer              des Bundes und der Kantone festgeschrieben sind). Dem-
 Sicherung der Lebensräume                                 der Instandstellungen und deren Finanzierung.                       nach soll an Gewässerstrecken mit seitlicher Erosion das
 und um die Sicherstellung                                 Für die Behörden aller Stufen bestand die grösste Heraus-           neu entstandene, breitere Abflussprofil dauerhaft erhal-
 von Infrastrukturen.                                      forderung während dieser Phase in der Koordination un-              ten bleiben.
                                                           terschiedlichster und zum Teil widersprüchlicher Interessen.     • Das nächste Hochwasser kommt bestimmt, deshalb sind
                                                           Dabei offenbarte sich in einigen Fällen eine mangelnde              Überschwemmungsflächen und Abflusskorridore
                                                           Vernetzung der verschiedenen Entscheidungsstufen, und               ebenfalls dauerhaft raumplanerisch zu sichern.
                                                           entsprechend gab es Konflikte bei der Gefahren- und Risiko-      • Zerstörte oder stark beschädigte Bauten und Anlagen,
                                                           beurteilung und bei der Massnahmenplanung.                          die dem Aufenthalt von Mensch oder Tier dienen, dürfen
                                                                                                                               ohne vorgängige und umfassende Gefahren- und
                                                                                                                               Risikobeurteilung nicht leichtfertig wiederaufgebaut
                                                                                                                               werden.
                                                                                                                            • Dort, wo Bauten oder Anlagen beschädigt wurden, sind
                                                                                                                               ganz generell permanente Objektschutzmassnah-
                                                                                                                               men anzuordnen.
                                                                                                                            • Gefahrenkarten sind strikt zu berücksichtigen und
                                                                                                                               dort, wo sie noch nicht vorhanden sind, mit höchster
                                                                           Glyssibach im August 2005
                                                                                                                               Priorität auszuarbeiten.

                                                Raumbedarf gemäss Hochwasserschutzprojekt 2007

 Schweizer Luftwaffe; Vorlage Profil: Kanton Bern

                                                                                                                      In der Phase der Regeneration dürfen keine Präjudizien
                                                                                                                      geschaffen werden. Der langfristige Schutz vor Hochwas-
                                                                                                                      ser und anderen Gefahren der Natur erfolgt erst in der
                                                                                                                      Phase der Vorbeugung (auf der Grundlage einer vertieften
                                                                                                                      Gefahren- und Risikobeurteilung). Dabei hat die Sicherung
                                                                                                                      des Raumbedarfs, der nach den Ereignissen vom August
                                                                                                                      2005 an vielen Orten augenfällig geworden ist, eine hohe
                                                                                                                      Priorität (links, Beispiel Glyssibach in Brienz BE).
17
Zusammenarbeit verbessern                                                        Notfallkonzepte zur Überbrückung

Die Phase der Regeneration beginnt unmittelbar nach Ab-                          Durch beschädigte oder zerstörte Schutzbauten entstehen
schluss der Interventionen, die zur Bewältigung eines Hoch-                      Schutzdefizite, die möglichst rasch zu beheben sind. Zu-
wassers nötig geworden sind. Für diesen Übergang von                             vor stellt sich aber jeweils die Frage, ob eine reine Wie-
einer Phase zur nächsten fehlen aber mancherorts klare                           derherstellung wirklich sinnvoll sei. Auch im August
organisatorische Regeln. Hier gilt es, Strukturen und Ab-                        2005 waren viele Bauwerke betroffen, die schon vor lan-
läufe zu institutionalisieren und die Zusammenarbeit aller                       ger Zeit erstellt worden sind. Seither hat sich das Wissen
Beteiligten zu verbessern.                                                       über die vorhandenen Gefahren, die dadurch ausgelösten
Hochwasserschutz ist eine Verbundaufgabe, an der viele                           Prozesse und die zu berücksichtigenden Risiken massgeb-
Akteure mitwirken: einerseits die Behörden und Fachstellen                       lich weiterentwickelt.
auf allen Stufen (bei den Gemeinden, bei den Kantonen und                        An jedem Schadenplatz sind deshalb die Ursachen zu klä-
beim Bund), andererseits private Büros, Versicherungen, Um-                      ren, die zur Beschädigung oder sogar Zerstörung des be-
weltorganisationen sowie die unmittelbar Betroffenen.                            treffenden Bauwerks geführt haben. Diese Abklärungen
Tragfähige Lösungen, die eine breite Akzeptanz finden,                           sowie die Projektierung und die Realisierung von Folge-
können nur durch ein gemeinsames Vorgehen erreicht                               projekten brauchen allerdings eine gewisse Zeit. Diese Zeit
werden. Das ist eine anspruchsvolle und längst nicht im-                         lässt sich durch Notfallkonzepte überbrücken, die das be-
mer konfliktfreie Aufgabe.                                                       stehende Schutzdefizit rasch und wirkungsvoll reduzieren.
                                                                                 Das schafft den nötigen Freiraum zur Ausarbeitung von
                                                                                 tragfähigen Lösungen, die einen langfristigen Schutz
                                                                                 sicherstellen.

Handlungsgrundsätze bei einem Wildbach                                           Handlungsgrundsätze bei einem Talfluss

Buoholzbach bei Dallenwil NW am 23. August 2005 (Schweizer Luftwaffe)            Engelberger Aa oberhalb von Wolfenschiessen NW am 23. August 2005 (Schweizer Luftwaffe)

                                                                                                                                                                                    Keine Instandstellung
                                                                                                                                                                                    ohne umfassende
                                                                                                                                                                                    Gefahrenbeurteilung

                                                                                                                                                                                    Objektschutz

                                                Geschiebesammler
                                                                                                                                   Gewässerraum definieren

                                                                                                                                                                           Die grösste Herausforde-
                                                                                                                                                                           rung ist die Ausarbeitung
                                                                                                                                                                           robuster und überlastbarer
                                                                                                                                                                           Schutzkonzepte. Der für den
                                                                                                                                                                           Überlastfall vorgesehene
                                                                                                                                                                           Raum ist von Bauten und

                                                                                                        Abflusskorridor freihalten                                         Anlagen freizuhalten. Dort,
                                                       Gewässerraum definieren                                                                                             wo das nicht möglich ist, sind
                                                                                                                                                                           die betroffenen Bauten und
                                                                                                                                                                           Anlagen objektweise zu schüt-
                                                                                                                                                                           zen (Prinzipskizzen links).
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