Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten: Die Gesundheits-entwicklung Italiens im Ersten Weltkrieg
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Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten: Die Gesundheits- entwicklung Italiens im Ersten Weltkrieg Alessandra Parodi Summary Infected soldiers, starving civilians: health developments in Italy during the Great War The First World War, which for Italy did not start until 24 May 1915, taxed the strength and health not only of soldiers but also of civilians. The war had severe consequences demographically and in terms of infectious diseases and their registration, apart from con- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr stituting a setback for the former medical and socio-medical strategies to maintain and improve public health. Malaria, tuberculosis and syphilis developed new dynamics due to socio-political factors like the mass-concentration of soldiers, transports, shortage of medi- cal supplies and malnutrition. Morbidity and mortality due to the “Spanish Flu” were also extremely high in Italy. The army benefited from preferential treatment as far as food sup- plies were concerned, but served also as a multiplier for infectious diseases. Overall, the war exposed the deficiencies and underfunding within the Italian healthcare system. Einleitung: Forschung und Thesen Im Folgenden geht es zunächst darum, verstreute Forschungsarbeiten und zeitgenössische Quellen1 zur Gesundheitsgeschichte der italienischen Bevöl- kerung und von Militärangehörigen mit dem Ziel zusammenzufassen, über medizinische Daten und Erhebungen im engeren Sinne hinaus sozialge- schichtliche Kontexte zu berücksichtigen. Hierbei ist das statistisch- epidemiologische Werk von Giorgio Mortara aus dem Jahre 1925, »La sa- lute pubblica in Italia durante e dopo la guerra«, immer noch eine unver- 1 Während des Kriegs erschienen ca. 40 periodische Informationsblätter zur praktischen Gesundheitsproblematik, die oft von den lokalen Comitati Civici herausgegeben wur- den, sowie ca. 50 Monographien zur Hygiene und zum Gesundheitswesen im Allge- meinen, offizielle Berichte und Texte zur Ernährung eingeschlossen. Zu den Themen Demographie und Bevölkerung erschienen in den Kriegsjahren 24 Titel, je 15 zu Tu- berkulose und Geschlechtskrankheiten, zwölf zur Malaria. Ungefähr die Hälfte der Ti- tel befasste sich explizit mit der Kriegssituation, die anderen sind klinische und epi- demiologische Studien. Die Zahl der publizierten einschlägigen Zeitschriftenaufsätze kann vorerst nur geschätzt werden. Ein Beispiel: Die Zeitschrift Igiene Moderna brachte im Jahrgang 1914 drei kriegsspezifische Beiträge (zwei über die Antityphusimpfung in der Armee und einen zu den Antisyphilisfürsorgestellen). Der Jahrgang 1915 enthielt 30 Artikel und Notizen über Typhus und Typhusimpfung und neun zu anderen kriegsbezogenen Themen, darunter Wasserdesinfizierung und allgemeine Maßnahmen bei Infektionskrankheiten im Krieg. 1916 gab es neun einschlägige Beiträge, darun- ter solche über die gesundheitliche Situation in anderen Armeen. 1917 erschienen je zwölf Beiträge zu Typhus und Meningitis und weitere zehn zu verschiedenen Themen, darunter Geschlechtskrankheiten und Tuberkulose mit je zwei Beiträgen, die Bezug zum Krieg hatten. Im letzten Kriegsjahr und ersten Grippejahr 1918 erschienen 20 Beiträge über Typhus und nur einer über kommunale Prophylaxemaßnahmen gegen die Grippe. MedGG 31 2013, S. 67-94 Franz Steiner Verlag Stuttgart Franz Steiner Verlag
68 Alessandra Parodi zichtbare Grundlage.2 Jedoch reichen dessen Mortalitäts- und Morbiditäts- statistiken nicht; den Erhebungsweisen ebenso wie dem Verlauf einzelner Krankheitskomplexe muss genau nachgegangen werden. Wie sich aus dem Literaturverzeichnis dieses Beitrages ergibt, wurden dafür aus der potentiell noch viel breiteren Materialbasis zahlreiche Einzelschriften und etliche Zeit- schriftenbeiträge ausgewählt. Kriterium für diese Auswahl waren sowohl Originalität und eine gewisse methodische Solidität bei empirischen Beiträ- gen als auch diskursive Relevanz, d. h. dass sich andere Autoren auf die jeweilige Publikation bezogen. Insofern handelt es sich hier um solche Schriften, die nachweislich schon zeitgenössisch rezipiert wurden, und nicht selten um Autoren, die sich auch später in Forschung und gesundheitspoli- tischen Diskurs einbrachten. Dass daneben auch »extreme« Positionen be- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr rücksichtigt wurden, ergibt sich aus der Logik von Diskursanalysen, die gerade nicht nur Mehrheitspositionen erkennbar machen, sondern auch die Grenzen dessen ausloten möchten, was jeweils in einem spezifischen histori- schen Kontext gedacht und geschrieben werden kann. Es ist zum einen das Ziel des folgenden Textes, erstmals die verfügbaren Informationen über die tatsächliche Gesundheitssituation der italienischen Bevölkerung im Ersten Weltkrieg zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Obwohl wertvolle Vorgängerstudien existieren, hat sich die moderne For- 2 Das Werk Mortaras wurde von der Carnegie-Stiftung finanziert. Es behandelt die Aspekte der gesundheitsrelevanten Kriegsereignisse sowie regionale und altersbedingte Unterschiede in der Sterblichkeit und Morbidität, sowohl bei den Zivilisten wie auch beim Militär. Die Wirkungsfelder Mortaras (1885-1967), der u. a. auch in Berlin stu- diert hatte, waren Demographie und Ökonomie. Er emigrierte 1939 nach Brasilien, wo er im nationalen Statistikrat arbeitete, und kehrte 1956 nach Italien an die Univer- sität Rom zurück, um den Lehrstuhl für ökonomische Statistik zu besetzen. Die heuti- ge Forschungslage zur Gesundheit der Bevölkerung und des Militärs in Italien im Ers- ten Weltkrieg ist dessen ungeachtet trotz etlicher Veröffentlichungen unzureichend. Den besten Gesamtüberblick bietet Isnenghi/Rochat (2008). Isnenghi (2007) und Gibelli (1998) sind weitere Werke zur Sozial- und Wahrnehmungsgeschichte des Krie- ges. Noch spezieller sind nützlich: Della Peruta (1984) sowie Leoni/Zadra (1986), wo Beiträge über das Gesundheitswesen und einzelne Krankheiten zur Zeit des Ersten Weltkrieges viel Raum einnehmen. Tognotti (2002) und Tognotti (2006) sind äußerst wichtige Referenzwerke der letzten Jahre zur Grippe von 1918/19, zur Tuberkulose, Cholera und zur Syphilis, in denen der Akzent auf der medialen Wahrnehmung von Epidemien liegt. Erwähnenswert ist auch Gibelli (1991). Der Band von Labanca/Rochat (2007) ist auf das Sterben, allerdings nicht auf das Krank- oder Gesundwerden von Soldaten oder Zivilisten ausgerichtet. Andere Werke konzentrieren sich auf das Leben in den Schützengräben am Isonzo, wie Fabi (2009) sowie Sema (1995-1997). Das Thema der soldatischen »Simulanten«, verbunden mit dem des »Kriegswahnsinns« und der Kriegspsychiatrie, wird in Isnenghi/Rochat (2008) und Gibelli (1998) diskutiert. Auch die in den letzten Jahren rege Publikation von Tagebü- chern und Memoiren ist meistens dem Kriegserlebnis gewidmet, siehe Visintin (2008). Die Gattung überwiegt unter den ca. 100 seit 1990 zum Ersten Weltkrieg erschienenen Titeln. In den Sammlungen mündlicher Zeugnisse von Revelli (1997) und Revelli (1998) befinden sich zahlreiche Passagen zum Kriegs-, Krankheits- und Hungererleb- nis der piemontesischen Bauern in den Jahren 1915-1918. Franz Steiner Verlag
Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten 69 schung wie auch schon die zeitgenössische Fachliteratur äußerst stark auf die Gesundheitsverhältnisse der Soldaten konzentriert, die der Zivilbevölke- rung blieb im Schatten bzw. wurde allein über statistische Verfahren und demographische Indikatoren viel zu generell zu erfassen gesucht. Insbeson- dere ist auffallend, dass kaum Quellen zur kommunalen Ebene und zu den Problemen der noch überwiegenden Agrarbevölkerung vorliegen. In den meisten Fällen kann man hier in einer Situation, wo aktenmäßige empiri- sche Belege aus den Tätigkeitsbereichen der Akteure (allgemeine Verwal- tung, militärische Behörden, Kommunalverwaltungen, Hilfsvereine, ärztli- che Organisationen) (noch) nicht zur Verfügung stehen, doch auf einige publizierte Tätigkeitsberichte zurückgreifen und auch aus den zeitgenössi- schen normativen Quellen Rückschlüsse auf die praktische Situation ziehen. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr Gefragt wird insbesondere nach Krankheitsbildern und quantitativen Be- funden, nach sozialen Betroffenheiten, auch nach Reaktionen und Strate- gien der Bevölkerung selbst (soweit möglich) sowie nach dem Zusammen- hang von Gesundheits- und Ernährungssituation. Besondere Aufmerksam- keit erhält ebenso die Frage, auf welche latenten Probleme jeweils aktu- elle, d. h. häufig epidemische Verläufe bis zur Ausbreitung der Spanischen Grippe verweisen. Zum anderen ist es das Ziel des Textes, sich dem zeitgenössischen Gesund- heitsdiskurs anzunähern. Es wird davon ausgegangen, dass ein solcher Dis- kurs selektive Strategien der Gesundheitssicherung für spezifische soziale Gruppen nicht nur begleitete, sondern diese auch legitimierte und hervor- rief. Es handelt sich also bei den referierten und auf hermeneutischem Wege eruierten Positionen, auch wenn man sie zunächst als fachliche Positionen verstehen muss, um solche, die auf selektive Praktiken verweisen. Denn nicht etwa die eigengesetzlichen Abläufe der Gewalt im Krieg, sondern zahlreiche Anordnungen und Entscheidungen auf verschiedenen politischen Ebenen wirkten sich direkt auf die Gesundheit der Bevölkerung aus, und diese Entscheidungen wiederum waren mit der diskursiven Ebene verbun- den. Folgten einzelne Beiträge durchaus wissenschaftlichen Plausibilitäten, waren sie doch in die Machtverhältnisse eingebunden, wenngleich sich zahlreiche Mediziner ihrem eigenen Selbstverständnis nach ausschließlich als Helfende und als Wissenschaftler gesehen haben mögen. Die referierten diskursrelevanten Werke enthalten darüber hinaus auch empirische Infor- mationen, die hier eingebracht wurden, v. a. zur qualitativen Ergänzung und Differenzierung des erwähnten Werkes von Mortara. Insgesamt soll, über diese allgemeinen Intentionen hinaus, gezeigt werden, dass sich der Krieg teils auf einer medizinischen Ebene, teils auf der von indirekten Wirkzusammenhängen (Interventionen des Militärs, Ernährungs- lage) für die italienische Bevölkerung, nicht nur für die Soldaten, in weit größerem Ausmaß negativ auswirkte, als bislang bekannt war. Zwar sind, so die weitere These, Mortalitäts- und Morbiditätsziffern weiterhin entschei- dende Indikatoren für die tatsächlichen Zustände, aber sozialgeschichtliche Quellen (soweit verfügbar) zeigen erst das Ausmaß der (selektiven) Franz Steiner Verlag
70 Alessandra Parodi Betroffenheiten sowie die Wirkungsketten, etwa wenn infizierte Soldaten nach Hause zurückkehrten. Es wird des Weiteren dargelegt werden, dass die Verläufe bei den klassischen Infektionskrankheiten in längerer historischer Perspektive einen erheblichen Rückschlag für die bisherigen Anstrengungen der Mediziner zur Verbesserung der Volksgesundheit bedeuteten. Ferner soll gezeigt werden, welch starke Probleme schon auf der Ebene der Erfas- sung von Krankheit und Tod bestanden und dass das quantitative Zahlen- material deshalb kritischer als bislang üblich behandelt werden muss. Der Krieg brachte den Einbruch von schon verschwunden geglaubten In- fektionskrankheiten in das Gefüge von demographischen Dynamiken und Volksgesundheit, wobei aber »Krieg« kein Naturgeschehen bedeutete, son- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr dern das Resultat von politischen Entscheidungen war, mit denen gewaltige Ressourcen zugunsten oder zuungunsten gesellschaftlicher Gruppen und Klassen verschoben wurden. Der Krieg wirkte auf die kollektive Gesundheit der italienischen Bevölkerung direkt und kausal, er führte nicht nur hun- derttausendfach zum Tode, sondern förderte auch das Leiden an Orten, die nicht unmittelbar von ihm betroffen waren.3 Zwischen den Interventionen der Kriegsmaschinerie und den sozialen Pathologien der Gesellschaft, die ihrerseits mit mannigfaltigen Problemen des Übergangs von einem traditio- nalen zu einem (seinerseits wiederum umstrittenen) liberalen Regime befasst war, bestanden vielfältige Beziehungen, die hier wenigstens partiell aufge- deckt werden sollen. Eine solche Exploration kann nicht, wie 1925 bei Mortara, bei der Erhebung von Fakten als Indikatoren einer gesundheitli- chen und sozialen Realität stehenbleiben, sondern man wird eine zweite Ebene der Diskurse vor allem der Mediziner berücksichtigen müssen, die auf diese Realität sehr spezifisch einwirkten, obwohl der Realitätsbezug mancher dieser Diskurse um den Krieg, den kollektiven Körper und mora- lischen Nutzen des Grauens bezweifelt werden kann. Vor allem fördert die Exploration der gesundheitlich relevanten Kriegszustände etliche Hinweise auf latente Strukturen zutage, die im politisch-gesellschaftlichen Bereich angesiedelt sind. Zu nennen sind hier besonders die Konfrontation der Stadtgesellschaften mit Aufgaben der Kriegsbewältigung und Daseinsvor- sorge, die ihre Leistungskraft überforderten, sowie die Netzwerke bürgerli- cher Selbstorganisation und traditioneller karitativer Institutionen. Diese wurden auf erschreckende Weise überdehnt, was wiederum auf die Re- formbedürftigkeit des Gesundheitssystems verweist, zu dem erstaunlich we- nige Studien vorliegen, schon gar keine kritischen. Ebenso wird sich zeigen, dass zuständige Behörden allein schon mit der Aufgabe einer zureichenden Erfassung des Geschehens mittels statistischer Instrumente und klassifika- 3 Ein Komplex von Faktoren beeinflusst die Gesundheit und das Gesundheitswesen während moderner Kriege: die Bevölkerungsbewegungen, die Verschlechterung der Hygiene und der Ernährung und das mehr oder weniger ausgeprägte Versagen des Gesundheitswesens. Die defizitären Datenerhebungen lassen die Erforschung der rea- len Verbreitung von Krankheiten nur sehr erschwert zu, vgl. Smallman-Raynor/Cliff (2004), S. 144-146. Franz Steiner Verlag
Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten 71 torischer Verfahren immer wieder nicht zurechtkamen. Statistik, besonders im Bereich der Nahrungsversorgung, erwies sich vielfach nicht nur als hilf- loses Instrument, sondern als manipulatives, das propagandistisch ein- gesetzt wurde. Zwar förderte der Krieg auf einigen Gebieten erhebliche Modernisierungen, vor allem im Bereich der Mobilisierung der Bevölke- rung, gleichzeitig brachte er aber auch geradezu unzeitgemäße Szenarien zustande. Als dann die weltweite Grippepandemie in die zivile Ordnung Italiens ein- brach, mit allen emotionalisierenden Folgen, wie man sie historisch aus den großen Zeiten der Epidemien kennt, ist auch dies ein Teil des Themas Krieg und Gesundheit, wie noch gezeigt werden soll. Dass all die Erfahrungen mit Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr unzureichender Gesundheitsfürsorge liberale lineare Fortschrittskonzepte in Frage stellten, dass kollektive und unbeantwortete Sinnfragen den italieni- schen Faschismus vorbereiteten, kann hier nur angedeutet werden; diese politisch-mentalen Auswirkungen sind nicht Gegenstand des Beitrags. Wohl aber die Frage nach den Hauptbetroffenen des Krieges – das Augenmerk richtet sich hier besonders auf die zivilen Stadt- und Landbevölkerungen, nicht so sehr auf das bereits recht gut erforschte Militär, obwohl Soldaten, etwa die Heimkehrenden, und die Heimatfront eng miteinander verquickt waren. Trotz hoher Todes- und Krankheitsrisiken an der Front wurde doch die kämpfende Truppe in mancher Hinsicht, vor allem bei der Ernährung, begünstigt, so dass sich das Paradoxon ergibt, dass der proletarische Soldat, vielfach voller Todesangst und sich nicht selten durch Selbstverstümmelung dem Einsatz entziehend, besser mit Nahrung versorgt war als seine Frau und Kinder daheim. Man kann sagen: Das Militär wurde im Krieg sozial- politisch relativ privilegiert, die Gesundheitsfürsorge dort enorm erweitert, die weitgehend unbeachtete Opferleistung der Zivilbevölkerung fiel aber auch beträchtlich aus. Die mangelnde politische Planung und die fehlenden Ressourcen vor und während des Krieges begünstigten, so die abschließen- de These, letztlich doch recht direkt die Ausbreitung von Krankheiten, die, wie gezeigt werden soll, für die gesellschaftliche, politische und diskursive Ebene gleichzeitig relevant waren. Die demographischen Prozesse seit dem Kriegseintritt Die allgemeinen Hintergründe des italienischen Kriegseintritts und die in- nenpolitischen Konstellationen des Landes werden hier als bekannt voraus- gesetzt. Wichtig ist die Feststellung, dass der Kriegseintritt im Kontext des Imperialismus steht und auf das Bestreben der Nationalisten und der de- mokratischen Interventionisten zurückgeht, die damit ihre liberalen Gegner entscheidend von zwei völlig unterschiedlichen Seiten her zurückdrängen wollten. Die Einwohnerzahl Italiens lag 1914 bei 36,7 Millionen, 1919 bei 36,2 Millionen. Dieser Bevölkerungsrückgang erscheint zunächst als nicht besonders erheblich, doch die demographische Dramatik wird schon eher deutlich, wenn man feststellt, dass sich zwischen 1913 und 1918 die Zahl der Geburten halbierte und die Zahl der Todesfälle verdoppelte. Während Franz Steiner Verlag
72 Alessandra Parodi des Kriegs starben 1.200.000 Personen.4 Bei der Mortalitätsstruktur traten weiterhin die Kindersterblichkeit, bei den Todesursachen die Krankheiten der Atemwege, Infektionskrankheiten, Krebs und vor allem die Malaria hervor.5 Die im Laufe des Krieges eingezogenen Männer gehörten den Geburtsjahr- gängen zwischen 1874 und 1899 an. Nach der Musterung wurden sie in abile (diensttauglich), rivedibile (mit einer akuten Krankheit, nur vorüberge- hend ausgemustert) und riformato (ausgemustert) unterteilt. Man wird sehen, dass diese Definitionen etwa im Fall der Tuberkulose alles andere als ein- deutig waren. Erste demographische Folgen des Krieges zeigten sich schon vor dem Kriegseintritt. Nach der Kriegserklärung Deutschlands an Frank- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr reich am 3. August 1914 fing die Rückkehr von Italienern z. B. aus Öster- reich-Ungarn, Deutschland und Frankreich an. Die Heimgekehrten befan- den sich teils schon in schlechtem Gesundheitszustand, da sie stark an In- fektionskrankheiten litten. Im Frühjahr 1915 begann die Massierung der italienischen Armee an den Grenzen, Heimkehrer wurden nun eingezogen. Diese Ereignisse verweisen schon auf die zwei Hauptfaktoren der Gesund- heit im Krieg, eben massive Bevölkerungsbewegungen und Infektionskrank- heiten. Ein weiterer Faktor ist auf der kommunalen Ebene anzusiedeln, nämlich die Versuche, die soziale Situation der Familien von Eingezogenen durch materielle Zuwendungen von Seiten der Comitati Civici zu verbes- sern.6 Weitere Aktionen der Comitati galten der »Erziehung« der Familien, wie z. B. aus den Akten in Genua hervorgeht, wo eine Mitarbeit des Comitato mit der »Associazione genovese contro la tubercolosi« explizit darauf zielte, die tuberkulös nach Hause zurückkehrenden Soldaten aufzu- klären, damit sie ihre Familien nicht ansteckten.7 Hier ist man schon beim eingangs geschilderten Missverhältnis zwischen Krankheitsbedrohung der Zivilbevölkerung und den Ressourcen der urbanen Bevölkerung, deren Ri- siken in hohem Grade privatisiert wurden. 4 Pinnelli/Mancini (1998), S. 341. 5 Ein erster Eindruck zu den häufigsten Todesursachen 1911-1920 ist dem Sommario di Statistiche storiche dell’Italia (1976), S. 37, zu entnehmen: Von 500.000 Todesfällen entfielen auf allgemeine Infektionskrankheiten 145.367, Krebs 24.601, Kreislaufer- krankungen 80.056, Unfälle 20.778, Diphtherie 16.609, Malaria 210.511. 6 Zu den Comitati Civici vgl. Anmerkung 1. Bis zum Juli 1916 sammelten städtische bürgerliche Komitees Spenden. So kamen 17 Millionen Lire in Mailand, 9 und 8 Mil- lionen in Turin und Genua zusammen. Davon wurden Hilfeleistungen für die Fami- lien der Eingezogenen in Form von Naturalien, Zuschüssen zur Miete und Aufnahme von Kindern an Instituten finanziert; Toja/Giusti (1917), S. 29ff. 7 Municipio di Genova (1918), S. 23. Franz Steiner Verlag
Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten 73 Formen und Zahlen des Sterbens während des Krieges Die Zahl der Todesfälle unter den Soldaten (im Laufe des Krieges werden in Italien 5.600.000 Männer eingesetzt8) beträgt circa 600.000, d. h. sechs Pro- zent der wehrfähigen Männer9. Davon entfielen auf Krankheiten 200.000, wiederum zwei Drittel davon im Jahr 1918. Da es bei normaler Sterblich- keit in den entsprechenden Altersklassen, berechnet auf der Grundlage der drei Jahre 1911-1913, 75.000 Todesfälle gegeben hätte, betrug die Über- sterblichkeit beim Militär um die 525.000-530.000 Fälle.10 Circa 100.000 Soldaten starben in Gefangenschaft, oft an Hunger; das sind etwa 15 Pro- zent einer Gesamtzahl der Gefangenen von 580.000.11 Die Sterblichkeit in der Zivilbevölkerung zeigt die Kriegseinflüsse überdeut- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr lich. Mortara12 interpretierte die Daten für die jeweiligen Jahre und nach Regionen dahingehend, dass sich die erhöhten Zahlen 1915 auf die massive Truppenzusammenziehung sowie auf ein Erdbeben in Apulien zurückfüh- ren ließen; 1916 setzten sich demnach die kriegsbedingten Tendenzen fort, dazu kam die erhöhte Mortalität an Infektionskrankheiten in einigen Regio- nen. 1917 sank die Sterblichkeitsrate nur deswegen, weil die Geburtenrate weiter gesunken war und damit die Säuglingssterblichkeit. 1918 stieg die allgemeine Sterblichkeitsrate, mit Maxima in Latium, wegen der unter- schiedlich virulenten, aber überall präsenten Grippeepidemie überall deut- lich an, gemildert nur aufgrund der weiteren Abnahme der Geburten. Me- thodisch stellt sich die Frage, was bei der Entwicklung der Sterblichkeit wirklich kriegsbedingt und was auf langfristig wirkende strukturelle Verän- derungen zurückzuführen war. Die Krebssterblichkeit zum Beispiel hatte nichts mit dem Krieg zu tun, weil sie eher mit der Alterung der Bevölke- rung zusammenhing und außerdem ein weltweit präsentes, wenngleich noch nicht erklärbares Phänomen war.13 Zwischen den drei Jahren 1887-1889 und 1911-1913 war die Zahl der jähr- lichen Todesfälle pro 1000 Einwohner von 27,02 auf 19,43 gesunken, vor allem wegen des Rückgangs vieler Infektionskrankheiten. Dieser wiederum war sozialhygienischen (z. B. bei der Cholera) und spezifischen therapeuti- schen Maßnahmen (Malaria, Pocken) zu verdanken.14 Die Meningitis- 8 Hirschfeld/Krumeich/Renz (2003), Anhang, S. 664. 9 Berechnet für den Zeitraum zwischen dem 24. Mai 1915 und dem 30. April 1920, als die Kommission für die Kriegsrente ihre Arbeit beendete; in dieser Zeit summierte sich auch die Zahl der Soldaten, die an der Grippe und an anderen Krankheiten starben. Nach Hirschfeld/Krumeich/Renz (2003), Anhang, S. 664, belief sich die Zahl der mi- litärischen Todesfälle auf 460.000. 10 Vgl. Mortara (1925), S. 29-31. 11 Vgl. Mortara (1925), S. 53. 12 Vgl. Mortara (1925), S. 131, 216. 13 Vgl. Mortara (1925), S. 194. 14 Vgl. Mortara (1925), S. 188. Franz Steiner Verlag
74 Alessandra Parodi erkrankungen sanken vor dem Krieg, die Kreislauferkrankungen blieben dagegen konstant wegen der allgemeinen Alterung der Bevölkerung. Die Atemwegserkrankungen wiederum sanken beständig wegen »des zuneh- menden Wohlstandes, der besseren Wohnverhältnisse und der besseren Kleidung«.15 Ähnliches gilt für den Durchfall, Magenerkrankungen dagegen stiegen. Nierenerkrankungen nahmen wegen der Alterung und der präzise- ren Diagnose zu. Kindbettkrankheiten sanken von jährlich 6,94 Todesfällen je 1000 Geburten in den Jahren 1887-1889 auf 3,0 in den Jahren 1911- 1913.16 Im Vergleich zu Deutschland fallen die höhere Sterblichkeit insge- samt, die hohen Ziffern für Meningitis und Typhus und die unterschiedli- chen Klassifikationen der Tuberkulosemortalität ins Auge. Besonders auffäl- lig ist auch die Verbreitung von Cholera und Malaria, so dass man auf ei- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr nen sozialhygienischen Rückstand Italiens schließen kann. Die fortgeschrit- tenen Länder Europas zeigten generell einen niedrigen Anteil von Todesfäl- len aus epidemischen Krankheiten; in Italien war der jährliche Durchschnitt 1300 von 1.000.000 Einwohnern, in Schweden waren es 574, in Frankreich 637, in Deutschland 820 und in England 960, wobei für Frankreich der niedrige Anteil an Kindern eine Teilerklärung ist.17 Der positive Trend der Mortalitätsentwicklung in den Vorkriegsjahren brach mit dem Kriegseintritt ab und stabilisierte sich erst wieder nach dem grippebedingten Höhepunkt.18 Das Hauptproblem der Spanischen Grippe kann für folgende Zahlen, neben den offiziell bescheinigten Todesfällen »an Grippe«, verantwortlich gemacht werden: 100.000 zusätzliche Tote wegen Pneumonie und Bronchopneumonie, jeweils 2000 wegen Herzkrankheiten, Enteritis und aus »unbekannter Ursache«; dazu 10.000 aufgrund von Tu- berkulose und 10.000 wegen »Marasmus«. Insgesamt, wenn man weitere Tausende von Todesfällen, verteilt unter allen anderen Kategorien, dazu- rechnet, war die Grippe für mindestens 500.000 Tote verantwortlich. Wäh- rend des Krieges zeigte sich somit eine Pause und zum Teil eine Umkeh- rung im allgemeinen Rückgang der Sterblichkeit.19 Die vor dem Krieg im internationalen Vergleich ausgeprägten regionalen Unterschiede der Sterblichkeit, die v. a. auf den Armutsfaktor und ver- schiedene Gesundheitsinfrastrukturen zurückzuführen waren, blieben im Krieg teils bestehen, teils kehrten sie sich um, etwa dadurch, dass die Mas- sierung der Truppen im Norden die dortige Ausbreitung des Typhus be- günstigte. Den Epidemien in der Armee folgte die Verunreinigung der Ge- wässer, die wiederum die Zivilbevölkerung als Ansteckungsfaktor betraf. Insofern handelte es sich bei regionalen Unterschieden und differentieller 15 Vgl. Mortara (1925), S. 197. 16 Vgl. Mortara (1925), S. 197f. 17 Vgl. Mortara (1925), S. 204. 18 Vgl. Mortara (1925), S. 210. 19 Vgl. Mortara (1925), S. 227f. Franz Steiner Verlag
Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten 75 Entwicklung einzelner Krankheiten sicherlich um ein komplexes Ursachen- bündel, das Erbsitten, Lebensstile, Klima und Landschaftscharaktere mit einschloss. Die regionalen Unterschiede bei den Sterblichkeitsraten werden von Mortara anhand der Tendenzen zwischen 1891 und 1912 verdeutlicht. Die Sterblichkeit bei den wichtigsten epidemischen Krankheiten zeigt frappante regionale Unterschiede: Im Jahr 1891 gab es in den Marken ein Minimum von 1188 Fällen je 1.000.000 Einwohner und in der Basilicata ein Maxi- mum von 7376 Fällen; 1912 findet man ein Minimum von 510 in Piemont und ein Maximum von 2296 auf Sardinien. Die Minima von 1912 nähern sich den Verhältnissen fortgeschrittener Länder an. Wenige Staaten zeigen Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr so tiefe regionale Unterschiede wie Italien. So ist das Wiederauftreten der Diphtherie nur im Norden mit der Stationierung der Armee erklärbar. Eine andere, verbreitete Ursache war die verschlechterte medizinische Versor- gung (Diagnose- und Serummangel), wie man ex post sieht: Als 1919 die medizinischen Strukturen wiederhergestellt wurden, ging die Sterblichkeit trotz Geburtenzunahme zurück. Dies war erneut ein Fall von strukturell kriegsbedingten Faktoren. Die Erkrankten zählen: das Problem der meldepflichtigen Krankhei- ten Die Erfassung der meldepflichtigen Krankheiten war in Italien schon in der Friedenszeit nicht flächendeckend, und im Krieg waren die Daten, aus Mangel an Ärzten, noch spärlicher.20 Eines unter mehreren Beispielen ist der Typhus beim Militär: In Venetien, wo die Armee massiert war, stieg die Typhus-Morbidität 1913 bis 1916 auf das Dreifache. Die erhöhte Zahl der Exponierten in der Armee ist ein erklärender Faktor, die Lebensbedingun- gen dieser Exponierten beinhalten dazu Risikofaktoren: Anstrengung, man- gelnde Hygiene und Prophylaxe, schlecht gekochte Speisen. Gegenmaß- nahmen waren die Antityphusimpfung, die Isolierung der Kranken sowie die Einführung einer bakteriologischen Diagnose und einer bakteriologi- schen Genesungsbescheinigung. Da die Lazarette wegen der hohen Zahl an erkrankten Soldaten und Gefangenen im ganzen Land verteilt waren, ver- breitete sich der Typhus, meistens über die Aufsicht führendes Militär und über anderes Hilfspersonal, auf die Zivilbevölkerung.21 Diese war in Wahr- heit viel stärker vom Typhus betroffen, als jemals gemeldet wurde, dafür spricht die überdurchschnittlich hohe Letalitätsrate, gemessen an den ge- meldeten Fällen.22 Auch im Falle der Pocken ging die Letalitätsrate in sol- 20 Vgl. Mortara (1925), S. 367-371. Die meldepflichtigen Krankheiten in Italien waren Masern, Scharlach, Diphtherie, Windpocken, Keuchhusten, Typhus, Kindbettfieber, Ruhr, Brucellose, Pocken, Malaria, Lepra, Ankylostomiasis und Leishmaniose; vgl. Sommario di statistiche storiche italiane (1958), S. 73. 21 Vgl. Mortara (1925), S. 369. 22 Vgl. Mortara (1925), S. 372. Zum Typhus sind exemplarisch zwei Ratgeber zu erwäh- Franz Steiner Verlag
76 Alessandra Parodi che Höhen, dass man annehmen kann, dass bei der Zivilbevölkerung die reale Tragweite von Epidemien viel höher war, als in gemeldeten Fällen zum Ausdruck kommt; möglicherweise wurde im mezzogiorno nur ein Vier- tel der Fälle gemeldet.23 Hingegen fällt bezüglich der Cholera die massive Betroffenheit österreichischer Gefangener und überhaupt von Soldaten auf. Auch hier wäre nach den Gründen der, statistisch betrachtet, recht geringen Betroffenheit der Zivilbevölkerung zu fragen. Die Kausalitäten bei der Ar- mee hingegen sind plausibel: Gleichgültigkeit gegenüber den Soldaten, die als »Material« äußerst geringgeschätzt wurden, Fehler und Unterlassungen bei der Anmeldung, die schwierige Identifikation der Herde (wegen der übertriebenen Geheimhaltung), die ständigen Bewegungen der Truppen und die doch zu langsame Entscheidung, infizierte Soldaten zu entfernen. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr Dazu kommt die katastrophale hygienische Situation in den Schützengrä- ben.24 Die Zivilbevölkerung lebte dagegen in der Regel nicht in solch hy- gienischer Not (die Fälle wurden effektiv isoliert), was die geringere Morbi- dität erklärt, obwohl Zweifel am Zahlenmaterial bleiben. Die »großen« Krankheiten: Malaria Wie erwähnt, nahm die Malaria als Teil der pathologischen Archäologie Italiens mit dem Krieg wieder deutlich zu. Die Erklärungsfaktoren waren allgemein die Verschlechterung von Ernährung und Versorgung im Krieg sowie militärischer Natur. Sowohl die Truppen in Norditalien wie die in Al- banien und Makedonien hielten sich in malariabelasteten Zonen auf. Von der Armee aus verbreitete sich die Malaria auf mehreren Wegen auf die Zivilbevölkerung: Die Soldaten im Beurlaubungsstand brachten die Krank- heit in Regionen, wo sie zuvor nicht mehr aufgetaucht war. Außerdem wur- den die Trockenlegungsprojekte kurz nach Kriegsanfang eingestellt, Ärzte fehlten, das Chinin wurde vorrangig den kämpfenden Soldaten verabreicht. Ein weiterer Faktor war die Frauen- und Altenarbeit auf den Feldern, die noch nicht immunisierte Organismen der Infektion aussetzte.25 Ein Gesetz der liberalen Regierung von 28. Februar 1907 hatte die Malaria als Arbeits- unfall (infortunio) definiert und den Gemeinden die kostenlose Verteilung von Chinin auferlegt, mit Partizipation der Grundbesitzer, die kein Interesse nen: Ministero dell’Interno (1914) und Luzzatto (1915). Im ersten Text wird vor ver- dächtigen Personen gewarnt, insbesondere in Hospizen schlafenden Obdachlosen (S. 9); Luzzatto riet von kriegsbedingten Kontakten mit Personen ab, die aufgrund langer Gewöhnung an Entbehrungen gegen Schmutz unempfindlich seien (S. 15). 23 Mortara (1925), S. 534. 24 Vgl. Atenstaedt (2011) für die Terminologie der Schützengraben-Krankheiten: Die Termini Trench Fever, Trench Nephritis und Trench Foot wurden in den italienischen Da- tenerhebungen nicht benutzt, obwohl die Übersetzungen gängig waren (febbre da trin- cea oder febbre quintana, nefrite da trincea oder nefrite di guerra, piede da trincea). Erstere gingen unter den Namen tifo und nefrite in die Statistiken ein. 25 Vgl. Mortara (1925), S. 251f. Franz Steiner Verlag
Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten 77 hatten, an das eigentlich Nützliche heranzugehen, d. h. an systematische Trockenlegungen. Die campagne di chininizzazione zwischen 1900 und 1915 wurden für den Rückgang der Sterblichkeit verantwortlich gemacht.26 Snowden geht von Millionen Malariakranken während des Krieges aus. Die einschlägigen Forscher waren mit anderen Aufgaben betraut, die lokalen Ärzte zu überlastet, um genau Buch zu führen. Norditalien erlebte die Zu- nahme der Malaria aus direkten Kriegsgründen: Die Ebenen von Isonzo und Piave sowie die Pomündung waren Schauplätze von Schlachten, und dort fand die Massierung der Armee der »Bauernsoldaten« statt. Deren Un- terstände wurden feucht und boten der Anopheles einen idealen Nährbo- den. Die Soldaten kamen zum großen Teil aus nichtmalarischen Regionen und besaßen keine Immunität. Chinin wurde nicht immer genommen, z. T. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr aber ausdrücklich in hohen Dosierungen, um zu erkranken und Heimat- urlaub zu bekommen. Die Zivilbevölkerung erkrankte außerdem wegen mangelnder Unterhaltung der Kanäle und Zerstörung der Häuser in Front- nähe. Durch Fluchtbewegungen von Infizierten und Urlaubsgewährung war auch Süditalien betroffen. Soldaten und Kriegsgefangene, die sich im Nor- den infiziert hatten, nahmen das Plasmodium mit, d. h. die Ansteckung geschah hier ohne Zutun der Anopheles. Die Immunkraft ließ infolge schlechter Ernährung und sinkender Lebensstandards nach.27 Die Syphilis: nicht von Mars, sondern von der Venus verletzt Der Militärarzt und Dermatologe Ferdinando De Napoli bedauerte 1917: Ich weiß nicht genau, was in den ersten Monaten der Kampagne in Italien passiert ist, als keine echte Organisation existierte. Ich weiß nur, dass viele syphilitische Soldaten aus den Abteilungen der Armee abgeschoben wurden und dass in einigen Städten die Enttäuschung und die Verärgerung von Einzelnen und Vereinen groß waren, als aus den Militärzügen nicht die von Mars, sondern nur die von Venus Verwundeten aus- stiegen!28 Die Syphilis war eine »große« Krankheit nicht wegen der Zahlen, sondern wegen ihrer eminenten symbolischen Aufladung als Verderberin der Gene- 26 Zur Akzeptanz einer scheinbar natürlichen Krankheit in der Bevölkerung vgl. Corti (1984), S. 655. 27 Snowden (2008), S. 168. Die Lage scheint aber nicht alle beunruhigt zu haben: Gegen Ende des Kriegs erschien im Innenministerium in Rom das Buch des Bakteriologen Gosio (1918), in dem keine Zeile über den Krieg zu finden ist. Der einzige Hinweis war eine Anspielung auf die relative Einfachheit der Therapierung mit Chinin in Insti- tutionen wie der Armee im Vergleich zur »undisziplinierten« Allgemeinbevölkerung (S. 32f.). 28 De Napoli (1917), S. 6 (»Io non so con precisione quello che sia accaduto presso di noi nei primi mesi della campagna, quando non esisteva una vera organizzazione. So solamente che molti erano i venerei che venivano sgombrati e che in qualche città fu- rono grandi la delusione e il risentimento allorché le persone e le associazioni che si recarono alla stazione incontro a un treno sanitario ne videro scendere, ahimè, non i feriti da Marte, ma solamente i feriti da Venere!«). Franz Steiner Verlag
78 Alessandra Parodi rationen. Ihre Verbreitung sank während des Kriegs im Süden Italiens und auf den Inseln, schwankte im Zentrum und nahm im Norden zu. Da die Krankheit chronisch verläuft und sich lange hinziehen kann, ist es schwer, aus der Zahl der Todesfälle eine adäquate Vorstellung der Morbidität im Krieg zu gewinnen. Da die Syphilis behandelbar war, wurde sie nach dem Krieg eingedämmt.29 Salvarsan stand seit 1910 zur Verfügung. Als 1917 die Malariatherapie nach Jauregg eingeführt wurde, war auch die syphilisindu- zierte Paralyse zum Teil heilbar und die Syphilis endgültig weniger eine Todesgefahr als ein Risiko für die Tüchtigkeit der künftigen Generationen.30 Die Entwicklung der Syphilis wurde vom Krieg auf zwei Weisen beein- flusst: Einerseits kann man schätzen, dass die Ansteckung stieg, aber in den Statistiken ist keine Erhöhung festzustellen, weil die entsprechenden Alters- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr klassen der jüngeren Männer eine erhöhte Sterblichkeit wegen des Kriegs zeigten. Die Befürchtung eines enormen Anstiegs der Erkrankungen an den Fronten wurde nicht bestätigt, obwohl allgemein die Morbidität im Krieg wuchs. Der Krieg modifizierte also nicht die Gewohnheiten, sondern ließ die Soldaten aus den zivilen Statistiken verschwinden. Tatsächlich gingen die Ansteckungszahlen zurück, da seit 1915 die Prostituierten überwacht und zu einer Therapie gezwungen werden konnten.31 Die Militärgesetze regelten ferner die ambulante Behandlung der Soldaten und die Fortsetzung des Dienstes, um sie von freiwilliger Ansteckung als Selbstverstümmelung abzuhalten. Auch die infizierten Soldaten wurden registriert, was eine ge- wisse Abschreckung bedeutete, und dazu wurden streng kontrollierte Mili- tärbordelle errichtet, in denen Desinfektionsmaßnahmen vorgesehen wa- ren.32 Wenn die Zunahme der Malaria eine typisch kriegsbedingte Erschei- nung auf der Ebene der Umwelt darstellte, war die Syphilis symmetrisch dazu die Krankheit, die am meisten von den im Krieg veränderten indivi- duellen Relationen und Gewohnheiten gesteuert war. Die Prostitution nahm in den Kriegsgebieten (z. T. neben den lizenzierten Bordellen) trotz aller Maßnahmen zu, und an der »inneren Front« wurden die festen sexuellen Beziehungen durch die Abwesenheit vieler Männer gelockert.33 29 Mortara (1925), S. 296f. 30 Cosmacini (1989), S. 43. 31 Gattei (1984), S. 789. 32 Gattei (1984), S. 790f. Das verhinderte jedoch nicht, dass in der Nähe der legalen Bordelle auch illegale errichtet wurden, wohin die für krank erklärten Frauen zum Teil übersiedelten. 33 Tognotti (2006), S. 208-214. In der Armee zirkulierten schon seit Kriegsanfang Bro- schüren und Plakate zwecks Aufklärung der Truppen über die Syphilis. Das Zehn- Gebote-Plakat der Gruppe für Medizinische Propaganda im Krieg, das in Mailand ab dem Juli 1915 kursierte, verband Gesundheitsrisiko, Schamgefühl und Vaterlands- schicksal im und nach dem Krieg auf engste Weise: »Soldat, schütze Dich vor den Ge- schlechtskrankheiten! Artikel 1. Bedenke, dass, wenn Du eine Geschlechtskrankheit bekommst, Du sie auf Verwandte, Freunde, vor allem Deine Frau und Kinder über- tragen kannst. Du wirst ihnen gravierende Leiden aufbürden und wirst ihre Liebe, Franz Steiner Verlag
Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten 79 Wie in den Fällen der spagnola, der Spanischen Grippe, und der Tuberkulo- se – der Eindruck ist, dass der Krieg und seine gesundheitlichen Nöte die Verantwortlichen stets »überraschte«. Dies brachte Ferdinando De Napoli, auf ironische Weise gegen die deutschen ehemaligen Kollegen und jetzigen Gegner gerichtet, zum Ausdruck: Der Krieg hat uns unvorbereitet beim Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten über- rascht […] Es scheint aber, dass die Überraschung nicht gefehlt hat in dem Lande, das seit langer Zeit den Krieg ausbrütete […] Gewiss rechneten die mitteleuropäischen Träumer mit einem kurzen Krieg, und vielleicht deswegen bereiteten sie keine prophy- laktischen Maßnahmen vor. Es ist aber nicht zu leugnen, dass auch sie, die mit uns an wissenschaftlichen Tagungen teilnahmen, gegenüber der herumposaunten venerischen Ge- fahr sehr skeptisch waren.34 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr Man darf annehmen, dass dieser Satz auch die italienischen Kollegen ge- troffen haben dürfte. Militärische Aspekte und politische Wahrnehmungen der Grippe- epidemie von 1918/19 Wie ausgeführt, war die wichtigste Todesursache in der Kategorie der Infek- tionskrankheiten während der Kriegszeit die Grippe. Es wird hier nicht ar- gumentiert, dass der Krieg oder die militärischen Aktionen direkt für die Pandemie verantwortlich waren. Diese kostete weltweit mindestens 50 Mil- lionen Tote, ungefähr drei Prozent der Weltbevölkerung, während ca. 500 Millionen Menschen, d. h. ein Drittel, weltweit erkrankt waren.35 Es wird vielmehr auf die besonderen lokalen Umstände hingewiesen, die nun sehr wohl mit dem Krieg im Lande zu tun hatten. Ebenso muss festgehalten werden, dass die Grippemortalität in Italien nach Russland am höchsten in Schätzung und Achtung verlieren. Du wirst Dich vor Deiner Familie schämen müs- sen. Was würdest Du sagen, wenn Dein Schwager oder Dein Schwiegersohn Deine Schwester oder Deine Tochter infizieren würden? […] Artikel 8. Solltest Du erkranken, meide den Geschlechtsverkehr mit jeder Frau. Wasch Dir immer die Hände, nachdem sie in Kontakt mit den kranken Körperteilen gekommen sind, küsse weder Verwandte noch Freunde, behalte Deine persönlichen Gegenstände ausschließlich für Dich. Sonst läufst Du Gefahr, Dein Leiden auf andere zu übertragen, was unehrlich und sehr schädlich für die Gesellschaft und das Vaterland wäre. […] Artikel 10. Sei vorsichtig. Liebe eine einzige Frau, heirate sie und zeuge Kinder. Meide die verrufenen Frauen, sie können Dich und Deine Familie ruinieren. So wirst Du ein ehrlicher Ehemann, ein guter Vater, ein vorzüglicher Bürger und Soldat fürs Vaterland sein.« Zit. n. Franzina (1999), S. 169. 34 De Napoli (1917), S. 5f. (»La guerra ci ha sorpresi impreparati contro le malattie vene- ree […] Pare però che l’impreparazione non sia mancata anche nel Paese che da lunga pezza meditava la guerra […] Certo per i sognatori della Mittel-Europa era sicura una guerra breve come la rapida avanzata nel territorio di conquista e perciò, forse, nulla predisposero per la profilassi antivenerea. È innegabile però che anche in essi, che con noi parteciparono a congressi scientifici, era grande lo scetticismo contro lo strombaz- zato pericolo venereo«). Hervorhebungen im Original. 35 Taubenberger/Morens (2006), S. 15. Franz Steiner Verlag
80 Alessandra Parodi Europa war und sehr wohl mit hygienischen Mängeln der Vorkriegszeit und der Zerstörung von Infrastrukturen durch den Krieg zusammenhing.36 Der Verlauf der bald so genannten »Spanischen Grippe« von 1918 in der Armee wird in zwei Phasen unterteilt: eine mildere im Frühling und Früh- sommer, rasch, aber ohne bemerkbare Komplikationen und Todesfälle (beim Militär wurden im Mai 14.750 Fälle gemeldet, im Juni 9755 und im Juli nur 45), und eine virulente von Juli bis Oktober. Bei der zweiten Phase kennt man die Daten über die Sterblichkeit in der Zivilbevölkerung, aber nicht die Morbidität; für das Militär ist die Morbidität nur partiell bekannt. Geschätzt wird, dass in der ganzen italienischen Bevölkerung, Zivil und Militär, fünf bis sechs Millionen Personen erkrankten; man weiß, dass die Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr Zahl der Toten mindestens 500.000, wohl eher 600.000 betrug. Jeder siebte Einwohner soll erkrankt gewesen sein. Hiervon waren Frauen besonders be- troffen, wohl wegen deren pflegender Rolle.37 Im Folgenden soll es nicht mehr um Aspekte der Epidemiologie gehen, sondern um politische Kontexte sowie kollektive Wahrnehmungsvorgänge. Alberto Lutrario, der Leiter der »Direzione generale di Sanità«, legte am 17. Oktober 1918 dem »Consiglio Superiore di Sanità« einen Bericht vor. Hier sprach er schon die Schwierigkeiten an, die dann für die Dauer der Pande- mie ungelöst bleiben sollten: der Mangel an Ärzten, Sanitätspersonal und an Medikamenten.38 Als 1922 Lutrario einen Schlussbericht für das Innen- ministerium verfasste, war die Bilanz entmutigend, und es stellte sich her- aus, dass Italien tatsächlich eines der am meisten betroffenen Länder gewe- sen war. Lutrario gab zu, dass die Maßnahmen zum Schutz der Bevölke- rung besser gewirkt hätten, wenn das Transportsystem effizienter gewesen wäre. Von den vier in Lutrarios Bericht aufgelisteten Typen der Seuchenbe- kämpfung waren nämlich mindestens drei stark mit dem defizitären Trans- portsystem verbunden, und dieses wiederum war politisch bedingt und hing mit dem Krieg zusammen: die allgemeinen Hygienevorkehrungen mit Hilfe von Desinfektionsmitteln und Desinfektoren, die eigentliche medizini- sche Fürsorge (Militärärzte mussten einberufen werden) und die Lebensmit- telverteilung; die vierte Maßnahme in der Liste war die »Selbstisolierung« der Kranken, die ebenfalls nicht verwirklicht worden war.39 Auch die im »Laboratorio batteriologico della Sanità Pubblica« produzierte Impfung, die in Mailand einige Erfolge erzielt hatte, wurde, so Lutrario, zu spät entwi- ckelt, und ihre Wirksamkeit konnte vom natürlichen Abklingen der Pan- demie nicht auseinandergehalten werden.40 36 Tognotti (2002), S. 148, 155. 37 Mortara (1925), S. 380; Tognotti (2002), S. 30, 156. 38 Lutrario (1918), S. 14, 18. 39 Ministero dell’Interno (1922), S. 21. 40 Ministero dell’Interno (1922), S. 25. Franz Steiner Verlag
Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten 81 Die Anfänge der Pandemie wurden durch das allgemeine Schweigen ver- kannt.41 Dazu kam die Unterschätzung der Influenza als minderwertige Krankheit, wie der Hygieniker Enrico Bertarelli mit einem politischen Gleichnis sagte: »Gemessen an den anderen Infektionskrankheiten ist die Influenza das, was eine Massendemonstration gemessen an einer Revolu- tion ist.«42 Die »Provvedimenti in materia di stampa« vom 23. Mai 1918, Nr. 675, regelten die Zensur und verboten jede demoralisierende oder defä- tistische Nachricht, so dass am Anfang die Presse fast nur beruhigende Bei- träge über die Grippe brachte und nur in den lokalen Teilen flüchtig darü- ber berichtete. Vor allem die Angst vor einer »malattia esotica« wurde be- schwichtigt, alles sei nur eine pandemische Form der altbekannten Haemophilus-Influenza. Seit Mitte Oktober war die Zensur nicht mehr aus- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr reichend und die Nachrichten über die landesweite Verbreitung tauchten überall in der Presse auf, zusammen mit den Verordnungen der Präfekte und Kommunen sowie den vielen guten Ratgebern. Die Listen der Toten wurden, wenn überhaupt, kleingedruckt, und der Stil der Verlautbarungen blieb optimistisch: Die Lage sei stabil, die Lage sei stabilisiert, es sei eine gutartige Form. Es war aber nicht zu verbergen, dass die Listen der Bürger- ämter bei der Rubrik der Toten viel länger als bei den Geburten ausfielen.43 Die Reaktion des Staates, nachdem schließlich Ende August 1918 mit der Meldung von Fällen in einem bei Parma stationierten Bataillon die Krank- heit offiziell in Italien anerkannt worden war, vermengte sich mit der Reak- tion der Presse. In Todesanzeigen sah man wiederholt Formulierungen wie »eine fatale, plötzliche Erkrankung«. Es fehlte nicht an Verschwörungshy- pothesen: In einem anonymen Artikel mit dem Titel »Confusionismo« im Corriere di Romagna vom 15. Oktober 1918 wurde »eine verbrecherische türkisch-deutsche Aktion zur Verbreitung von Bakterien« am Wirken ver- mutet.44 Was man nicht wusste – oder seit der Zeit der »russischen« Grippe um 1849 vergessen hatte –, war, dass die wiederaufgegriffenen »tellurischen« Anti-Cholera-Maßnahmen nichts bringen konnten gegen eine von Mensch zu Mensch per Luft übertragene Krankheit. Die verordnete allgemeine Sau- berkeit, die Schließung öffentlicher Veranstaltungen, bis hin zu Beerdigun- gen, und andere Maßnahmen einer inneren Frontbildung konnten die Krankheit nicht eindämmen.45 Dazu kam, dass viele Mediziner an der Front waren und die Versorgung der Kranken durch Rotkreuz-Personal 41 Vgl. Tognotti (2002), S. 19f. 42 Vgl. Tognotti (2002), S. 20 (»L’Influenza è alle malattie infettive ciò che una dimo- strazione popolare è rispetto a una rivoluzione«); vgl. auch Bertarelli (1918). 43 Vgl. Tognotti (2002), S. 116-120. 44 Zit. n. Tognotti (2002), S. 42 (»per un fatale improvviso morbo«) und S. 50 (»una associazione a delinquere bacterica turcogermanica«). 45 Vgl. Tognotti (2002), S. 67. Franz Steiner Verlag
82 Alessandra Parodi und ältere Ärzte geschah. Viele Kranke auf dem Land hatten gar keinen Zugang zu Ärzten, auch wegen fehlender Transportmöglichkeiten; dazu kam noch die herabgesetzte Widerstandskraft der Erkrankten wegen der Lebensmittelrationierung. Fast jede Stadt hatte eine andere Strategie der Desinfektion.46 Private Haushalte konnten indessen wegen des kommunalen Verbrauchs Desinfektionsmittel kaum noch bekommen, dafür wurden po- pulärwissenschaftliche Ratgeber und Belehrungen in den bürgerlichen Zei- tungen publiziert, die aber die Ärmeren nicht erreichten und die Epidemie noch verharmlosten, da sie ganz und gar auf individuelle Prophylaxe ab- hoben. Absurd war deren Empfehlung, nur »bakteriologisch reine« Gegen- stände anzufassen, möglichst auch keinen Telefonapparat, und die empfoh- lene diätetische Lebensweise war in einer Zeit, in der Heizmittel, Milch und Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr Zucker fehlten, ebenso absurd.47 Innermedizinische Meinungsverschieden- heiten über geeignete kollektive und therapeutische Strategien waren in die- ser Zeit der Angst ausgeprägt. So galt Wein teils als erwünscht, teils als Ge- fahr, Aspirin schien wirksam oder auch nicht; viele setzten auf Chinin, das als Geheimmittel in Anzeigen angeboten wurde, während sich die Fachwelt dazu ausschwieg.48 Man kann behaupten, dass die Kausalzuschreibungen der Bevölkerung »anachronistisch«49 ausfielen, die der professionellen Me- diatoren waren kaum geeigneter. Bei all dem war zwar der Krieg nicht di- rekte Ursache der Ausbreitung des Virus, aber das Ausmaß des Chaos, die Versorgungsdefizite, die mangelnde Logistik, die Erschöpfung vieler im Laufe der vorangegangenen Jahre, der empfundene Hunger, die fehlenden Medikamente und sich ausbreitende Apathie müssen für die hohe Sterb- lichkeit mitverantwortlich gemacht werden.50 Der Krieg hat uns überrascht: Tuberkulose vor dem Krieg und im Krieg In der Zeit zwischen 1915 und 1923 kam es wegen der kriegsbezogenen Faktoren zu einer Übersterblichkeit an Tuberkulose von bis zu 100.000 Fäl- len im Verhältnis zum normalen Trend.51 Dies war aber wohl keine beson- ders überraschende Zahl; ein Militärarzt führte sie auf die »geringe Anste- ckungsgefahr in der frischen Luft der Schützengräben« zurück.52 Tatsäch- 46 Vgl. Tognotti (2002), S. 64f., 71-76. 47 Vgl. Tognotti (2002), S. 80-86. 48 Vgl. Tognotti (2002), S. 88, 107. 49 Vgl. Cosmacini (1989), S. 12. 50 Vgl. Cosmacini (1989), S. 126f. 51 Mortara (1925), S. 278. 52 Rassegna di assicurazione e previdenza sociale 2 (1917), S. 371: »la vita della trincea è piut- tosto profilattica rispetto al contagio, come ogni vita all’aria libera«; zit. n. Cosmacini (1989), S. 37. Franz Steiner Verlag
Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten 83 lich waren die Soldaten bei ihrer Ernährung gegenüber der Zivilbevölke- rung bessergestellt. Der Hygieneprofessor Achille Sclavo (1861-1930) muss- te 1918 zugeben, dass der Krieg »uns überrascht« habe »zu einem Zeit- punkt, als wenig gegen Tuberkulose gemacht worden war«. Italien wollte schon lange dem Modell Deutschland folgen, und man diskutierte hier jahrzehntelang über eine Sozialversicherung, hatte sich aber zu viel vorge- nommen, und immer noch waren nicht genügend spezielle Krankenhäuser gebaut worden, während neuerdings die Soldaten auf eine entsprechende Behandlung ein Anrecht hatten.53 Dennoch nahm die Tuberkulosesterb- lichkeit in der Zeit zwischen 1887 und 1913 aufgrund verbesserter Lebens- bedingungen und Hygiene deutlich ab, allerdings nach 1900 wegen der Bevölkerungsverdichtung in Städten und wegen der Rückkehr von ge- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 02:48 Uhr schwächten Auswanderern nur verlangsamt. Nach der demographischen und hygienischen Krise des Krieges, die genau die drei von Lutrario genannten strukturellen Faktoren (Hygiene und Verfügbarkeit von Des- infektionsmitteln, medizinische Versorgung, Lebensmittelverteilung) auf die Probe stellte, wurde der Modernisierungsweg wieder eingeschlagen und die Sterblichkeitsraten sanken erneut.54 Die Antituberkulosebewegung kämpfte im liberalen Italien für staatliche Maßnahmen und darum, das Gesundheitswesen als Staatsangelegenheit zu definieren. Noch 1913 waren diese Bestrebungen ignoriert worden. Die Re- gierung Giolitti stellte dann einen Fonds zur Verfügung. Die »Fioa«, »Federazione Italiana opere antitubercolari« (gegründet 1910), versuchte mit ihren mangelhaften Mitteln alle lokalen Aktionen der unzähligen karitativen Organisationen zu koordinieren. Doch erst der Krieg brachte sozusagen die offizielle Anerkennung der Tuberkulose als staatlich relevante Krankheit. 1916 wurden in allen Armeekorps die »Reparti di Accertamento Diagnos- tico« eröffnet, und ein decreto luogotenenziale 1231 vom 26. Juli 1917 sah vor, dass die »Cassa Depositi e Prestiti«55 Darlehen an Institutionen für die Be- handlung und Hospitalisierung von Tuberkulösen vergeben sollte, insbe- sondere für die im Kriegsdienst erkrankten. Das Gesetz 481 vom 15. März 1917 schuf die »Onpaig«, »Opera Nazionale Protezione e Assistenza In- validi di Guerra«, von der die als erkrankt erkannten Soldaten übernom- men werden mussten. Seit dem 6. Dezember 1917 sollte ein neues Ministe- rium für die Kriegsrenten die Kriegstuberkulösen versorgen.56 Hier galt es zu beweisen, dass die Erkrankung dienstbezogen war, was gegen militäri- 53 Sclavo (1918), S. 18. 54 Vgl. Mortara (1925), S. 193, 208; vgl. auch S. 204f. zu Problemen der Klassifikationen verschiedener Tuberkuloseformen. 55 Die »Cassa Depositi e Prestiti« wurde 1863 als eine Abteilung des Finanzministeriums gegründet und verwaltete die Postsparkasse, um öffentliche lokale Maßnahmen zu fi- nanzieren. Vgl. Assael (1995), S. 185. 56 Vgl. auch Lutrario (1917). Franz Steiner Verlag
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