Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe - GUALTIERO MARCHESI - BPS Suisse
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GUALTIERO MARCHESI ..................................................................................................................................................................................................................... Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe Texte von Antonio Ballista, Andrea Berton, Alberto Capatti, Carlo Cracco, Enrico Dandolo, Pietro Leemann, Simona Marchesi, Davide Paolini, Lino Enrico Stoppani, Salvatore Veca
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe ..................................................................................................................................................................................................................... Einleitung Von seinem ersten Praktikum im Hotel Kulm in St. Moritz über die Erfahrungen mit der Nouvelle Cuisine in Frankreich (vor allem jene in Roanne bei den Gebrüdern Troisgros, Legenden der französischen Küche) bis hin zu seiner einzigartigen Kenntnis der regionalen Küche Italiens hat Gualtiero Marchesi mit seiner weissen Kochjacke und seiner fachlichen Kompetenz das konsolidierte Wissen namens Kochkunst stets auf äusserst vielseitige und kreative Art erforscht, herausgefordert und erweitert. Noch heute ist sein Geist im Gastronomiebetrieb in Küche und Service allgegenwärtig und inspiriert seine ehemaligen Schüler zu neuen Ideen und neuen Gerichten. Wer mit Leidenschaft Marchesis Werke und Rezepte liest, wünscht sich nichts anderes, als ihn an seiner Seite zu haben, um die Welt des Kochens und Essens völlig neu zu entdecken. Wer ihn kannte, nahm ihn als umsichtigen, aber auch unberechenbaren Menschen wahr, der plötzlich Seneca zitieren konnte und gerne auch nicht über seine Rezepte sprach – vielleicht ein etwas eigener Mensch, aber zweifelsohne eine Koryphäe als Revolutionär der Kochkunst. Und zwar nicht nur seiner eigenen (1980 mit seinem Buch La mia nuova grande cucina italiana), sondern auch jener einfacherer Lokale, mit dem weniger bekannten Werk La cucina regionale italiana, in dem er mit seinen genialen Einfällen die Tradition regelrecht provoziert. So kann ein Marchesi in Mailand, Apulien oder anderswo ein Rezept wie Orecchiette, broccoletti e foie gras wagen. Die Regeln müssen sich aus der praktischen Arbeit ergeben und nicht umgekehrt, scheint er uns sagen zu wollen, bevor er schliesslich die Kochkunst zur Bühne für alle Kunstformen macht und sie nicht nur mit Malerei und Bildhauerei, sondern auch mit immateriellem Kulturgut wie Musik vereint. Musik bedeutete für ihn: sein Klavier, ein Instrument, das er erlernt, dann aber für das Kochen aufgegeben hatte; seine Frau Antonietta, die auch seine Klavierlehrerin war; und seine Kinder und Enkelkinder, die zwar nicht in seine Fussstapfen traten, aber dafür an einem denkwürdigen Tag im «Grand Hotel Tremezzo» (am Comer See) aufspielen sollten. Doch bei einem Koch, einem wirklich grossen Koch, isst zunächst das Auge des Gastes mit, bevor die Liebe schliesslich durch den Magen geht. Marchesis Familie stammte ursprünglich aus der Provinz Pavia in der Nähe von Mailand, doch er war durch und durch Mailänder und hat der Nachwelt sein ureigenes, ikonisch gewordenes Risottogericht hinterlassen: Riso, oro e zafferano verblüfft durch den schwarzen Tellerrand und die beiden gelben Elemente, die darin aufeinandertreffen, nämlich Safran und Speiseblattgold. Noch interessanter sind jedoch der Reis und seine Konsistenz – er ist ganz leicht mit der Gabel zu zerteilen. Es gibt allerdings noch einen zweiten Riso, oro e zafferano, nämlich den auf dem legendären Foto, dessen Kultstatus keine Gabel und kein Blick zerstören können. Dieser zweite Marchesi wurde nicht von einem Koch, sondern von Künstlerhand geschaffen. Allerdings kann man Marchesi kaum auf die Bilder seiner Gerichte reduzieren. Er pflegte in der Küche zu unterrichten, junge Leute jeglicher Herkunft, die er zu Köchen ausbildete, zu neuen Künstlern, die sich frei ausdrücken konnten. Die Namen dieser Nachwuchsköche stehen denn auch nicht für eine Schule eiserner Disziplin und Strenge, sondern für eine neue Generation, die sich in ihrem Beruf stets auf individuelle Weise frei zu behaupten sucht, mit völlig unterschiedlichen, einzigartigen Ergebnissen. Auch an der Kochschule ALMA in Colorno in der Nähe von Parma war er mehr ein Mentor denn ein Rektor. Seiten I und II: Gualtiero Marchesi ist nicht mehr unter uns, aber auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin Gualtiero Marchesi im Speisesaal des wurde eine Stiftung («Fondazione Gualtiero Marchesi») in der via Bonvesin de la Riva in Restaurants Mailand ins Leben gerufen – in jener Strasse, in der er einst sein Restaurant eröffnet «L’Albereta» in Erbusco, Franciacorta hatte. Die hohe Kochkunst, die dort erforscht und bewahrt wird, hat somit ihren konkreten (Provinz Brescia). Platz und zieht angehende wie auch bestandene Köche aus aller Herren Länder an. Die Aufnahme auf S. I stammt aus dem Jahr 2006, jene auf Alberto Capatti S. II aus dem Jahr 2007. Präsident der Fondazione Gualtiero Marchesi III
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe ..................................................................................................................................................................................................................... Gualtiero Marchesi: ein Leben im Zeichen der italienischen Küche von Alberto Capatti* Links: Maestro Marchesi mit seiner berühmten Kreation Riso, oro e zafferano , Mailand, ca. 1988. Auf dieser Seite: Gualtiero Marchesi, Carn’è pesce , Komposition aus Rinds- und Seebarschfilet, begleitet von dreierlei Saucen, 2009.
Gualtiero Marchesi ..................................................................................................................................................................................................................... Biografie, Privat- und Familienleben, Theo- rie und Praxis der totalen Küche (cucina to- tale) und sogar seinen Gastronomie-Kodex für Schüler und Leser: Am Ende einer lan- gen Karriere hat Gualtiero alles niederge- schrieben. Die Autobiografie Marchesi si na- sce, questa è la mia storia erscheint 2010 anlässlich seines 80. Geburtstags in Italien und räumt mit allen Zweifeln über seine Herkunft, seine Reise nach Frankreich, die Eröffnung seines Restaurants in der via Bonvesin de la Riva in Mailand auf. Unter- stützt wird er dabei von Carlo Valli, einem schickt ihren Sohn, auf den das Gastgewerbe Dozenten für Marketing und Kommunikati- grössere Anziehungskraft ausübt als das on. Warum erzählt Marchesi seine Geschich- «Istituto Feltrinelli», für ein Praktikum ins te? Weil ein weltbekannter Koch sich gegen berühmte Hotel Kulm in St. Moritz. Es fol- Unterstellungen und Tratsch wehren muss, gen zwei Jahre in Luzern, wo er eine Han- indem er sein Leben bis zur Eröffnung des delsschule besucht, Französisch und «Marchesino» in den Räumlichkeiten des Deutsch lernt, und ein weiteres Jahr an ei- ehemaligen «Biffi Scala» niederschreibt, ner Hotelfachschule, wo er Kurse für Ser- die 2008 seine Rückkehr nach Mailand be- vice- und Küchenpersonal belegt. Nach sei- siegelt – in ein Gebäude, das als Tempel der ner Rückkehr arbeitet er im Familienhotel, Musik bekannt ist und nun durch seine das tagsüber ein Warm- und Kaltimbiss und Kochkunst zu neuem Ruhm gelangt. abends ein Restaurant ist. Marchesi beginnt Die Familie Marchesi hatte 80 Jahre zuvor sich mit den zu reichenden Gerichten zu be- das «Albergo Mercato» in der via Bezzecca fassen und sie eingehend zu studieren, wo- eröffnet, um den im grösseren Umkreis täti- bei diese Nachforschungen natürlich durch gen Obst- und Gemüseverkäufern eine Ver- das Lokal und die Kultur seiner Kundschaft köstigungsmöglichkeit zu bieten. Sie stamm- bedingt relativ begrenzt ausfallen. te ursprünglich aus der Provinz Pavia und Er nimmt Klavierstunden und heiratet seine hatte ihr Vermögen in einem Bereich ange- Lehrerin, Antonietta Cassisa. Dann jedoch legt, durch den der junge Gualtiero die Mög- gibt er das Klavierspiel auf und widmet sich lichkeit erhalten sollte, dank einer Ausbil- voll und ganz der Kochkunst. Mailand hat dung seine Zukunft gestalten zu können. seine eigenen Spezialitäten im Angebot, in Nach fünf Jahren Krieg, die sie in der ländli- einigen Restaurants im Stadtzentrum auch chen Heimat verbringt, übernimmt die französische Gerichte, etwa Filetto alla Ros- Familie das «Albergo Mercato» wieder und sini, im «Albergo Mercato» von Gualtiero selbst gereicht. 1966 schliesst das «Merca- to». «Wir mussten schliessen. Die Gemein- de, der das Lokal gehörte, wollte unseren Vertrag nicht verlängern.» Für Gualtiero war das die Gelegenheit, seine Zukunft zu überdenken, was auf Reisen geschehen soll- te. Zunächst ging er nach Paris, Hochburg Vor dem Eingang der Kochkunst weltweit, und machte dort des von Marchesis ein Praktikum in einem Kultrestaurant, Eltern eröffneten «Albergo Mercato», dem «Ledoyen». Frankreich erkundet Gual- Mailand, 1952. tiero quasi umgekehrt: Sein Weg führt ihn Oben: von der Hauptstadt, die sich 1968 in Aufruhr In der letzten Reihe befindet, in die Provinz, zunächst nach Dijon ganz rechts der junge Gualtiero und dann nach Roanne zu den Gebrüdern Marchesi mit seinen Troisgros. Einige Jahre später gilt ihr Re- Klassenkameraden der Hotelfachschule staurant mit seinen 3 Michelin-Sternen als Luzern, 1950. eines der Zentren der Nouvelle Cuisine. VI
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe ..................................................................................................................................................................................................................... Neben der Gualtieros Rückkehr nach Mailand steht Skulptur L’asceta von Aldo Calvi, 1963. ganz im Zeichen dieser neuen Perspektive, die Frankreich beziehungsweise Roanne Unten: Am 16. August 1962 der europäischen Küche eröffnet – mit neu- heiratet Marchesi en, revolutionären Regeln: «täglich frische die Pianistin Antonietta Cassisa. Produkte», also «einfachere Zubereitung» und natürlich weniger allzu ausgefeilte Sau- cen. Es beginnt die mühselige Suche nach einem Lokal – gemeinsam mit seinem Freund Medagliani, einem Händler für Ho- telbedarf, Buchpromotor (etwa von Werken wie La cucina pratica von Mario Borrini in den drei Ausgaben von 1938, 1953 und 1960) und sein Förderer. Man findet schliesslich eine Pizzeria namens «Okay» in der via Bon- vesin de la Riva in der Nähe des ehemaligen Familienhotels. Von der Bestuhlung über die Beleuchtung, von der Küche bis zu den Kühlschränken nachahmbares Modell zu entwickeln, das wird alles eingehend geplant und nach ei- überall verkauft werden kann, nein, sie steht nem ganzheitlichen Konzept gestaltet, das vor allem für das genaue Studium von Zu- alles umfasst, von Form und Farbe der Tel- taten, Kochtöpfen und Wärmequellen, die in ler bis hin zu Tischen und Licht. 1977 wird jedem essbaren Objekt ihren Niederschlag das Restaurant eröffnet. Im Laufe weniger finden, was wiederum die genaue Auswahl Jahre entstehen hier die legendären Gerich- des Tellers (weiss oder farbig) und der Lam- te aus Marchesis Küche (Riso, oro e zaffera- pe über dem Tisch sowie den fragenden no, Raviolo aperto, Seppie al nero) und ein oder begeisterten Blick des Gastes nach Michelin-Stern folgt dem anderen. Die Far- sich zieht. Mit überraschenden Lösungen, ben eines Gerichts in all ihrer Leuchtkraft etwa dem Speiseblattgold in einem Mailän- essen? Das hatte es noch nie gegeben – Gual- der Risotto oder der Öffnung eines raviolo tiero schlägt einen neuen Weg ein und weckt und der Offenbarung der darin verborgenen die Neugier des Gastes, erzieht ihn und ver- Geheimnisse, entwickelt Marchesi eine Me- hilft der neuen italienischen Küche zu ihrem thode, bei der Koch und Gast einander in Ruhm. Begleitend dazu veröffentlicht er ihren Rollen ergänzen und dem Koch jene 1980 das Kochbuch La mia nuova grande cu- des Künstlers zukommt. Einigen Mailänder cina italiana, dessen erstes Rezept das Bou- Journalisten, die in sein Lokal gekommen quet guarnito ist. Vier Jahre später er- waren, um ihn kennenzulernen und im Ge- scheint es auch auf Französisch, und zwar spräch mit ihm mehr zu erfahren, wird ein unter dem Titel La cuisine italienne réinven- ganz einfaches Gericht auf unvergleichlich tée. Die Neuerfindung der italienischen schöne Art serviert, nämlich eine cassoeula, Küche ist kein politischer Akt, um ein ein deftiger lombardischer Eintopf, auf ei- nem grossen, grünen Blatt Wirz. Als Spiel der Künste fasziniert Marchesis Küche ein Mailand, in dem die Esskultur 1982 dank der Monatszeitschrift «La Gola» wiederaufblühte. Herausgeber und Gestal- ter des Hefts war Gianni Sassi, der Mitar- beiter aller Art um sich scharte und für den Innovation erklärtes Ziel war. Keine Journa- listen, sondern Autoren mit Wissbegier und Blick für das Aussergewöhnliche. Mode und Design beginnen den Zugang zur Kochkunst zu beeinflussen, und 1983 gründet Luigi Ve- ronelli die Zeitschrift «L’Etichetta», eine Art VII
Gualtiero Marchesi ..................................................................................................................................................................................................................... Führer durch das materielle Leben, in dem Kochkunst. 1989 erscheint sein Buch La cu- auch Themen wie Önologie und Gastrono- cina regionale italiana und überrascht alle, mie behandelt werden. Die Gerichte aus der die erwartet hatten, dass er bei seinem ser- via Bonvesin de la Riva wirken wie eine neue vierfertigen Riso, oro e zafferano bleiben Kunstform, dank welcher das Essen anders würde. Stattdessen bekommen sie hier ei- als bis anhin wahrgenommen werden soll. nen Risotto alla milanese ganz ohne Speise- Umgesetzt werden soll dies durch die Ein- blattgold, sondern mit dem flach auf dem bindung von Industrie und Marketing, mit Teller verteilten Reis geboten. Durchblät- Luca Vercelloni als weitsichtigem Wegberei- tert man dann die nach den italienischen ter, der gemeinsam mit Marchesi 2001 das Regionen unterteilten Kapitel, stösst man Buch La tavola imbandita. Storia estetica auf Bucatini all’amatriciana mit folgender della cucina verfasst. Darin wird quasi als Erörterung: «Sie schmecken mir sehr gut. roter Faden vom Renaissancebankett bis Dank ihres intensiven, feurigen Geschmacks hin zu Marchesis Hummergericht Astice sind sie das ideale Gericht zur Krönung ei- alla crema di peperoni dolci eine historische nes fröhlichen Abends mit Freunden.» Noch Lesart der Kochkunst bzw. der daraus ent- besser die Spaghetti alla carbonara, zu de- standenen Gerichte geboten, die das kulina- nen er als waschechter Mailänder erörtert: rische Erbe Italiens aufwertet und (zumin- «Der guanciale kann durch pancetta ersetzt dest) auf die gleiche Höhe wie das werden» – also der Speck von der Backe des französische stellt. Disziplinen, denen Aus- Schweins durch dessen Bauchspeck. Um darauf allerdings festzustellen: «Das geht natürlich, aber es ist nicht dasselbe.» Mit La cucina regionale italiana hält Marchesi Ein- zug in die italienischen Haushalte, tritt in einen Dialog mit allen, die am Herd stehen, und berät sie, allerdings mit einer gewissen Zurückhaltung. Der Sternekoch kann es sich erlauben, in verschiedenen Rollen auf- zutreten, also die via Bonvesin de la Riva hin- ter sich zu lassen und einen Freund zu besu- chen, ihm zu helfen, um dann mit ihm zu essen. Marchesi erkennt so ein Italien, in dem die Hausmannskost ein wertvolles Erbe darstellt, das nur scheinbar der Gegenpol zu seiner kreativen, künstlerischen Küche ist. Er beschliesst daher, sich diese Hausmannskost zeichnungen mit Sternen eher fremd waren, begannen somit die kulinarische Avantgar- de zu bereichern, die nun nicht nur Malerei und Musik, sondern auch Marketing und Die Brigade des Geschichte für sich entdeckte. Einzelne Restaurants in der via Bonvesin de Kunden Marchesis hatten ihre Kultur ins la Riva in Mailand Restaurant mitgebracht, doch nun ging es im Eröffnungsjahr 1977. Hinter darum, eine totale Küche (cucina totale) zu Marchesi Giuseppe begründen, nicht nur nach Marchesis Visi- Vaccarini, weltbester Sommelier 1978. on in seinem Restaurant, sondern generell im Mailand der damaligen Zeit, wo in die- Rechts: Im Weinkeller sem Bereich Akteure aller Art tätig waren seines Restaurants und somit ein interdisziplinärer Ansatz na- in Erbusco mit Sommelier Luca helag. Marchesis unvorhersehbare Vorge- Zanini, 2002. hensweise entspricht seiner Vision von VIII
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe ..................................................................................................................................................................................................................... Rechts: zu eigen zu machen, indem er mit den Be- Gualtiero Marchesi, Ossobuco in grifflichkeiten der Zutaten spielt und ein gremolada con Gericht mit dem Titel Orecchiette, brocco- risotto alla milanese, 2008. letti e foie gras vorstellt, bei dem die foie gras in der Pfanne gegarte, knusprige En- Links: Omaggio a Gualtiero tenleber ist. Sein Freund Troisgros hätte Marchesi, Gericht kein Problem damit gehabt, diese Bedeu- von Pietro Leemann, 2010. tung zu akzeptieren: «Ah! Ces italiens…» Marchesis Team war inzwischen um einiges Unten: Vor dem Eingang grösser geworden, Mitte der 1980er-Jahre des Restaurants hatte er bereits 24 Mitarbeiter, 12 in der Kü- «Gualtiero Marchesi» in Erbusco, 2011. Erbusco, finanziert durch den Unternehmer Vittorio Moretti, ist also kein Selbstläufer, doch das Land mit seinen Weinbergen und seiner Ruhe tun Gualtiero als neuer Zu- fluchtsort gut. Da er allerdings nichts dem Zufall überlässt, überdenkt er in der Fran- ciacorta weiter einiges, sogar den Usus, Wein zu den Gerichten zu reichen – dass er sie etwa wieder einfach von Wasser beglei- ten lässt, wird immer charakteristisch für seinen kritischen Geist bleiben. che und 12 im Service. In den 1990er-Jahren In Mailand sind einige seiner Schüler be- gestaltet sich das Management dann immer reits selbstständig tätig. Pietro Leemann schwieriger, und mit dem Ausbruch des aus Locarno etwa eröffnet das vegetarische Tangentopoli-Skandals in Mailand 1992 be- Restaurant «Joia», wo Interessierte heute ginnt er, an «eine andere Zukunft» zu denken die Marchesi-Schule kennenlernen können. und verlässt das Lokal in der via Bonvesin de Pietro sollte immer einen Kult um den Ma- la Riva. Welche Restaurants verdienten nun estro pflegen, noch 2016 überlässt er ihm eine Reise und den Besuch eines Gourmets für die Präsentation seines zweisprachi- aus Mailand? Nadia Santini und ihr Lokal «Il gen Buches I Cuochi (Englisch und Italie- Pescatore» in Canneto sull’Oglio in der Nähe nisch) ein weiteres Mal das Wort, und im von Mantua zum Beispiel (3 Michelin-Sterne Buch ist das Rezept zu einer Erbsencreme 1996). In quasi entgegengesetzter Richtung, nämlich in Ameglia bei La Spezia (Ligurien), auch Angelo Paracucchis «La Locanda dell’Angelo». Wer in der Nähe bleiben wollte, fuhr dagegen mit dem Auto nach Maleo bei Lodi ins «Sole» von Franco Colombani – «eine herausragende Persönlichkeit der ita- lienischen Gastronomie», so der Gourmet- führer Guida de l’Espresso 1992. Nachdem Marchesi sich in der Franciacorta (Provinz Brescia) niedergelassen hatte, kam ein wei- teres Ziel hinzu: das «L’Albereta» in Erbu- sco. In den Führern stiess es allerdings nicht immer auf begeistertes Echo, wie das eher nüchterne Urteil der Accademia Italiana della Cucina von 1999 zeigt: «Geschäftsre staurant in einem Relais-Hotel mit Bespre- chungsräumen, Pool, Park und Panora- ma.» Marchesis Umzug von Mailand nach IX
Gualtiero Marchesi ..................................................................................................................................................................................................................... mit Haselnusspesto und Trüffelschaum hält dort Vorträge, dann geht er auf Reisen, namens Omaggio a Gualtiero Marchesi zu unter anderem mehrmals nach Japan, wo- finden. Carlo Cracco dagegen arbeitet in hin er nicht nur seine Eigenmarkenproduk- den ersten drei Jahren im «L’Albereta», te mitnimmt, sondern eine Avantgarde der um dann ins Piemont nach Piobesi d’Alba italienischen Küche, die nicht nur die Gäste zu gehen, wo er das Restaurant «Le Clivie» satt machen, sondern vor allem ein kulinari- leitet. 2001 kehrt er jedoch wieder nach sches Vermächtnis fortführen soll, das ihm Mailand zurück, dem Ruf des Gastrounter- letztlich die Rolle eines grossen Erneuerers nehmens «Peck» der Gebrüder Stoppani fol- verschaffen wird. Auch die Arbeit der «So- gend, und wird Küchenchef des «Ristorante cietà Gualtiero Marchesi» geht in diese Cracco Peck». Auch Cracco beschliesst, sich Richtung, und Marchesi wird nach einem dem Risotto auf völlig neue Weise zu nä- Leben im Zeichen der Lehrtätigkeit in Restau- hern, und veröffentlicht sein Rezept 2006 rantküchen zum Präsidenten der ALMA be- im Buch Sapori in movimento. Es ist ein Ri- rufen, einer neuen internationalen Schule sotto allo zafferano con midollo alla piastra, für italienische Küche mit Sitz im Schloss also mit Safran und Mark. Das Speiseblatt- von Colorno. gold wird durch das Mark in der Mitte des Da Marchesi nunmehr Legendenstatus er- Tellers ersetzt, und alles ist rund. Andrea langt hat, kann er sich Dinge erlauben, die Berton ist der dritte Schüler, der hier er- 20 Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wähnt werden soll: Er wird 2005 Küchen- waren: In der italienischen Fassung von chef im Restaurant «Trussardi alla Scala», Walt Disneys Ratatouille leiht er etwa dem also exakt neben dem «Biffi», das später Gesundheitsinspektor seine Stimme, aus- zum «Marchesino» werden wird. Näher serdem entwickelt er für McDonald’s zwei kann man sie sich kaum vorstellen – nicht Burger, Adagio und Vivace, die dann in den nur kulinarisch, sondern auf dem Platz, wo Filialen verkauft werden. Burger bezie- sich Rathaus und Oper gegenüberstehen hungsweise panini hatte Gualtiero seit den und sich ein- und dieselbe Kunst- und Ideen- 1960er-Jahren für Händler zubereitet, be- schule stolz präsentiert. sonders gut angekommen war ein panino Marchesis Schüler schlagen nach langen mit Butter, Thunfischbauchfilet, in Essig Lehrjahren unter dem wachsamen Auge ih- eingelegten Zwiebeln und Sardellenfilets. res Meisters die verschiedensten Wege ein. Doch etwas lässt ihm keine Ruhe: Er über- Paolo Lopriore kehrt nach Erbusco zurück arbeitet und diktiert Schilderungen von und ermutigt Marchesi, wieder mit vollem bislang unveröffentlichten Episoden aus Einsatz weiterzuarbeiten und zu forschen. seinem Leben, und 2011 erscheint für seine In Zusammenarbeit mit Lopriore entstehen Freunde Mia moglie Antonietta, gewidmet Gerichte wie Il rosso e il nero, Seeteufel mit seiner Frau und ehemaligen Klavierlehre- roher Tomatensauce und Sepiatinte, dessen rin, die mit zwei kleinen Töchtern von ei- Name auf einen Roman von Stendhal ver- nem Mann, der auf der Suche nach einem weist, nämlich Le rouge et le noir (Rot und Schwarz). Im Restaurant werden vier De- gustationsmenüs mit verschiedenen kulina- rischen Schwerpunkten angeboten: ein Pas- tamenü ein vegetarisches, ein traditionelles und ein kreatives Menü. Dazu eine auserle- sene Käsekarte; jeder Käse wird in einem besonderen Kühlschrank bei der jeweils passenden Temperatur und Feuchtigkeit gelagert. Cucina totale und cucina tradizio- nale gehen Hand in Hand, es wird über jedes Gericht und den entsprechenden Kontext nachgedacht. Erbusco ist nicht gross, hat jedoch ein kleines Theater, das Platz für Mit seiner Brigade in der Küche, Erbusco, Veranstaltungen vor versammelten Zu- 2002. schauern und Journalisten bietet. Gualtiero X
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe ..................................................................................................................................................................................................................... sondern ein neues Leben, die Jugend im Al- ter, Marchesi stets bereit, den neuen, zuvor undenkbaren Weg immer weiter zu be- schreiten. Zur Krönung folgte 2015 wieder ein Buch: La cucina italiana. Il Grande Ricet- tario mit Rezepten der «Accademia Gualtie- ro Marchesi» und von Fabiano Guatteri. Die von Marchesi selbst ins Leben gerufene und nach ihm benannte Stiftung hat dieses Erbe nach seinem Tod 2017 überantwortet bekommen. So inspiriert Gualtiero die mo- derne Kochkunst durch seine Schüler wei- ter und bereichert mit einmaligen Ideen eine italienische Esskultur, deren Zentrum Mailand ist, an der via Bonvesin de la Riva, aber auch im Restaurant im «Grand Hotel Tremezzo» anzutreffen und in aller Welt Im «Marchesino» neuen Weg und seiner eigenen Küche in präsent ist. Gerichte und Musik, Bilder und während der Dreharbeiten zum Frankreich war, «zurückgelassen» worden Kunst hatten vor Marchesi zu Hause und in Dokumentarfilm war. Als alter Mann spricht er ihr nun aber- den Lokalen nie auf diese Weise koexistiert, «Gualtiero Marchesi: The Great Italian», mals seinen Dank aus: «Danke, mein Schatz, und nun verfügt man über eine Art Regel- 2016. dass du mir dein Leben und diese beiden werk mit Rezepten und Events für die Zu- Töchter geschenkt hast.» Was sich in Erbu- kunft, bereichert durch sein geistiges Erbe. sco zugetragen hat, ist wirklich erstaunlich. Es werden Hefte wie etwa jenes mit dem Marchesi hat im «L’Albereta» eine solide Ba- Titel Italia-Francia herausgegeben, Ausstel- sis gefunden, wo er dank der Gastfreund- lungen mit seinem Bild, seinen Geräten, sei- schaft und Unterstützung des Weinprodu- nen Gerichten organisiert und legendäre zenten Moretti Vergangenheit und Gegenwart Kreationen wie Riso, oro e zafferano geschaf- erfolgreich unter einen Hut bringen kann, fen: Letztere ist seit nunmehr 50 Jahren im und gerade, weil er sich selbst kritisch als wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde. «Maestro» sieht und den Erfolg seiner eige- Dass aus dem «Albergo Mercato» ein Genie nen Schüler miterlebt, lehnt er die 3 Miche- hervorgegangen ist, scheint fast unglaub- lin-Sterne ab. lich, doch wir spüren, wie er in uns, die wir Unerwartet dann seine Rückkehr nach Mai- versuchen, uns mit seinem Leben zu befas- land, wo er ein Lokal im Gebäude der Scala sen, weiterlebt, und wir verstehen, dass die bezieht, das ehemalige «Biffi Scala». «Inner- italienische Küche nicht mehr dieselbe ist. halb eines Jahres habe ich im ‹Marchesino› Auch ich, der ich Artusi (die italienische neue Gerichte wie Carn’è pesce aus der Taufe Kochfibel schlechthin) studiert habe und gehoben, eine Komposition aus Rinds- und gleichzeitig die Gegenwart dokumentiere, Seebarschfilet, begleitet von dreierlei Sau- suche Ideen und Eingebungen, indem ich cen, einer Mayonnaise mit Senf, einer Toma- seiner Stimme lausche, die mich mit einfa- tensauce und schliesslich einer salsa verde», chen Worten wie riso, raviolo oder seppia, so Marchesi in seiner Autobiografie. Er mit Wortspielen wie Carn’è pesce oder mit träumt darin von unzähligen «Marchesino»- einer immer neuen Herangehensweise an Restaurants, vor allem von einem in Venedig, die Dinge in ihren Bann zieht. Dieser bio- der romantischen Kunststadt. Essen und grafische Überblick ist zum Prüfstein für Musik, das Publikum wird die Freude haben, mich geworden, das Urteil sei dem geneig- «eine noch nie dagewesene Version des Lieds ten Leser überlassen. Gagarella del Biffi Scala mit mir selbst und Stefano, alias Elio von Elio e le Storie Tese, * Alberto Capatti als aussergewöhnlichen Interpreten zu hö- Küchenhistoriker ren.» Nach seinem Wirken in der via Bonve- sin de la Riva und dem «L’Albereta» war all das keine Rückbesinnung auf Früheres, XI
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe ..................................................................................................................................................................................................................... Vormachen ist die höchste Form des Lehrens von Enrico Dandolo* Links: Mit seiner Brigade in der Küche des «Albereta», Erbusco, 2002. Auf dieser Seite: In der Küche des «Marchesino», Mailand, 2010.
Gualtiero Marchesi ..................................................................................................................................................................................................................... Es heisst immer, dass die heutige Wirt- Maestro Marchesi gern und oft verwende- schaft wissensbasiert ist. te, um sein Verständnis der Kochkunst zu Wissen oder Nichtwissen entscheidet da- veranschaulichen, spricht Bände. rüber, wer einen passenden Beruf findet Wie Musiker können auch Köche in zwei und wer im unqualifizierten Bereich und in Kategorien eingeteilt werden: Ausfüh- prekären Arbeitsverhältnissen landet. rende und Komponisten. Schon eine gute Die Kochkunst ist eine grossartige Schule, Ausführung, bei der die Partitur bezie- wo Gehorsam und Disziplin gefragt sind, hungsweise das Rezept aus dem Effeff be- man bereit sein muss, Opfer zu bringen. herrscht wird, ist bemerkenswert, denn es Sie kann allerdings auch zur schlechten ist das Ziel des Koches, gut zu kochen, die Schule werden, wenn all das nicht mit Ausgangsprodukte zu respektieren und Leidenschaft gelebt wird, also nicht wie die Technik perfekt zu beherrschen. etwas, das uns wirklich etwas angeht und uns dabei hilft, uns von unserer besten Komponisten gibt es wenige, Künstler sind Seite zu zeigen. Alles hängt also vom Schü- überhaupt rar. Doch auch ein solcher Weg ler und natürlich auch vom Lehrer ab: bei kann durch Lernen und persönliche Be- Ersterem davon, wie aufnahmefähig er ist gegnung beschritten werden. Aus diesem und wie gut er Informationen verarbeiten Grund eröffnete Gualtiero Marchesi in der kann, bei Letzterem von seiner Autorität via Bonvesin de la Riva auch die nach ihm und Kompetenz. benannte Akademie. Gualtiero Marchesi erzählte oft, dass er in Man hatte ihm den Beinamen «Maestro di seiner Jugend so lange nachzufragen pfleg- cuochi» gegeben, womit eine grosse Verant- te, bis er eine ausführliche Antwort erhielt, wortung auf seinen Schultern lastete, der er bis er wusste, warum so und nicht anders sich nicht mehr entziehen konnte. Tatsäch- vorzugehen war. Wenn niemand antwortete, lich ging eine ganze Generation von Köchen hiess das, dass es auch niemand wusste und aus seinen Küchen hervor, und die meisten alle die Sache einfach passiv ausführten. von ihnen waren erfolgreich. Neugier ist elementar, sie ist Grundlage al- Es sei hier betont, dass es sich dabei nicht len Wissens, weckt die Entdeckerlust und um blosse Kopien von Marchesi handelt, im sorgt dafür, dass man, sobald man sein Gegenteil. Ein guter Lehrer bringt sich stark Handwerk beherrscht, immer am Puls der ein, gibt die Richtung an, lässt den Schülern Zeit bleibt und sich auch im Alter seinen aber immer genug Freiheit, ermahnt sie, staunenden Blick auf die Welt bewahrt. wenn nötig, erniedrigt sie jedoch nie. Ohne Neugier gibt es kein Staunen und Das Wunder geschieht, wenn der Schü- keine Wunder, und die Arbeit folgt einem ler plötzlich nach all den Mühen versteht, langweiligen Alltagstrott. Marchesi wurde dass er keine Zeit verschwendet hat, und oft gefragt, wie er die Inspiration zu seinen endlich in der Lage ist, das zu tun, was er Gerichten fand, und seine Antwort war im- wirklich möchte. mer dieselbe: Inspiration ist überall. Eine bestimmte Situation, eine Person, ein Satz, ein Berg, eine Erinnerung, ein Duft, ein Bild oder eine Skulptur können der Funke sein, der etwas entzündet, doch muss man immer empfänglich für Neues sein, sonst wird kein Feuer entfacht, und die Inspira- tion schlägt nicht zu. Um diese Offenheit weiter zu fördern, muss Mit Enrico Dandolo man immer neugierig bleiben und sich bei der Eröffnung der Accademia weiterbilden. Neugier und Bildung gehen Gualtiero Marchesi, Hand in Hand. Mailand, 2004. Im Hintergrund in der Köche müssen lesen, reisen, Ausstellungen Mitte der Bildhauer und Konzerte besuchen – so wie alle, die et- Aldo Spoldi, rechts der Pianist Antonio was zu denken und zu sagen haben. Ballista. Der Vergleich aus der Musikwelt, den XIV
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe ..................................................................................................................................................................................................................... Marchesi geizte nie mit Ratschlägen und dem die richtige Richtung einzuschlagen ist, empfand niemals Neid gegenüber denen, was in unserem Fall bedeutet, dass wir die die verstanden hatten. Jedes Mal, wenn er «Bibeln» der grossen Köche studieren müs- unterrichtete und erklärte, was Kochen be- sen, die den Grundstein für die Kochkunst deutet, wurde ihm wieder klar, dass das die gelegt haben, dass wir lernen müssen, ihre Re- interessanteste Art war, etwas zu lernen. zepte zu lesen, sie in ihrer ganzen Bedeutung Inwiefern? In dem Sinne, dass man das, eingehend zu durchleuchten, zu analysieren was man im Kopf hat, besser versteht, und darüber zu diskutieren, um verstehen zu wenn man es erklären muss, und bestimm- können, welches Detail entscheidend für die te Meinungen vielleicht sogar ändert, wenn Originalität einer neuen Idee ist. Das entspre- man Fragen interessierter und neugieriger chende Rezept muss daher wieder und wieder Schüler beantworten muss. gelesen werden, denn auch nach tausend Mal Seine Gedanken zum Unterrichten sind in Durchlesen gibt es immer etwas Neues zu ent- folgendem Satz, den er sehr gern zitierte, decken, das uns vielleicht ermutigt, einen neu- am besten auf den Punkt gebracht: «Vor- en Weg einzuschlagen, um eine neue Art der machen ist die höchste Form des Lehrens.» Umsetzung auszuprobieren oder etwas Ande- Manchmal bemerkte er, dass gewisse res, Raffinierteres zu schaffen. Schritte bei der Zubereitung eines Ge- Allerdings ist es natürlich so, dass junge Men- richts nicht perfekt ausgeführt worden schen noch nicht mit allen Aromen, Gerüchen waren, worauf er sofort zum verantwort- und Geschmäckern, die mit der Erfahrung lichen Chef de Partie ging, um herauszu- und der Praxis Form annehmen, in Kontakt finden, woran es lag. Fast immer war einer gekommen sind. der Gehilfen schuld, der nicht gut genug war, worauf Marchesi nachbohrte: «Hast du ihm gezeigt, wie es geht? Bist du neben ihm gestanden, als er es zubereitet hat?» Er versuchte also, allen Mitgliedern der Küchenbrigade zu vermitteln, dass man sein eigenes Wissen weitergeben muss oder sich an seine Vorgesetzten zu wen- den hat, wenn man nicht weiss, wie man einen bestimmten Schritt ausführen soll. Es ist wichtig, sich den jungen Leuten zu widmen, um das Talent zutage zu fördern, das in allen schlummert, und um heraus- zufinden, wie man ihm zur Entfaltung ver- helfen kann. An dieser Stelle scheint es mir angebracht, eine Passage aus einem von Marchesis Texten aus den 1980er-Jahren, die seine Gedanken perfekt auf den Punkt bringt, im Wortlaut wiederzugeben (aus Doch wie in der Musikwelt müssen nicht un- Oltre il fornello, Neuausgabe 2009). bedingt alle gute Komponisten sein, damit gute Musik entsteht; es genügen grossartige «Mein Rat an junge Köche ist immer, sich mög- Ausführende, um ein absolut bemerkenswertes lichst für alles zu interessieren, was ihnen hel- Endergebnis zu erzielen. Dennoch ist es ent- fen kann, ihre Kenntnisse zu vertiefen. Alles, scheidend, dass bestehendes Wissen ständig was in unserem Gedächtnis abgespeichert ist, durch ein niemals schwindendes Interesse an versetzt uns in die Lage, auf externe Reize zu allem, was unser Leben ausmacht, vertieft Porträt aus reagieren, indem neue Reize geschaffen wer- wird. Die Aneignung dieses Wissens, der Bil- dem Jahr 1990. den, indem es dafür sorgt, dass sich bei uns dungserwerb ist mit einem Fluss vergleichbar, Die Farben der Servietten erin- eine Meinung herausbildet. Genau in dieser der als kleiner Bach im Gebirge entspringt und nern an die sieben Lernphase, in der, ohne dass es uns wirklich dann durch die Zuflüsse auf dem Weg Rich- Pinselstriche von Marchesis bewusst ist, unser kultureller Hintergrund tung Meer immer mehr anschwillt. So sind Markenzeichen. Form annimmt, kommt dann der Moment, in Geschichte, Philosophie, Kunst, Geografie und XV
Gualtiero Marchesi ..................................................................................................................................................................................................................... Mit Pierre Troisgros jede andere Wissensquelle, die zum Bildungs- und seinem Sohn Michel beim erwerb beiträgt (wie die Zuflüsse unseres Flus- Kongress «Identità ses), entscheidend für die Herausbildung und golose», Mailand, 2007. freie Entfaltung unserer Persönlichkeit, weil sie schliesslich unsere Art, zu leben, bestimmen. All das entscheidet nun über die Persönlich- keit eines Menschen, doch natürlich wird diese auch stark durch seine gewohnte Um- gebung und das dortige Mikroklima geprägt. Beide Faktoren formen den Charakter jedes einzelnen von uns, je nach geografischer Lage unseres Geburtsortes. Ich stamme aus der Lombardei und ernähre mich gleichsam vom Mikroklima meiner Region. Beweis dafür ist die klassische Situation, in der wir wohl alle Oft stelle ich fest, dass in Italien die ältere schon einmal waren: Wir haben eine Flasche Generation von Köchen ihre Kenntnisse über- guten Weins aus einer Region oder einem haupt nicht an den Nachwuchs weitergibt. Land weit weg von daheim mitgenommen. In Ausserdem sind oft Leute, die knapp in ihren seinem Ursprungsgebiet hat er hervorragend Zwanzigern, also praktisch dafür unvorbe- geschmeckt, doch wenn wir die Flasche fernab reitet sind, als Lehrer mit der Ausbildung der dieses Gebiets in einem anderen Mikroklima neuen angehenden Köche betraut. Wie viel öffnen, ist er nicht mehr wiederzuerkennen. kann jemand vom Kochen verstehen, der nicht Nun verändert sich der Wein aber in der kur- über die Erfahrung verfügt, die sich die wah- zen Zeit bis zum Öffnen der Flasche nicht, ren Meister durch Aufopferung und eisernen sondern es ist unsere jeweilige Beziehung Willen in all den Jahren, in denen sie am Herd zum Mikroklima des neuen Gebiets und des gestanden sind, angeeignet haben? Ursprungsgebiets, die bei uns zu einer verän- Sich einen Namen zu machen gelingt nur de- derten Wahrnehmung des Geschmacks führt, nen, die auf eine Zeit der konstruktiven Arbeit denn dieser ist völlig gleichgeblieben. in der ‹Werkstatt› eines oder mehrerer Lehrer Und noch ein Rat: Schaut nicht lange auf das mit grosser und nachweislicher Erfahrung so- Foto des servierfertigen Gerichts, versucht wie allumfassendem Wissen in Sachen Koch- nicht, es zu kopieren, weil es wahrscheinlich kunst zurückblicken können. Beweis dafür ist, nur eine schlechte Kopie werden würde. Das dass die spärliche Schar der heutigen Meister- Bild würde euch nur beeinflussen, während köche in meinem Restaurant oder in Restau- sich bei aufmerksamer Lektüre des Original- rants anderer namhafter Kollegen ausgebildet rezepts eure Kreativität frei entfalten kann wurde, also auf diese Weise Wissen erwerben und ihr, wenn ihr eurer Phantasie vertraut und es durch praktische, direkt im Arbeitsum- habt, unzählige andere mögliche Varianten feld erlernte Kenntnisse vertiefen konnte. im Kopf haben werdet. Lernen darf kein Kor- Nur so, durch die Tätigkeit in verschiedenen sett sein, das einen nicht mehr atmen lässt, Küchen, in denen vor allem auf die Hochwer- sondern man muss herausfinden, wie der in- tigkeit des Produkts geachtet wird, konnten nere Mechanismus ausgelöst wird, durch den sie sich selbst einen umfassenden Erfahrungs- sich die Vorstellungskraft entfaltet, der die schatz aneignen und somit zu den neuen Spit- zündenden Einfälle kommen lässt, durch den zenvertretern der modernen und kreativen Neues geschaffen und auf einen durch Lektü- Küche werden. Wenn Qualität angestrebt re und Nachdenken erworbenen Erfahrungs- wird, ist es der Koch, der dem Kunden beibrin- schatz zurückgegriffen werden kann, damit gen muss, wie man isst. die Kenntnisse, die man sich angeeignet hat, In Frankreich ist die Situation diesbezüglich auch einen konkreten Niederschlag finden. wahrscheinlich etwas besser, weil die fran- So setzt ein Künstler diese gedanklichen Vor- zösische Esskultur auf der soliden Basis be- stellungen in seinen Werken um, und so baut ruht, die von den berühmten, in den grossen sich auch ein junger Koch gleichsam ein ‹gol- französischen Hotels mit fast schon religiöser denes› Rezept im Kopf auf, auf das er stolz Ehrerbietung die klassische Küche pflegenden sein kann. Köchen geschaffen wurde. XVI
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe ..................................................................................................................................................................................................................... Die neue Generation französischer Spitzen- In Spanien hat Ferran Adrià die spanische köche ist also durch die Schule der grossen Küche buchstäblich auf den Kopf gestellt. Er Hotels gegangen, doch viele von ihnen stam- hat allerdings keine neue Küche geschaffen, men bereits aus Familien, die im Gastgewerbe sondern eine ‹chemische› Küche, die struktu- tätig waren: so etwa auch Paul Bocuse, der rell ausschliesslich auf neuen Verarbeitungs- seinem Vater und seinem Onkel nachfolgt, methoden der Ausgangsprodukte beruht, er- oder die Gebrüder Troisgros, die ebenfalls in funden. Damit überraschte er alle sehr, doch die Fussstapfen ihres Onkels und ihres Va- da diese Art der Küche ausserhalb des Berei- ters treten. Die Familie Troisgros nenne ich ches der wahren Küche angesiedelt ist, ist sie auch immer gern als Beispiel für Kontinuität nunmehr nur noch eine ‹alte› Neuerung. in der Tradition, sie modernisieren ihren Be- Völlig entgegengesetzt, wenn man schon von trieb ständig. Michel, dem Sohn von Pierre Chemie sprechen will, ist die sympathische Troisgros, ist es gelungen, sich die grosse Er- Definition des Koches durch den grossen Er- fahrung seines Vaters und seines Onkels Jean nesto Illy – für ihn ist er ein ‹Chemiker der zu eigen zu machen, die schon quasi natürli- Intuition›. Genau diese ‹intuitive Chemie› ist cherweise all die Kunst in sich vereinten, die es denn auch, dank der verbrannte Pfannen sie wiederum vom alten Familienvater gelernt und zerkochtes Fleisch vermieden werden hatten. Darauf beruhend konnte Michel den können: Profikoch ist, wer seine Arbeit kor- Grundstein für die Weiterentwicklung einer rekt, mit Umsicht und Intelligenz auszufüh- ohnehin schon perfekten Kochkunst legen. ren weiss. Auch die Räumlichkeiten des Restaurants In diesem Sinne dominiert in der Kochkunst wurden von ihm mehrmals erneuert, wie es immer mehr die Leichtigkeit, man ist stets schon seine Vorgänger getan hatten, um sie auf der Suche nach Schlichtheit, um die Qua- an die jeweils herrschenden Anforderungen lität der Ausgangsprodukte zu betonen. Die anzupassen, denn diese ändern sich ständig. Techniken der Vakuumverpackung und des Niedrigtemperaturgarens, beide recht neu, wurden exakt zur Erreichung dieses Ziels entwickelt. Ich war auch tatsächlich begeis- tert, als ich zum ersten Mal von Niedrigtem- peraturgaren hörte, doch nach einigem Nach- denken wurde mir klar, dass diese Methode im Grunde genommen der Fleischreifung ent- spricht. Wenn ein Produkt acht bis zehn oder zwölf Stunden lang gegart wird, kann man zweifellos sagen, dass es einer Verarbeitungs- methode unterzogen wurde, die eine gute Al- ternative zur Reifung darstellt, weil sie die- selben Ergebnisse gewährleistet. Diese ‹neue Philosophie› in der Küche hat uns der Kunst und der Wahrheit immer näher ge- Doch in der Küche setzt Michel auf eine Fort- bracht. Das bedeutet letztlich, dass die Kunst setzung der grossen Tradition, die er mit- das Mittel ist, das uns zur Wahrheit hinführt. bringt. Umgesetzt wird das durch Lösungen, Und wenn ich von der Reinheit eines Produkts die eben nicht im Widerspruch zur Tradition spreche, beziehe ich mich auf mein Konzept stehen, aber dem Tempo des modernen Lebens ‹meno cucina› (‹weniger Küche›), mit dem ich entsprechen, wie es Escoffier 1902 formulierte. erreichen wollte, dass der Hochwertigkeit des Bei uns gab es kaum vergleichbare Erfolgsge- Produkts mit der richtigen Zubereitung und schichten. Die Besten sind oft Autodidakten, der Aufwertung der Präsentation entspro- weil es in Italien keine Spitzenschule gibt, die chen wird. die Besten ausbildet. Somit bleiben die Besten Wenn ich mir heute mein Kochbuch an- oft die einzigen ‹Besten›, ohne dass weitere sehe, das 1980 mit Rezepten von 1978 und Mit Yannick Alléno Spitzenkräfte ausgebildet werden können. 1979 erschien, erkenne ich, dass die von mir im Restaurant «Ledoyen», Paris, Doch so wird nichts geschaffen, um die Profes- kreierten Gerichte, die damals, vor 30 Jah- 2016. sionalität in einem Land weiterzuentwickeln. ren, als kühn betrachtet wurden, keinesfalls XVII
Gualtiero Marchesi ..................................................................................................................................................................................................................... Köche hatten eben sämtliche Phasen dieser langsamen Entwicklung der Kochkunst und der damit einhergehenden Anpassungen an die Ernährungsgewohnheiten einer neuen und sich ständig wandelnden Gesellschaft durch- laufen. Doch wenn nur ein paar junge oder auch weniger junge Köche durch die Arbeit in den noch heute von grossen Meistern geleite- ten Küchen Erfahrungen sammeln und diese Chancen nutzen konnten, haben sie bestimmt alles in der Hand, um sich einst zu den grossen Köchen zählen zu können.» Die Ausbildung ist somit der wichtigste Faktor für die Weiterentwicklung der ita- lienischen Küche, sowohl in Italien selbst als auch in den anderen Ländern der Welt. Leider wurde das Thema der Berufsaus- bildung der Köche niemals mit dem nöti- gen Ernst angegangen. In den 1970er- und Phantasiegerichte, sondern in ihrer Zuberei- 1980er-Jahren gingen gut ausgebildete Be- tung der Tradition verhaftet waren: Ich hatte rufsköche aus den Hotelfachschulen hervor, nichts anderes getan, als Zusammensetzung, man denke etwa an das «Istituto Alberghie- Garung und Präsentation zu erneuern (sowie ro» in Stresa, das «Carlo Porta» in Mailand die Kombinationen und die Abfolgen der Me- oder auch an die Schulen in Como, San Pel- nüs). Vor allem hatte ich das neue, exklusive legrino usw. Dann wurden die Mittel lang- Kontrastkonzept eingeführt, das sich dann als sam immer knapper, und die Ausbildung zutreffend erwies und daher weiterentwickelt war nicht mehr so effizient wie früher. 2004 werden sollte. war Marchesi Mitbegründer der Koch- Natürlich ist es sehr schwierig, diese Konzep- schule ALMA, die aus den Absolventen der te auf diejenigen zu übertragen, die nicht wie Hotelfachschulen professionelle Köche ma- ich den ganzen langen Weg gegangen sind, der chen sollte. Doch das Projekt blieb in der mich bis dorthin führte. Die Franzosen hat- Anfangsphase stecken. Nach Marchesis ten sich auf die Kunstfertigkeit (und Künst- Idee sollten die jungen Leute ihre Studien lichkeit) der Saucen eingeschossen (ein ‹ma- nach einem Jahr praktisch-technischer gisches› Element, mit dem man zahlreiche Ausbildung mit grösserer Bewusstheit ver- Lebensmittel ‹verjüngen› konnte), als es in tiefen, doch diese zweite Projektphase wur- der Küche noch nicht all die Konservierungs- de nie in die Tat umgesetzt, sodass diese techniken gab, die es heute gibt. Wenn ein Ban- Schüler heute glauben, nach nur fünf Mo- kett in einem grossen Hotel stattfand, musste naten Schulbesuch und weiteren fünf Mo- alles im letzten Moment vorbereitet werden, naten Lehre fertige Küchenchefs zu sein. unabhängig von der Anzahl der Gäste! Heute dagegen wird alles lange im Voraus von Cate- ringfirmen, die durchaus auch sehr gute Qua- lität bieten, vorbereitet: Sie setzen dabei auf Beim Anrichten hochtechnisierte und zweifellos sichere Mittel, im Speisesaal seines Restaurants in die dank der neuen Konservierungssysteme Erbusco, 2010. eingesetzt werden können. Rechts: Letztlich gilt es zu bedenken, dass die jungen Mit seinen Leute hier nicht wirklich von der Erfahrung Schwiegersöhnen Enrico Dandolo und der älteren Generation profitieren konnten, Michel Magada im weil der Übergang von der grossen Küche von Schloss von Colorno (Provinz Parma), einst zur Küche, die von den Kunden heute er- 2010. wartet wird, so schnell erfolgt ist. Die älteren XVIII
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe ..................................................................................................................................................................................................................... Der «Maestro» während eines Kurses für professionelle Köche in seiner Accademia, Mailand, 2016. Im Vordergrund (Nierchen schneidend) der Executive Chef der Accademia Antonio Ghilardi, rechts von Marchesi Osvaldo Presazzi, Executive Chef des Restaurants «Terrazza Gualtiero Marchesi» in Tremezzo (Provinz Como). Daher gründete Marchesi 2014 die «Ac- Bevor sie ihrer Kreativität freien Lauf las- cademia Gualtiero Marchesi», die die Ein- sen können, müssen sie sich natürlich in- stellung der Köche ändern sollte: Kochen tensiv mit Kochtechniken, Tradition und nicht als Selbstzweck, sondern als künst- Produkten befassen. Um es auf den Punkt lerisches Ausdrucksmittel. Zur Erreichung zu bringen, könnte man zwei Begriffe nen- dieses Ziels sind jahrelange Arbeit und nen: Notwendigkeit und Exzellenz. Der Vertiefung auf intellektueller Ebene nötig, Begriff der Notwendigkeit umfasst die ablaufen muss das parallel. Und wer sich grundlegenden Kenntnisse über die Aus- mehr Bewusstheit und eine solide kulturel- gangsprodukte und ihre Verarbeitung, le Basis für sein Kochhandwerk wünscht, die Beherrschung der Technik. Denn wie sollte die Möglichkeit haben, seine Studien schon der Komponist Béla Bartók sagte, ist im Rahmen eines Lehrgangs in Kochwis- die Kenntnis der Materie Voraussetzung senschaften auf universitärer Ebene fort- für die Improvisation. zusetzen. Mit dieser Aufgabe hat Marchesi Exzellenz ist laut Marchesi die Fähigkeit, die von ihm gegründete Stiftung betraut, Kochen zur Kunstform zu erheben: «Ko- umgesetzt wird dies durch das Angebot an chen ist eine Wissenschaft. Der Koch macht seiner Akademie. daraus eine Kunst.» Die von Marchesi entwickelte Ausbildung beginnt mit einem Kurs namens «Die Kö- *Enrico Dandolo che der Zukunft» für die besten Absolven- Generalsekretär der Fondazione ten der Hotelfachschulen. Dieser soll ihnen Gualtiero Marchesi und Chairman das Wissen über die Grundlagen des Ko- der Gualtiero Marchesi Group chens und die notwendige Bewusstheit ver- mitteln, die für die Arbeit in einem grossen Restaurantbetrieb erforderlich sind. Nach neun Monaten Studium und Arbeit haben die jungen Leute verstanden, was es bedeu- tet, den Beruf eines Kochs auszuüben, und können entscheiden, ob sie ihre Ausbildung auf universitärer Ebene fortsetzen oder sich voll und ganz der Berufsausübung wid- men und unter der Leitung eines Küchen- chefs, der ihr Lehrer wird, weiterlernen möchten. XIX
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe ..................................................................................................................................................................................................................... Mein erster richtiger Lehrer von Andrea Berton* Links: Andrea Berton in seinem Restaurant, Mailand, 2000er-Jahre. Auf dieser Seite: Andrea Berton, Gamberi rossi di Sicilia crudi e cotti, amaranto croccante, olio extravergine di oliva e sorbetto alla barbabietola, 2014.
Gualtiero Marchesi ..................................................................................................................................................................................................................... Gualtiero Marchesi war dank seiner he- und sein umfassendes fachliches und nicht- rausragenden beruflichen Qualitäten ein fachliches Wissen vermittelt. An seiner grossartiger Koch, vor allem aber war er Seite hatte ich das Gefühl, endlich etwas mein erster richtiger Lehrer. Bedeutendes zu tun. Durch ihn verstand Nach Abschluss meiner Ausbildung hatte ich, welchen Wert meine Arbeit hatte. ich beschlossen, meine Laufbahn im besten Der Beruf eines Küchenchefs war damals italienischen Restaurant der 1990er-Jahre unterschätzt und galt oft als Notlösung bei anzutreten, und so begann ich in seinem, der Berufswahl, doch dank der Erfahrung das sich in der via Bonvesin de la Riva in mit Marchesi änderte sich meine Wahr- Mailand befand. Von Gualtiero Marchesi nehmung des Berufes grundlegend. Durch hatte ich durch Zufall erfahren: Eines Ta- Gualtiero sah ich ihn mit anderen Augen, ges hatte ich zu Hause eine Zeitschrift ent- als etwas Edleres sozusagen, als eine ele- deckt, auf deren Cover ein Koch mit einer mentare Tätigkeit, die Wissen, Lernen, Haube abgebildet war. Das machte mich so- Konzentration und ständiges Nachforschen fort neugierig, auch wenn ich damals noch erforderte. nicht wusste, dass es Marchesi war. Per- Von ihm habe ich wertvolle Dinge gelernt, sönlich begegnete ich ihm dann beim Vor- die mich noch heute begleiten. Am bedeu- stellungsgespräch mit seinem Küchenchef tendsten war vielleicht, dass er mir damals zum ersten Mal. Mein Eindruck war der bewusst machte, wie wichtig die Ausgangs- eines sehr grossmütigen Menschen, und produkte sind. Marchesi legte immer dar- tatsächlich war er sofort bereit, mir eine auf Wert, deren Rolle zu betonen, sie also Chance zu geben. Von da an war mir klar, nicht zu «zerstören», wie man es damals dass er junge Menschen gern unterstützte. tat. Er war seiner Zeit voraus: Für ihn wa- Gualtiero Marchesi war für mich ein gross- ren die Zutaten der Schlüssel zum Erfolg, zügiger Lehrer, dem ich beruflich ganze ein fundamental wichtiges Element, das es acht Jahre verbunden war. Während die- aufzuwerten, ja recht eigentlich in Szene ser Zeit hat er mir die Kultur des Essens zu setzen galt. Von ihm habe ich gelernt, Auf diesen Seiten: Marchesi mit Andrea Berton im Castello di Susegana (Provinz Treviso), 2004. XXII
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