IM KERN FASCHISTISCH ANNÄHERUNG AN EINEN UMSTRITTENEN BEGRIFF - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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FELIX KORSCH IM KERN FASCHISTISCH ANNÄHERUNG AN EINEN UMSTRITTENEN BEGRIFF
INHALT 1 Die Rückkehr eines Wortes 3 2 Walter Laqueurs Euronationalismus-These 7 3 Grundpositionen der Fascist Studies 11 4 Variationen, Erweiterungen und Alternativen 17 5 K ritik: «Ultranationalismus» – Nationalismus der Faschist*innen? 23 6 Vertiefung: Gibt es Neofaschismus? 29 7 Signaturen des Neofaschismus 35 8 Schluss: Radikaler Nationalismus mit Massenzulauf 43 Literatur 49 Autor 59
1 DIE RÜCKKEHR EINES WORTES Das Wort Faschismus teilt, seitdem es in Immer wieder bewahrheitet sich die alte der Welt ist, das Schicksal aller großen Einsicht: Wer über den Faschismus spricht, Richtungsbegriffe und ist stets umkämpft. landet «inmitten gegenwärtiger Konflikte» Über die Bezeichnung des historischen (Alff 1973: 14). Das gilt vor allem für mei- Kerns – Mussolinis fascisti sowie beken- nungsstarke öffentliche Debatten. Zumeist nende Nachahmer*innen in etlichen Län- leer geht jedoch aus, wer Halt in den So dern – hinaus raten manche von der Ver- zialwissenschaften und insbesondere in wendung des Faschismusbegriffs völlig der deutschsprachigen Rechtsextremis- ab, während andere seinen Gebrauch ins musforschung sucht. Ausgerechnet dort Uferlose ausdehnen. Kaum ein gesell- gehört Faschismus nicht zum großen Clus- schaftliches Phänomen aus Vergangen- ter der relevanten und allgemein akzeptier- heit und Gegenwart wurde nicht mit dem ten Begriffskonzepte, obwohl die Zahl der F-Wort oder einer seiner Varianten verbun- Literaturbeiträge zum Thema enorm hoch den, doch genauso oft und vehement wur- ist. Wer sie auswertet, wird bald feststel- den solche Verbindungen bestritten. len, dass die etlichen Versuche, über den italienischen Fall hinaus Faschismus allge- mein zu definieren, für politische Analysen nutzbar zu machen und gar in eine eigene Theorie einzubetten, schon vor Jahrzehn- ten weitgehend verebbten. Damit ist das Interesse nicht verschwun- den. Das zeigen neue Beiträge, die kürz- lich erschienen sind und in einem akade- KAUM EIN GESELL mischen Zusammenhang stehen, aber SCHAFTLICHES nicht nur ein Fachpublikum ansprechen. PHÄNOMEN AUS Hierzu zählen unter anderem die Neuaus- VERGANGENHEIT UND gabe der legendären Studie «Faschisti- GEGENWART WURDE sche Ideologie» von Zeev Sternhell (2019) NICHT MIT DEM in der Übersetzung von Volkmar Wölk, der F-WORT ODER EINER endlich in deutscher Sprache vorgelegte SEINER VARIANTEN Grundlagenband «Faschismus: Eine Ein- VERBUNDEN. führung in die vergleichende Faschismus- forschung» von Roger Griffin (2020a), die 3
breite Bestandsaufnahme «Faschismus in ve für Deutschland (AfD) und Bewegungen Geschichte und Gegenwart» von Alexan- wie die Patriotischen Europäer gegen die der Häusler und Michael Fehrenschild Islamisierung des Abendlandes (Pegida) (2020), Matthias Wörschings (2020) kom- mit ihrem massenhaften Anklang stehen, pakter Überblick zu «Faschismustheori- den sie zumindest zeitweise und regional en», der analytische Rückgriff auf den Fa- finden. Zu den vielfachen Herausforderun- schismusbegriff durch Maik Fielitz und gen, die daraus erwachsen, gehören nicht Holger Marcks (2020) in ihrem Buch «Digi- zuletzt Fragen danach, wie solche Phäno- taler Faschismus» und schließlich der von mene oder besonders profilierte Teilströ- Friedrich Burschel (2020) herausgegebene mungen wie der sogenannte Flügel um Sammelband «Das faschistische Jahrhun- Björn Höcke eingeordnet werden können. dert», der aufzeigt, wie alte Ideen der extre- Auf Fragen dieser Art gibt es niemals ein- men Rechten in gegenwärtigen Diskursen fache Antworten. Doch einige Impulse aufscheinen. Zu diesen gewöhnlichen Ide- zum Verständnis, Werkzeuge zur Analyse en gehören übrigens populär gewordene und Vorschläge für einen allgemeinen Fa- Befunde, wonach die Strukturierung des schismusbegriff, der Vergleiche ermög- politischen Raums in links und rechts ob- licht, stellen die modernen fascist studies solet geworden sei. Es handelt sich, wenn bereit, die durch die jüngsten Veröffentli- man so sagen will, um eine Umdeutung in chungen auch einem breiteren Publikum eigener Sache. Denn nach Norberto Bob- hierzulande geläufiger werden dürften. Zu bio ist die Rechte jener Teilbereich des po- vorschnellen Identifizierungen, die zuver- litischen Spektrums, der dem Ideal der Un- lässig schiefe Analogien produzieren wür- gleichheit zuneigt (Bobbio 2006: 81). Gäbe den, lädt diese Disziplin ausdrücklich nicht man ausgerechnet diese Grundsicht auf, ein, vielmehr zu gründlichem Nachdenken. dann verschwände mit dem Pol der Un- So möchte es auch der vorliegende Beitrag gleichheit auch jene Formation, die darauf halten und eine kritische Einführung in das aufbaut.1 Dann bräuchte und könnte in der Feld geben. Tat von Faschismus nicht mehr gespro- chen werden. Das gegenläufige und zuletzt wieder wach- sende Interesse an der Sache und ihrem Begriff ist natürlich kein Zufall. Im Hinter- grund stehen jene Entwicklungen, die seit einigen Jahren als Rechtsruck beschrieben werden und für den vor allem der Aufstieg und Erfolg von Parteien wie der Alternati- 1 Auch Überlegungen, es mit Querfronten zu tun zu haben, ver- lassen nicht die Links-Rechts-Dyade (Bobbio 2006: 20 f. u. 26; vgl. Korsch 2017). 4
IM HINTERGRUND STEHEN JENE ENTWICKLUNGEN, DIE SEIT EINIGEN JAHREN ALS RECHTSRUCK BESCHRIEBEN WERDEN UND FÜR DEN VOR ALLEM DER AUFSTIEG UND ERFOLG VON PARTEIEN WIE DER AFD UND BEWEGUNGEN WIE PEGIDA MIT IHREM MASSENHAFTEN ANKLANG STEHEN.
2 WALTER LAQUEURS EURONATIONALISMUS-THESE In seinem 1996 vorgelegten Buch «Fas- der zweiten Legislaturperiode, war im Eu- cism: Past, Present, Future» (deutsche ropäischen Parlament erstmals eine ex Übersetzung 2000) stellte der US-ame- trem rechte Fraktion gebildet worden, die rikanische Historiker Walter Laqueur Groupe des droites européennes (GDE). (1921–2018) eine These auf, die er mit der Sie stützte sich im Wesentlichen auf den anscheinend paradoxen Bezeichnung «Eu- Front National (FN) – der damalige Partei- ronationalismus» versah. Damit benannte chef Jean-Marie Le Pen wurde Fraktions- er eine signifikante inhaltliche Verschie- vorsitzender – und auf den Movimento bung des Neofaschismus, die seiner Auf- Sociale Italiano (MSI), dessen Gründung fassung nach einer umfassenden themati- ein offener Versuch gewesen war, an die schen Neuausrichtung gleichkommt: «The faschistische Partei Mussolinis anzuknüp- new European fascism is defensive rather fen. Der 1989 entstandenen Nachfolge- than offensive, because even ultranation fraktion, der Groupe technique des droi- alists need allies to survive. Ideologically, tes européennes (GTDE), gehörte der MSI most groups of the extreme Right have be- zwar nicht mehr an, nachdem die Partei ih- come strong supporters of European soli- ren Führungsanspruch nicht durchsetzen darity against common dangers such as a konnte. Dafür traten neben dem Vlaams loss of identity, foreign influences, and the Blok die Republikaner (REP) bei, die bald influx of immigrants. This is the concept darauf Teilen des nunmehr wiederverei- of fortress Europe.» (Laqueur 1996: 218)2 nigten deutschen Neonazismus ein orga- Von Euronationalismus war in der Literatur nisatorisches Dach boten. Damals schien schon früher in anderen Kontexten die Re- extrem rechten Kräften, die konkurrie- de gewesen. Doch es ist diese Umschrei- renden Nationalismen anhingen, auf eu- bung, wie sie Laqueur im Hinblick auf die ropäischer Ebene zu gelingen, was lange zeitgenössische extreme Rechte gab, die als unwahrscheinlich gegolten hatte und ein Vierteljahrhundert später treffender selbst im nationalen Rahmen noch aus- und aktueller denn je erscheint. Darauf wird zurückzukommen sein. 2 «Der neue europäische Faschismus ist nicht offensiv, sondern defensiv, weil sogar Ultranationalisten Verbündete brauchen, Damals blieb die These solitär und wur- um überleben zu können. Ideologisch gesehen, haben sich die meisten rechtsextremen Gruppen zu starken Anhängern der eu- de, soweit es zu überblicken ist, nicht ropäischen Solidarität gegen allgemeine Gefahren wie Identitäts- verlust, ausländische Einflüsse und den Zustrom von Einwande- weiter rezipiert. Historische Wechselfälle rern entwickelt. Dahinter steht die Idee einer Festung Europa.» erklären das: Im Jahr 1984, mit Beginn (Laqueur 2000: 294) 7
stand: eine gemeinsame politische For- mierung. Doch dieses Projekt war schon wieder zerbrochen, als Laqueurs Buch er- schien. Nach den Europawahlen 1994 ge- lang keine erneute Fraktionsbildung, erst 2007 entstand mit Identité, tradition, sou- veraineté (ITS) wieder eine ähnliche Grup- pierung.3 Zusätzliche Umstände dürften dazu ge- führt haben, dass Laqueurs These insbe- sondere in der deutschsprachigen For- schung nicht aufgenommen wurde. Neben teils völlig außerwissenschaftlichen Grün- den und der Dominanz konkurrierender Paradigmen, den Totalitarismustheorien und dem daran anknüpfenden Extremis- musansatz, gibt es starke Vorbehalte ge- gen die Nutzung des Faschismusbegriffs (vgl. Schildt 2015), wenn es nicht um das konkrete geschichtliche Geschehen und die explizite Bezugnahme auf den histori- schen Faschismus geht. So lässt, um ein beinahe beliebiges Beispiel herauszugrei- fen, der Politikwissenschaftler Kai Arzhei- mer wissen, es handle sich um einen in der deutschsprachigen Forschung «weit- hin akzeptierten Konsens», als neofaschis- tisch nur jene Gruppierungen anzusehen, «die sich selbst in die Tradition des Faschis- mus beziehungsweise Nationalsozialis- DAMALS SCHIEN EXTREM mus stellen» (Arzheimer 2008: 2, Anm. 1). RECHTEN KRÄFTEN ZU Da diese Tradition in der Regel aber bestrit- GELINGEN, WAS LANGE ten wird und seit 1945 «keine ernst zu neh- ALS UNWAHRSCHEINLICH mende Gruppierung mehr, wo auch immer GEGOLTEN HATTE UND in der Welt, sich selbst als ‹faschistisch›» SELBST IM NATIONALEN RAHMEN NOCH AUSSTAND: EINE GEMEINSAME POLI 3 In direkter Linie steht die heutige Fraktion Identité et démocra- tie (ID), in der die Delegation der AfD nach der italienischen Le- TISCHE FORMIERUNG. ga und dem in Rassemblement National umbenannten FN die drittstärkste Kraft ist. 8
bezeichnet (Mohler 1992: 82),4 ist der tat- sächliche Anwendungsbereich eines wie gut auch immer begründeten Faschis- musbegriffs für gegenwärtige Phänomene praktisch auf null reduziert.5 Allerdings ist es eine deutsche Besonderheit, in den So- zialwissenschaften nicht von Faschismus zu reden. Laqueurs Veröffentlichungen zu diesem Thema sind hingegen dem hierzu- lande wenig bekannten Bereich der inter- disziplinären fascist studies zuzurechnen, die sich ausführlich und in komparativer Absicht sowohl mit historischen Faschis- men als auch mit der Diskussion um einen generischen, das heißt allgemeingültigen Faschismusbegriff und dessen Anwen- dung auf den Bereich des Neofaschismus befassen.6 4 Eine Ausnahme machte Armin Mohler, indem er einmal zu Pro- tokoll gab, selbst Faschist «im Sinne von José Antonio Primo de Rivera» zu sein (David 1995: 2). Den Sammelband, aus dem ich zitiere, widmete er übrigens «meinem Freund Franz Schönhu- ber», dem Gründer der Republikaner, der für diese Partei auch ins Europaparlament einzog und anfangs stellvertretender Vorsitzen- der der GTDE-Fraktion war. 5 Das nahm Wolfgang Wippermann verwundert zur Kenntnis: Was in Deutschland als «Rechtsextre- mismus» bezeichnet wird, meine häufig gerade solche Phänome- ne, die alle Elemente enthalten, «die auch in der faschistischen Ideologie zu finden sind» (Wippermann 1997: 119). Ähnlich liest sich eine Anmerkung über die Geschichte der militanten Nach- kriegsrechten Italiens: In der Öffentlichkeit wurde die Existenz neofaschistischer Strömungen zunächst ignoriert oder als blo- ßer Ausdruck von «Nostalgie» ohne eigenständige Bedeutung verstanden (Ferraresi 1996: 30). Franco Ferraresi zeigte dem- gegenüber, in welchem Ausmaß sich die Nachkriegsrechte der Themen und des mythisch-symbolischen Materials bediente, das der Faschismus hinterlassen hatte (ebd.: 35 u. 41 f.). Be- achte auch Camus/Lebourg (2017: 59) zum Neofaschismus als transformative Kraft bei der Restrukturierung der europäischen Nachkriegsrechten. 6 Grundlegend dafür ist unter anderem der von Laqueur (1976) herausgegebene Sammelband «Fascism: A Reader’s Guide». Durch ihn wurde zum Beispiel Zeev Sternhells ideengeschichtlicher Ansatz (siehe unten) erstmals einem brei- teren Publikum bekannt. 9
3 GRUNDPOSITIONEN DER FASCIST STUDIES In seinem Buch «The Nature of Fascism» te» (Kershaw 2006: 60).8 Zunehmend wur- schlug der britische Ideengeschichtler Ro- de, abgesehen von marxistischen Ansät- ger Griffin 1991 vor, generischen Faschis- zen, auf theoretische Fundierungen und mus zu definieren als «a genus of political selbst auf eine breitere sozialgeschichtli- ideology whose mythic core in its various che Einbettung verzichtet (ebd.: 61). Statt- permutations is a palingenetic form of po- dessen setzte sich ein pragmatischer An- pulist ultranationalism» (Griffin 1991: 26).7 satz durch, sich bis auf Weiteres mit der Griffin verstand diesen Ansatz, den er – Bestimmung eines «faschistischen Mini- von unwesentlichen Variationen des Aus- mums» zufriedenzugeben, von dem Ernst drucks abgesehen – bis heute vertritt, als Nolte in seiner Studie «Der Faschismus in ein Konsensangebot, um den lang anhal- seiner Epoche» gesprochen hatte (Nolte tenden Streit um die Frage, worum es sich 1963: 31), um so zu Konzepten zu gelan- bei Faschismus über den historischen itali- gen, die sich für fall- und werkübergreifen- enischen Realtyp hinaus handelt, zu lösen. de Vergleiche eignen. Zu der Zeit lag Literatur zum Thema be- reits in einer kaum überschaubaren Fül- le vor (vgl. exemplarisch Nolte 1984a mit einem Vorschlag zur Systematisierung: 49–51). Diese früheren Ansätze arbeite- 7 «[…] eine Gattung der politischen Ideologie, deren mythi- ten überwiegend und vor dem Hintergrund scher Kern in seinen diversen Varianten eine palingenetische Form von populistischem Ultranationalismus ist» (Griffin 2020a: unterschiedlicher, mithin gegensätzlicher 82). 8 Schon in den 1970er Jahren bemerkte die Politikwissen- theoretischer Prämissen und politischer schaftlerin Helga Grebing, dass «Versuche, zu einer Gesamtthe- orie des Faschismus vorzustoßen, die alle durch die historische Interessen auf die Entwicklung von Fa- Einzelforschung manifest gemachten Ermöglichungsbedingun- schismustheorien hin, die einem mehr gen und Verwirklichungsweisen abdecken und Faschismus auf einen auch aktuellen Aussagewert besitzenden Begriff bringen oder weniger umfassenden Erklärungsan- könnten», weitgehend versiegt sind (Grebing 1974: 7). Fraglich ist auch die Interessenstruktur und analytische Relevanz solcher satz genügen sollten (vgl. die typologische Versuche: Präpariert ein wie auch immer begründeter Faschis- Darstellung bei Wippermann 1997). Der musbegriff lediglich deskriptiv ein enges «konstitutives Selbst- verständnis» von Faschist*innen oder ist er ein weiter gefasster weltbekannte Historiker Ian Kershaw stell- «Bau- und Entwicklungsplan» im Sinne einer kritischen Theorie te, diese älteren Debatten zusammenfas- über den Faschismus? (Hennig 1977: 63 u. 98) Ferner: Wäre mit jeweiligen, gegebenenfalls aufwendigen Konzepten «nur» ein send, bestürzt fest, dass «keine Aussicht heuristisches Hilfsmittel gewonnen oder qualifizieren sie den Faschismus zu einem der großen historisch-politischen «Schlüs- auf irgendeine Faschismustheorie besteht, selwörter», zu einer eigenständigen Gattung politischer Theorie? die allgemeine Anerkennung finden könn- (Wippermann 1983: 19 u. 206; er selbst entscheidet sich nicht.) 11
Doch auch die Suche nach einem «Mini- DER WELTBEKANNTE mum» erwies sich als problematisch. Da- HISTORIKER IAN KERSHAW von abgesehen, dass historisch höchst un- STELLTE BESTÜRZT FEST, terschiedliche Bewegungen entstanden DASS «KEINE AUSSICHT sind, die sich selbst faschistisch nannten AUF IRGENDEINE oder derart eingeordnet wurden, haben FASCHISMUST HEORIE selbst einzelne Faschismen keine Doktrin BESTEHT, DIE ALLGEMEINE hinterlassen, die sich, nähme man sie beim ANERKENNUNG FINDEN Wort, hinreichend eindeutig fixieren, ge- KÖNNTE». schweige denn verallgemeinern ließe. Um- berto Eco bezeichnete die politische Philo- sophie Mussolinis 1995 daher schlicht als «fuzzy» (unscharf, schwammig) (Eco 2000: 49). Aus Franz L. Neumanns «Behemoth» stammt die Bemerkung, der Nationalsozia lismus9 habe «keine Theorie der Gesell- schaft in unserem Sinne, keine konsistente Vorstellung ihrer Funktionsweise, Struktur und Entwicklung» hervorgebracht. «Die nationalsozialistische Ideologie verändert sich ständig. Sie besitzt zwar gewisse ma- gische Überzeugungen – Führerkult, Ober- herrschaft der Herrenrasse –, aber die Ideo- logie ist nicht in einer Reihe von begrifflich bestimmten Lehrsätzen festgelegt.» (Neu- mann 1977: 67) Nolte hielt sich in seiner von ihm «Wesensbestimmung» genann- ten Beschreibung daher in erster Linie nicht an Eigen-, sondern an antagonisti- sche Begriffe: «Faschismus ist Antimarxis- mus, der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie und die Anwen- dung von nahezu identischen und doch 9 Zu den Besonderheiten des Nationalsozialismus als deutscher Ausprägung des Faschismus sind die Arbeiten des Historikers George L. Mosse grundlegend, insbesondere seine frühe Studie «The Crisis of German Ideology» (1964). Im Vorwort zur deutsch- sprachigen Ausgabe hebt er hervor, «dass hier das völkische Den- ken den Sieg davontrug und sich aufgrund eines spezifischen deutschen Nationalismus entfalten konnte. Die anderen Faschis- men hatten kein Auschwitz.» (Mosse 1979: VI) 12
charakteristisch umgeprägten Methoden die Bildung weiterer Untergruppen zu: Der zu vernichten trachtet», dabei aber stets an Faschismus ist wandelbar (Griffin 2006a: einem «undurchbrechbaren Rahmen natio 43), realiter tritt er nie «direkt» oder nur im naler Selbstbehauptung und Autonomie» Sinne des minimalistischen Idealtyps in Er- festhält (Nolte 1963: 51). Später fügte er scheinung. Wo er in Erscheinung tritt, sind Antiliberalismus und einen «tendenzielle[n] aber alle Definitionsmerkmale nachweis- Antikonservativismus» hinzu (Nolte 1971: bar, nicht notwendig in Form einer ausge- 294). In Noltes Perspektive konstituiert sich arbeiteten Doktrin, sondern (d) als wech- der Faschismus seinem Wesen nach durch selhafter «mythischer Kern» (ebd.). seinen Bezug auf seine Feinde, ist damit al- so ein Reflex auf seine durch ihn definier- Es liegt auf der Hand, dass ein in dieser Art ten Gegner.10 konstruierter Begriff, der auf weitere, äu- ßerst voraussetzungsvolle Konzepte ver- Griffins ebenfalls ideologiezentrierter Vor- weist, neue Fragen aufwirft. Von innen schlag wendet sich davon ab und dem nach außen: (d) Mit dem mythischen Kern Versuch zu, eine allen Faschismen eigene betont Griffin auf den ersten Blick eine ir- und eigenständige, «gemeinfaschistische» rational-esoterische Seite.11 Unter diesem Leitidee herauszuarbeiten. Er gewinnt die- Kern versteht er die sogenannte Ultra-Na- sen «positiven» Hauptgedanken durch tion als einen gemeinsamen Bezugspunkt, Auswertung von Primärquellen und die Bil- eine Art politisches Spekulations- und Ziel dung eines Idealtyps im weberschen Sinn, objekt, das kein Korrelat in der Wirklich- der sowohl von speziellen phänomenolo- keit haben muss, sondern sich als «über- gischen Merkmalen einzelner Bewegun- gen und Regime, von besonderen Merk- 10 Es handelt sich um eine Position, die Nolte später im soge- malsausprägungen innerhalb jeweiliger nannten Historikerstreit auf die Spitze trieb. Soweit ich sehe, Faschismen und schließlich auch von den hat er dafür aus dem Gesichtskreis der fascist studies keinen Zuspruch erhalten. 11 Damit geht Griffin nicht fehl. Politische gemeinsamen historischen Zeitumstän- Mythen sind Erzählungen «von der Entstehung einer politischen den, in denen sie wirkten und aus denen Gemeinschaft», ein solcher Mythos kann zerfallen in Teilmythen von Bedrohung, Verschwörung, Heldentum usw. (Bizeul 2000: sich ihre Entstehungs- und Erfolgsbedin- 17; beachte auch Bizeul 2006 mit Anmerkungen zum Verhältnis von Mythos zu Ideologie und Utopie). Zu den zentralen Mythen gungen ergaben, abstrahiert. Von außen des Faschismus gehören Kampf und Gewalt; unter den häufig nach innen gelesen, behauptet Griffins verwendeten Sinnsprüchen des Nationalsozialismus ist etwa dieser Satz aus dem Kapitel «Volk und Rasse» in Hitlers «Mein Vorschlag, dass es sich bei Faschismus um Kampf»: «Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht strei- eine autonome politisch-ideologische Ent- ten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht.» (Zit. n. Hartmann u. a. 2016: I/753 [305]). Mit dem Ver- wicklung handelt, die (a) eine Gattung der weis auf einen mythischen Kern wird freilich die Frage nach der Ratio des Faschismus aufgeworfen, der auf eine durchgebildete «populistischen Ultranationalismen» dar- und rationalisierte Doktrin gerade verzichtet hat. In dem Sinne stellt mit (b) der differentia specifica, also beobachtete Adorno in den «Studien zum autoritären Charak- ter», man scheine bei der Betrachtung eines Faschisten «nichts dem charakteristischen Unterscheidungs- von der Rationalität entdecken zu können», wie sie etwa einer merkmal, «palingenetisch», das heißt auf ökonomischen Berechnung entsprechen würde (Adorno 2019: 45 f.). Wie Hans Rudolf Wahl (2002: 10 f.) argumentiert, weisen eine «Wiedergeburt» der Gesellschaft hin die mythischen Strukturen des Nationalismus über ideologische ausgerichtet zu sein. (c) Konkrete Ausprä- Konstrukte hinaus. Daher sollte Nationalismus nicht bloß als Ideologie, sondern immer auch als kulturelles Phänomen analy- gungen («Permutationen») lassen dabei siert werden. Für den Faschismus gilt das erst recht. 13
individuelles Produkt der faschistischen Fantasie» ergibt (Griffin 2020a: 79). (c) Die behauptete Permutierbarkeit führt zu der Frage, welche Rekombinationen denk- bar sind, ohne dass der Bereich des gene- rischen Faschismus verlassen wird. Das Fehlen eines Kriteriums, das den Anwen- dungsbereich sachlich, zeitlich und örtlich begrenzt, folgt daraus, dass es sich um ei- nen abstrahierenden Idealtyp handelt. Die- ses Vorgehen brachte Griffin den Vorwurf des ahistorischen conceptual stretching ein (Weinberg 2006: 235 f.).12 Mit der Ein- führung der (b) Palingenese greift Griffin auf ein in der Sozialwissenschaft unge- bräuchliches Konzept zurück. Es bedeutet, ES LIEGT AUF DER HAND, durchaus passend zum mythischen Kern, DASS EIN IN DIESER ART «Wiedergeburt» der (Ultra-)Nation und ver- KONSTRUIERTER BEGRIFF, weist in unserem Zusammenhang darauf, DER AUF WEITERE, ÄUSSERST dass alle Faschismen mit dem Anspruch VORAUSSETZUNGSVOLLE aufgetreten sind, ihre Ordnungsvorstel- KONZEPTE VERWEIST, lungen revolutionär zu implementieren, NEUE FRAGEN AUFWIRFT. also durch Umsturz und nicht auf kon- servativem bzw. restaurativem Weg. Im Rahmen von Griffins Definition lässt sich Faschismus verstehen als ein dafür ge- schaffenes und auf dieses Ziel hin ausge- richtetes Programm. Wenn dabei nicht der Begriff Revolution verwendet wird, dann liegt ein triftiger Grund darin, dass sich An- spruch und Umsetzung des Umsturzpro- gramms von geläufigen Vorstellungen so- wohl bürgerlicher als auch sozialistischer Revolutionen unterscheiden: Die Revolu tion der Faschist*innen war stets reduziert auf «den Willen, Demokratie und Libera- 12 Es ist aber darauf hinzuweisen, dass der an europäischen Faschismen entwickelte generische Faschismusbegriff mit ei- niger Berechtigung auch auf außereuropäische Bewegungen übertragen wird; siehe dazu die Beiträge im Sammelband von Larsen (2001). 14
lismus zu zerstören und an ihrer Stelle ei- ne neue Ordnung zu errichten» (Sternhell 2002: 57), und nirgends hat sich der «revo- lutionäre Prozess […] über seine destruk- tive Phase hinaus entwickelt» (Reichardt 2002: 35). Gegen den Verzicht auf den Re- volutionsbegriff wurde eingewandt, dass das allgemeinere Konzept der Palingene- se sowohl die Unterschiede als auch die im Faschismus zu beobachtende Gleich- zeitigkeit von Revolution und Konterre- volution verwischt (Priester 2006a: 367). (a) Verwirrend erscheint schließlich das Kriterium, der durch den Faschismus ver- tretene Nationalismus sei «populistisch», denn das Beiwort entpräzisiert die Defini- tion dadurch, dass es sich um eine weiter gefasste Kategorie handelt als der Natio- nalismus, auf den er bezogen wird (Sznaj der 2006: 393). Allerdings können Griffins Ausführungen so verstanden werden, dass das Populistische hier eher eine legitimat- orische Funktion erfüllt: Der Ultranationa- lismus mobilisiert das Volk oder beruft sich aktiv darauf und ist insoweit nicht rein eli- tär.13 Die Hauptfrage, auf die unsere Kritik zuläuft, muss an dieser Stelle noch zurück- gestellt werden. Sie lautet: Was ist Ultrana- tionalismus? 13 Wir lesen: «It denotes the fact that, even when the elite of a national revolution does not attempt to arouse popular energies through the pursuit of a mass-mobilizing style of politics, it still believes it is a ‹vanguard› preparing in behalf of the people or eth- nie.» (Griffin 2006b: 428) Mit Norbert Elias darf gefragt werden, ob dem Nationalismus eine populistische Legitimationsfunktion nicht stets eigen ist: Da das nationale Credo «per se den idealen Wert der eigenen Gruppe und die Loyalität zu ihr in die Höhe hebt, kann denen, die ihren Glauben an die absolute Vortrefflichkeit der Gruppe am lautesten betonen, niemand seine Zustimmung öffentlich verweigern.» (Elias 1992: 195) Stefan Breuer vermutet, dass es sich bei Griffins Formulierung um einen missglückten Versuch handeln könnte, den Begriff des Völkischen Nationalis- mus zu übersetzen (Breuer 2005: 35). 15
4 VARIATIONEN, ERWEITERUNGEN UND ALTERNATIVEN Griffins Vorschlag wurde trotz dieser Pro- nation and radical Third Way state.» (Eat- bleme breit rezipiert. Es dürfte sich heute well 2003: Pos. 15)15 In einem strikteren um den geläufigsten Definitionsansatz han- Sinne ideengeschichtlich ging der israeli- deln, der zwar keineswegs Konsens ist – sche Politikwissenschaftler Zeev Sternhell beachtlich fällt die ausgesprochen hart ge- (1935–2020) vor. Er zeigte, dass sich der führte Fachdiskussion aus, dokumentiert Faschismus16 aus einer spezifischen «Syn- in Griffin u. a. (2006) –, der aber doch die these aus bestimmten Formen des Sozia Hauptströmung der modernen fascist stu- lismus», namentlich des revolutionären dies ausmacht und diese Disziplin struktu- Impetus nicht-marxistischer und antima- riert.14 Ein Grund für diese zentrale Bedeu- terialistischer Strömungen, «und aus dem tung von Griffins Definition mag gerade politischen Autoritätsdenken der Nationa- darin liegen, dass sein Vorschlag erhebli- listen» ergab,17 wobei aus seiner Sicht al- chen Raum für produktive Spezifizierun- le ideologischen Voraussetzungen bereits gen und Variationen lässt. Eine Reihe von Ende des 19. Jahrhunderts vorhanden wa- Alternativvorschlägen, die ebenfalls auf die ren (Sternhell 2002: 36). Diese Auffassung Entwicklung eines generischen Begriffs ausgerichtet sind, liegen mitunter nah an Griffin, sind im Falle älterer Entwürfe durch 14 Vgl. zu Entstehung und Bedeutung des griffinschen Ansat- zes: Iordachi/Kallis (2020); zur Einordnung in das weitere Feld ihn selbst aufgegriffen worden oder im Fal- der vergleichenden Faschismusforschung: Iordachi (2010); zum Vergleichsanspruch des generischen Konzepts: Paxton (2010); le neuerer Entwicklungen in ausdrücklicher Anwendungsbeispiele: Bosworth (2010). 15 «Die Kerndefinition Auseinandersetzung mit ihm entstanden. [...] ist, dass der Faschismus danach strebte, einen ‹neuen Men- schen› (insbesondere eine Elite) zu schaffen, der eine ganzheitli- Ein exemplarischer Überblick zeigt das: che Nation und einen radikalen Staat des Dritten Wegs aufbauen würde.» Wenn nicht anders angegeben stammen die weiteren Übersetzungen vom Verfasser. 16 Im Gegensatz zu so gut wie Eine erste Gruppe, die ebenfalls ideozen- allen anderen generischen Ansätzen klammerte Sternhell jedoch trisch, das heißt von der Ideologie ausge- den deutschen Nationalsozialismus aus seiner Betrachtung aus; er bezog sich auf Italien und Frankreich. 17 Synthese ist keine hend vorgeht, kommt zu problemlos an- bloß eklektizistische Addition einzelner Positionen, die einander entgegengesetzten politischen Feldern entnommen sind. Bob- schlussfähigen oder gar teilkongruenten bio, der sich unter anderem auf Sternhell stützt, spricht vielmehr Ergebnissen. Das gilt insbesondere für von einem «Versuch, das Rettbare der eigenen Position zu retten, indem man die gegnerische Position zu sich herüberzieht und da- die noch kompaktere Formulierung des mit neutralisiert» (Bobbio 2006: 20). Schon Nolte hatte gesehen, britischen Politikwissenschaftlers Roger dass in der eigentümlichen Verbindung von nationalistischen und sozialistischen Motiven die «linken» Elemente nachgeordnet wa- Eatwell: «The core definition […] is that fas- ren (Nolte 1963: 49). Im Hinblick auf den Nationalsozialismus, der diese Verbindung im Eigennamen führt, spricht Breuer von einer cism sought to create a ‹new man› (espe- «Assimilierung des Sozialismus an den Nationalismus» (Breuer cially an elite) who would forge a holistic 2010: 282). 17
teilt Walter Laqueur, der allerdings keiner as means and tends to normatize war and/ Methodik zur Bildung eines Idealtyps folgt. or the military virtues.» (Payne 1995: 14)18 Ihm zufolge ist der Faschismus «in erster Auch der britische Historiker Martin Blink- Linie nationalistisch, elitär und antiliberal. horn bewegt sich mit vielen Grundaussa- Zudem war er militaristisch, und wann im- gen noch nah an Griffin (und Eatwell). Er mer sich das Land, in dem er vorherrsch- bestimmt den Faschismus nicht mehr nur te, stark genug fühlte, befürwortete es Im- als Set von Ideen, sondern auch als Be- perialismus und territoriale Expansion»; er wegung und als Regime, in deren ideolo- beanspruchte «die absolute Macht» und gischem Zentrum ein extremer, revolutio stand dabei für «eine neue Ordnung» (La- när ausgerichteter Nationalismus steht queur 2000: 34). (Blinkhorn 2013: 115 f.). Kevin Passmore, wiederum britischer Historiker, schlägt ei- Die rein ideozentrische Sicht ist aber die ne duale Definition vor: «Fascism is a set of Ausnahme, weiter verbreitet sind Misch- ideologies and practices that seeks to place formen, die als zweite Gruppe auch As- the nation, defined in exclusive biological, pekte der faschistischen Praxis berück- cultural, and/or historical terms, above all sichtigen und damit der Kritik folgen, dass other sources of loyalty, and to create a Ziele und Mittel «unauflöslich» miteinan- mobilized national community. […] All as- der verbunden sind (Priester 2006b: 189), pects of fascist policy are suffused with ul- sodass von den Mitteln also nicht abgese- tranationalism.» (Passmore 2002: 31)19 Der hen werden kann. In diesem Sinne erwei- britisch-amerikanische Soziologe Michael terte Laqueur, obwohl er selbst von einem Mann weist Griffins idealistische Metho- «faschistischen Minimum» sprach, seinen de20 zurück und betont die Bedeutung der Vorschlag katalogartig um expressive und Praxis faschistischer Bewegungen für die historisch gebundene Merkmale wie Füh- Ausprägung ideologischer Dispositionen: rerprinzip, Staatspartei, Propagandamo- «Fascism is the pursuit of a transcendent nopol und Gewalteinsatz (Laqueur 2000: and cleansing nation-statism through para- 123). Ähnlich bei dem US-amerikanischen militarism.» (Mann 2004: 13)21 Historiker Stanley Payne: Er hatte zunächst eine komplexe deskriptive Typologie entwi- ckelt, vor allem in der Absicht, den Faschis- 18 «Faschismus kann als eine Form des revolutionären Ultrana- tionalismus für die nationale Wiedergeburt definiert werden, die mus von anderen nationalistischen und au- auf einer primär vitalistischen Philosophie basiert, auf extremem toritären Regimen zu unterscheiden (Payne Elitismus, Massenmobilisierung und dem Führerprinzip aufge- baut ist, Gewalt sowohl als Zweck als auch als Mittel positiv be- 1980: 7 u. 189 f.). Später akzeptierte er Grif- wertet und dazu neigt, den Krieg und/oder die militärischen Tu- genden zu kultivieren.» 19 «Faschismus ist ein Set von Ideologien fins Vorschlag und erweiterte ihn zugleich: und Praktiken, die darauf abzielen, die Nation, die in exklusiven «Fascism may be defined as a form of re- biologischen, kulturellen und/oder historischen Begriffen defi- niert wird, über alle anderen Quellen der Loyalität zu stellen und volutionary ultranationalism for national re- eine mobilisierte nationale Gemeinschaft zu schaffen. […] Alle birth that is based on a primarily vitalist phi- Aspekte der faschistischen Politik sind von Ultranationalismus durchdrungen.» 20 Damit ist die problematische Trennung zwi- losophy, is structured on extreme elitism, schen Wesen und Erscheinung des Faschismus angesprochen. mass mobilization, and the Führerprinzip, Schon Nolte hatte sich der «Wesensbestimmung» verschrie- ben. 21 «Faschismus ist das Streben nach einer transzendenten positively values violence as end as well und säubernden Nationalstaatlichkeit durch Paramilitarismus.» 18
Zu einer dritten Gruppe gehört der US-ame- rikanische Historiker Robert Paxton, der EIN GRUND FÜR DIESE gänzlich praxeologisch vorgeht und die ZENTRALE BEDEUTUNG VON ideozentrische Idealtypbildung als zu sta- GRIFFINS DEFINITION MAG tisch ablehnt. Den stattdessen vorgeschla- GERADE DARIN LIEGEN, DASS genen «fascism in action» (Faschismus in SEIN VORSCHLAG ERHEBLICHEN Aktion) definiert er als «a form of political RAUM FÜR PRODUKTIVE behavior marked by obsessive preoccu- SPEZIFIZIERUNGEN UND pation with community decline, humilia- VARIATIONEN LÄSST. tion, or victimhood and by compensatory cults of unity, energy, and purity, in which a mass-based party of committed nationalist militants, working in uneasy but effective collaboration with traditional elites, aban- dons democratic liberties and pursues with redemptive violence and without ethical or legal restraints goals of internal cleans- ing and external expansion.» (Paxton 2004: 218)22 Ideologische Ausrichtungen berück- sichtigt er als generealisierte «mobilizing passions», die er aus dem beobachteten Handeln ableitet, beispielsweise «a sense of overwhelming crisis beyond the reach of any traditional solutions» (ebd.: 219).23 Zur weiteren Differenzierung schlägt er ein fünfphasiges Modell vor, das den «Lebens- zyklus» einzelner Faschismen unterteilt in ihre Entstehung, die Verwurzelung im po- litischen System, die Machtergreifung, die Machtausübung und den Machterhalt (ebd.: 23). Ebenfalls praxeologisch orien- tiert ist der originelle Ansatz des deutschen 22 «[…] eine Form des politischen Verhaltens, die durch die zwanghafte Beschäftigung mit dem Niedergang der Gemein- schaft, mit Erniedrigung oder Opferrolle und durch kompensato- rische Kulte der Einheit, Energie und Reinheit gekennzeichnet ist, in denen eine Massenpartei militanter Nationalisten, die in unsteti- ger, aber effektiver Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten vorgeht, demokratische Freiheiten aufgibt und mit erlösender Ge- walt und ohne ethische oder rechtliche Beschränkungen Ziele der internen Säuberung und externen Expansion verfolgt». 23 «[…] die Wahrnehmung einer überwältigenden Krise, der mit her- kömmlichen Lösungen nicht beizukommen ist». 19
Historikers Sven Reichardt, der den «Bewe- 42; beachte auch die ausführliche Herlei- gungsfaschismus»24 als einen bestimmten tung in Bauerkämper 1991: 150 ff.). Schon Typ sozialer Bewegung auffasst (Reichardt Ernst Nolte war paradigmatisch davon 2002: 30).25 Als Anhaltspunkte für diese ausgegangen, dass der Faschismus nur Zuordnung führt er unter anderem eine in seinem konkreten, als solchem abge- kaum formalisierte Organisationsstruktur, schlossenen historischen Zusammenhang eine hohe aktionistische Dynamik, die star- verstanden werden kann (Nolte 1963: 25). ke Binnenkohärenz der Beteiligten im Sin- Der Nolte-Schüler Wolfgang Wippermann ne einer «Gesinnungsgemeinschaft» und (1945–2021) zog diese enge Grenze – das die radikal-systemoppositionelle – sprich Jahr 194526 – hingegen nicht. Er lehnte zu- auch hier: destruktive – Ausrichtung an gleich idealtypische Konstruktionen wie (ebd.: 32). Aus der Untersuchung der pa- bei Griffin ab: «Auszugehen ist stattdessen ramilitärischen Kampfbünde in Italien und von der konkreten Gestalt des italienischen Deutschland folgert er schließlich, dass Faschismus als faschistischem ‹Realty- «die Gewalttätigkeit, das Organisationsze- pus›, der von außeritalienischen Parteien remoniell und Glaubenspathos […] allge- und Regimen nachgeahmt wurde», indem meine Kennzeichen der faschistischen sie das Erscheinungsbild, angepasst an je Bewegung» waren (ebd.: 717). Im Ergeb- eigene Erfordernisse, imitierten (Wipper- nis seiner Untersuchung sieht er die Auf- mann 1997: 109). Die historischen euro- fassung bestätigt, dass der gewaltaffinen päischen Faschismen wiesen dadurch ein «Ausdrucksseite des faschistischen Habi «vergleichbares Erscheinungsbild auf. Sie tus» der Vorrang gegenüber Inhalten zu- waren hierarchisch nach dem Führerprin- kommt (ebd.: 723). zip gegliedert, verfügten über uniformierte Eine vierte Gruppe bilden die vorrangig historiografischen Zugänge, die vor ihrem 24 Gegen diese Betrachtung ist einzuwenden, dass der Faschis- mus in Italien, wo er ohnehin rasch in die Regimephase über- disziplinären Hintergrund den generischen ging, wie auch Deutschland mit einer längeren Bewegungsphase Faschismusbegriff in einen konkreten und lediglich für eine kurze Zeit «nur» Bewegung war; fast durch- gängig handelte es sich um durchstrukturierte Parteiorganisa- unauflöslichen Zeitkontext einbetten. So tionen. Beachte dazu die ausführliche Auseinandersetzung in Bach/Breuer (2010). 25 Faschismus war schon früher in einen bezeichnet der deutsche Geschichtswis- Zusammenhang mit dem Konzept der Sozialen Bewegung ge- senschaftler Arnd Bauerkämper den Fa- bracht worden. So wurde mit dem Aufkommen der Neuen Sozi- alen Bewegungen daran erinnert, dass der Nationalsozialismus schismus aus historisch-genetischer Sicht seinem Selbstverständnis nach geradezu «die» Bewegung war «als nationalistische, aber mit dem italie (vgl. Rammstedt 1978). Vor Reichardt lief die Diskussion aber darauf hin, das Potenzial zur politischen Massenmobilisierung nischen Leitbild verflochtene politische als herausragendes Merkmal zu betonen, das heißt die sozia- le Anpassungsfähigkeit des Faschismus und seine strategische Strömung der europäischen Zwischen- «Beweglichkeit in veränderten historischen Konstellationen» kriegszeit», die sich vor dem Hintergrund (Schieder 1983: 9 f.). Das war auch zu verstehen als ein Wider- spruch zu fixen Annahmen, die historischen Faschismen hätten einer tiefgreifenden Struktur- und Orientie- sich nur auf eine ganz bestimmte und konstante Sozialstruktur rungskrise jener Zeit ausgeprägt und sich bzw. Klassen- und Massenbasis von Mitgliedern, Mitläufer*innen und Wählenden gestützt. 26 Was die Eingrenzung der Epoche «als verschworene Gemeinschaft eines betrifft, ist die Bestimmung ihres Anfangs ungleich schwieriger. missionarischen, maskulinen Kampfbun- Im Hinblick auf die ideengeschichtliche Genese wesentlicher Ideologeme erscheint eine Einengung auf die Zwischenkriegs- des» ausgedrückt hat (Bauerkämper 2006: zeit als fragwürdig (Alff 1973: 20). 20
und bewaffnete Abteilungen und wandten Charisma und Patronage im Rahmen einer einen damals neuartigen und spezifischen Partei» (ebd.: 59) und ordnet den Faschis- politischen Stil an», bestehend aus «Mas- mus damit als spezielle Erscheinung des senkundgebungen», einer «Betonung des modernen Parteiwesens ein (ebd.: 62).27 männlichen und jugendlichen Charakters Entgegen verbreiteten Annahmen sind fa- der Partei», «Formen einer gewissen säku- schistische Parteien insoweit gerade kei- larisierten Religiosität» und der «kompro- ne «Weltanschauungsparteien», wie es misslose[n] Bejahung und Praktizierung (andere) völkisch-antisemitische Parteien der Gewalt in der politischen Auseinan- waren, sondern «gewaltförmig agierende dersetzung» (ebd.). Ideolo- Patronageparteien im rech- gisch dominierten in sich ten Teil des politischen Fel- ERNST NOLTE WAR ambivalente «antisozialis- des, in denen mehrere Welt PARADIGMATISCH tische und antikapitalisti- anschauungen respektive DAVON AUSGE sche, antimodernistische Ideologien koexistieren und GANG EN, DASS DER und spezifisch moderne, die deshalb ihre Kohärenz FASCHISMUS NUR IN extrem nationalistische und nicht primär über eine spe- SEINEM KONKRETEN, tendenziell transnationale zifische Programmatik si- ALS SOLCHEM Momente» (Wippermann chern, sondern über den ABGESCHLOSSENEN 1983: 197). gemeinsamen Glauben an HISTORISCHEN das Charisma» (ebd.: 195). ZUSAMMENHANG Es gibt weitere Ansätze, die Zentral dafür sei die Figur VERSTANDEN quer zu allen anderen lie- eines Duce oder Führers; WERDEN KANN. gen. Das gilt insbesondere seine Leistung bestehe für den Soziologen Stefan «in der Erzeugung affekti- Breuer, einer der versier- ver Gemeinsamkeiten und testen Kenner der historischen deutschen Stimmungslagen, die eingeschliffene La- Rechten. Anhand einer quellenreichen germentalitäten zu überspringen vermö- Auseinandersetzung mit dem dispersen gen» (ebd.). Der dem Faschismus eigene Ideengut der radikalen Rechten Frank- ideologische, mithin in sich widersprüchli- reichs, Italiens und Deutschlands zeigt che Polyzentrismus werde so durch Fakto- Breuer, dass sich das «Wesen des Faschis- ren nicht-ideologischer Art aggregiert, vor mus» weder bruchlos vom Nationalismus allem mithilfe charismatischer Vergemein- noch überhaupt von einer bestimmten Idee schaftung, und sei es durch bloße Insze- her erfassen lässt (Breuer 2005: 10). Dem- nierung (ebd.: 195 f.). nach verbietet es sich aus seiner Sicht, «die Einheit des Faschismus auf ideologischer Ebene zu suchen» (ebd.: 56), auch wenn er deren Bedeutung nicht bestreitet. Das idealtypische faschistische Minimum be- 27 Beachte auch die ausführliche Herleitung in Bach/Breuer stimmt er jedoch parteisoziologisch als (2010: 17–80). Nach meiner Auffassung hat Breuer nicht einen Idealtyp «Faschismus», sondern einen Idealtyp «faschistische die «spezifische Verbindung von Gewalt, Partei» formuliert. 21
5 KRITIK: «ULTRANATIONA LISMUS» – NATIONALISMUS DER FASCHIST*INNEN? Es fällt auf: Alle dargestellten Ansätze Ultra-Nation und auf sie gerichtete palin- bringen den Faschismus aus einsichtigen genetische Erwartungen mit übernatio- Gründen in einen Zusammenhang mit Na- nalen Entitäten referieren (ebd.: 76 u. 78), tionalismus. Insbesondere die ideozen manchmal ist sie sogar «in Form einer bio- trischen Definitionsvorschläge tendieren logischen Variante des Rassismus ohne dazu, der nationalistischen Ausrichtung Bezugnahme auf einen Nationalstaat kon- eine zentrale Stellung in der faschistischen zipiert» (Griffin 2020b: 94).28 Ideologie zuzuweisen. Roger Griffin (und mit ihm Passmore, en passant Laqueur so- Diese weite Aufspannung des Konzepts wie der späte Stanley Payne) legt sich so- verarbeitet die gewiss zutreffende Beob- gar auf eine eigene Gattung des Nationa- achtung, dass die historischen Faschis- lismus fest, auf den «Ultranationalismus», men zwar alle, aber nicht alle im gleichen der im Faschismus wirksam werde und da- Sinn und Ausmaß nationalistisch waren. bei palingenetisch sei. Damit wäre, schon So hat Stefan Breuer überzeugend die He- im Interesse einer Abgrenzung, ein enges terogenität der «nationalistischen Sinn- Verständnis dieser besonderen Gattung zu muster» aufgezeigt, die in verschiedenen erwarten. Das ist aber nicht der Fall, wenn Faschismen aufgehen konnten oder in ein wir Griffin folgen und dabei ernst neh- und demselben Faschismus wirksam wur- men, was er im «mythischen Kern» der Fa- den; man denke an linksnationalistische schist*innen erkennt, die «Ultra-Nation». Elemente im Vorfeld des italienischen Fa- Damit werden die Dinge verwickelt, denn schismus oder auch direkt an Mussolini, in der Tat wird dadurch mitgeteilt, dass die Ultra-Nation des Ultranationalismus etwas 28 Wippermann nahm diese Wandelbarkeit der «Ultra-Nation» kategorial anderes sein soll als die Nation sogar zum Anlass, sie per se mit Rassismus zu identifizieren (Wip- permann 1997: 110 f.). Diese Zentralstellung des Rassismus wi- des Nationalismus. So ist die Ultra-Nation derspricht aber seiner eigenen Nachahmungsthese (siehe oben), fähig, «Konnotationen sowohl eines rege- die dem italienischen Realtyp die Priorität als Vorbild der histori- schen Faschismen einräumt. Ein systematisches Verhältnis von nerierten Nationalstaates als auch, manch- Nationalismus und Rassismus wurde bislang wenig beachtet. mal sogar gleichzeitig, einer wiedergebo- Deren enge Verflechtung mit dem Faschismus ist unstrittig, ihr innerer Zusammenhang aber kaum generell zu fixieren (Eatwell renen Zivilisation oder Rasse innezuhaben» 2013: 588). Alff weist dem Rassengedanken einen «systemati- (Griffin 2020a: 79). Statt mit einer wie schen Ort unter den Merkmalen des Faschismus» zu, und zwar im Sinne der «Regression auf ‹Natur›» bei der Begründung des je auch immer gedachten Nation können die eigenen Volkstums (Alff 1973: 45 u. Anm. 41). 23
der weit stärker etatistisch orientiert, aber weniger an «Volk» und später an «Rasse» interessiert war als Hitler (Breuer 2005: 10). Zudem waren die historischen Faschismen bekanntlich nicht nur nationalistisch: Sie konnten außerdem imperialistisch sein, was noch im Gesichtsfeld des Nationa- lismus liegt, und sie waren gewiss rassis- tisch, was über den Nationalismus jeden- ES FÄLLT AUF: ALLE falls dann hinausführte, wenn – etwa vor DARGESTELLTEN ANSÄTZE dem Hintergrund nordischer Rassemythen BRINGEN DEN FASCHISMUS und insbesondere durch den Nationalso- AUS EINSICHTIGEN GRÜNDEN zialismus – umfassende Ordnungsideen IN EINEN ZUSAMMENHANG im kontinentalen oder gar planetarischen MIT NATIONALISMUS. Maßstab entwickelt wurden. Breuer ver- weist daher auf die «synkretistische Fle- xibilität» des Nationalismus, mit anderen Ideologien einherzugehen; und er zieht ins Kalkül, dass der Nationalismus hinter an- deren Ideologien zurücktreten kann (ebd.: 28). Er folgert daraus, dass der Faschismus weder theoretisch «eindeutig und bruch- los vom Nationalismus her» erfasst wer- den kann noch es sich tatsächlich um ei- nen «offshoot des Nationalismus» handelt (ebd.: 10 f.; vgl. zum Nationalismus der deutschen Rechten bis hin zum National- sozialismus Breuer 2001: Kap. 3). Es gab, mit anderen Worten, weder den faschisti- schen Nationalismus noch den Nationalis- mus im Faschismus. Anders argumentiert jedoch Griffin, der das Problem lösen will, indem er den Ul- tranationalismus als spezielle Gattung des Nationalismus wie eine Klammer einsetzt, die höchst disperse Phänomene, die mit- einander einhergehen, aber auch zuein- ander in Widerspruch treten können, aus sich selbst heraus umfassen soll: «Ultra- nationalism also feeds […] various types 24
of racism and xenophobia (e.g. antisemi- der Wiedergeburt «in völkischen und anti- tism, hatred of gypsies, foreigners, ethnic semitischen Kreisen schon lange vor dem minorities etc.), and fosters conspiracy the- NS-Regime in Umlauf» und bereits bei ories about how certain groups (e.g. com- Rassetheoretikern des 19. Jahrhunderts munists, liberals, feminists) are ‹under- nachweisbar waren (Priester 2006b: 189 mining› society.» (Griffin 1993: 158)29 Es u. 192). Stefan Breuer beobachtet Vorstel- ergibt sich der Verdacht, dass Griffin mit lungen von Wiedergeburt und Verjüngung dem Ultranationalismus eine Gattung des in unterschiedlichsten, auch «liberalen»30 Nationalismus heranzieht, die er geradezu Spielarten des Nationalismus (Breuer im Hinblick auf den Faschismus konstru- 2005: 96). Schließlich wurde angebracht, iert hat. Was diese Gattung betrifft, erfah- dass es sich bei solchen Vorstellungen ren wir vom Autor im Grunde genommen nicht um eine Besonderheit, sondern um nur, dass es sich um eine illiberale Varian- nichts anderes als die «inhärente semanti- te des Nationalismus handeln soll (ebd.: sche Struktur» des Nationalismus handelt, 148 f.). Wenn wir das vorläufig akzeptieren «eine spezifische Akzentuierung der für möchten und die Bezeichnung beim Wort allen Nationalismus bezeichnenden For- nehmen, dann wäre außerdem anzuneh- mel ‹Volk = Staat = Nation›» (Holz/Weyand men, dass der Ultranationalismus in sei- 2006: 125 f.). nen politischen Zielstellungen nicht nur breiter gefasst ist, als es andere «normale» Zweifel ergeben sich unabhängig davon Nationalismen sind, die sich «nur» auf ei- auch, wenn wir nicht ausgesuchte Kriti- ne Nation beziehen; sondern dass es sich ker*innen Griffins befragen, sondern die außerdem um eine Steigerung des Natio- Nationalismusforschung. Sie bereitet einen nalismus handelt – denn was ultra ist, geht kurzen Prozess: Ein etwaiger Ultranatio über eine gegebene Sache hinaus. Diese nalismus hat in ihr keinen systematischen Ansicht kommt bei Griffin auch darin zum Rang, ein spezifisch faschistischer Natio Ausdruck, dass er im Faschismus den Ul- nalismus ist ihr überwiegend, eine Ultra- tranationalismus mit einer zusätzlichen Nation durchweg ungeläufig. Der Grund palingenetischen Erwartung verknüpft. ist nicht ein Desinteresse; im Gegenteil, Die Frage ist nun, ob damit, wie es Griffin die Nationalismusforschung ist häufiger behauptet, ein Spezifikum des Nationalis- auf den Grenzfall des Faschismus und auf mus in seinem faschistischen Gebrauch die Faschismusforschung zu sprechen ge- erfasst ist. Das wurde inzwischen vielfach kommen als umgekehrt. Das Problem, für und mit guten Argumenten bestritten: So das auch Griffin keine überzeugende Lö- wies Stanley Payne darauf hin, dass auch Ultranationalismen jenseits des Faschis- 29 «Der Ultranationalismus nährt auch […] verschiedene Arten mus palingenetisch sein können und ihnen von Rassismus und Xenophobie (z. B. Antisemitismus, Anti- damit droht, vorschnell dem Faschismus ziganismus, Feindlichkeit gegen Ausländer*innen, ethnische Minderheiten usw.) und fördert Verschwörungstheorien darü- zugeordnet zu werden (Payne 2006: 177; ber, wie bestimmte Gruppen (z. B. Kommunist*innen, Liberale, dazu auch Alter 1985: 52). Karin Priester Feminist*innen) die Gesellschaft ‹untergraben›.» 30 Die Be- wegung des italienischen Risorgimento übersetzt sich gar als bemerkte, dass nationalistische Mythen Wiedergeburt. 25
sung anbieten kann, liegt schlicht darin, sich nicht nur ideell, sondern ganz prak- dass Nationalismus nicht gesteigert wer- tisch gegenüber (ebd.: 200 f.). Doch das den kann. Die gängigen Definitionen beto- war gerade kein Werk eines faschistischen nen nämlich, dass er der Nation stets die Ultranationalismus oder des Faschismus Höchstrelevanz zuspricht: Das Bekenntnis überhaupt, sondern eine ihm vorauslaufen- zu ihr hat Vorrang vor allen anderen öffent- de Entwicklung.31 lichen Verpflichtungen (Hobsbawm 1992: 9), sie ist die allein verbindliche «Sinnge- Im Zuge dieser Entwicklung hat sich auch bungs- und Rechtfertigungsinstanz» (Alter der Nationalismus selbst – sei es als Ideo- 1985: 14 f.), als «innerweltlich höchste[m] logie, sei es als politische Bewegung – ge- Wert» ist ihr «die oberste Loyalität» vorbe- wandelt. Darauf beziehen sich verschiedene halten (Estel 1994: 19), sie steht «über allen Typologien, die in der Literatur vorgeschla- anderen Interessen und Werten» (Breuilly gen werden. In seinem oft als Standard- 1999: 15) und so fort. Norbert Elias ging werk herangezogenen Buch schlägt der diesem Umstand in seiner Soziogenese Historiker Peter Alter vor, grundlegend des Nationalismus nach, wobei er zeigte, zwischen einem Risorgimento-Nationalis- wie es die Ausbreitung und Popularisie- mus und einem integralen Nationalismus rung des Nationalismus als eine «allgemei- zu unterscheiden (Alter 1985: 33): Der im ne Tendenz» nach sich zog, insbesondere 19. Jahrhundert vorherrschende Risorgi- humanistische Auffassungen zurückzu- mento-Nationalismus hatte eine emanzi- stellen zugunsten von «Wertungen, die patorische Funktion, für ihn galt «das Prin- ein Idealbild des eigenen Landes und der zip von der Solidarität der Unterdrückten eigenen Nation über allgemein-menschli- gegen die Unterdrücker» (ebd.: 36). Der che und moralische Ideale» erhoben (Elias jüngere integrale Nationalismus – wohl 1992: 174). Der Glaube an die Nation und nah an dem, was Griffin einen illiberalen das damit verbundene Wir-Ideal – selbst Nationalismus nennt32 – ist der Gegenty- wenn es sich realiter um sektionale Inte- pus, der auftrat, nachdem die Schaffung ressen handelt – wurden gerade dadurch und Stabilisierung von Nationalstaaten ein regelrecht «sakrosankt» (ebd.: 192 f.), dass der Nationalismus mit einigem Erfolg nicht bloße Berücksichtigung der Belange der 31 Eine ihm nachlaufende Entwicklung ist hingegen die funda- mentale Wertenscheidung des Grundgesetzes für den humanis- Nation, sondern für sie «den Rang eines tisch-egalitären und gegen den nationalistisch-antiegalitären obersten Wertes» beanspruchte und poli- Kanon durch die zentralen Grundsätze der Menschenwürde, der individuellen Freiheit und der formalen Gleichheit in den ersten tisch durchsetzte (ebd.: 199). Von Land zu drei Artikeln sowie durch die Entmystifizierung des «Volkes». Die Weimarer Reichsverfassung, die in vielen Hinsichten fortschritt- Land – besser: von Nationalismus zu Natio lich war, hatte hingegen den Menschenwürdegrundsatz nicht ge- nalismus – unterschied sich bloß die spe- kannt und bereits in der Präambel belehrt, dass sich das deutsche Volk aus «Stämmen» zusammensetze. Mir scheint, dass die seit zifische Begründung, auf die sich dieser Jahrzehnten vorgetragenen und heute vor allem aus Richtung der Anspruch stützte (ebd.: 215). Damit ent- AfD betriebenen nationalkonservativen Anklagen gegen eine an- gebliche Linksverschiebung der bundesdeutschen Politik und der stand ein äußerst spannungsreiches, dop- liberalkonservativen Union vor allem diesen – bereits entschiede- peltes Normensystem: Ein egalitärer und nen – Wertkonflikt widerspiegeln. 32 Integraler Nationalismus ist ein Eigenbegriff, den Charles Maurras (1868–1952) geprägt ein nicht-egalitärer Normenkanon standen hat. Er war Vordenker der protofaschistischen Action française. 26
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