"Hybride Bedrohungen": Vom Strategischen Kompass zur Nationalen Sicherheitsstrategie
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NR. 40 JUNI 2022 Einleitung »Hybride Bedrohungen«: Vom Strategischen Kompass zur Nationalen Sicherheitsstrategie Annegret Bendiek / Raphael Bossong Die tschechische EU-Ratspräsidentschaft will in der Außen- und Sicherheitspolitik der EU einen Schwerpunkt auf hybride Bedrohungen legen. Konkret sollen Diskussionen zu zwei Vorhaben aus dem Strategischen Kompass vom März 2022 beschleunigt werden. Es geht um die Erstellung zweier »Werkzeugkästen«, einer zur Abwehr hybrider Be- drohungen (EU Hybrid Toolbox) und einer gegen Desinformation und ausländische Einmischung (EU Foreign Information Manipulation and Interference Toolbox). Doch das liefe hauptsächlich darauf hinaus, vorhandene Rechtsakte und Maßnahmen der EU zu bündeln. Damit wird die Union der Herausforderung nicht gerecht. Vielmehr muss das Konzept der hybriden Bedrohungen kritisch hinterfragt werden, wenn es politisch überzeugen soll. Diese Aufgabe stellt sich umso dringender, weil hybriden Bedrohungen sowohl in der Nato als auch im Zuge der geplanten Nationalen Sicher- heitsstrategie Deutschlands hohe Aufmerksamkeit gilt. Schon die Besetzung der Krim 2014 machte Akteure sein, das heißt solche, die nur in- deutlich, dass Großmachtkonflikte wieder direkt oder verdeckt von einem der beteilig- mit allen verfügbaren, vielfach unkonven- ten Staaten unterstützt werden. tionellen Mitteln ausgetragen werden. Hier- Noch vor wenigen Jahren wurden hybri- zu zählen unter anderem niederschwellige de Bedrohungen in erster Linie als gleich- militärische Operationen, Cyberangriffe zeitige Anwendung bewaffneter Gewalt oder Desinformationskampagnen. Diese ver- und nicht offen gewalttätiger Instrumente deckten Formen illegitimer Einflussnahme zur Einflussnahme verstanden. Heute da- zwecks Destabilisierung von Demokratien gegen schließt der Begriff auch rein zivile, bezeichnen EU- und Nato-Staaten als hybri- aber dennoch aggressive Ansätze ein, die de Bedrohungen. Dabei handelt es sich um sich gegen die öffentliche Ordnung eines transnationale Bedrohungen, welche die anderen Staates richten. Seit dem russischen öffentliche Ordnung eines anderen Staates Einmarsch in der Ukraine bemüht sich die stören oder zumindest beeinflussen sollen. EU, ihre Mitgliedstaaten dazu zu bewegen, Urheber können auch sogenannte Proxy- gesellschaftliche, politische und wirtschaft-
liche Abhängigkeiten zu diversifizieren. In Krisenfall abgehalten. Bisher wurden aller- diesem Sinne betont die EU in ihrem Strate- dings im Rahmen der jeweiligen vertrag- gischen Kompass zur Sicherheit und Vertei- lichen Grundlagen von Nato und EU keine digung vom März 2022, welche Gefahr für Regeln für eine verbindliche grenzüber- die Union von hybriden Bedrohungen aus- schreitende Solidarität als Antwort auf geht. Damit will sie Maßnahmen für mehr hybride Angriffe festgelegt. Resilienz anstoßen. Konkret avisiert sie in Als die russische Einflussnahme auf die dem Kompass, die nachrichtendienstlichen US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen Auswertungskapazitäten im Europäischen des Jahres 2016 schrittweise aufgedeckt Auswärtigen Dienst (EAD) zu stärken sowie wurde und Cyberangriffe auf Regierungs- Rechtsakte und Maßnahmen der EU in netze in Europa einschließlich Deutsch- einem »Werkzeugkasten« gegen »hybride lands bekannt wurden, mehrten sich ab Bedrohungen« und einem gegen »ausländi- etwa 2018 die Sorgen um die Integrität von sche Einmischung« zusammenzufügen. Wahlen und der öffentlichen Meinungs- Allerdings werden weder die verwendeten bildung. Um Desinformation einzudämmen, Begriffe erläutert noch die institutionellen vereinbarte die EU einen Verhaltenskodex und politischen Verantwortlichkeiten ge- mit den großen Plattformanbietern. Vor der klärt. Es wird auch kein systemisches Ver- Europawahl im Mai 2019 wurden zudem ständnis von Resilienz entwickelt. Aus Sicht neue Überwachungs- und Warnmechanis- strategischer Handlungsfähigkeit der EU men geschaffen. Überdies nahm eine Hori- sollte aber deutlich werden, worum es bei zontale Gruppe »Stärkung der Resilienz und hybriden Bedrohungen eigentlich geht. Abwehr hybrider Bedrohungen« ihre Arbeit auf. Weiterhin wurde im EAD in Abstim- mung mit der G7 ein Schnellalarmsystem zu Die EU-Reaktionen hybriden Bedrohungen eingerichtet. Vor- rangig mit Blick auf China wurde außerdem Die europäische Debatte über hybride Be- ein EU-Rechtsrahmen verabschiedet. Damit drohungen reicht bis in die späten 2000er sollen ausländische Direktinvestitionen Jahre zurück. Aber erst nachdem Russland darauf überprüft werden können, ob sie die die Krim annektiert hatte, wurden substan- Verwundbarkeit kritischer Infrastrukturen tielle Abwehrmaßnahmen vereinbart. Als erhöhen und technologische Abhängig- Erste handelte die Nato und investierte vor keiten erzeugen. allem in nachrichtendienstliche Früherken- Während der Corona-Pandemie wurden nung und strategische Kommunikation, die Bemühungen intensiviert, Desinforma- um Russlands Kampagnen etwas entgegen- tion zu bekämpfen und demokratische zusetzen. Der EAD folgte und beschloss Willensbildung zu stärken. So initiierte die 2015, eine »Task Force« zur strategischen Europäische Kommission Ende 2020 einen Kommunikation zu gründen. 2016 verab- »Aktionsplan für Demokratie in Europa«. schiedete die EU ein »Playbook«, also einen Weitere Gesetzesvorhaben und institutionel- Leitfaden für eine politisch und institu- le Reformen zum Resilienzaufbau wurden tionell koordinierte Antwort auf hybride auf den Weg gebracht, etwa zum erweiter- Angriffe. Parallel dazu wurde die »Hybrid ten Schutz kritischer Infrastrukturen und Fusion Cell« im Analysezentrum INTCEN- zur aktiven Cyberabwehr. Seither wächst SIAC des EAD eingerichtet, um ein gemein- die Bandbreite der Themen, die hybride sames europäisches Lagebild zu ermög- Bedrohungen und eine entsprechende EU- lichen. Ferner formulierten EU und Nato Sicherheitspolitik betreffen. Im Herbst 2021 eine Erklärung für ihre Zusammenarbeit führten vor allem die mittel- und osteuro- bei der Abwehr. Unter anderem wurde in päischen EU-Mitglieder die Flüchtlings- Helsinki ein Exzellenzzentrum zur Analyse bewegungen in Belarus auf eine »hybride« hybrider Bedrohungen eröffnet, und es Gesamtstrategie Russlands zur Destabilisie- wurden regelmäßige Übungen für den rung Europas zurück. SWP-Aktuell 40 Juni 2022 2
Der Strategische Kompass und Russland, die Anstrengungen zum Umbau Russlands Angriffskrieg der Lieferketten und Zulieferstrukturen von fossilen Energien sowie weitere Maßnahmen Die vielfältigen Initiativen und Rechtsakte, zur Erhöhung der Cybersicherheit und zur die einen europäischen Mehrwert bei der Eindämmung von Propaganda und Desinfor- Bekämpfung hybrider Bedrohungen bringen mation. Zu letzteren gehört das EU-weite sollen, werden seit Jahren in Arbeitsdoku- Verbot der russischen Medien Sputnik und menten meist nur katalogisiert. Bislang exi- Russia Today. stiert keine klar nachvollziehbare Strategie Die EU kann durchaus ihre Markt- und zum Umgang mit hybriden Bedrohungen. Regulierungsmacht nutzen, um mehr Ent- Der im März 2022 vorgestellte Strategische flechtung oder Widerstandsfähigkeit in Kompass soll nun explizit als Leitdokument wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik technologischen Bereichen zu erwirken – der EU dienen. Auf der Basis einer umfas- mit dem Ergebnis, dass die Angriffsfläche senden Bedrohungsanalyse sollen Ziele ab- für hybride Bedrohungen kleiner wird. geleitet werden, wie die EU in den nächsten Diese Stoßrichtung zeigt sich ebenso in den fünf bis zehn Jahren zum Schutz der EU jüngsten Zwischenberichten des EU-US sicherheits- und verteidigungspolitische Trade and Technology Council. Sowohl die Investitionen tätigen und Partner hierzu EU als auch die USA befürworten eine weit- engagieren kann. aus intensivere Zusammenarbeit in vielen Zahlreich sind die Kritikpunkte an dem entscheidenden Themenbereichen, um ge- Dokument. Die Auflistung verschiedener meinsam unabhängiger gegenüber Russland Bedrohungen übersetzt sich nicht in einen und China agieren zu können. Angesichts neuen Katalog an grundlegenden Reformen der (digitalen) geopolitischen Dynamiken ist und dringlichen verteidigungspolitischen es umso wichtiger, Ziele klar zu umreißen Aufwendungen. Stattdessen werden darin und Instrumente zu schärfen. Doch der vorwiegend rüstungspolitische Vorhaben Strategische Kompass enthält gravierende bekräftigt, über die seit Jahren wenig erfolg- konzeptionelle Defizite und Unklarheiten reich in der Gemeinsamen Sicherheits- und hinsichtlich hybrider Bedrohungen. Das Verteidigungspolitik (GSVP) debattiert wird. schlägt sich im mangelhaften Detailgrad Allerdings wird im Kompass die Thematik von Reformvorschlägen nieder. der hybriden Bedrohung deutlich stärker hervorgehoben als in früheren Strategie- dokumenten. So fallen auf den 47 Seiten Erstens: Begriffliche Schärfung des Kompasses in der englischsprachigen Originalversion tatsächlich 47-mal in unter- »Verdeckte Operationen«, »aktive Maßnah- schiedlicher Diktion die Bezeichnungen hy- men« oder andere Formen der »Subversion« brider Angriff, hybride Taktik oder hybride waren im Kalten Krieg an der Tagesordnung. Bedrohung. Die jeweiligen Bezüge reichen Der digitale Wandel und die wirtschaftliche von Cyberangriffen sowie der Manipulation Globalisierung haben allerdings die Kontext- der öffentlichen Meinung über die zuneh- bedingungen internationaler Sicherheits- mende Verwundbarkeit durch die techno- politik strukturell verschoben. Entgegen logische oder wirtschaftliche Vernetzung – klassischen liberalen Annahmen zur kon- vor allem mit Blick auf China – bis hin zur flikthemmenden Wirkung von Interdepen- Destabilisierung der europäischen Nachbar- denz wird diese seit Anfang der 2000er schaft durch Russland. Insofern könnte irr- Jahre verstärkt als Machtmittel oder gar als tümlich der Schluss gezogen werden, dass Waffe eingesetzt (»weaponized interdepen- die EU mit diesem Dokument hybride Be- dence«). Waren es zuvor die westlichen Ord- drohungen zur zentralen Priorität erklärt nungsmächte und die USA, die Interdepen- hat. Diesen Eindruck verstärken die mittler- denz in ihrem Sinne ausgestalteten, ver- weile sechs Sanktionspakete gegenüber suchen nun häufiger autoritäre Staaten, die SWP-Aktuell 40 Juni 2022 3
liberale Ordnung der Wirtschaft und des Akteure und konspirative Methoden Internets herauszufordern. Um diese Kon- genutzt, während der Terminus ausländi- frontation zu beschreiben, wird im US-ame- sche Einmischung sich hauptsächlich auf rikanischen Diskurs oftmals von »gray zone staatliche Akteure bezieht. In der politi- conflicts« und in Europa von hybriden schen Praxis auf EU-Ebene verschwimmen Bedrohungen gesprochen. allerdings die Begriffe. Supranationale In einer Gesamtschau listet das European Akteure sprechen eher von ausländischer Centre of Excellence for Countering Hybrid Einmischung. Dagegen favorisieren die Mit- Threats in Helsinki derzeit über 40 Instru- gliedstaaten die Bezeichnung hybride Be- mente auf, die sowohl staatliche wie nicht- drohung, wohl um anzudeuten, dass das staatliche Akteure für hybride Angriffe in Problem in ihren exklusiven Kompetenz- mindestens 13 gesellschaftlichen, wirtschaft- bereich der nationalen Sicherheit fällt. lichen oder politischen Sektoren nutzen. Das Nebeneinander der Begriffe hybride Die Bandbreite dieser Instrumente reicht Bedrohung, ausländische Einmischung, Desinfor- von einer Störung von Informationszugän- mation und Cybersicherheit stiftet Verwirrung in gen über gezielte Manipulation von Daten Fachkreisen und mündet in institutionelle Kompe- bis hin zu kriegerischen Maßnahmen. tenzstreitigkeiten. Differenzierung tut not, um Intention und Gesamtstrategie gegnerischer die Intensität der Einflussnahme zu erfassen und Akteure manifestieren sich in zahlreichen verhältnismäßige Gegenmaßnahmen zu treffen. Einfluss- und Angriffswegen. All dies gilt es zu bewerten. Einzelne Cyberangriffe zum Beispiel sind nicht per se eine hybride Be- Zweitens: Verhältnismäßigkeit drohung, sondern erst im Zusammenhang und politische Verantwortlichkeit umfassender gegnerischer Kampagnen. Das European Centre of Excellence versteht Die Forderung nach klar definierten Begrif- hybride Bedrohungen demnach als »koordi- fen ist kein Allgemeinplatz. Ein besonders nierte und synchronisierte Maßnahmen, sensibles Beispiel betrifft die Verbindung die mit einer Vielzahl von Mitteln auf die von irregulärer Migration und hybriden systemischen Schwachstellen demokrati- Bedrohungen. So ist umstritten, ob Belarus scher Staaten und Institutionen abzielen« mit der zeitweilig gezielten Steuerung der und so konzipiert sind, dass sie unterhalb Migration in die EU die böswillige Absicht klarer Schwellen der Erkennung und ent- verfolgte, die Schengen-Zone zu destabili- sprechender Gegenmaßnahmen bleiben. sieren. Auch unabhängig vom nachrichten- Mit dem Begriff hybride Bedrohung dienstlichen Lagebild gilt es, eine separate konkurriert die Bezeichnung »ausländische politische Bewertung vorzunehmen, der Einmischung« (»foreign interference« oder wiederum unterschiedliche Werturteile im »foreign information manipulation and Hinblick auf die Problematik von Flucht interference«). Damit ist gemeint, dass geg- und Migration zugrunde liegen. Konkret ist nerische Regierungen beabsichtigen, die also strittig, ob irreguläre Zuwanderung Funktionen kritischer gesellschaftlicher grundsätzlich in den Zusammenhang hybri- Bereiche zu stören sowie zum Teil mit illega- der Bedrohungen gerückt werden sollte. Mit len Mitteln vor allem Medien, die öffent- einer solchen Einordnung werden verstärkt liche Meinungsbildung und demokratische militärische Maßnahmen oder Akteure so- Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen. wie weitaus schärfere Grenzsicherungsmaß- Inhaltlich lässt sich dieser Terminus also nahmen legitimiert, bis hin zur systemati- teilweise vom Begriff hybride Bedrohung schen Verweigerung des Zugangs zu Asyl- abgrenzen, denn Letztere kann auch offen- verfahren. In dieser Gemengelage schlug sivere, wenngleich verdeckte Angriffe ein- die Europäische Kommission den Mitglied- schließen und sich auf weitere wirtschaft- staaten vor, nicht von hybrider Bedrohung, liche Sektoren richten. Zudem werden bei sondern von illegitimer »Instrumentalisie- hybriden Bedrohungen verstärkt Proxy- rung« irregulärer Migration durch Drittstaa- SWP-Aktuell 40 Juni 2022 4
ten zu sprechen. Während im Rat jüngst »Playbook« aus dem Jahr 2016 werden in eine politische Einigung zur Anpassung des diesem Kontext den Anforderungen an exe- Schengen-Rechts erzielt wurde, bleiben die kutive und demokratische Verantwortlich- Folgewirkungen für Asylverfahren höchst keit in der Europapolitik nicht gerecht. umstritten und erfordern weitere Verhand- lungen im Europäischen Parlament. Maßnahmen gegen hybride Angriffe Drittens: Mehr als Werkzeug- mögen also im günstigen Fall abschreckend kästen und statische Resilienz wirken, im ungünstigen Fall jedoch negative Folgen für liberale und offene Gesellschaften Die genannten Herausforderungen – also haben. Verbote, Regulierungen und forcier- die frühzeitige Erkennung und Einordnung te Kappungen der Vernetzung, die eine An- hybrider Angriffe und eine verhältnismäßi- griffsfläche für hybride Attacken bietet, soll- ge Reaktion darauf – lassen sich mit einer ten dem Verständnis nach mit der freiheit- eher allgemeinen, passiv ausgerichteten lich-demokratischen Grundordnung ver- Strategie der »Deterrence« oder »Resilience einbar sein. Die »strategische Ambiguität« by Denial« entschärfen. Regulative Maßnah- des Strategischen Kompasses, in sehr unter- men, die weit über jene der Sicherheit und schiedlichen Zusammenhängen von hybri- Verteidigung hinausgehen, tragen durchaus den Taktiken, Angriffen oder Bedrohungen dazu bei, Demokratien wehrhaft zu machen. zu sprechen, ist daher nicht unproblema- Ansätze zur Stärkung von IT-Mindestsicher- tisch. heitsstandards sowie gesamtgesellschaft- Sinnvoll hingegen ist die im Kompass liche Cyberhygienemaßnahmen sind hilf- vorgeschlagene Aufwertung der nachrichten- reich und können Einfallstore für böswilli- dienstlichen Auswertung und der Hybrid ge Handlungen schließen. Angestrebt wird Fusion Cell im EAD. Es bedarf der Früh- eine gesamtgesellschaftliche Resilienz, die erkennung und fallspezifischen Einordnung, unterschiedliche Politikbereiche und Behör- ob in der Auseinandersetzung mit Drittstaa- den (»whole of government«) sowie privat- ten hybride Bedrohungen auftreten. Die EU wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteu- ist zudem seit dem Brexit darauf angewie- re (»whole of society«) einbezieht. Darüber sen, strategisch wichtige Attributionen und hinaus sollte smarte Resilienz weniger als vertrauliche Informationen über den Nach- Fähigkeit zur Wiederherstellung des ur- richtendienstverbund der Five Eyes (USA, sprünglichen Zustands begriffen werden, Vereinigtes Königreich, Australien, Kanada, sondern vielmehr als Ausgangsbedingung Neuseeland) zu importieren. Einige Mitglied- für und Ergebnis von kreativen Anpassun- staaten reagieren auf diese Informations- gen an Krisen und Herausforderungen. abhängigkeiten sehr sensibel. Insofern wäre Der Strategische Kompass wird der Viel- es ratsam, die Zulieferung und systemati- schichtigkeit des Resilienzkonzepts ebenso sche Auswertung nachrichtendienstlicher wenig gerecht wie der Vielfalt der Strate- Informationen auf EU-Ebene weiter zu ver- gien einer Resilience by Denial. Zwar soll stetigen. Konkrete Optionen für eine ver- der Kompass die bisherige breit angelegte stärkte Zusammenarbeit in diesem Bereich Politik der EU zu hybriden Bedrohungen werden im Strategischen Kompass aller- neu bündeln. Praktisch beschränkt sich dies dings nicht benannt. aber darauf, dass im Rahmen der GSVP Darüber hinaus gilt es, die politischen zwei »Werkzeugkästen« geschaffen werden Entscheidungsstrukturen auf EU-Ebene sollen, einer zu hybriden Bedrohungen und weiterzuentwickeln, die hybride Bedrohun- einer zu ausländischer Einmischung. gen betreffen und auf nachrichtendienst- Offensichtlich ist der Begriff Werkzeug- liche Einschätzungen im INTCEN-SIAC zu- kasten von der bereits bestehenden »Cyber- rückgreifen. Die institutionellen Verfahren diplomacy Toolbox« in der GASP inspiriert. und undurchsichtigen Strukturen wie die Darin hat die EU in Grundzügen festgelegt, Horizontale Gruppe im Rat oder auch das wie sie in abgestufter Weise auf Cyber- SWP-Aktuell 40 Juni 2022 5
angriffe reagieren will, bis hin zu restrikti- Das Beispiel Cybersicherheit und ven Maßnahmen. Inhaltliche Details zu den Hybrid beiden angekündigten Werkzeugkästen feh- len aber im Kompass vollständig. Wiederum Die begrifflichen Probleme und das schwie- wurden die Begriffe nicht eindeutig defi- rige Zusammenspiel von verhältnismäßiger niert, so dass unklar bleibt, welche Werk- Abschreckung und Resilience by Denial zeuge, Rechtsakte oder andere Maßnahmen lassen sich exemplarisch in der Cybersicher- mit welchen Verfahren jeweils welchem heit beobachten. Laut der Agentur der EU Werkzeugkasten zugeordnet werden könn- für Cybersicherheit (ENISA) ist die Energie- ten. Ungewiss ist auch, ob analog zur Cyber- infrastruktur ein besonders attraktives Ziel diplomacy Toolbox eine Stufenlogik bis hin für Cyberangriffe, da die Folgen weitrei- zu Sanktionsentscheidungen greifen soll. chend sein und als Hebel für Erpressungen Die Bezeichnung Werkzeug suggeriert, dass oder als Ausgangspunkt für militärische eine Reparatur oder zielgerichtete Gegen- Operationen genutzt werden können. Für maßnahmen notwendig sind. Angesichts die Unternehmen des Energiesektors, die stark politisch gefärbter und kontext- schon unter die alte Richtlinie der EU über abhängiger Bewertungen hybrider Bedro- die Sicherheit von Netz- und Informations- hungen ist diese technische Metapher systemen (NIS) aus dem Jahr 2017 fielen, wenig konstruktiv. bedeuten die neuen Auflagen gemäß der Ein weiteres grundsätzliches Defizit der NIS-2-Richtlinie strengere Berichtspflichten. »Werkzeugkastenlogik« ist, dass damit ein Cyberangriffe müssen die Firmen binnen systemischer Blick auf Resilienz verloren 24 Stunden melden, Details darüber binnen geht. So könnte eine Strategie der Resilienz 72 Stunden. Andernfalls drohen ihnen dazu anleiten, Angriffe und Störungen in Strafen von bis zu 10 Millionen Euro. Der Kauf zu nehmen, und darauf setzen, dass Geltungsbereich der Richtlinien wurde auf offene wirtschaftliche und gesellschaftliche elektrische Stromladeeinrichtungen erwei- Systeme aus sich heraus einer Destabilisie- tert. Sie ergänzen damit die als kritisch rung und Unterwanderung widerstehen eingestuften Erzeugungs- und Transport- können. Statt aktiver Eingriffe im Einzel- infrastrukturen der Energieuntersektoren fall, etwa dem Verbot bestimmter Medien Erdgas, Fernwärme, Erdöl, Elektrizität oder der Löschung von Falschnachrichten, und Wasserstoff. Auf diese Weise wird in genösse die Aufrechterhaltung eines mög- Friedenszeiten regulären Sorgfaltspflichten lichst pluralistischen Mediensektors Vor- zur IT-Sicherheit Rechnung getragen. Dies rang. Gewiss können eher systemische An- ist eine von zahlreichen Maßnahmen zum sätze zur Resilienz (wie indirekte Regulie- Resilienzaufbau. Zum Eigenschutz und rung, Aufsicht und Wettbewerb) mit einzel- zur Gefahrenabwehr greifen Regierungen nen Eingriffen kombiniert werden, wie es in einem weiteren Schritt auf elektronische zunehmend auch in der Cybersicherheit Aufklärung zurück, scannen Schwach- gehandhabt wird. Insofern wären eine Aus- stellen und setzen gegebenenfalls Trojaner differenzierung und eine Handlungslogik zur Strafverfolgung ein. jenseits von Werkzeugkästen ratsam. Schon Im Kontinuum zwischen Frieden und rein rechtlich bietet die GSVP, auf die sich Krieg werden Cyberangriffe erst dann als der Strategische Kompass primär bezieht, hybrid eingestuft, wenn sie mit der bös- keine Grundlage, um eine umfassende willigen Absicht zur Manipulation oder Sicherheitspolitik gegen hybride Bedrohun- Störung gezielt auf Infrastrukturen gerich- gen zu koordinieren. tet werden. Solche flächendeckend ange- legten Nadelstiche gehen auf das Konto von Hackergruppen, die zielgerichtet im Auf- trag von Staaten oder mit deren Duldung vorgehen. Bei den jüngsten DDoS-Attacken des prorussischen Hackerverbunds »Killnet« SWP-Aktuell 40 Juni 2022 6
seit Mai 2022 handelt es sich bislang um der Ukraine 2015 verursacht hatte, die Kon- vergleichsweise harmlose Störangriffe, die trolle über zahlreiche Router in kleinen nur die Webseiten-Präsenz westlicher Regie- und mittleren Betrieben übernommen. Ob rungsstellen beeinträchtigten. Auf ihrem dieses Netzwerk und die verwendete Schad- Telegram-Kanal hatten die Killnet-Hacker software »Cyclops Blink« durch Gegen- eine Liste mit Webadressen deutscher maßnahmen unter Führung des FBI mittler- »Ziele« veröffentlicht, vermutlich um ihre weile vollständig ausgeschaltet werden Anhängerschaft über ihr Vorhaben zu konnten, ist noch nicht gesichert. Die russi- informieren und zur Teilnahme zu animie- schen Staatshacker scheinen nach weiteren ren. Aufgelistet waren Webseiten der Post- Lücken zu suchen. Das Bundesamt für bank und der Wiesbadener Aareal Bank Sicherheit in der Informationstechnik und sowie von Kliniken und Universitäten. Es der Verfassungsschutz warnen vor aggres- stellt sich die Frage, ob dies schon als hybri- siven Scan-Aktivitäten, mit denen Sicher- de Bedrohung einzustufen wäre. heitslücken aufgespürt werden sollen. Wann Noch gibt es keine militärische Cyber- also ist die Schwelle überschritten, dass die doktrin, die vorsieht, Cyberangriffe zusam- Beistandsklausel in der EU aktiviert oder men mit traditioneller militärischer Gewalt der Nato-Bündnisfall ausgerufen werden gegen einen gleichrangigen oder nahezu müsste? Nicht nur ist es außerordentlich gleichrangigen Gegner einzusetzen. Viele schwierig, Faktoren festzulegen, anhand der Theorien über die möglichen Auswir- derer eine solche Entscheidung getroffen kungen von Cyberangriffen in modernen werden kann. Politisch ist es sogar beab- Konflikten werden derzeit in der Realität sichtigt, sich unklar darüber zu äußern, was getestet. Die Ukraine erlebte bis zum eine Kriegshandlung im Cyber- und Infor- Beginn der Invasion massive Attacken auf mationsraum darstellt und was nicht. Der die digitale Infrastruktur des Landes, auf Gegner soll laut Verteidigungsstrategen im Webseiten, Banken, Regierungs- und Militär- Ungewissen gelassen werden, damit er stellen. Seither sind jedoch neue weitrei- nicht ermutigt werde, sich an eine definier- chende oder noch schwerere Cyberangriffe te Schwelle heranzutasten, deren Erreichen durch Russland ausgeblieben oder waren eine entsprechende Reaktion auslösen eher wirkungslos. Eine Ausnahme bildete könnte. Diese fehlende Klarheit über die der Angriff auf Schaltstellen der Satelliten- Kriegseintrittsschwelle ist problematisch, verbindung (ViaSat), welche die Ukraine weil sie nicht zur Erwartungsverlässlichkeit unter anderem für die Zielerfassung von Akteurshandeln beiträgt, die prinzipiell und -führung ihrer Artillerie nutzte. Dieser konfliktentschärfend wirkt. So gilt für EU russische Cyberangriff führte Anfang März und Nato im Cyber- und Informationsraum auch zu Ausfällen der Steuerung von Wind- zurzeit das Konzept der strategischen rädern in Deutschland. Da aber der Unter- Doppeldeutigkeit. Die Nato hat festgelegt, nehmer Elon Musk über das Satellitensystem dass ein Hackerangriff Artikel 5 des Nato- Starlink ein alternatives Kommunikations- Vertrages, also den Bündnisfall auslösen netz bereitstellte, wurde Russlands strate- kann. Wie bei konventionellen Angriffen gische Intention, die Ukraine militärisch zu hat die Allianz bewusst offengelassen, schwächen, vereitelt. wann genau dieser Fall eintritt. In der EU Welche Lehren sich auch für EU-eigene ließe sich Artikel 222 EUV oder die militä- Informationsinfrastrukturen aus diesen rische Beistandsklausel gemäß Artikel 42 Angriffen ziehen lassen, muss noch systema- Absatz 7 EUV aktivieren. tisch untersucht werden. Europa ist jeden- falls potentielles Ziel weiterer Attacken von Hackern, die taktische Interessen in geo- strategischen Konflikten verfolgen. Bei- spielsweise hatte die russische Cybereinheit Sandworm, die auch den Stromausfall in SWP-Aktuell 40 Juni 2022 7
Lessons learned für die Gleichzeitig ist das Weißbuch von 2016 Nationale Sicherheitsstrategie veraltet, da es konzeptionell und operativ durch die entsprechenden EU-Ansätze zu Die bisherigen EU-Dokumente, allen voran hybriden Bedrohungen überholt wurde. der Strategische Kompass, weisen einige Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Defizite auf: Erstens mangelt es dem Termi- dieser Problematik ist daher dringend nus hybride Bedrohung an Präzision und angeraten. 2018 wurde eine Arbeitsgruppe besonders an der Abgrenzung gegenüber für die interministerielle Abstimmung zu dem verwandten Begriff ausländische Ein- hybriden Bedrohungen geschaffen, die seit mischung (durch feindliche Regierungen). 2019 vom Bundesministerium des Innern © Stiftung Wissenschaft Allerdings markiert die intendierte begriff- geleitet wird. Bislang fehlt allerdings eine und Politik, 2022 liche Unschärfe, die im Fall hochintensiver weitergehende Konzeption, um im Föde- Alle Rechte vorbehalten Cyberkonflikte zur Abschreckung dient, der- ralismus bzw. auf regionaler Ebene in der zeit das obere Ende der Eskalationsdynamik. EU sowie in Bezug auf die europäische Das Aktuell gibt die Auf- Dies gilt es nochmals kritisch zu hinterfra- Integration eine kohärente Herangehens- fassung der Autorin und des Autors wieder. gen, nämlich darauf, ob davon eine konflikt- weise verfolgen zu können. verschärfende Wirkung ausgehen kann. Am Angesichts der ebenenübergreifenden Dynamik In der Online-Version dieser unteren Ende der Eskalationsspirale, also hybrider Bedrohungen kann der Prozess hin zu Publikation sind Verweise im Falle wiederkehrender Praktiken der einer Nationalen Sicherheitsstrategie ein wichtiger auf SWP-Schriften und Einmischung, sollten die Begriffe auf jeden deutscher Beitrag zu einem gesamteuropäischen wichtige Quellen anklickbar. Fall klarer sein, Verlässlichkeit im Akteurs- Ansatz sein. Im Bereich Medien und Desinfor- SWP-Aktuells werden intern handeln schaffen und deeskalierend wirken. mation gibt es bereits zahlreiche Ansatz- einem Begutachtungsverfah- Während in vielen EU-Konzeptpapieren punkte für eine enge Verschränkung. Das ren, einem Faktencheck und versucht wurde, den Terminus hybride liegt nicht zuletzt an der sich rasch entwi- einem Lektorat unterzogen. Bedrohung zu definieren, gibt es bislang ckelnden EU-Gesetzgebung, besonders am Weitere Informationen keine Definition des Begriffs ausländische Digital Services Act und am Digital Markets zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- Einmischung. Act. Themenübergreifend sollte ein flexi- Website unter https://www. Zweitens werden die Abwägungen und bles Verständnis der Subsidiarität angelegt swp-berlin.org/ueber-uns/ deren Konsequenzen zur Einstufung von werden. Auf supranationaler Ebene sollten qualitaetssicherung/ Angriffen oder Sicherheitsrisiken als hybri- im Rahmen der längst überfälligen Reform de Bedrohungen nicht genauer spezifiziert. des EAD die Vorschläge des Strategischen SWP Stiftung Wissenschaft und In der EU wird vor allem über die Verbin- Kompasses zur nachrichtendienstlichen Politik dung zwischen irregulärer Migration und Auswertungs- und Analysefähigkeit umge- Deutsches Institut für hybriden Bedrohungen debattiert. Eine setzt werden. Hierzu könnte die Bundes- Internationale Politik und Klärung ist auch deshalb notwendig, da regierung sowohl die Verstärkte Zusammen- Sicherheit diese Debatte bereits auf die Nato und ihr arbeit über die GASP-Verfahren nach Arti- nächstes strategisches Konzept ausstrahlt. kel 328 und 329 AEUV als auch die Ständi- Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Drittens beschränkt sich die Ausgestaltung ge Strukturierte Zusammenarbeit nach Arti- Telefon +49 30 880 07-0 der breit angelegten EU-Politik zur Stär- kel 42 EUV in Erwägung ziehen. Benötigt Fax +49 30 880 07-100 kung der passiven Widerstandskraft gegen- werden weniger neue Werkzeugkästen, www.swp-berlin.org über hybriden Bedrohungen darauf, bisher sondern eher eine supranationale Attribu- swp@swp-berlin.org nicht genauer definierte »Werkzeugkästen« tionsstelle, um in puncto Verantwortlich- ISSN (Print) 1611-6364 zu entwickeln. Ein dynamisches, wissen- keiten Ross und Reiter zu nennen. ISSN (Online) 2747-5018 schaftlich fundiertes Verständnis von Resi- DOI: 10.18449/2022A40 lienz fehlt gänzlich. In der Diskussion über Deutschlands ge- plante Nationale Sicherheitsstrategie sollten diese Fehler nicht wiederholt werden. Dr. Annegret Bendiek ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler der Forschungsgruppe EU / Europa. SWP-Aktuell 40 Juni 2022 8
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