Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin

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Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin
Internationale Messiaen-Tage
Görlitz-Zgorzelec
                29.04. — 02.05.2021
                     Festivalmagazin
Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin
WIR
                                                                                                                                                                                                     INHALT

                                                                                         Editorial			                                 4    Gefangenschaft und Repression

                                                           für die Region.
                                                                                                                                               Das Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A    44
                                                                                                                                               Einer historische Einführung
                                                                                    „Angst und Hoffnung“
                                                                                                                                               Führungen, Vorträge, Lesung:               50
                                                                                         Krisen schärfen den Blick fürs Wesentliche    6       Leid in Krieg und Unterdrückung
                                                                                         Ein Interview mit Gesine Schwan
                                                                                                                                               Konzert: 			                               52
                                                                                         Grenzfall Corona		                           10       Trotzdem!
                                                                                         Reflexionen aus der Doppelstadt
                                                                                                                                               Konzert: 			                               58
                                                                                                                                               Prośba o piosenkę — Bitte um ein Lied

                                                                                    Gedenken an Olivier Messiaen                           Gedenkarbeit im deutsch-
                                                                                                                                           polnischen Dialog
                                                                                         Schlüssel zur Erinnerung                     14
                                                                                         Der Meetingpoint Music Messiaen                       Die Erinnerung bleibt		                    68
                                                                                         und die Messiaen-Tage                                 Das Europäische Zentrum Erinnerung,
                                                                                                                                               Bildung, Kultur
                                                                                         Dunkle Wolken in der Krypta                  18
                                                                                         Erinnerungen an eine denkwürde                        Workshop: 			                              73
                                                                                         Quartett-Aufführung                                   Musikerleben — Ängste bewältigen,
                                                                                                                                               Hoffnungen schöpfen
                                                                                         Musik in Bildern			                          20
                                                                                         Eine ARTE-Produktion in der Gedenkstätte              Konzert: 		                                74
                                                                                                                                               Już się zmierzcha — Es ist schon Abend
                                                                                         Konzert: 			                                 24
                                                                                         Quatuor pour la fin du temps

                                                                                         Konzert: 			                                 30
»Egoversum – Ein Zukunftsplädoyer« | Foto: Artjom Belan                                  Im Zeichen des Regenbogens

                                                                                         Konzert: 			                                 34       Impressum			                               82
                                                                                         Angst und Hoffnung — Alpha es et O

                                                       Unser Spielplan und               Seminar: 			                                 38       Das aktuelle Festivalprogramm finden Sie unter:

                                                viele weitere Informationen unter
                                                                                         Musik und Religion                                    www.messiaen-tage.eu/programm-2021

                                                          www.g-h-t.de                                                                                                                           MESSIAEN
                                                                                                                                                                                                     TAGE
                                                                                                                                                                                                            3
Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin
EDITORIAL

                                                     Editorial                                Hoffnungen können uns antreiben
                                                                                              und aufatmen lassen oder uns blind in
                                                                                                                                          derum möglich zu machen. Mitte Ja-
                                                                                                                                          nuar 2021, das ist etliche Wochen vor-
                                                                                                                                                                                   schen Angst und Hoffnung vielleicht
                                                                                                                                                                                   verschoben. Aber auch, wenn die
                                                                                                                                                                                                                              unsicherungen und gesellschaftlichen
                                                                                                                                                                                                                              Ungewissheiten bestimmen zu las-
                                                     Angst und Hoffnung sind große Wor-       die Arme der Gefahren laufen lassen.        her abzusehen, wird es wegen der         ­ä ußeren Bedingungen dann völlig          sen.
                                                     te. Zu groß für unser Alltags-Dasein,        In diesem Spannungsfeld bewe-           Corona-Pandemie keine Konzerte in         a nders sind als im Kriegswinter
                                                                                                                                                                                    ­
                                                     könnte man meinen. Und doch sind es      gen sich auch Menschen und Institu-         geschlossenen Räumen geben kön-           1940/41, sollen die Konzerte, Vorträge,   Trotz der Verschiebung des Festivals
                                                     genau die Pole, zwischen denen unser     tionen, die in diesen Monaten Veran-        nen, zumindest nicht in beiden Teilen     Führungen und Workshops der               soll der 80. Jahrestag der Urauffüh-
                                                     tägliches Leben oszilliert. Wir suchen   staltungen planen. Die Erinnerung           der Europastadt Görlitz-Zgorzelec.        ­Messiaen-Tage an das Schicksal der       rung klangvoll zelebriert werden: In
                                                     Sicherheit, um Ängsten keinen Raum       an die Uraufführung von Messiaens           Vor allem die Aufführung des Quatuor       Kriegsgefangenen im Stalag VIII A        beiden Teilen der Europastadt sind
                                                     zu lassen, und genauso bauen wir mit     Quatuor pour la fin du temps im Görlitzer   pour la fin du temps im Gedenkzentrum      ­sowie aller Menschen erinnern, die      Präsentationen einer musikalischen
                                                     nahezu jeder Entscheidung auf die        Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A         auf der polnischen Seite scheint mit        unter Krieg und totalitärer Unterdrü-   Dokumentation geplant, die für ARTE
                                                     Hoffnung, dass alles gut werden möge.    am 15. Januar 1941 ist zum einen stets      dem Kenntnisstand von Ende Novem-           ckung litten und leiden.                im August 2020 im Europäischen Zent-
                                                         Es kann kein Ja oder Nein, kein      die Erinnerung an ein Hoffnungszei-         ber ausgeschlossen.                                                                 rum Erinnerung, Bildung, Kultur in
                                                     Richtig oder Falsch, nicht die Angst     chen mitten im Krieg. Aber auch die             Eine Schwester der Angst ist die      Das Festival bietet ihnen Räume, in       Zgorzelec produziert wurde. In die-
                                                     und die Hoffnung geben, wenn wir da-     Gedenkkonzerte, die seit 2008 immer         Resignation. Sie sitzt mit am Tisch,      denen ihre Kompositionen, die unter       sem Film wird die Aufzeichnung von
                                                     rüber nachdenken, was uns antreibt       am 15. Januar am historischen Ort der       wenn lang gehegte und mit Leiden-         diesem Eindruck der eigenen, existen-     Messiaens Quartett auf das Ende der
                                                     oder lähmt — weder für uns einzelne      Uraufführung stattfanden, sandten           schaft verfolgte Pläne vor dem Schei-     ziellen Überlebensängste mit enormer      Zeit in prominenter Besetzung mit
                                                     Menschen noch allgemeingültig für        stets eigene Hoffnungsbotschaften           tern stehen. Die Resignation hätte ge-    Schaffensenergie entstanden, und ihre     ­Pierre-Laurent Aimard (Piano), Isa-
                                                     unsere Gemeinschaft. Aber wir kön-       aus. Wer hätte vor 13 Jahren daran ge-      wonnen, wenn wir die Internationalen      Selbstzeugnisse aufeinandertreffen.        belle Faust (Violine), Jean-Guihen
                                                     nen unsere Ängste und Hoffnungen         glaubt, dass bei Schnee und Eis ein         Messiaen-Tage 2021 ersatzlos gestri-      So will das Programm der ­Messiaen-        Queyras (Violoncello) und Jörg Wid-
                                                     überprüfen — in uns hineinhorchen,       Zelt im Wald errichtet werden könnte,       chen hätten. Doch die Hoffnung über-     ­Tage die Vielgestaltigkeit der musi­       mann (Klarinette) von Interviews
FOTO: © EMILIAN TSUBAKI, ACCENTUS MUSIC

                                                     welche dieser Ängste uns vor Gefah-      in dem Musikerinnen und Musiker             wiegt. Mit großer Zuversicht planen       kalischen Ausdrücke und der Leidens-       und historischen Kontexten um-
                                                     ren schützen können und welche           der Sächsischen Staatskapelle Dresden       wir, das gesamte Januar-Programm          realitäten aufzeigen.                      rahmt.
                                                     Hoffnungen in uns die Energie für das    vor 350 Besuchenden das Quartett            um dreieinhalb Monate zu verschie-             Die Beschäftigung mit der damali-
                                                     gemeinsame, konstruktive Vorange-        spielen würden? Es war eigentlich un-       ben. Ein zeitlicher Bezugspunkt ist       gen Lebenswirklichkeit jener Persön-
                                                     hen entfachen oder erhalten können,      möglich. Aber es geschah genau so.          der Todestag Olivier Messiaens, der       lichkeiten kann uns helfen, unsere
                                                     um damit Lebenskraft und Schaffens­                                                  27. April. Zwei Tage später, am Don-      heutigen Ängste, Hoffnungen, Befürch­     Samuel Wagner, Projektleiter, Leiter
                                                     energie zu entwickeln. Denn Hoff-        In diesen Wochen und Monaten ist al-        nerstag, dem 29. April, soll nun das      tungen und Nöte in einen größeren         des Kuratoriums Internationale
                                                     nung und Angst sind keineswegs klar      les anders. Es ist weniger das Gefühl       Festival starten.                         Rahmen einzuordnen und dadurch            Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec
                                                     trennbare Antagonismen. Beide Kate-      der Angst als vielmehr eine von Rea-            Dann, im Frühjahr und mehr als        mit ihnen ausgeglichener und gelasse-
                                                     gorien sind ambivalent. Ängste kön-      lismus getragene Sorge, die mit der         ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie,      ner umgehen zu können: unser Leben        Frank Seibel, Vorstandsvorsitzender
                                                     nen uns schützen, aber auch lähmen.      Hoffnung ringt, das Unmögliche wie-         hat sich der Zeiger auf der Achse zwi-    nicht gänzlich von individuellen Ver-     Meetingpoint Music Messiaen e.V.

         4                                                                                                                                                                                                                                                                      5
                                          MESSIAEN                                                                                                                                                                                                                   MESSIAEN
                                          TAGE                                                                                                                                                                                                                           TAGE
Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin
„ANGST UND HOFFNUNG“

                                                                    Krisen schärfen                                              Wenn wir an den Beginn der Pandemie schauen, an
                                                                                                                                 den ersten Lockdown im Frühjahr 2020: Viele Men-
                                                                    den Blick fürs                                               schen, die nicht zu sehr vom Eingesperrtsein zwi-

                                                                    Wesentliche                                                  schen Home-Office und Familienstress belastet waren,
                                                                                                                                 schienen das ja erst einmal als eine interessante Er-
                                                                                                                                 fahrung und Herausforderung betrachtet zu haben.
                                                                    Brückepreisträgerin Gesine Schwan über ein Jahr
                                                                    zwischen Angst und Hoffnung und die Chance, dass
                                                                                                                                    Ja, und sogar als befreiend. Das betraf auch mich.
                                                                    Menschen ihr Verhalten ändern können
                                                                                                                                    Normalerweise bin ich sehr viel unterwegs zu Vorträ-
                                                                    Interview geführt von Frank Seibel                              gen oder Sitzungen. Die konnte ich alle absagen, und
                                                                                                                                    das war mir auch ganz lieb. Auf einmal hatte ich Ruhe
                                                                    Frau Prof. Schwan, welche Empfindungen prägen                   und Gelassenheit und konnte mich an Texte setzen,
                                                                    Ihren Blick auf das Corona-Jahr 2020?                           für die mir bis dahin jene Ruhe und Muße gefehlt
                                                                                                                                    hatte.
                                                                       Mir persönlich ist es gut ergangen. Ich habe das
                                                                       Glück, am Rand von Berlin im Grünen zu leben. Auch        Zeit als Gradmesser für Freiheit?
                                                                       das trägt gewiss dazu bei, dass ich meine Lebensfreu-
                                                                       de auch in dieser Zeit nicht verloren habe.                  In gewissem Sinne. Wenn man mir ein wirklich schö-
                                                                                                                                    nes Geschenk machen will, dann sage ich gerne: Zeit.
                                                                    Die persönliche Lebenswelt ist das Eine. Aber wir               Wenn ich einer Verpflichtung unverhofft nicht nach-
                                                                    sind besonders in krisenhaften Zeiten einer Fülle von           kommen muss, empfinde ich das als ein Stück ge-
                                                                    Informationen und Bildern ausgesetzt, die permanent             schenkte Freiheit.
                                                                    von außen an uns herandrängen. Lässt Sie das unbe-
                                                                    eindruckt?                                                   Inwieweit lässt sich diese persönliche Erfahrung auf
                                                                                                                                 die Gesellschaft übertragen? War das Aussetzen unse-
                                                                       Als Kind war ich sogar sehr empfänglich dafür. Jede       rer durchweg auf Effizienz und Effektivität ausgerich-
                                                                       traurige Nachricht hat mich zutiefst bewegt, oft regel-   teten Normalität eine Chance, ein Geschenk viel-
                                                                       recht gelähmt. Aber zur emotionalen Seite meines          leicht?
                                                                       Wesens kommt die Fähigkeit, doch sehr rational und
                                                                       analytisch auf die Dinge zu schauen. Ich habe lange          Es ist zumindest eine Chance, uns bewusst zu ma-
                                                                       trainiert, um innerlich auf Distanz gehen zu können.         chen, dass all das, was unser Leben und Zusammenle-
FOTO: © HANS-CHRISTIAN PLAMBECK

                                                                                                                                    ben ausmacht, nicht selbstverständlich ist. Diese
                                                                    Gab es Nachrichten oder Erlebnisse, die Ihnen wäh-              Krise kann uns bewusst machen, wie sehr wir Men-
                                                                    rend dieser Pandemie besonders nahe gegangen sind?              schen doch auch in einer hoch individualisierten und
                                                                                                                                    auf Effizienz getrimmten Welt soziale Wesen sind.
                                                                       Ja, die gab es. Der Mann meiner Stieftochter hatte
                                                                       Krebs, und die Heilungschancen waren sehr schlecht.       Brauchen wir Krisen, um uns neu zu fokussieren?
                                                                       Und dann hat er sich im Frühjahr auch noch mit dem
                                                                       Corona-Virus infiziert. Es schien aussichtslos. Aber         Ich möchte nun nicht gleich Angelus Silesius bemü-
                                                                       er hat es geschafft.                                         hen — „Mensch, werde wesentlich!“ —, aber diese

       6                                                                                                                                                                                              7
                                  MESSIAEN                                                                                                                                                 MESSIAEN
                                  TAGE                                                                                                                                                         TAGE
Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin
„ANGST UND HOFFNUNG“                                                                                                                                                                                            KRISEN SCHÄRFEN DEN BLICK FÜRS WESENTLICHE

                  ­ andemie ist doch Anlass zu fra-
                  P
                                                          „Wenn man                            Die Messiaen-Tage 2021 stehen un-            genologen gegangen, der meinen Mann behandelt
                                                                                                                                                                                                                                              DONNERSTAG
                  gen, worum es eigentlich geht im
                  Leben.                                  mir ein wirk-
                                                                                               ter dem Leitgedanken „Angst und
                                                                                               Hoffnung“, weil eine gedankliche
                                                                                                                                            hatte. Der sagte zu mir, er lehne solche Festle­gungen
                                                                                                                                            ab. ‚Es gibt immer die Krankheit und den Wirt.‘ Des-                                           29.04.
           Zumindest viele gesellschaftlich              lich schö­nes                         und emotionale Brücke gebaut wer-
                                                                                               den soll zwischen den existenziel-
                                                                                                                                            wegen sei die Situation immer auch offen. Ich bin
                                                                                                                                            damals mit einem solch beschwingten ­Ge­fühl nach                                              18 00
           und politisch interessierte und
           engagierte Menschen haben in der
                                                           Geschenk                            len Erfahrungen des Pandemie-Jah-
                                                                                               res 2020 und der Situation der
                                                                                                                                            Hause gegangen, weil die Tür ein bisschen offen war,
                                                                                                                                            weil es einen Funken Hoffnung gab.
                                                                                                                                                                                                                                            Kulturforum

           Krise zu Beginn eine Chance gese-             machen will,                          Kriegsgefangenen in Görlitz 80
                                                                                                                                                                                                                                            Görlitzer
                                                                                                                                                                                                                                            Synagoge
           hen, nun endlich gewisse Fehlent-
           wicklungen unserer auf Konsum                 dann sage ich                         Jahre zuvor. Ist es legitim, solche
                                                                                               Parallelen zu suchen, um uns heute
                                                                                                                                        Die aktuellen Versuche, die Pandemie zu bewältigen,
                                                                                                                                        orientieren sich nahezu ausschließlich an messbaren
                                                                                                                                                                                                                                           ——

           sich gründenden Lebensweise
           nachhaltig korrigieren zu können.
                                                          gerne: Zeit.“                        die damalige Zeit näher zu bringen?      Zahlen. Weiche Faktoren wie soziale Nähe und die
                                                                                                                                        seelische Wirkung von Hoffnungsschimmern wie dem
                                                                                                                                                                                                                                           Rede:
                                                                                                                                                                                                                                           Philosophische
           Auch mit Blick auf den Klimawan-                                                         Es ist legitim, solange man nicht   eben beschriebenen gelten als ‚nicht belastbar‘, um                                                Gedanken von
           del. Aber mit den ersten Lockerungen brach sich sehr                gleichsetzt. Die Verbindung zwischen diesen zu-          darauf politisches Handeln zu gründen.                                                             Prof. Dr. Gesine
           schnell die Sehnsucht nach der Rückkehr zur alten                   nächst einmal sehr unterschiedlichen Situationen ist
                                                                                                                                                                                                             Prof. Dr.                     Schwan zu
                                                                                                                                                                                                                                           Angst und
                                                                                                                                                                                                              Gesine
           Normalität Bahn.                                                    gewiss die Frage nach den Quellen der Hoffnung und           Ich habe mich damals intensiv mit medizinischen
                                                                               des Lebensmutes. Für Olivier Messiaen und die drei           Fragen befasst. Dabei bin ich auf eine amerikanische                                           Hoffnung
                  Dass gerade junge Menschen danach drängen, die
                  Einschränkungen möglichst schnell wieder abzu-
                                                                               anderen Musiker war sicherlich der schöpferische
                                                                               Prozess des Komponierens und Musizierens eine
                                                                                                                                            Studie gestoßen, bei der den Bewohnenden eines
                                                                                                                                            Altenheims ein lustiger Nachmittag bereitet wurde.               Schwan                        →
                                                                                                                                                                                                                                           anschließend:
                                                                                                                                                                                                                                           Empfang
                  schütteln, ist verständlich. Aber sie sollten sich doch      große Hilfe, in dieser schweren Zeit zu bestehen.            Kurz darauf hat man eine deutlich gesteigerte Anzahl
                  bewusst machen, wie gut es uns im Weltmaßstab                                                                             von Botenstoffen gemessen, die für das Immunsys-         Gesine Schwan, Jahrgang
                  geht, selbst wenn wir nochmal für einige Wochen           Angst gehört seit Urzeiten zum menschlichen Wesen.              tem entscheidend sind.                                   1943, ist Politikwissenschaft-
                  oder Monate mit spürbaren Einschränkungen leben           Aber Angst als instinktiven Impuls kennen auch Tiere.                                                                    lerin und war von 1999 bis
                  müssen.                                                   Ist es dann die Hoffnung, die den Menschen zum              Welche Bedeutung spielt der Glaube an Gott in Ihrem          2008 Präsidentin der Euro-
                                                                            Menschen macht?                                             Leben?                                                       pa-Universität Viadrina in
               Es ist vor allem die Politik, die alle Anti-Corona-Maß-                                                                                                                               Frankfurt/Oder. In Berlin lei-
               nahmen nur ergreift, um möglichst bald wieder an                 Das Bedürfnis nach Hoffnung ist sicherlich eine             Der Glaube ist für mich der zentrale Anker. Er gibt      tet sie als Präsidentin die von
               das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben anzu-           a­ n­thropologische Konstante. Der Mensch richtet            mir Orientierung für mein Tun. Aber ganz undogma-        ihr gegründete HUM-
               knüpfen, wie es vor Corona war. Ist beim Menschen                seine Energie auf eine gute Zukunft. Wobei Zukunft          tisch. Als es im Frühjahr mit dem Mann meiner Stief-     BOLDT-VIADRINA Gover-
               die Sehnsucht nach dem Bekannten stets größer als                erst einmal nicht determiniert ist, sondern offen.          tochter so schlimm und scheinbar aussichtslos war,       nance Platform gGmbH.
               der Wunsch nach Veränderungen — selbst wenn wir                                                                              habe ich immer gesagt: Wir wissen nicht, was Gott
               sie durchaus als sinnvoll und notwendig erkennen?            Erinnern Sie sich an prägende Situationen der Hoff-             noch für Möglichkeiten hat, die wir nicht erahnen.       2004 kandidierte sie für das
                                                                            nungslosigkeit in Ihrem Leben?                                  Nicht jedes Gebet hilft unmittelbar. Aber Gebete kön-    Amt der Bundespräsidentin.
                  Krisen können Veränderungen allenfalls anstoßen                                                                           nen helfen, davon bin ich überzeugt.                     Für ihr Engagement für eine
                  und vielleicht verstärken. Menschen sind durchaus            Sehr, sehr einschneidend war die tödliche Krebs­                                                                      Verbesserung der deutsch-
                  lernfähig. Aber sicher nicht so, dass sie ihre Verhal-       erkrankung meines ersten Mannes. Das war im Jahr                                                                      polnischen Beziehungen
                  tensweisen schnell und grundlegend verändern. Das            1989. Ein Arzt sagte damals zu mir: ‚Sie sind viel zu                                                                 wurde sie 2011 mit dem Inter-
                  ist eher ein langer Prozess. Die biblische Bekehrung         intelligent, um sich Illusionen zu machen. Es besteht                                                                 nationalen Brückepreis der
                  des Saulus zum Paulus ist doch eher selten.                  keine Chance mehr.‘ Da war ich erst einmal völlig                                                                     Europastadt Görlitz-Zgorze-
                                                                               gelähmt. Aber ich bin abends noch zu dem Rönt­                                                                        lec ausgezeichnet.

8                                                                                                                                                                                                                                                                        9
    MESSIAEN                                                                                                                            INTERVIEW: FRANK SEIBEL                                                                                               MESSIAEN
    TAGE                                                                                                                                                                                                                                                          TAGE
Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin
„ANGST UND HOFFNUNG“                                                                                                                                                                                                      GRENZFALL CORONA

                                                                                                                                                          Franz-Peter
                                                                                                                                                          van Boxelaer
                                                                        Grenzfall                                deln kann in diesen wandlungsrei-

                                                                        Corona
                                                                                                                 chen Zeiten nur auf Basis des aktuel-    Bevor ich vor acht Jahren nach Görlitz kam, habe ich
                                                                                                                 len Wissensstands nach bestem            sieben Jahre lang als Einsiedler in einer Hütte im Wald in
                                                                                                                 Gewissen immer wieder überdacht ge-      Südfrankreich gelebt. Das Alleinsein ist mir nicht fremd
                                                                        Vom Hoffen und Bangen in Zeiten          schehen. Angewiesen auf das Vertrau-     und keinesfalls unbehaglich. Aber die erzwungene Isola-
                                                                        des Abstands                             en in das kollektiv gewissenhafte Han-   tion im Frühjahr 2020 war eine sehr gegensätzliche Er-
                                                                                                                 deln, erfährt unsere Gesellschaft        fahrung. Das Leben als Eremit war eine freiwillige soziale
                                                                        Wenn man plötzlich die grundle-          einmal mehr die Notwendigkeit des        Askese, die ich als Bereicherung erlebt habe. Ich wusste,
                                                                        gendsten Freiheiten verliert — mit der   sozialen Zusammenhalts als Funda-        dass ich diesen Zustand jederzeit beenden konnte. Weni-
                                                                        Familie zusammenzuleben, mit             ment ihres Bestandhaltens — wenn         ge Kilometer von mir entfernt lief das öffentliche Leben
                                                                        Freunden und Freundinnen Zeit zu         auch mit physischem Abstand.             ja ganz normal weiter. In Görlitz hingegen bin ich sozial
                                                                        verbringen und gleichzeitig in Schule,                                            und kulturell sehr eingebunden und engagiert. Den soge-
                                                                        Studium oder Beruf für sowohl die ei-    Welches Wanken des grenzübergrei-        nannten Lockdown habe ich als drastischen Einbruch des
                                                                        gene als auch die kollektive Zukunft     fenden Gefühls einer zusammengehö-       sozialen Lebens empfunden. Und mich überkam ein Ge-
                                                                        zu sorgen —, dann verändert sich         rigen europäischen Gesellschaft und      fühl, das mir in den sieben Jahren als Eremit nie begegnet   eine Tiefe und Nachdenklichkeit, die ich bei manchen so
                                                                        nicht nur der gesamte Alltag. Das Le-    welche tiefen Einschnitte in den Le-     ist: Einsamkeit.                                             noch nicht kannte. Ich habe mich über Fragen gewundert,
                                                                        ben scheint zusammenzustürzen, das       bensalltag eine geschlossene Grenze           Bedrohlich machte die neue Situation ein ganz bana-     die auf einmal hochkamen und zuvor in unseren Begeg-
                                                                        gesamte Lebensgefühl und Weltbild        mitten in einer Stadt bewirken kann,     ler Umstand: Ich bin älter geworden.                                             nungen nie eine Rolle gespielt hatten.
                                                                        gerät ins Wanken und es wird unge-       ist zur Lebenserfahrung für Men-         Ich spüre gesundheitliche Einschrän-     „Das radikale Infrage-                  Das radikale Infragestellen unserer
FOTO: © EMILIAN TSUBAKI, ACCENTUS MUSIC

                                                                        wiss, ob man überhaupt hoffen kann,      schen aus Görlitz und Zgorzelec ge-      kungen, die mir damals noch weitge-                                              Normalität ist ein riesiger Warn-
                                                                        ob und wann man diese Freiheiten         worden. Diese und andere Erfahrun-       hend fremd waren. Durch die Corona-           stellen unserer                    schuss vor den Bug. Und ich betrach-
                                                                        wieder genießen kann, an deren           gen im Corona-Lockdown brachten          Krise erlebe ich verstärkt das Gefühl,       Normalität ist ein                  te dies als eine Art Vorbereitung auf
                                                                        scheinbare Gewissheit man sich bis-      entmutigende Unsicherheiten und          auf mich selbst zurückgeworfen zu          riesiger Warnschuss                   die existenziellen Herausforderungen
                                                                        her gewöhnt und auf deren Sicherheit
                                                                        man vertraut hat.
                                                                                                                 nahezu lähmende Ängste mit sich —
                                                                                                                 doch wurde auch bemerkenswerter
                                                                                                                                                          sein. Das sogenannte Social Distan-
                                                                                                                                                          cing erzeugt ein gewisses Gefühl von           vor den Bug.“                     des Klimawandels. Wir werden alles
                                                                                                                                                                                                                                           infrage stellen müssen, was wir für
                                                                           Aber damit nicht genug: Auch die      Tatendrang aus den Umständen gebo-       Hilflosigkeit. Diese Situation hat aller-                                        selbstverständlich gehalten haben.
                                                                        Anpassungen an die neue Wirklich-        ren. Die Geschichten dreier Persön-      dings auch im positiven Sinn existenzielle Fragen zuge-      Nur ein Beispiel: Alle reden von umweltverträglicheren
                                                                        keit selbst sind höchst ungewiss —       lichkeiten aus der Doppelstadt sollen    spitzt. Ich habe — trotz der Einschränkungen — viele         Autos. Aber kaum jemand denkt über eine Zukunft mit
                                                                        unklar bleibt, ob und wann man sie       erzählt werden.                          Gespräche mit Menschen führen können, die für sich           viel weniger Autos und somit eine andere Kultur der
                                                                        wie erneut anpassen muss. Das Han-                                                und die Gesellschaft eine Chance erkannt haben. Da war       Mobilität nach.

         10                                                                                                                                                                                                                                                                                11
                                          MESSIAEN                                                                                                                                                                                         FOTO: PRIVAT                         MESSIAEN
                                          TAGE                                                                                                                                                                                                                                      TAGE
Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin
„ANGST UND HOFFNUNG“                                                                                                                                                                                                                      GRENZFALL CORONA

                Agnieszka Korman                                          haben bei ihren Klassenfreunden oder -freundinnen
                                                                          übernachtet, zwei Jungs waren bei meinen Nachbarn in
                                                                                                                                                                                                     oder als eine Art „Notabitur“ würden schreiben müssen.
                                                                                                                                                                                                     Aber ich wusste, dass unsere Schule uns nicht im Stich
                Lehrerin am Augustum-Anne-Gymnasium Görlitz               deren Ferienwohnung untergebracht, ein Mädchen hat                                                                         lassen würde. In der Hochphase des ersten„Corona-Lock-
                                                                          bei mir gewohnt. Sie und die beiden Jungs habe ich mit                                                                     downs“ war die Schule zunächst jedoch sowieso geschlos-
            Als sich die Grenzschließung zwischen Deutschland und         Mahlzeiten bei mir versorgt. Es herrschte eine sehr lusti-                                                                 sen. Natürlich durfte ich auch meine Freunde in Görlitz
            Polen im Frühling 2020 abzeichnete, war ich in erster         ge und fröhliche Atmosphäre — für mich vor allem, als                                                                      nicht mehr besuchen — wir haben auf Online-Treffen
            Linie erschrocken darüber, wie schnell es gehen kann,         ich bei den Mathematik-Gesprächen beim Frühstück oder                                                                      umgestellt. Die Abivorbereitungen mussten wir auch
            dass die Grenzen wieder geschlossen werden. Es reicht         Mittagessen zuhören durfte. Es dauerte alles eine Woche,                                                                   zuhause vor dem Computer bewerkstelligen.
            eine (unüberlegte) Entscheidung, die uns um mehrere           danach wurde endlich die Grenze wieder geöffnet. Alle                                                                           Die Prüfungstermine rückten immer näher, während
            Jahre zurückversetzt. Ich passierte unter unterschiedli-      Schüler und Schülerinnen sind zum ersten Termin in das                                                                     die Grenze jedoch immer noch geschlossen blieb. Ich
            chen, manchmal sehr schwierigen und unwürdigen Um-            Abitur gegangen. Natürlich haben wir das Beste aus den                                                                     fühlte mich inzwischen eher als Beobachter in der ganzen
            ständen die Grenze noch vor der Wende, dann auch nach         Umständen gemacht, dennoch lebe ich nun mit der Hoff-                                                                      Situation, weil ich als Schüler kaum Handlungsoptionen
            1991. Ich war 2004 in Görlitz als Polen der EU beigetreten    nung, dass die Entscheidungsträger Schlussfolgerungen                                                                      hatte, mich um die Teilnahme an den Prüfungen zu küm-
            ist, ich war dabei, als die Grenze komplett geöffnet wurde.   gezogen haben und sich solch eine Situation nie mehr                                                                       mern. Die Person, die schließlich am meisten für uns
            Das war ein langer, schwieriger Prozess und plötzlich         wiederholt.                                                                                                                Abiturienten und Abiturientinnen aus Polen gemacht hat,
            stellt sich heraus, dass die Idee der Europäischen Union                                                                                                                                 war Frau Agnieszka Korman, die sich für unsere Unter-
            beim ersten großen Problem nicht mehr aufrechterhalten                                                                                                                                   kunft in Görlitz während der Prüfungen einsetzte. Von
            werden kann.                                                                                                                                                                             Anfang an schien für mich das Wohnen bei Bekannten in
                 Als Lehrerin machte ich mir große Sor-                                                                                                                                              Görlitz die beste Lösung zu sein, alles hing jedoch von der
            gen um meine Schüler und Schülerinnen,
            die auf der polnischen Seite der Stadt leben.
                                                                     „Ich bin ein                                                                                                                    Einstellung meiner potenziellen Gastgebenden ab. Das
                                                                                                                                                                                                     war ein komischer Zustand zwischen Sorge und Hoff-
            Als klar wurde, dass das Abitur planmäßig        Tatenmensch und                                                                                                                         nung. Ich bin sehr dankbar, dass ich letztendlich während
            ablaufen sollte, kam große Sorge darum auf,        fühle mich nie                                                                                                                        der ersten Abiprüfungen bei Bekannten in Görlitz woh-
            was insbesondere mit den polnischen Abi-
            turienten und Abitu­rientinnen in der Zeit
                                                                ohn­mächtig                                                                                                                          nen durfte.
                                                                                                                                                                                                         Als sich abzeichnete, dass die Grenze bald wieder
                                                                 gegenüber
            der Prüfungen passieren sollte. Denn ob-
            wohl sie die Grenze überschreiten durften       Herausforderungen.“                                                          Jan Mizerski                                                geöffnet werden könnte, empfand ich zunächst starkes
                                                                                                                                                                                                     Misstrauen, der Termin könne verschoben werden. Umso
            um zur Schule zu gelangen, hätte sie und                                                                                     Ehemaliger Schüler des Abiturjahrgangs 2020 am              größer waren Freude und Erleichterung, als ich nach
            ihre ganzen Familien bei der Rückkehr die                                                                                    Augustum-Anne-Gymnasium Görlitz                             Grenzöffnung wieder zu meiner Familie zurückkommen
            Quarantänepflicht getroffen.                                                                                                                                                             konnte.
                 Ich bin ein Tatenmensch und fühle mich nie ohn-                                                                         Die Zeit der Grenzschließung war für mich mit einigen           Wenn ich jetzt an die Zeit der geschlossenen Grenze
            mächtig gegenüber den Herausforderungen, die vor mir                                                                         Sorgen um meine Familie und auch um meinen eigenen          zurückdenke, empfinde ich dennoch so etwas wie Nostal-
            stehen. Nur hin und wieder war ich wütend, wenn ich in                                                                       Werdegang verbunden. Meine Familie und ich leben in         gie, weil das letztendlich eine gute Zeit war. Wir Abi­
            meinem Bemühen für die Abiturienten und Abiturientin-                                                                        Polen, mein Vater arbeitet jedoch als Arzt in Deutschland   turienten und Abiturientinnen wohnten alle in der Nähe
            nen auf eine Wand gestoßen bin. Letztendlich haben wir                                                                       und ich ging dort zur Schule — eine Schließung der Gren-    voneinander, trafen uns täglich und lernten gemeinsam
            gemeinsam mit vielen öffentlichen und privaten Unter-                                                                        zen stellte uns also vor ein zunächst „unüberwindbar“       für die Abiprüfungen. Mein Vater konnte sich eine so
            stützenden Lösungen gefunden. Um also die Quarantä-                                                                          wirkendes Problem.                                          gemütliche Wohnatmosphäre in dieser Zeit nicht schaf-
            nepflicht in ihrer polnischen Heimat zu umgehen, plan-                                                                           In den Tagen, als eine kommende Grenzschließung         fen — er musste sich für einige Wochen im Krankenhaus,
            ten wir, die Abiturienten und Abiturientinnen für einige                                                                     schon in Aussicht stand, bekam ich ein wenig Angst,         in dem er arbeitet, einrichten.
            Zeit auf deutscher Seite unterzubringen. Zwei Schüler                                                                        dass wir das Abitur vielleicht zu einem späteren Termin

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     MESSIAEN                                                                                 FOTO: © LANDESAMT FÜR SCHULE UND BILDUNG   FOTO: PRIVAT                                                                                                          MESSIAEN
     TAGE                                                                                                                                                                                                                                                          TAGE
Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin
GEDENKEN AN OLIVIER MESSIAEN

                                                                                                                 Schlüssel zur                                                 einem anderen Land, Polen — jenem Land, das Nazi-

                                                                                                                 Erinnerung
                                                                                                                                                                               Deutschland am 1. September 1939 überfallen hatte. Der
                                                                                                                                                                               Krieg hatte letztlich dazu geführt, dass dieses Land in
                                                                                                                                                                               Gänze um 250 Kilometer nach Westen verschoben wor-
                                                                                                                 Olivier Messiaen war Kriegsgefangener in Görlitz. Seine       den war. Die N­ eiße wurde zum Grenzfluss, der die Stadt
                                                                                                                 Musik ist zentrales Element einer Gedenkarbeit für alle       ab 1946 völkerrechtlich in einen deutschen und einen
                                                                                                                 Sinne                                                         polnischen Teil gliederte.
                                                                                                                 Von Frank Seibel                                                  Es waren sehr wenige Menschen wie die Autorin
                                                                                                                                                                               Hannelore Lauerwald und der Zgorzelecer Lehrer Roman
                                                                                                                 Der Krieg, sagt man, hat Görlitz verschont. Wie sonst         Zgłobicki, die seit den 1970er Jahren ersucht hatten, die
                                                                                                                 könnte eine alte Stadt heute so schön dastehen? Als Bil-      Erinnerung an das Stalag VIII A wachzuhalten. Auf deut-
                                                                                                                 derbuch der Architekturgeschichte, vom Mittelalter bis        scher Seite war es der Furor der stalinistischen Säuberun-
                                                                                                                 in die 1920er Jahre. Verfall war ein Thema für die Jahr-      gen unmittelbar nach Ende des Krieges gewesen, der
                                                                                                                 zehnte nach dem Krieg. Doch heute strahlt die Altstadt        jedes persönliche Erinnern an die eigene Rolle im Natio-
                                                                                                                 prachtvoller als zur Blütezeit um 1500, ganze Stadtquar-      nalsozialismus und im Krieg zu einer lebensbedrohlichen
                                                                                                                 tiere aus Gründerzeit und Jugendstil lassen den Reich-        Gefahr machte. Es war einfach lebensrettend, nirgendwo
                                                                                                                 tum und das bürgerliche Selbstbewusstsein des frühen          irgendwie beteiligt gewesen zu sein.
                                                                                                                 20. Jahrhunderts erkennen. Und die einstige Synagoge              Eine Musik-Kassette war es, die den genialischen
                                                                                                                 glänzt heute, frisch restauriert, so hoffnungsfroh wie zur   Albrecht Goetze aus einer Münchner Jugendstilvilla sei-
                                                                                                                 Eröffnung vor 110 Jahren. Das Zwanzigste Jahrhundert, so      nerzeit nach Görlitz geführt hatte. Der einstige Regisseur
FOTO: EUROPÄISCHES ZENTRUM ERINNERUNG, BILDUNG, KULTUR © JAKUB PUREJ

                                                                                                                 scheint es, hat die entscheidenden Jahre zwischen 1933        am Hamburger Thalia Theater hatte die Kassette von sei-
                                                                                                                 und 1945 in Görlitz einfach ausgelassen.                      nem Neffen erhalten und erst viel später erstmals gehört.
                                                                                                                      Doch der Krieg kam in Görlitz früher an als irgendwo     Olivier Messiaen, stand darauf, und: Quatuor pour la fin du
                                                                                                                 sonst im Deutschen Reich. Und er hat die Stadt letztlich      temps (dt.: Quartett für/auf das Ende der Zeit). Die Musik
                                                                                                                 stark verändert — denn er ließ sie geteilt zurück. Schon      elektrisierte Goetze, der, sommers wie winters dünn be-
                                                                                                                 wenige Tage nach dem Beginn des Überfalls auf Polen           kleidet, barfuß in Flip Flops unterwegs war. Nie gehörte
                                                                                                                 wurde Görlitz zum Sammelpunkt für Kriegsgefangene.            Klänge von Klarinette, Geige, Cello, Klavier; 45 Minuten
                                                                                                                 Zunächst aus Polen, später aus Frankreich, Belgien,          Ausnahmezustand zwischen Himmel und Erde.
                                                                                                                 Italien, aus England und den Commonwealth-Staaten                 Diese Klänge hatten ihren Ursprung genau hier. Im
                                                                                                                 Neuseeland und Australien. Aus der Sowjetunion. Die           Niemandsland am östlichen Ufer der Neiße. In einer Ba-
                                                                                                                 Deutsche Wehrmacht errichtete am südöstlichen Rand            racke auf dem Lagergelände östlich der Neiße. Am ­15.
                                                                                                                 von Görlitz das erste Kriegsgefangenenlager des Zweiten       Januar 1941 ist das Quatuor pour la fin du temps erstmals
                                                                                                                 Weltkrieges — ließ errichten, von gefangenen polnischen       öffentlich aufgeführt worden. Vom Komponisten Olivier
                                                                                                                 Soldaten. Es sollte das größte Lager dieser Art werden.       Messiaen am Klavier, von Henri Akoka (Klarinette),
                                                                                                                     Als der Literaturwissenschaftler und Künstler Alb-       ­Etienne Pasquier (Cello) und Jean Le Boulaire (Geige).
                                                                                                                 recht Goetze im Jahr 2003 aus München nach Görlitz                Acht Sätze zwischen Traurigkeit und Hoffnung, Medi-
                                                                                                                 kam, stieß er auf eine große Gedächtnislücke. Stalag VIII     tation und Tanz. Diese Uraufführung am 15. Januar 1941
                                                                                                                 A: 30 Hektar, 120.000 Kriegsgefangene, 10.000 Tote —          im Görlitzer Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A war ein
                                                                                                                 nie gehört? Sicher, seit dem Ende des Zweiten Weltkrie-       elementares Ereignis in der Musikgeschichte des Zwan-
                                                                                                                 ges gehört dieses Areal nicht mehr Görlitz. Es liegt in       zigsten Jahrhunderts.

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                                                                       MESSIAEN                                                                                                                                                          MESSIAEN
                                                                       TAGE                                                                                                                                                                  TAGE
Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin
GEDENKEN AN OLIVIER MESSIAEN                                                                                                                                                                                                              SCHLÜSSEL ZUR ERINNERUNG

                                                                                                                                                                                                             Quartett auf das Ende der Zeit ist gleichsam ein Schlüssel
                                                                                                                                                                                                             zu einem Gedenken, das den einzelnen Menschen in den
                                                                                                                                                                                                             Mittelpunkt rückt und bewusst machen möchte, dass
                                                                                                                                                                                                             sich hinter der schieren Zahl von 120.000 Kriegsgefange-
                                                                                                                                                                                                             nen 120.000 konkrete Personen mit ihren Ängsten und
                                                                                                                                                                                                             Hoffnungen, mit individuellen Begabungen, Fantasie und
                                                                                                                                                                                                             Kreativität, mit Freude und Leid verbergen.
                                                                                                                                                                                                             Der sinnliche und individuelle Zugang zur Geschichte
                                                                                                                                                                                                             steht auch bei den anderen Projekten des Meetingpoint
                                                                                                                                                                                                             Music Messiaen e.V. im Mittelpunkt, die sich in besonderer
                                                                                                                                                                                                             Weise an junge Menschen richten, für die der Zweite
                                                                                                                                                                                                             Weltkrieg in sehr weiter Ferne liegt. Neben den Messiaen-
                                                                                                                                                                                                             Tagen bilden daher die internationale Jugendbegegnung
                                                                                                                                                                                                             Worcation und die Kooperation mit Schulen beiderseits
                                                                                                                                                                                                             der Neiße wesentliche Säulen der Gedenkarbeit. Seit dem
                                                                                                                                                                                                             Sommer 2007 kommen alljährlich junge Frauen und
                                                                                                                                                                                                             Männer aus ganz Europa nach Görlitz und Zgorzelec, um
                                                                                                                                                                                                             auf dem Stalag-Gelände archäologisch und künstlerisch
                                                                                                                                                                                                             zu arbeiten. Das sind für alle Beteiligten zwei Wochen
                                                                                                                                                                                                             voller Aha-Erlebnisse. Dabei ist der Blick zurück immer
                                                                                                                                                                                                             mit dem Blick nach vorne verbunden.
                                                                                                                                                                                                                 Die Idee eines geeinten Europa hat im Europäischen
                                                                                                                                                                                                             Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur und in der Arbeit des
             Mit der Erinnerung an das Kriegsgefangenenlager Stalag               Heute steht am historischen Ort ein modernes Gedenk-          ten. Seither erinnern Musikerinnen und Musiker aus           Meetingpoint Music Messiaen e.V. einen Kristallisations-
             VIII A ist also zugleich die Erinnerung an das kulturhis-            zentrum, getragen von der polnischen Stiftung Erinnerung,     aller Welt Jahr für Jahr mit ihrer Interpretation an jenes   punkt, der durch ständige Begegnungen vital bleibt und
             torisch vielleicht bedeutendste Ereignis in der Geschichte           Bildung, Kultur in Zgorzelec, auf deutscher Seite gestützt    Konzert vom 15. Januar 1941 in der Theaterbaracke des        ausstrahlt.
             der Stadt Görlitz für Jahrzehnte verschütt gegangen.                 vom „MMM“. Finanziert wurde es mit 3,3 Millionen Euro         Stalag VIII A. Siebenmal fand dieses Konzert im Zelt             Die Gründungsidee für dieses Projekt erfüllt sich in
                 Die Erinnerung an diese Uraufführung im Kriegsge-                aus dem INTERREG-Fonds der Europäischen Union                 statt, bevor am 15. Januar 2015 das Europäische Zentrum      besonderer Weise, wenn jeden Monat Sängerinnen und
             fangenenlager ist der Ausgangspunkt für ein einmaliges               — das seinerzeit größte Projekt im sächsisch-polnischen       Erinnerung, Bildung, Kultur „Meetingpoint Music Messiaen“    Sänger aus vielen Ländern Europas in der Gedenkstätte
             Gedenkprojekt in Mitteleuropa. Die Erinnerung an einen               Grenzraum.                                                    eröffnet wurde. Eine offizielle polnische Gedenkstätte,      zusammenkommen. Als EUROPA CHOR AKADEMIE
             Ort, der einst für die Feindschaft zwischen den Völkern                  Lange bevor die Bauarbeiten begannen, wurde der           initiiert und mitgestaltet von einem deutschen Verein.       unter Leitung von Prof. Joshard Daus studieren sie Werke
             stand, baut mit Hilfe der Musik eine Brücke zwischen                 eigentliche Grundstein für dieses Zentrum gelegt. Im          Der Initiator hat die Eröffnung, schwer krank, nur aus       ein, die sie dann in großen Konzerthäusern Europas auf-
             den Menschen; eine Brücke, die somit Vergangenheit,                  Januar 2008 wurde auf Schnee und Eis im Wald, der das         der Ferne noch erleben können; wenige Monate später          führen. Die Musiker und Musikerinnen kommen vor
             Gegenwart und Zukunft verbindet. Aus der Idee, das                   einstige Lager seit Jahrzehnten überwucherte, ein großes      starb Albrecht Goetze.                                       allem aus Ländern Mittelost- und Osteuropas, die unter
             historische Erinnern und die Musik miteinander zu ver-               Zelt errichtet, aufwändig, aber doch nur dürftig beheizt.          Das Projekt aber lebt, entwickelt und verändert sich.   dem Zweiten Weltkrieg besonders gelitten haben. Ange-
             knüpfen, entwickelte Albrecht Goetze das Konzept für                 Etwa 400 Menschen aus Polen, Deutschland und Tsche-           Seit 2017 steht das „Januarkonzert“ nicht mehr für sich      sichts des wieder aufkommenden Nationalismus in vie-
             eine multimediale Gedenk- und Begegnungsstätte auf                   chien erlebten in diesem Zelt am 15. Januar vier Musike-      allein, sondern ist der Fixpunkt in einer Reihe von Kon-     len Ländern Europas und der Welt wird ihnen bei jeder
             dem Gelände des früheren Kriegsgefangenenlagers: den                 rinnen und Musiker der Sächsischen Staatskapelle Dresden,     zerten, Vorträgen, Führungen — den Internationalen           Probe an diesem Ort sehr bewusst, wie wenig selbstver-
            „Meetingpoint Music Messiaen“. Ende 2006 gründete der                 die zum Jahrestag der Uraufführung erstmals am histori-      ­Messiaen-Tagen Görlitz-Zgorzelec. Die Musik steht dabei      ständlich dieser vielstimmige und harmonische Europa-
             Initiator den gleichnamigen Verein.                                  schen Ort Messiaens Quartett auf das Ende der Zeit spiel-     nie losgelöst vom historischen Hintergrund. Messiaens        Chor ist.

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     MESSIAEN                         FOTO: MARTIN KLETT, SARAH CHRISTIAN, SEBASTIAN MANZ UND                                                  FOTO: © PAUL GLASER                                           TEXT: FRANK SEIBEL                                        MESSIAEN
     TAGE                             JULIAN STECKEL ZU DEN MESSIAEN-TAGEN 2020 © JAKUB PUREJ                                                                                                                                                                              TAGE
Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 29.04 - 02.05.2021 Festivalmagazin
GEDENKEN AN OLIVIER MESSIAEN                                                                                                                                                                                                                 DUNKLE WOLKEN IN DER KRYPTA

                                                                                  Dunkle Wolken                                                    offenbar in keinem Archiv eine Spur hinterlassen hat und       verdanken, der als Dolmetscher im Lager eingesetzt war

                                                                                  in der Krypta
                                                                                                                                                   nur noch in der Erinnerung Einiger existiert, die damals       und zumindest das Talent Messiaens, wenn vielleicht
                                                                                                                                                   dabei waren und heute noch auf dieser Erde sind.               auch nicht seine Prominenz erkannt hatte. Dass Messi-
                                                                                                                                                       Einer, der zu den Initiatoren des Konzerts gehört          aen nach nur neun Monaten wieder in seine Heimat zu-
                                                                                  Wie sich Messiaens Erinnerungen im Januar 1991 mit               haben muss, ist Anfang 2020 gestorben: Ulf Großmann,           rückkehren würde, war seinerzeit jedoch nicht abzuse-
                                                                                  der Angst vor einem neuen Krieg mischten                         einst Musiklehrer am Görlitzer Augustum-Anne-Gymna-            hen.
                                                                                  Von Frank Seibel                                                 sium, später Kulturbürgermeister und danach ehrenamt-              Das größte Elend blieb Messiaen zwar verborgen.
                                                                                                                                                   licher Präsident der Kulturstiftung des Freistaats Sachsen.    Hunger, Krankheit, Tod wurden für den Alltag im Lager
                                                                                   Krieg lag in der Luft. Es sollte ein Abend werden, um an        Großmann hat selbst einmal von diesem 15. Januar 1991          prägend, als sowjetische Gefangene ab Mitte 1941 zuneh-
                                                                                   einen längst überstandenen Krieg zu erinnern. Doch alles        erzählt. Und von der Einladung der Stadt Görlitz an den        mend das Lager füllten und den größten Teil der Kriegs-
                                                                                   deutete darauf hin, dass der Konflikt in der Golf-Region        Komponisten. Natürlich hatte niemand wirklich damit            gefangenen ausmachten. Gefangene der westlichen
                                                                                   dramatisch eskalieren würde. Friedhard Förster erinnert         gerechnet, dass Olivier Messiaen, der damals bereits im        Kriegsparteien wurden von der Deutschen Wehrmacht
                                                                                   sich noch heute intensiv an jenen Tag. An die Demons­           83. Lebensjahr stand, zu dieser Aufführung nach Görlitz        zumindest regelkonform gemäß der Genfer Kriegsrechts-
                                                                                   tration, an der er damals in Niesky teilnahm, wo er seit        kommen würde.                                                  konvention behandelt. Davon profitierte der Franzose
                                                                                   einigen Monaten das Umweltamt leitete. Eine Demons­                 Und doch war Olivier Messiaen an diesem Abend in           Messiaen. Aber er muss mitbekommen haben, dass die
                                                                                   tration gegen einen Krieg, der einige tausend Kilometer         der Krypta präsent. Er hatte einen langen Brief von Paris      polnischen Gefangenen deutlich schlechter behandelt
                                                                                   entfernt loszubrechen drohte und den Menschen an der            aus nach Görlitz gesandt, der vor Beginn des Konzertes         wurden.
                                                                                   Neiße doch ganz nah ging, noch bevor die erste Bombe            verlesen wurde. Allein das wurde als                                                Die Schilderungen Messiaens in sei-
                                                                                   fiel. „Der Kalte Krieg war ja gerade erst vorüber“, erinnert
                                                                                   sich Förster.
                                                                                                                                                   ungewöhnliche Wertschätzung wahr-
                                                                                                                                                   genommen. Sein Alter und sein ge-
                                                                                                                                                                                                „Wir wussten alle                      nem Brief vermischten sich in der
                                                                                                                                                                                                                                       Peterskirche mit der immer konkreter
                                                                                        Unter diesen Vorzeichen fuhr der Ornithologe und           sundheitlicher Zustand ließen es            nicht, ob der Krieg                     werdenden Angst vor einem neuen
                                                                                   Musikliebhaber am selben Abend noch nach Görlitz. In            nicht mehr zu, eine solch lange Reise      schon während des                        Krieg, in den viele Länder der westli-
                                                                                   der Krypta der großen evangelischen Stadtkirche Sankt           zu unternehmen, schrieb Messiaen           Konzerts beginnen                        chen Welt hineingezogen werden soll-
                                                                                   Peter und Paul stand ein besonderes Konzert auf dem
                                                                                   Plan. 50 Jahre nach der Uraufführung im acht Kilometer
                                                                                                                                                   laut Überlieferung. Darin deckt sich
                                                                                                                                                   die Erinnerung des verstorbenen                  würde.“                            ten. 30 Jahre später erinnert sich
                                                                                                                                                                                                                                       Friedhard Förster genau an diese At-
                                                                                   südlich gelegenen Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A           Kulturpolitikers Großmann mit der                                                   mosphäre. „Wir wussten alle nicht, ob
                                                                                   wurde Olivier Messiaens Quartett auf das Ende der Zeit          des M
                                                                                                                                                       ­ essiaen-Kenners Friedhard Förster. Und noch              der Krieg schon während des Konzerts beginnen würde.“
                                                                                   gespielt. Zum ersten Mal in Görlitz seit einem halben           etwas ist in beider Erzählungen sehr präsent. Olivier          Es dauerte dann noch zwei Tage, bis die ersten Bomben
                                                                                   Jahrhundert? Gut möglich.                                      ­Messiaen habe sehr deutlich gemacht, dass er sich den          auf Bagdad fielen und der erste Krieg der Weltgeschichte
                                                                                        Voll war die Krypta der Peterskirche, erinnert sich       Weg von der S  ­ eine an die Neiße wohl auch bei guter Ge-      begann, der teilweise live im Fernsehen übertragen wur-
                                                                                   Friedhard Förster, der bereits in den frühen 1970er Jahren      sundheit nicht mehr zugemutet hätte. Die Erinnerungen          de. Aber in der Erinnerung der damaligen Konzertbesu-
                                                                                   in Dresden auf die Musik Olivier Messiaens gestoßen             an schreckliche Umstände der Gefangenschaft in Görlitz         cher mag sich dies zu einem Moment verdichtet haben.
                                                                                   und von ihr fasziniert war. Das Quartett aber hatte er          hätten ihn zu sehr aufgewühlt, um noch einmal an diesen        Zu den Geheimnissen jenes Abends gehört es, dass
                                                                                   noch nie live erlebt. Doch dass es diese Verbindung zu          Ort zurückkehren zu können.                                   ­Messiaens Brief bislang unauffindbar ist. Im Ratsarchiv
                                                                                   Görlitz und dem hiesigen Kriegsgefangenenlager gab,                 Diese Anmerkungen Messiaens zu seiner Gefangen-            der Stadt ist er nicht, auch nicht im Archiv des katholi-
                                                                                   wusste er spätestens seit dem Ende der 1980er Jahre             schaft machten deutlich, wie wenig sich Leiderfahrungen        schen Bistums Görlitz. Die vermutlich wichtigsten Prota-
                                                                                   aus dem Buch „Primum vivere“ der Görlitzer Autorin              objektiv bewerten und einordnen lassen. Denn zweifels-         gonisten und Protagonistinnen hinter diesem Konzert
                                                                                  ­Hannelore Lauerwald.                                            ohne wurde der Komponist selbst im Stalag VIII A ver-          am 15. Januar 1991 kann man nicht mehr fragen.
                                                                                       „Es war eine sehr spezielle, eine seltsam angespannte       gleichsweise gut, jedenfalls bevorzugt behandelt. Dies
                                                                                   Stimmung“, erinnert sich Förster an das Ereignis, das           hatte er einem Görlitzer Offizier, Carl-Albrecht Brüll, zu

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     MESSIAEN                         FOTO: PETERSKIRCHE GÖRLITZ © FRANK SEIBEL                                                                                                                                  TEXT: FRANK SEIBEL                                             MESSIAEN
     TAGE                                                                                                                                                                                                                                                                           TAGE
GEDENKEN AN OLIVIER MESSIAEN                                                                                                                                                                                           MUSIK IN BILDERN

                                                                                                                                                                                                                    Paul Smaczny hat sich in den vergangenen drei Jahrzehn-
                                                                                                                                                                                                                    ten als Filmemacher einen Namen gemacht. Porträts von
                                                                                                                                                                                                                    Künstlern und Künstlerinnen und Konzertaufnahmen
                                                                                                                                                                                                                    sind das Metier seiner Leipziger Produktionsfirma Accentus
                                                                                                                                                                                                                    Music. Für einen Film über John Cage erhielt er 2013 den
                                                                                                                                                                                                                    deutschen Musikpreis Echo Klassik, auch mit internatio-
                                                                                                                                                                                                                    nalen Preisen wie dem Emmy Award und dem V         ­ ienna TV
                                                                                                                                                                                                                    Award wurden seine Arbeiten ausgezeichnet.
                                                                                                                                                                                                                           Seit langem hatte er im Sinn, Olivier Messiaens
                                                                                                                                                                                                                    ­Quatuor pour la fin tu temps am historischen Ort der
                                                                                                                                                                                                                     Entstehung und Uraufführung aufzunehmen und eine
                                                                                                                                                                                                                     Dokumentation über Messiaens Zeit im Görlitzer Kriegs­
                                                                                                                                                                                                                     gefangenenlager Stalag VIII A zu drehen. Der 80. Jahres-
                                                                                    Musik in                                                                                                                         tag der Uraufführung bot den Anlass, dieses Projekt in

                                                                                    Bildern                                                                                                                          Kooperation mit dem deutsch-französischen Kultursen-
                                                                                                                                                                                                                     der ARTE zu verwirklichen. Auch der nationale japani-
                                                                                                                                                                                                                     sche Sender NHK hat Rechte an der Dokumentation
                                                                                    Der Filmemacher Paul Smaczny vereinte vier Stars der
                                                                                                                                                                                                                     ­erworben.
                                                                                    internationalen Musikszene für eine ARTE-Dokumenta-
                                                                                                                                                                                                                           Auch wenn man die Uraufführung des Quartetts mit
                                                                                    tion auf dem Gelände des einstigen Kriegsgefangenen-
                                                                                                                                                                                                                      dem bitterkalten 15. Januar des Kriegsjahres 1941 verbin-
                                                                                    lagers Stalag VIII A
                                                                                                                                                                                                                      det, war der genius loci auch in der Hitze des Spätsom-
                                                                                    Von Frank Seibel
                                                                                                                                                                                                                      mers 2020 spürbar. Eingerahmt von den Ausstellungs­
                                                                                                                                                                                                                      tafeln im Europäischen Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur
                                                                                    Der Organist musste ein ganz besonderer sein. Das ging                                                                            „Meetingpoint Music Messiaen“, hatten Pierre-Laurent
                                                                                    Paul Smaczny durch den Kopf, als er Mitte der 1980er in                                                                           ­Aimard, Jean-Guihen Queyras, Isabelle Faust und Jörg
                                                                                    Paris die Sonntagsmesse besuchte. Der junge Romanist                                                                               Widmann die Bilder des Kriegsgefangenenlagers vor Au-
                                                                                    und Germanist ahnte zunächst nicht, dass jeden Sonntag                                                                             gen. Zweieinhalb Tage voller Konzentration und Einkehr
                                                                                    in der katholischen Kirche Sainte Trinité ein nicht nur                                                                            in einem ungewöhnlichen Konzertsaal, einem ungewöhn-
                                                                                    außerordentlicher, sondern auch außerordentlich promi-                                                                             lichen Studio. Und das Pendeln zwischen Proberaum und
FOTO: © EMILIAN TSUBAKI, ACCENTUS MUSIC

                                                                                    nenter Mann an der Orgel saß: Olivier Messiaen. Dieses                                                                             Hotel in Görlitz und der Gedenkstätte in Zgorzelec mach-
                                                                                    Erlebnis ist gewissermaßen der Ausgangspunkt für eine                                                                              te eine zentrale Folge des Zweiten Weltkrieges für diese
                                                                                    tiefe Beschäftigung mit Messiaen und seiner Musik, die                                                                             Region sehr unmittelbar erfahrbar. Nach dem Ende des
                                                                                    Paul Smaczny nun, im Spätsommer des Jahres 2020 nach                                                                               Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt an der Neiße geteilt
                                                                                    Görlitz-Zgorzelec geführt hat — und mit ihm drei ausge-                                                                            und zu einer Stadt in zwei Nationen.
                                                                                    zeichnete Künstler und eine erstklassige Künstlerin aus
                                                                                    Frankreich und Deutschland, alle in besonderer Weise
                                                                                    mit Olivier Messiaen und seiner Musik verbunden:
                                                                                    ­Pierre-Laurent Aimard (Piano), Jean-Guihen Queyras
                                                                                     (Violoncello), Isabelle Faust (Violine) und Jörg Widmann
                                                                                     (Klarinette).

         20                                                                                                                                                                                                                                                                                21
                                          MESSIAEN                                                                                              FOTO: ISABELLE FAUST UND PIERRE-LAURENT AIMARD © EMILIAN TSUBAKI, ACCENTUS MUSIC         TEXT: FRANK SEIBEL                     MESSIAEN
                                          TAGE                                                                                                                         FOTO: PAUL SMACZNY © ACCENTUS MUSIC                                                                          TAGE
GEDENKEN AN OLIVIER MESSIAEN                                                                                                                                                                                     MUSIK IN BILDERN

                                                                                                        Pierre-Laurent                                                                          Jörg Widmann,
                                                                                                        Aimard, Piano                                                                                Klarinette
                                                                                                        Messiaens Quartett gehört für mich                                                     Messiaens Quatuor pour la fin du temps,
                                                                                                        wie für viele andere Musiker und Mu-                                                   dieses Jahrhundertwerk, am Ort sei-
                                                                                                        sikerinnen fest zum Repertoire. Aber                                                   ner Entstehung zu spielen und aufzu-
                                                                                                        es zu spielen, wird niemals zur Routi-                                                 nehmen war ein besonderes und be-
                                                                                                        ne. Diese Musik lässt sich nicht ein-                                                  rührendes Ereignis in meinem
                                                                                                        ordnen. Sie steht für sich allein. Es ist                                              künstlerischen Leben.
                                                                                                        das Werk eines Menschen, der in sei-
                                                                                                        nem Leben das Staunen nie verlernt                                                     Dass damals unter solch tragischen
                                                                                                        hat.                                                                                   Umständen ein Werk von dieser
                                                                                                                                                                                               leuchtend visionären Kraft entstehen
                                                                                                                                                                                               konnte, ist nach wie vor schier unbe-
                                                                                                                                                                                               greiflich. Der von tiefer Menschlich-
                                                                                                                                                                                               keit durchdrungene Geist des Werkes
                                                                                                                                                                                               wird ewig bestehen bleiben — bis ans
                                                                                                                                                                                               Ende der Zeiten.
                                                             Jean-Guihen
                                                             Queyras,
                                                             Violoncello
                                                             Messiaen erschien sehr früh in mei-
                                                             nem Leben; seit ich mit 13 Jahren nach
                                                                                                        Zeitraum einer anderen Dimen­sion.
                                                                                                        Dieses Gefühl wurde noch vertieft
                                                                                                                                                    Isabelle Faust,
                                                             Lyon zum Musikstudium ging, beglei-
                                                             tet mich sein Schaffen. In den Klassen
                                                                                                        und verstärkt durch meine Entde-
                                                                                                        ckung des Stalags. Es herrscht dort
                                                                                                                                                    Violine
                                                             der Harmonielehre oder in der Aus-         eine paradoxe Atmosphäre des Frie-          Es waren ganz besondere, intensive         Die noch sehr präsente jüngere Ge-
                                                             wahl des Repertoires konnte ich sehr       dens und der Verklärung, was das            Tage im Meetingpoint Music Messiaen.       schichte dieses Ortes und speziell die
                                                             bald feststellen, wie stark Messiaens      Spiel von Messiaens Musik unwider-          Mir persönlich bescherte schon allein      Geschichte Messiaens, die Überreste
                                                             harmonische Sprache die gesamte            ruflich einprägt.                           die Vorstellung, mit meinen wunder-        des Stalags in Verbindung mit einer
                                                             französische Musikwelt prägt. Meine                                                    baren Kollegen tiefer in das einzigarti-   ganz besonders friedvollen, geradezu
                                                             Lehrerin Reine Flachot ließ mich auch      Es war eine einmalige Lebenserfah-          ge Werk Messiaens eindringen zu dür-       idyllischen Atmosphäre des inzwi-
                                                             sehr bald die Louange à l’Éternité de      rung, die ich nie vergessen werde, und      fen, ein ganz großes Glück. Dies nun       schen gewachsenen Birkenwäldchens
                                                             ­Jésus lernen.                             für die ich unendlich dankbar bin.          am Ort der Entstehung erleben zu           haben ein extrem konzentriertes, auch
                                                                                                                                                    können, hat unser aller Sensibilität für   trostvolles Musizieren ermöglicht.
                                                             Jedes Mal, wenn ich das Glück habe,                                                    diese Musik und seinen Schöpfer noch       Eine wunderbare, sehr besondere Er-
                                                             das Quatuor zu spielen, trete ich in den                                               gesteigert.                                fahrung...

22                                                                                                                                                                                                                                              23
     MESSIAEN                         FOTOS: © EMILIAN TSUBAKI, ACCENTUS MUSIC                                                                                                                                                       MESSIAEN
     TAGE                                                                                                                                                                                                                                TAGE
KONZERT

                                                           SAMSTAG
                                                                                                                                                                   Vögel im Kopf

                                                                        du temps
                                                                        Quatuor pour la fin
                                                                                                      Olivier Messiaen (1908 - 1992)

                                                 01.05.                                               Quatuor pour la fin du temps (1941)                          Olivier Messiaens Quartett auf das Ende der Zeit

                                                 19 00                                                Quartett auf das Ende der Zeit                               ist Musik, „mit einer Wolke bekleidet“
                                                                                                                                                                   Von Michael Ernst
                                                  Europäisches
                                                                                                 I.   Liturgie de cristal — Kristall-Liturgie                        Musik ist anders als andere Künste. Während Bildwerke
                                                  Zentrum Erinne-
                                                  rung, Bildung,                                                                                                     eingehend betrachtet, Bücher wieder und wieder gelesen
                                                  Kultur                                        II.   Vocalise, pour l’Ange qui annonce la fin du temps              werden können und die darstellenden Künste zumindest
                                                 ——                                                   Vokalise für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet        bildlich festzuhalten sind, bleibt Musik flüchtig. Selbst in
                                                                                                                                                                     den Aufnahmen. Kaum erklungen, schon ist sie verflogen.
                                                 ▬ Ioana Cristina 		                           III.   Abîme des oiseaux — Abgrund der Vögel                          Schwirrt davon wie ein Vogel. Der Rest ist Gedächtnis.
                                                   Goicea, Violine                                                                                                   Die Kunst des Erinnerns.
                                                 ▬ Friedrich Thiele,                           IV.    Intermede — Zwischenspiel                                          Musik erfahren wir stets im Kopf. Dort mag sie
                                                   Violoncello                                                                                                     ­nachhallen und einen Gedankenraum ausfüllen, einen
                                                 ▬ Joë Christophe, 		                           V.    Louange a l’éternité de Jésus — Lobpreis der Ewigkeit Jesu    ­Gedenkraum, der bis tief in die Herzgegend reicht. Die
                                                   Klarinette                                                                                                        Schatzkammer des emotional Empfundenen ebenso wie
                                                 ▬ Lucas Krupinski,                            VI.    Danse de la fureur, pour les sept trompettes — Tanz des        des Unerhörten.
                                                   Piano                                              Zornes für die sieben Trompeten                                    Denn Musik entsteht auch im Kopf. Wenngleich sich
                                                                                                                                                                     Komponisten und Komponistinnen die äußeren Orte
                                                                                              VII.    Fouillis d’arcs-en-ciel, pour l’Ange qui annonce la fin du     ihrer Kreativität nicht immer frei auswählen können;
                                                                                                      temps — Gewirr von Regenbögen für den Engel, der das Ende      mitunter werden diese von den Zeitläufen sogar grausam
                                                                                                      der Zeit verkündet                                             erzwungen. So geschehen bei Olivier Messiaens Quatuor
                                                                                                                                                                     pour la fin de temps (dt. Quartett auf das Ende der Zeit),
                                                                                              VIII.   Louange a l’immortalité de Jésus — Lobpreis der Unsterb-       das der längst schon anerkannte Musiker der Moderne,
                                                                                                      lichkeit Jesu                                                  der bereits seit 1931 als Organist an der Kirche La Trinité
                                                                                                                                                                     in Paris wirkte, unter unwürdigen Umständen als Kriegs-        berühmten Quartetts geworden ist. Musik voller Farben,
                                                                                                                                                                     gefangener in Nazi-Deutschland vollendet hatte. In einer       mit der sich der Komponist auf die biblische Legende der
                                                                                                                                                                     tristen Barackenlandschaft am damaligen Stadtrand von          Johannes-Offenbarung bezog:
FOTO: © EMILIAN TSUBAKI, ACCENTUS MUSIC

                                                                                                                                                                     Görlitz.
                                                                                                                                                                         Doch den „Auftakt“ zu seinem Quartett schuf ­Messiaen              „Und ich sah einen starken Engel
                                                                                                                                                                     bereits etwas eher. Als der aus Avignon stammende Mu-                  vom Himmel herabkommen,
                                                                                                                                                                     siker, der seit 1919 in Paris lebte, unmittelbar nach der              der war mit einer Wolke bekleidet,
                                                                                                                                                                     deutschen Okkupation von Belgien, Holland, Luxemburg                   und ein Regenbogen auf seinem Haupt
                                                                                                                                                                     und Frankreich im Sommer 1940 in Kriegsgefangenschaft                  und sein Antlitz wie die Sonne und seine
                                                                                                                                                                     geriet, wurde seine Kompanie zunächst auf einem Feld in                Füße wie Feuersäulen.“
                                                                                                                                                                     der Nähe von Nancy festgehalten. Hier traf Messiaen auf
                                                                                                                                                                     den Klarinettisten Henri Akoka vom Orchestre National de       Später berichtete Messiaen freilich auch von lebhaften
                                                                                                                                                                     France und schrieb für ihn ein unter freiem Himmel ein-        Farbträumen aufgrund ständigen Hungers: „Ich sah den
                                                                                                                                                                     studiertes Solostück, aus dem später der ­dritte Satz des      Regenbogen des Engels und seltsame Wirbel von Farben.“

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                                          MESSIAEN                                                                                                                                                                                          FOTO: ZEICHNUNG VON ARMIN MÜLLER-STAHL             MESSIAEN
                                          TAGE                                                                                                                                                                                              © PAUL GLASER                                          TAGE
KONZERT                                                                                                                                                                                                                            QUATUOR POUR LA FIN DU TEMPS

              Die Uraufführung des Quartetts in der kriegskalten          der Tag der Ruhe über in eine Aeternität unauslöschli-         Und Sprachlosigkeit macht hilflos, macht zornig. Was zu         Klemm (Chefdirigent Elbland Philharmonie Sachsen) aus-
            Theaterbaracke des Stalag VIII A am 15. Januar 1941           chen Lichts.                                                   einem abrupten Kontrast führt, in dem schon die ersten          erkoren worden ist. Vier junge Menschen aus Deutsch-
              bestritt Olivier Messiaen am Klavier gemeinsam mit                                                                         Takte des unisono beginnenden sechsten Satzes mitrei-           land, Frankreich, Polen und Rumänien, die sich aus einer
            Jean Le Boulaire (Violine), Henri Akoka (Klarinette)          Klangkosmos in acht Sätzen                                     ßen zu einem Aufbegehren, zu einem schrillen Protest            überwältigend großen Schar von Bewerbungen hervorge-
              und Etienne Pasquier (Violoncello) vor etwa 400 Zuhö-                                                                      gegen das Ausgeliefertsein, das Ausweglose des Seins.           tan hatten und allesamt bereits Preise renommierter in-
              renden. Neben Wachpersonal der Wehrmacht dürften es         Ein kristallines Tageserwachen steht am Beginn des             Trompetend wie in der vermeintlichen Endzeit perlen die         ternationaler Wettbewerbe errungen haben, sollten und
              vor allem hungernde, frierende, verzweifelt angstvolle      Quartetts. Mit dem Klavier werden die morgendlichen            Tonläufe kollektiv aufwärts, ersterben und setzen neu an,       wollten am 15. Januar 2021 das Quatuor pour la fin de temps
              Menschen gewesen sein, die im schlesischen Niemands-        Nebel und Schatten weggetupft, Klarinette und Geige            bis sie schließlich vor verschlossenem Tor stehen. Kein         aufführen. Einer von ihnen, der polnische Pianist Lucas
              land, fern ihrer Heimat, von dieser so sonderbaren Mu-      umspielen einander mit singenden Vogelstimmen von              Tönen, kein Trommeln vermag hier noch eine Umkehr zu            Krupinski, wohnte bereits im vergangenen Sommer der
              sik fasziniert gewesen sind — während anderswo in           Amseln und Nachtigallen.                                       erreichen. Ersterbender Furor, ein vorweggenommenes             Quartett-Aufzeichnung für den europäischen Kulturka-
              Deutschland moderne Musik zeitgleich als „entartet“             Nur kurz währt dieser Moment eines natürlichen             Ende aller Zeit, aller Zeiten.                                  nal ARTE bei und berichtet: „Das war eine wichtige Er-
            ­gebrandmarkt worden ist.                                     Friedens, dann hämmert die starke Engelsfigur mit aller            Doch noch einmal hält Messiaen inne, beschwört              fahrung für mich, an diesem Projekt mit I­ sabelle Faust,
                  „Diese Musik ist wie Jazz!“, meinte mehr als ein hal-   Macht ins Geschehen und verkündet in ihrer Vocalise das        Regenbogen und Engel in seinem sich selbst zitierenden         Jean-Guihen Queyras, Jörg Widmann und Pierre-Laurent
              bes Jahrhundert später Albrecht Goetze und wollte fort-     Ende der Zeit. Wofür steht dieses Bild, für apokalyptischen    Feuerwerk, mit dem das eigentliche Ende der Zeit erst         Aimard teilzunehmen. Die Möglichkeit, mit ihnen über
              an dort leben, wo diese Musik ent-                                              Abgesang? Mitnichten. M  ­ essiaen setzt   noch angekündigt werden soll. Da wechseln verinnerlich-         verschiedene Aspekte dieser Musik zu sprechen, ist sehr
              standen ist, für ihn „ein durch
              erlittenes Leid geheiligter Ort“. Auch
                                                       „ Sein Antlitz wie die                 den verbindenden Regenbogen und
                                                                                              himmlische Harmonie ins Zentrum
                                                                                                                                         te Momente inneren Friedens mit ekstatischen Ausbrü-
                                                                                                                                         chen, werden Klangfarben eines allumfassenden Spek­
                                                                                                                                                                                                         inspirierend gewesen.“ Ein besonderer Glücksumstand:
                                                                                                                                                                                                      „Aimard kannte ­Messiaen persönlich und hatte sein No-
              80 Jahre nach seiner Uraufführung       Sonne und seine Füße                    des zweiten Satzes. Beinahe schon ein      trums gemischt und virtuos miteinander verrührt, in ein         tenmaterial mit Bemerkungen aus allererster Hand verse-
              übt dieses kammermusikalische            wie Feuersäulen.“                      Delirium, diese Abgehobenheit, die in      Finale geführt, das — noch — keines ist. Weit entfernt          hen, das er mir jetzt freundlicherweise zur Verfügung
             ­Ausnahmewerk des 20. Jahrhunderts                                               einem furiosen Abwärtsstrahl der vier      von einem Tag der Ruhe oder gar des sonntäglichen Frie-         stellt.“
              nach wie vor eine unvergleichliche Faszinationskraft        Instrumente ausufert, um in einem ­„Abgrund der Vögel“         dens.                                                                Den Violinpart übernimmt die Rumänin Ioana
              sowohl auf ­Publikum als auch auf Interpretierende aus.     sanft aufgefangen zu werden.                                       Und dann, welche Überraschung, dieser so sangliche        ­Cristina Goicea, die weltweit als gefeierte Solistin
              Die Gründe dafür dürften über die Summe aus dem Wis-            Das Klarinettensolo ist ein trauervolles Klagen, in        Schlusssatz, der ebenso als Lobgesang einer idealisierten      ­unterwegs ist und im Herbst 2020 eine Geigenprofessur
              sen um die besonderen Umstände der Entstehung und           dem die Zeit mitunter stehenzubleiben scheint, dann            Unsterblichkeit zu lesen ist wie als verzweifeltes Aufge-       in Wien antreten konnte. Am Cello wird mit Friedrich
              die prägende Religiosität Messiaens weit hinausreichen.     aber von tirilierendem Vogelzwitschern wieder zerhackt         ben, ein sprachloses Sich-Fügen ins Schicksal. Ein gewal-       Thiele ebenfalls ein vielfach ausgezeichneter Musiker zu
              Es ist eine Art Zauber, der das Quatuor prägt.              wird, dem die Menschheit — namentlich Menschen in              tiges Violinsolo, zu dem das Klavier nur Wegmarken              erleben sein, der bereits von namhaften Orchestern als
                   Schon die Besetzung war seinerzeit einzigartig und     Gefangenschaft — nur voller sehnsüchtiger Hoffnung             tastet, die das fast schon sphärische Schweben der ge­          Solist eingeladen wurde.
              ist noch heute bemerkenswert: Klavier, Violine, Violon-     beiwohnen kann.                                                strichenen Trauertöne in eine ewig klingende Weite füh-              Klarinettist Joë Christophe ist nur kurz nach sei-
              cello und Klarinette stellen eine außergewöhnliche Kon-         Mit einem kurzen Zwischenspiel verblüfft Messiaen          ren, für die jedes menschliche Wort viel zu klein ist.          nem Abschluss am Pariser Konservatorium ebenfalls ein
              stellation dar. Was damals notgedrungen dem Umstand         erneut. Es klingt stellenweise orchestral, gibt den einzel-                                                                    begehrter Gast auf den größten Bühnen der Welt. Er hat
              der vorhandenen Instrumente beziehungsweise Musi-           nen Stimmen aber auch Raum zu solistischer Entfaltung          Die Freiheit, zu singen, zu lachen und zu fliegen               sich in der Vorbereitung auf dieses Konzert immer wie-
              ker schuldig gewesen ist, sorgt nach wie vor für einen      und zitiert einmal mehr die Vogelstimmen aus dem ers-                                                                          der in die Situation von Henri Akoka zu versetzen ver-
              ganz unverwechselbaren Klangkosmos. Aber auch die           ten Satz. Die Amsel lässt grüßen — und flattert davon.          Dass diese Musik nun just zum 80. Jahrestag ihrer Urauf-       sucht und empfindet besonders das Klarinettensolo im
              Zahl der acht Sätze in diesem Quartett ist originär und     Auf dass der Mensch mit all seinem Bangen allein gelas-         führung nicht wie geplant am „geheiligten Ort“ erklingen       dritten Quartettsatz als „ausgeprägten Gegensatz von
              wirft Fragen auf. Sieben Tage hat die Woche, ebenso die     sen wird und glaubensvoll Rettung erhofft.                      wird, bedauert wohl niemand so sehr wie das Instrumen-       Tiefe des Abgrunds und — vor allem durch die Tran-
              vermeintliche Schöpfungsgeschichte. Wieso beließ es             Die Lobpreisung des fünften und längsten Quartett-          talquartett, das nach einer internationalen Ausschreibung      skriptionen von Vogelstimmen — starkem Verlangen
              Mes­siaen, wenn er sich schon auf die Apokalypse bezog,     satzes mutet wie ein Durchwandern eines endlosen Tales          für dieses so besondere Konzert durch eine Jury um             nach Freiheit. Der Freiheit, zu singen, zu lachen und zu
              nicht bei sieben Sätzen? Der Erzählung nach „heiligt“       an, in dem eine glorreiche Schönheit liegt. Eine Schönheit     ­Tobias Niederschlag (Leiter Konzertbüro Gewandhaus­            fliegen.“
              der siebente Tag die sechs Tage der Schöpfung („Am          im unentkömmlichen Schatten. „Am Anfang war das                 orchester Leipzig), Ewa Strusińska (Generaldirektorin
              siebten Tag aber sollst du ruhen.“) — hier jedoch geht      Wort“?— Es scheint der Sprachlosigkeit gewichen zu sein.        Gerhart-­Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau) und Ekkehard

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     MESSIAEN                                                                                                                                                                                         TEXT: MICHAEL ERNST                                           MESSIAEN
     TAGE                                                                                                                                                                                                                                                               TAGE
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