Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe - GUALTIERO MARCHESI - BPS Suisse

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Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe - GUALTIERO MARCHESI - BPS Suisse
GUALTIERO MARCHESI
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                             Eine Welt voller Geschmack,
                                  Musik und Farbe

                                                                       Texte von
                                     Antonio Ballista, Andrea Berton, Alberto Capatti, Carlo Cracco, Enrico Dandolo,
                                 Pietro Leemann, Simona Marchesi, Davide Paolini, Lino Enrico Stoppani, Salvatore Veca
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe - GUALTIERO MARCHESI - BPS Suisse
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Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe
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                           Von seinem ersten Praktikum im Hotel Kulm in St. Moritz über die Erfahrungen mit der
                           Nouvelle Cuisine in Frankreich (vor allem jene in Roanne bei den Gebrüdern Troisgros,
                           Legenden der französischen Küche) bis hin zu seiner einzigartigen Kenntnis der regionalen
                           Küche Italiens hat Gualtiero Marchesi mit seiner weissen Kochjacke und seiner fachlichen
                           Kompetenz das konsolidierte Wissen namens Kochkunst stets auf äusserst vielseitige und
                           kreative Art erforscht, herausgefordert und erweitert. Noch heute ist sein Geist im
                           Gastronomiebetrieb in Küche und Service allgegenwärtig und inspiriert seine ehemaligen
                           Schüler zu neuen Ideen und neuen Gerichten. Wer mit Leidenschaft Marchesis Werke und
                           Rezepte liest, wünscht sich nichts anderes, als ihn an seiner Seite zu haben, um die Welt des
                           Kochens und Essens völlig neu zu entdecken.
                           Wer ihn kannte, nahm ihn als umsichtigen, aber auch unberechenbaren Menschen wahr,
                           der plötzlich Seneca zitieren konnte und gerne auch nicht über seine Rezepte sprach –
                           vielleicht ein etwas eigener Mensch, aber zweifelsohne eine Koryphäe als Revolutionär
                           der Kochkunst. Und zwar nicht nur seiner eigenen (1980 mit seinem Buch La mia nuova
                           grande cucina italiana), sondern auch jener einfacherer Lokale, mit dem weniger
                           bekannten Werk La cucina regionale italiana, in dem er mit seinen genialen Einfällen die
                           Tradition regelrecht provoziert. So kann ein Marchesi in Mailand, Apulien oder anderswo
                           ein Rezept wie Orecchiette, broccoletti e foie gras wagen. Die Regeln müssen sich aus der
                           praktischen Arbeit ergeben und nicht umgekehrt, scheint er uns sagen zu wollen, bevor
                           er schliesslich die Kochkunst zur Bühne für alle Kunstformen macht und sie nicht nur mit
                           Malerei und Bildhauerei, sondern auch mit immateriellem Kulturgut wie Musik vereint.
                           Musik bedeutete für ihn: sein Klavier, ein Instrument, das er erlernt, dann aber für das
                           Kochen aufgegeben hatte; seine Frau Antonietta, die auch seine Klavierlehrerin war; und
                           seine Kinder und Enkelkinder, die zwar nicht in seine Fussstapfen traten, aber dafür an
                           einem denkwürdigen Tag im «Grand Hotel Tremezzo» (am Comer See) aufspielen sollten.
                           Doch bei einem Koch, einem wirklich grossen Koch, isst zunächst das Auge des Gastes
                           mit, bevor die Liebe schliesslich durch den Magen geht. Marchesis Familie stammte
                           ursprünglich aus der Provinz Pavia in der Nähe von Mailand, doch er war durch
                           und durch Mailänder und hat der Nachwelt sein ureigenes, ikonisch gewordenes
                           Risottogericht hinterlassen: Riso, oro e zafferano verblüfft durch den schwarzen
                           Tellerrand und die beiden gelben Elemente, die darin aufeinandertreffen, nämlich Safran
                           und Speiseblattgold. Noch interessanter sind jedoch der Reis und seine Konsistenz – er
                           ist ganz leicht mit der Gabel zu zerteilen. Es gibt allerdings noch einen zweiten Riso,
                           oro e zafferano, nämlich den auf dem legendären Foto, dessen Kultstatus keine Gabel
                           und kein Blick zerstören können. Dieser zweite Marchesi wurde nicht von einem Koch,
                           sondern von Künstlerhand geschaffen.
                           Allerdings kann man Marchesi kaum auf die Bilder seiner Gerichte reduzieren. Er pflegte
                           in der Küche zu unterrichten, junge Leute jeglicher Herkunft, die er zu Köchen ausbildete,
                           zu neuen Künstlern, die sich frei ausdrücken konnten. Die Namen dieser Nachwuchsköche
                           stehen denn auch nicht für eine Schule eiserner Disziplin und Strenge, sondern für eine
                           neue Generation, die sich in ihrem Beruf stets auf individuelle Weise frei zu behaupten
                           sucht, mit völlig unterschiedlichen, einzigartigen Ergebnissen. Auch an der Kochschule
                           ALMA in Colorno in der Nähe von Parma war er mehr ein Mentor denn ein Rektor.
Seiten I und II:           Gualtiero Marchesi ist nicht mehr unter uns, aber auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin
Gualtiero Marchesi
im Speisesaal des
                           wurde eine Stiftung («Fondazione Gualtiero Marchesi») in der via Bonvesin de la Riva in
Restaurants                Mailand ins Leben gerufen – in jener Strasse, in der er einst sein Restaurant eröffnet
«L’Albereta» in
Erbusco, Franciacorta
                           hatte. Die hohe Kochkunst, die dort erforscht und bewahrt wird, hat somit ihren konkreten
(Provinz Brescia).         Platz und zieht angehende wie auch bestandene Köche aus aller Herren Länder an.
Die Aufnahme auf
S. I stammt aus dem
Jahr 2006, jene auf
                           Alberto Capatti
S. II aus dem Jahr
2007.                      Präsident der Fondazione Gualtiero Marchesi

                                                                                                        III
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe - GUALTIERO MARCHESI - BPS Suisse
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Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe
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             Gualtiero Marchesi: ein Leben im Zeichen der italienischen Küche

                                                                                         von Alberto Capatti*

Links:
Maestro Marchesi mit
seiner berühmten Kreation
Riso, oro e zafferano ,
Mailand, ca. 1988.

Auf dieser Seite:
Gualtiero Marchesi, Carn’è pesce ,
Komposition aus Rinds- und Seebarschfilet,
begleitet von dreierlei Saucen, 2009.
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe - GUALTIERO MARCHESI - BPS Suisse
Gualtiero Marchesi
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                           Biografie, Privat- und Familienleben, Theo-
                           rie und Praxis der totalen Küche (cucina to-
                           tale) und sogar seinen Gastronomie-Kodex
                           für Schüler und Leser: Am Ende einer lan-
                           gen Karriere hat Gualtiero alles niederge-
                           schrieben. Die Autobiografie Marchesi si na-
                           sce, questa è la mia storia erscheint 2010
                           anlässlich seines 80. Geburtstags in Italien
                           und räumt mit allen Zweifeln über seine
                           Herkunft, seine Reise nach Frankreich, die
                           Eröffnung seines Restaurants in der via
                           Bonvesin de la Riva in Mailand auf. Unter-
                           stützt wird er dabei von Carlo Valli, einem                                       schickt ihren Sohn, auf den das Gastgewerbe
                           Dozenten für Marketing und Kommunikati-                                           grössere Anziehungskraft ausübt als das
                           on. Warum erzählt Marchesi seine Geschich-                                        «Istituto Feltrinelli», für ein Praktikum ins
                           te? Weil ein weltbekannter Koch sich gegen                                        berühmte Hotel Kulm in St. Moritz. Es fol-
                           Unterstellungen und Tratsch wehren muss,                                          gen zwei Jahre in Luzern, wo er eine Han-
                           indem er sein Leben bis zur Eröffnung des                                         delsschule besucht, Französisch und
                           «Marchesino» in den Räumlichkeiten des                                            Deutsch lernt, und ein weiteres Jahr an ei-
                           ehemaligen «Biffi Scala» niederschreibt,                                          ner Hotelfachschule, wo er Kurse für Ser-
                           die 2008 seine Rückkehr nach Mailand be-                                          vice- und Küchenpersonal belegt. Nach sei-
                           siegelt – in ein Gebäude, das als Tempel der                                      ner Rückkehr arbeitet er im Familienhotel,
                           Musik bekannt ist und nun durch seine                                             das tagsüber ein Warm- und Kaltimbiss und
                           Kochkunst zu neuem Ruhm gelangt.                                                  abends ein Restaurant ist. Marchesi beginnt
                           Die Familie Marchesi hatte 80 Jahre zuvor                                         sich mit den zu reichenden Gerichten zu be-
                           das «Albergo Mercato» in der via Bezzecca                                         fassen und sie eingehend zu studieren, wo-
                           eröffnet, um den im grösseren Umkreis täti-                                       bei diese Nachforschungen natürlich durch
                           gen Obst- und Gemüseverkäufern eine Ver-                                          das Lokal und die Kultur seiner Kundschaft
                           köstigungsmöglichkeit zu bieten. Sie stamm-                                       bedingt relativ begrenzt ausfallen.
                           te ursprünglich aus der Provinz Pavia und                                         Er nimmt Klavierstunden und heiratet seine
                           hatte ihr Vermögen in einem Bereich ange-                                         Lehrerin, Antonietta Cassisa. Dann jedoch
                           legt, durch den der junge Gualtiero die Mög-                                      gibt er das Klavierspiel auf und widmet sich
                           lichkeit erhalten sollte, dank einer Ausbil-                                      voll und ganz der Kochkunst. Mailand hat
                           dung seine Zukunft gestalten zu können.                                           seine eigenen Spezialitäten im Angebot, in
                           Nach fünf Jahren Krieg, die sie in der ländli-                                    einigen Restaurants im Stadtzentrum auch
                           chen Heimat verbringt, übernimmt die                                              französische Gerichte, etwa Filetto alla Ros-
                           Familie das «Albergo Mercato» wieder und                                          sini, im «Albergo Mercato» von Gualtiero
                                                                                                             selbst gereicht. 1966 schliesst das «Merca-
                                                                                                             to». «Wir mussten schliessen. Die Gemein-
                                                                                                             de, der das Lokal gehörte, wollte unseren
                                                                                                             Vertrag nicht verlängern.» Für Gualtiero
                                                                                                             war das die Gelegenheit, seine Zukunft zu
                                                                                                             überdenken, was auf Reisen geschehen soll-
                                                                                                             te. Zunächst ging er nach Paris, Hochburg
Vor dem Eingang
                                                                                                             der Kochkunst weltweit, und machte dort
des von Marchesis                                                                                            ein Praktikum in einem Kultrestaurant,
Eltern eröffneten
«Albergo Mercato»,
                                                                                                             dem «Ledoyen». Frankreich erkundet Gual-
Mailand, 1952.                                                                                               tiero quasi umgekehrt: Sein Weg führt ihn
Oben:
                                                                                                             von der Hauptstadt, die sich 1968 in Aufruhr
In der letzten Reihe                                                                                         befindet, in die Provinz, zunächst nach Dijon
ganz rechts der
junge Gualtiero
                                                                                                             und dann nach Roanne zu den Gebrüdern
Marchesi mit seinen                                                                                          Troisgros. Einige Jahre später gilt ihr Re-
Klassenkameraden
der Hotelfachschule
                                                                                                             staurant mit seinen 3 Michelin-Sternen als
Luzern, 1950.                                                                                                eines der Zentren der Nouvelle Cuisine.

                                                                                                        VI
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe - GUALTIERO MARCHESI - BPS Suisse
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe
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Neben der                  Gualtieros Rückkehr nach Mailand steht
Skulptur L’asceta
von Aldo Calvi, 1963.
                           ganz im Zeichen dieser neuen Perspektive,
                           die Frankreich beziehungsweise Roanne
Unten:
Am 16. August 1962
                           der europäischen Küche eröffnet – mit neu-
heiratet Marchesi          en, revolutionären Regeln: «täglich frische
die Pianistin
Antonietta Cassisa.
                           Produkte», also «einfachere Zubereitung»
                           und natürlich weniger allzu ausgefeilte Sau-
                           cen. Es beginnt die mühselige Suche nach
                           einem Lokal – gemeinsam mit seinem
                           Freund Medagliani, einem Händler für Ho-
                           telbedarf, Buchpromotor (etwa von Werken
                           wie La cucina pratica von Mario Borrini in
                           den drei Ausgaben von 1938, 1953 und 1960)
                           und sein Förderer. Man findet schliesslich
                           eine Pizzeria namens «Okay» in der via Bon-
                           vesin de la Riva in der Nähe des ehemaligen
                           Familienhotels.
                           Von der Bestuhlung über die Beleuchtung,
                           von der Küche bis zu den Kühlschränken                                            nachahmbares Modell zu entwickeln, das
                           wird alles eingehend geplant und nach ei-                                         überall verkauft werden kann, nein, sie steht
                           nem ganzheitlichen Konzept gestaltet, das                                         vor allem für das genaue Studium von Zu-
                           alles umfasst, von Form und Farbe der Tel-                                        taten, Kochtöpfen und Wärmequellen, die in
                           ler bis hin zu Tischen und Licht. 1977 wird                                       jedem essbaren Objekt ihren Niederschlag
                           das Restaurant eröffnet. Im Laufe weniger                                         finden, was wiederum die genaue Auswahl
                           Jahre entstehen hier die legendären Gerich-                                       des Tellers (weiss oder farbig) und der Lam-
                           te aus Marchesis Küche (Riso, oro e zaffera-                                      pe über dem Tisch sowie den fragenden
                           no, Raviolo aperto, Seppie al nero) und ein                                       oder begeisterten Blick des Gastes nach
                           Michelin-Stern folgt dem anderen. Die Far-                                        sich zieht. Mit überraschenden Lösungen,
                           ben eines Gerichts in all ihrer Leuchtkraft                                       etwa dem Speiseblattgold in einem Mailän-
                           essen? Das hatte es noch nie gegeben – Gual-                                      der Risotto oder der Öffnung eines raviolo
                           tiero schlägt einen neuen Weg ein und weckt                                       und der Offenbarung der darin verborgenen
                           die Neugier des Gastes, erzieht ihn und ver-                                      Geheimnisse, entwickelt Marchesi eine Me-
                           hilft der neuen italienischen Küche zu ihrem                                      thode, bei der Koch und Gast einander in
                           Ruhm. Begleitend dazu veröffentlicht er                                           ihren Rollen ergänzen und dem Koch jene
                           1980 das Kochbuch La mia nuova grande cu-                                         des Künstlers zukommt. Einigen Mailänder
                           cina italiana, dessen erstes Rezept das Bou-                                      Journalisten, die in sein Lokal gekommen
                           quet guarnito ist. Vier Jahre später er-                                          waren, um ihn kennenzulernen und im Ge-
                           scheint es auch auf Französisch, und zwar                                         spräch mit ihm mehr zu erfahren, wird ein
                           unter dem Titel La cuisine italienne réinven-                                     ganz einfaches Gericht auf unvergleichlich
                           tée. Die Neuerfindung der italienischen                                           schöne Art serviert, nämlich eine cassoeula,
                           Küche ist kein politischer Akt, um ein                                            ein deftiger lombardischer Eintopf, auf ei-
                                                                                                             nem grossen, grünen Blatt Wirz.
                                                                                                             Als Spiel der Künste fasziniert Marchesis
                                                                                                             Küche ein Mailand, in dem die Esskultur
                                                                                                             1982 dank der Monatszeitschrift «La Gola»
                                                                                                             wiederaufblühte. Herausgeber und Gestal-
                                                                                                             ter des Hefts war Gianni Sassi, der Mitar-
                                                                                                             beiter aller Art um sich scharte und für den
                                                                                                             Innovation erklärtes Ziel war. Keine Journa-
                                                                                                             listen, sondern Autoren mit Wissbegier und
                                                                                                             Blick für das Aussergewöhnliche. Mode und
                                                                                                             Design beginnen den Zugang zur Kochkunst
                                                                                                             zu beeinflussen, und 1983 gründet Luigi Ve-
                                                                                                             ronelli die Zeitschrift «L’Etichetta», eine Art

                                                                                                        VII
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe - GUALTIERO MARCHESI - BPS Suisse
Gualtiero Marchesi
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                           Führer durch das materielle Leben, in dem                                         Kochkunst. 1989 erscheint sein Buch La cu-
                           auch Themen wie Önologie und Gastrono-                                            cina regionale italiana und überrascht alle,
                           mie behandelt werden. Die Gerichte aus der                                        die erwartet hatten, dass er bei seinem ser-
                           via Bonvesin de la Riva wirken wie eine neue                                      vierfertigen Riso, oro e zafferano bleiben
                           Kunstform, dank welcher das Essen anders                                          würde. Stattdessen bekommen sie hier ei-
                           als bis anhin wahrgenommen werden soll.                                           nen Risotto alla milanese ganz ohne Speise-
                           Umgesetzt werden soll dies durch die Ein-                                         blattgold, sondern mit dem flach auf dem
                           bindung von Industrie und Marketing, mit                                          Teller verteilten Reis geboten. Durchblät-
                           Luca Vercelloni als weitsichtigem Wegberei-                                       tert man dann die nach den italienischen
                           ter, der gemeinsam mit Marchesi 2001 das                                          Regionen unterteilten Kapitel, stösst man
                           Buch La tavola imbandita. Storia estetica                                         auf Bucatini all’amatriciana mit folgender
                           della cucina verfasst. Darin wird quasi als                                       Erörterung: «Sie schmecken mir sehr gut.
                           roter Faden vom Renaissancebankett bis                                            Dank ihres intensiven, feurigen Geschmacks
                           hin zu Marchesis Hummergericht Astice                                             sind sie das ideale Gericht zur Krönung ei-
                           alla crema di peperoni dolci eine historische                                     nes fröhlichen Abends mit Freunden.» Noch
                           Lesart der Kochkunst bzw. der daraus ent-                                         besser die Spaghetti alla carbonara, zu de-
                           standenen Gerichte geboten, die das kulina-                                       nen er als waschechter Mailänder erörtert:
                           rische Erbe Italiens aufwertet und (zumin-                                        «Der guanciale kann durch pancetta ersetzt
                           dest) auf die gleiche Höhe wie das                                                werden» – also der Speck von der Backe des
                           französische stellt. Disziplinen, denen Aus-                                      Schweins durch dessen Bauchspeck. Um
                                                                                                             darauf allerdings festzustellen: «Das geht
                                                                                                             natürlich, aber es ist nicht dasselbe.» Mit La
                                                                                                             cucina regionale italiana hält Marchesi Ein-
                                                                                                             zug in die italienischen Haushalte, tritt in
                                                                                                             einen Dialog mit allen, die am Herd stehen,
                                                                                                             und berät sie, allerdings mit einer gewissen
                                                                                                             Zurückhaltung. Der Sternekoch kann es
                                                                                                             sich erlauben, in verschiedenen Rollen auf-
                                                                                                             zutreten, also die via Bonvesin de la Riva hin-
                                                                                                             ter sich zu lassen und einen Freund zu besu-
                                                                                                             chen, ihm zu helfen, um dann mit ihm zu
                                                                                                             essen. Marchesi erkennt so ein Italien, in
                                                                                                             dem die Hausmannskost ein wertvolles Erbe
                                                                                                             darstellt, das nur scheinbar der Gegenpol zu
                                                                                                             seiner kreativen, künstlerischen Küche ist. Er
                                                                                                             beschliesst daher, sich diese Hausmannskost

                           zeichnungen mit Sternen eher fremd waren,
                           begannen somit die kulinarische Avantgar-
                           de zu bereichern, die nun nicht nur Malerei
                           und Musik, sondern auch Marketing und
Die Brigade des            Geschichte für sich entdeckte. Einzelne
Restaurants in der
via Bonvesin de
                           Kunden Marchesis hatten ihre Kultur ins
la Riva in Mailand         Restaurant mitgebracht, doch nun ging es
im Eröffnungsjahr
1977. Hinter
                           darum, eine totale Küche (cucina totale) zu
Marchesi Giuseppe          begründen, nicht nur nach Marchesis Visi-
Vaccarini, weltbester
Sommelier 1978.
                           on in seinem Restaurant, sondern generell
                           im Mailand der damaligen Zeit, wo in die-
Rechts:
Im Weinkeller
                           sem Bereich Akteure aller Art tätig waren
seines Restaurants         und somit ein interdisziplinärer Ansatz na-
in Erbusco mit
Sommelier Luca
                           helag. Marchesis unvorhersehbare Vorge-
Zanini, 2002.              hensweise entspricht seiner Vision von

                                                                                                       VIII
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe - GUALTIERO MARCHESI - BPS Suisse
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe
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Rechts:                    zu eigen zu machen, indem er mit den Be-
Gualtiero Marchesi,
Ossobuco in
                           grifflichkeiten der Zutaten spielt und ein
gremolada con              Gericht mit dem Titel Orecchiette, brocco-
risotto alla milanese,
2008.
                           letti e foie gras vorstellt, bei dem die foie
                           gras in der Pfanne gegarte, knusprige En-
Links:
Omaggio a Gualtiero
                           tenleber ist. Sein Freund Troisgros hätte
Marchesi, Gericht          kein Problem damit gehabt, diese Bedeu-
von Pietro Leemann,
2010.
                           tung zu akzeptieren: «Ah! Ces italiens…»
                           Marchesis Team war inzwischen um einiges
Unten:
Vor dem Eingang
                           grösser geworden, Mitte der 1980er-Jahre
des Restaurants            hatte er bereits 24 Mitarbeiter, 12 in der Kü-
«Gualtiero Marchesi»
in Erbusco, 2011.

                                                                                                             Erbusco, finanziert durch den Unternehmer
                                                                                                             Vittorio Moretti, ist also kein Selbstläufer,
                                                                                                             doch das Land mit seinen Weinbergen und
                                                                                                             seiner Ruhe tun Gualtiero als neuer Zu-
                                                                                                             fluchtsort gut. Da er allerdings nichts dem
                                                                                                             Zufall überlässt, überdenkt er in der Fran-
                                                                                                             ciacorta weiter einiges, sogar den Usus,
                                                                                                             Wein zu den Gerichten zu reichen – dass er
                                                                                                             sie etwa wieder einfach von Wasser beglei-
                                                                                                             ten lässt, wird immer charakteristisch für
                                                                                                             seinen kritischen Geist bleiben.
                           che und 12 im Service. In den 1990er-Jahren                                       In Mailand sind einige seiner Schüler be-
                           gestaltet sich das Management dann immer                                          reits selbstständig tätig. Pietro Leemann
                           schwieriger, und mit dem Ausbruch des                                             aus Locarno etwa eröffnet das vegetarische
                           Tangentopoli-Skandals in Mailand 1992 be-                                         Restaurant «Joia», wo Interessierte heute
                           ginnt er, an «eine andere Zukunft» zu denken                                      die Marchesi-Schule kennenlernen können.
                           und verlässt das Lokal in der via Bonvesin de                                     Pietro sollte immer einen Kult um den Ma-
                           la Riva. Welche Restaurants verdienten nun                                        estro pflegen, noch 2016 überlässt er ihm
                           eine Reise und den Besuch eines Gourmets                                          für die Präsentation seines zweisprachi-
                           aus Mailand? Nadia Santini und ihr Lokal «Il                                      gen Buches I Cuochi (Englisch und Italie-
                           Pescatore» in Canneto sull’Oglio in der Nähe                                      nisch) ein weiteres Mal das Wort, und im
                           von Mantua zum Beispiel (3 Michelin-Sterne                                        Buch ist das Rezept zu einer Erbsencreme
                           1996). In quasi entgegengesetzter Richtung,
                           nämlich in Ameglia bei La Spezia (Ligurien),
                           auch Angelo Paracucchis «La Locanda
                           dell’Angelo». Wer in der Nähe bleiben wollte,
                           fuhr dagegen mit dem Auto nach Maleo bei
                           Lodi ins «Sole» von Franco Colombani –
                           «eine herausragende Persönlichkeit der ita-
                           lienischen Gastronomie», so der Gourmet-
                           führer Guida de l’Espresso 1992. Nachdem
                           Marchesi sich in der Franciacorta (Provinz
                           Brescia) niedergelassen hatte, kam ein wei-
                           teres Ziel hinzu: das «L’Albereta» in Erbu-
                           sco. In den Führern stiess es allerdings nicht
                           immer auf begeistertes Echo, wie das eher
                           nüchterne Urteil der Accademia Italiana
                           della Cucina von 1999 zeigt: «Geschäftsre­
                           staurant in einem Relais-Hotel mit Bespre-
                           chungsräumen, Pool, Park und Panora-
                           ma.» Marchesis Umzug von Mailand nach

                                                                                                        IX
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe - GUALTIERO MARCHESI - BPS Suisse
Gualtiero Marchesi
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                           mit Haselnusspesto und Trüffelschaum                                              hält dort Vorträge, dann geht er auf Reisen,
                           namens Omaggio a Gualtiero Marchesi zu                                            unter anderem mehrmals nach Japan, wo-
                           finden. Carlo Cracco dagegen arbeitet in                                          hin er nicht nur seine Eigenmarkenproduk-
                           den ersten drei Jahren im «L’Albereta»,                                           te mitnimmt, sondern eine Avantgarde der
                           um dann ins Piemont nach Piobesi d’Alba                                           italienischen Küche, die nicht nur die Gäste
                           zu gehen, wo er das Restaurant «Le Clivie»                                        satt machen, sondern vor allem ein kulinari-
                           leitet. 2001 kehrt er jedoch wieder nach                                          sches Vermächtnis fortführen soll, das ihm
                           Mailand zurück, dem Ruf des Gastrounter-                                          letztlich die Rolle eines grossen Erneuerers
                           nehmens «Peck» der Gebrüder Stoppani fol-                                         verschaffen wird. Auch die Arbeit der «So-
                           gend, und wird Küchenchef des «Ristorante                                         cietà Gualtiero Marchesi» geht in diese
                           Cracco Peck». Auch Cracco beschliesst, sich                                       Richtung, und Marchesi wird nach einem
                           dem Risotto auf völlig neue Weise zu nä-                                          Leben im Zeichen der Lehrtätigkeit in Restau-
                           hern, und veröffentlicht sein Rezept 2006                                         rantküchen zum Präsidenten der ALMA be-
                           im Buch Sapori in movimento. Es ist ein Ri-                                       rufen, einer neuen internationalen Schule
                           sotto allo zafferano con midollo alla piastra,                                    für italienische Küche mit Sitz im Schloss
                           also mit Safran und Mark. Das Speiseblatt-                                        von Colorno.
                           gold wird durch das Mark in der Mitte des                                         Da Marchesi nunmehr Legendenstatus er-
                           Tellers ersetzt, und alles ist rund. Andrea                                       langt hat, kann er sich Dinge erlauben, die
                           Berton ist der dritte Schüler, der hier er-                                       20 Jahre zuvor noch undenkbar gewesen
                           wähnt werden soll: Er wird 2005 Küchen-                                           waren: In der italienischen Fassung von
                           chef im Restaurant «Trussardi alla Scala»,                                        Walt Disneys Ratatouille leiht er etwa dem
                           also exakt neben dem «Biffi», das später                                          Gesundheitsinspektor seine Stimme, aus-
                           zum «Marchesino» werden wird. Näher                                               serdem entwickelt er für McDonald’s zwei
                           kann man sie sich kaum vorstellen – nicht                                         Burger, Adagio und Vivace, die dann in den
                           nur kulinarisch, sondern auf dem Platz, wo                                        Filialen verkauft werden. Burger bezie-
                           sich Rathaus und Oper gegenüberstehen                                             hungsweise panini hatte Gualtiero seit den
                           und sich ein- und dieselbe Kunst- und Ideen-                                      1960er-Jahren für Händler zubereitet, be-
                           schule stolz präsentiert.                                                         sonders gut angekommen war ein panino
                           Marchesis Schüler schlagen nach langen                                            mit Butter, Thunfischbauchfilet, in Essig
                           Lehrjahren unter dem wachsamen Auge ih-                                           eingelegten Zwiebeln und Sardellenfilets.
                           res Meisters die verschiedensten Wege ein.                                        Doch etwas lässt ihm keine Ruhe: Er über-
                           Paolo Lopriore kehrt nach Erbusco zurück                                          arbeitet und diktiert Schilderungen von
                           und ermutigt Marchesi, wieder mit vollem                                          bislang unveröffentlichten Episoden aus
                           Einsatz weiterzuarbeiten und zu forschen.                                         seinem Leben, und 2011 erscheint für seine
                           In Zusammenarbeit mit Lopriore entstehen                                          Freunde Mia moglie Antonietta, gewidmet
                           Gerichte wie Il rosso e il nero, Seeteufel mit                                    seiner Frau und ehemaligen Klavierlehre-
                           roher Tomatensauce und Sepiatinte, dessen                                         rin, die mit zwei kleinen Töchtern von ei-
                           Name auf einen Roman von Stendhal ver-                                            nem Mann, der auf der Suche nach einem
                           weist, nämlich Le rouge et le noir (Rot und
                           Schwarz). Im Restaurant werden vier De-
                           gustationsmenüs mit verschiedenen kulina-
                           rischen Schwerpunkten angeboten: ein Pas-
                           tamenü ein vegetarisches, ein traditionelles
                           und ein kreatives Menü. Dazu eine auserle-
                           sene Käsekarte; jeder Käse wird in einem
                           besonderen Kühlschrank bei der jeweils
                           passenden Temperatur und Feuchtigkeit
                           gelagert. Cucina totale und cucina tradizio-
                           nale gehen Hand in Hand, es wird über jedes
                           Gericht und den entsprechenden Kontext
                           nachgedacht. Erbusco ist nicht gross, hat
                           jedoch ein kleines Theater, das Platz für
Mit seiner Brigade in
der Küche, Erbusco,
                           Veranstaltungen vor versammelten Zu-
2002.                      schauern und Journalisten bietet. Gualtiero

                                                                                                         X
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe
.....................................................................................................................................................................................................................
                                                                                                             sondern ein neues Leben, die Jugend im Al-
                                                                                                             ter, Marchesi stets bereit, den neuen, zuvor
                                                                                                             undenkbaren Weg immer weiter zu be-
                                                                                                             schreiten. Zur Krönung folgte 2015 wieder
                                                                                                             ein Buch: La cucina italiana. Il Grande Ricet-
                                                                                                             tario mit Rezepten der «Accademia Gualtie-
                                                                                                             ro Marchesi» und von Fabiano Guatteri.
                                                                                                             Die von Marchesi selbst ins Leben gerufene
                                                                                                             und nach ihm benannte Stiftung hat dieses
                                                                                                             Erbe nach seinem Tod 2017 überantwortet
                                                                                                             bekommen. So inspiriert Gualtiero die mo-
                                                                                                             derne Kochkunst durch seine Schüler wei-
                                                                                                             ter und bereichert mit einmaligen Ideen
                                                                                                             eine italienische Esskultur, deren Zentrum
                                                                                                             Mailand ist, an der via Bonvesin de la Riva,
                                                                                                             aber auch im Restaurant im «Grand Hotel
                                                                                                             Tremezzo» anzutreffen und in aller Welt
Im «Marchesino»            neuen Weg und seiner eigenen Küche in                                             präsent ist. Gerichte und Musik, Bilder und
während der
Dreharbeiten zum
                           Frankreich war, «zurückgelassen» worden                                           Kunst hatten vor Marchesi zu Hause und in
Dokumentarfilm             war. Als alter Mann spricht er ihr nun aber-                                      den Lokalen nie auf diese Weise koexistiert,
«Gualtiero Marchesi:
The Great Italian»,
                           mals seinen Dank aus: «Danke, mein Schatz,                                        und nun verfügt man über eine Art Regel-
2016.                      dass du mir dein Leben und diese beiden                                           werk mit Rezepten und Events für die Zu-
                           Töchter geschenkt hast.» Was sich in Erbu-                                        kunft, bereichert durch sein geistiges Erbe.
                           sco zugetragen hat, ist wirklich erstaunlich.                                     Es werden Hefte wie etwa jenes mit dem
                           Marchesi hat im «L’Albereta» eine solide Ba-                                      Titel Italia-Francia herausgegeben, Ausstel-
                           sis gefunden, wo er dank der Gastfreund-                                          lungen mit seinem Bild, seinen Geräten, sei-
                           schaft und Unterstützung des Weinprodu-                                           nen Gerichten organisiert und legendäre
                           zenten Moretti Vergangenheit und Gegenwart                                        Kreationen wie Riso, oro e zafferano geschaf-
                           erfolgreich unter einen Hut bringen kann,                                         fen: Letztere ist seit nunmehr 50 Jahren im
                           und gerade, weil er sich selbst kritisch als                                      wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde.
                           «Maestro» sieht und den Erfolg seiner eige-                                       Dass aus dem «Albergo Mercato» ein Genie
                           nen Schüler miterlebt, lehnt er die 3 Miche-                                      hervorgegangen ist, scheint fast unglaub-
                           lin-Sterne ab.                                                                    lich, doch wir spüren, wie er in uns, die wir
                           Unerwartet dann seine Rückkehr nach Mai-                                          versuchen, uns mit seinem Leben zu befas-
                           land, wo er ein Lokal im Gebäude der Scala                                        sen, weiterlebt, und wir verstehen, dass die
                           bezieht, das ehemalige «Biffi Scala». «Inner-                                     italienische Küche nicht mehr dieselbe ist.
                           halb eines Jahres habe ich im ‹Marchesino›                                        Auch ich, der ich Artusi (die italienische
                           neue Gerichte wie Carn’è pesce aus der Taufe                                      Kochfibel schlechthin) studiert habe und
                           gehoben, eine Komposition aus Rinds- und                                          gleichzeitig die Gegenwart dokumentiere,
                           Seebarschfilet, begleitet von dreierlei Sau-                                      suche Ideen und Eingebungen, indem ich
                           cen, einer Mayonnaise mit Senf, einer Toma-                                       seiner Stimme lausche, die mich mit einfa-
                           tensauce und schliesslich einer salsa verde»,                                     chen Worten wie riso, raviolo oder seppia,
                           so Marchesi in seiner Autobiografie. Er                                           mit Wortspielen wie Carn’è pesce oder mit
                           träumt darin von unzähligen «Marchesino»-                                         einer immer neuen Herangehensweise an
                           Restaurants, vor allem von einem in Venedig,                                      die Dinge in ihren Bann zieht. Dieser bio-
                           der romantischen Kunststadt. Essen und                                            grafische Überblick ist zum Prüfstein für
                           Musik, das Publikum wird die Freude haben,                                        mich geworden, das Urteil sei dem geneig-
                           «eine noch nie dagewesene Version des Lieds                                       ten Leser überlassen.
                           Gagarella del Biffi Scala mit mir selbst und
                           Stefano, alias Elio von Elio e le Storie Tese,                                    * Alberto Capatti
                           als aussergewöhnlichen Interpreten zu hö-                                         Küchenhistoriker
                           ren.» Nach seinem Wirken in der via Bonve-
                           sin de la Riva und dem «L’Albereta» war all
                           das keine Rückbesinnung auf Früheres,

                                                                                                        XI
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe
.....................................................................................................................................................................................................................

                                          Vormachen ist die höchste Form des Lehrens

                                                                                         von Enrico Dandolo*

Links:
Mit seiner Brigade in der Küche
des «Albereta», Erbusco, 2002.

Auf dieser Seite:
In der Küche des «Marchesino»,
Mailand, 2010.
Gualtiero Marchesi
.....................................................................................................................................................................................................................
                           Es heisst immer, dass die heutige Wirt-                                           Maestro Marchesi gern und oft verwende-
                           schaft wissensbasiert ist.                                                        te, um sein Verständnis der Kochkunst zu
                           Wissen oder Nichtwissen entscheidet da-                                           veranschaulichen, spricht Bände.
                           rüber, wer einen passenden Beruf findet                                           Wie Musiker können auch Köche in zwei
                           und wer im unqualifizierten Bereich und in                                        Kategorien eingeteilt werden: Ausfüh-
                           prekären Arbeitsverhältnissen landet.                                             rende und Komponisten. Schon eine gute
                           Die Kochkunst ist eine grossartige Schule,                                        Ausführung, bei der die Partitur bezie-
                           wo Gehorsam und Disziplin gefragt sind,                                           hungsweise das Rezept aus dem Effeff be-
                           man bereit sein muss, Opfer zu bringen.                                           herrscht wird, ist bemerkenswert, denn es
                           Sie kann allerdings auch zur schlechten                                           ist das Ziel des Koches, gut zu kochen, die
                           Schule werden, wenn all das nicht mit                                             Ausgangsprodukte zu respektieren und
                           Leidenschaft gelebt wird, also nicht wie                                          die Technik perfekt zu beherrschen.
                           etwas, das uns wirklich etwas angeht und
                           uns dabei hilft, uns von unserer besten                                           Komponisten gibt es wenige, Künstler sind
                           Seite zu zeigen. Alles hängt also vom Schü-                                       überhaupt rar. Doch auch ein solcher Weg
                           ler und natürlich auch vom Lehrer ab: bei                                         kann durch Lernen und persönliche Be-
                           Ersterem davon, wie aufnahmefähig er ist                                          gegnung beschritten werden. Aus diesem
                           und wie gut er Informationen verarbeiten                                          Grund eröffnete Gualtiero Marchesi in der
                           kann, bei Letzterem von seiner Autorität                                          via Bonvesin de la Riva auch die nach ihm
                           und Kompetenz.                                                                    benannte Akademie.
                           Gualtiero Marchesi erzählte oft, dass er in                                       Man hatte ihm den Beinamen «Maestro di
                           seiner Jugend so lange nachzufragen pfleg-                                        cuochi» gegeben, womit eine grosse Verant-
                           te, bis er eine ausführliche Antwort erhielt,                                     wortung auf seinen Schultern lastete, der er
                           bis er wusste, warum so und nicht anders                                          sich nicht mehr entziehen konnte. Tatsäch-
                           vorzugehen war. Wenn niemand antwortete,                                          lich ging eine ganze Generation von Köchen
                           hiess das, dass es auch niemand wusste und                                        aus seinen Küchen hervor, und die meisten
                           alle die Sache einfach passiv ausführten.                                         von ihnen waren erfolgreich.
                           Neugier ist elementar, sie ist Grundlage al-                                      Es sei hier betont, dass es sich dabei nicht
                           len Wissens, weckt die Entdeckerlust und                                          um blosse Kopien von Marchesi handelt, im
                           sorgt dafür, dass man, sobald man sein                                            Gegenteil. Ein guter Lehrer bringt sich stark
                           Handwerk beherrscht, immer am Puls der                                            ein, gibt die Richtung an, lässt den Schülern
                           Zeit bleibt und sich auch im Alter seinen                                         aber immer genug Freiheit, ermahnt sie,
                           staunenden Blick auf die Welt bewahrt.                                            wenn nötig, erniedrigt sie jedoch nie.
                           Ohne Neugier gibt es kein Staunen und                                             Das Wunder geschieht, wenn der Schü-
                           keine Wunder, und die Arbeit folgt einem                                          ler plötzlich nach all den Mühen versteht,
                           langweiligen Alltagstrott. Marchesi wurde                                         dass er keine Zeit verschwendet hat, und
                           oft gefragt, wie er die Inspiration zu seinen                                     endlich in der Lage ist, das zu tun, was er
                           Gerichten fand, und seine Antwort war im-                                         wirklich möchte.
                           mer dieselbe: Inspiration ist überall. Eine
                           bestimmte Situation, eine Person, ein Satz,
                           ein Berg, eine Erinnerung, ein Duft, ein
                           Bild oder eine Skulptur können der Funke
                           sein, der etwas entzündet, doch muss man
                           immer empfänglich für Neues sein, sonst
                           wird kein Feuer entfacht, und die Inspira-
                           tion schlägt nicht zu.
                           Um diese Offenheit weiter zu fördern, muss
Mit Enrico Dandolo         man immer neugierig bleiben und sich
bei der Eröffnung
der Accademia
                           weiterbilden. Neugier und Bildung gehen
Gualtiero Marchesi,        Hand in Hand.
Mailand, 2004. Im
Hintergrund in der
                           Köche müssen lesen, reisen, Ausstellungen
Mitte der Bildhauer        und Konzerte besuchen – so wie alle, die et-
Aldo Spoldi, rechts
der Pianist Antonio
                           was zu denken und zu sagen haben.
Ballista.                  Der Vergleich aus der Musikwelt, den

                                                                                                       XIV
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe
.....................................................................................................................................................................................................................
                           Marchesi geizte nie mit Ratschlägen und                                           dem die richtige Richtung einzuschlagen ist,
                           empfand niemals Neid gegenüber denen,                                             was in unserem Fall bedeutet, dass wir die
                           die verstanden hatten. Jedes Mal, wenn er                                         «Bibeln» der grossen Köche studieren müs-
                           unterrichtete und erklärte, was Kochen be-                                        sen, die den Grundstein für die Kochkunst
                           deutet, wurde ihm wieder klar, dass das die                                       gelegt haben, dass wir lernen müssen, ihre Re-
                           interessanteste Art war, etwas zu lernen.                                         zepte zu lesen, sie in ihrer ganzen Bedeutung
                           Inwiefern? In dem Sinne, dass man das,                                            eingehend zu durchleuchten, zu analysieren
                           was man im Kopf hat, besser versteht,                                             und darüber zu diskutieren, um verstehen zu
                           wenn man es erklären muss, und bestimm-                                           können, welches Detail entscheidend für die
                           te Meinungen vielleicht sogar ändert, wenn                                        Originalität einer neuen Idee ist. Das entspre-
                           man Fragen interessierter und neugieriger                                         chende Rezept muss daher wieder und wieder
                           Schüler beantworten muss.                                                         gelesen werden, denn auch nach tausend Mal
                           Seine Gedanken zum Unterrichten sind in                                           Durchlesen gibt es immer etwas Neues zu ent-
                           folgendem Satz, den er sehr gern zitierte,                                        decken, das uns vielleicht ermutigt, einen neu-
                           am besten auf den Punkt gebracht: «Vor-                                           en Weg einzuschlagen, um eine neue Art der
                           machen ist die höchste Form des Lehrens.»                                         Umsetzung auszuprobieren oder etwas Ande-
                           Manchmal bemerkte er, dass gewisse                                                res, Raffinierteres zu schaffen.
                           Schritte bei der Zubereitung eines Ge-                                            Allerdings ist es natürlich so, dass junge Men-
                           richts nicht perfekt ausgeführt worden                                            schen noch nicht mit allen Aromen, Gerüchen
                           waren, worauf er sofort zum verantwort-                                           und Geschmäckern, die mit der Erfahrung
                           lichen Chef de Partie ging, um herauszu-                                          und der Praxis Form annehmen, in Kontakt
                           finden, woran es lag. Fast immer war einer                                        gekommen sind.
                           der Gehilfen schuld, der nicht gut genug
                           war, worauf Marchesi nachbohrte: «Hast
                           du ihm gezeigt, wie es geht? Bist du neben
                           ihm gestanden, als er es zubereitet hat?»
                           Er versuchte also, allen Mitgliedern der
                           Küchenbrigade zu vermitteln, dass man
                           sein eigenes Wissen weitergeben muss
                           oder sich an seine Vorgesetzten zu wen-
                           den hat, wenn man nicht weiss, wie man
                           einen bestimmten Schritt ausführen soll.
                           Es ist wichtig, sich den jungen Leuten zu
                           widmen, um das Talent zutage zu fördern,
                           das in allen schlummert, und um heraus-
                           zufinden, wie man ihm zur Entfaltung ver-
                           helfen kann. An dieser Stelle scheint es mir
                           angebracht, eine Passage aus einem von
                           Marchesis Texten aus den 1980er-Jahren,
                           die seine Gedanken perfekt auf den Punkt
                           bringt, im Wortlaut wiederzugeben (aus                                            Doch wie in der Musikwelt müssen nicht un-
                           Oltre il fornello, Neuausgabe 2009).                                              bedingt alle gute Komponisten sein, damit
                                                                                                             gute Musik entsteht; es genügen grossartige
                           «Mein Rat an junge Köche ist immer, sich mög-                                     Ausführende, um ein absolut bemerkenswertes
                           lichst für alles zu interessieren, was ihnen hel-                                 Endergebnis zu erzielen. Dennoch ist es ent-
                           fen kann, ihre Kenntnisse zu vertiefen. Alles,                                    scheidend, dass bestehendes Wissen ständig
                           was in unserem Gedächtnis abgespeichert ist,                                      durch ein niemals schwindendes Interesse an
                           versetzt uns in die Lage, auf externe Reize zu                                    allem, was unser Leben ausmacht, vertieft
Porträt aus
                           reagieren, indem neue Reize geschaffen wer-                                       wird. Die Aneignung dieses Wissens, der Bil-
dem Jahr 1990.             den, indem es dafür sorgt, dass sich bei uns                                      dungserwerb ist mit einem Fluss vergleichbar,
Die Farben der
Servietten erin-
                           eine Meinung herausbildet. Genau in dieser                                        der als kleiner Bach im Gebirge entspringt und
nern an die sieben         Lernphase, in der, ohne dass es uns wirklich                                      dann durch die Zuflüsse auf dem Weg Rich-
Pinselstriche
von Marchesis
                           bewusst ist, unser kultureller Hintergrund                                        tung Meer immer mehr anschwillt. So sind
Markenzeichen.             Form annimmt, kommt dann der Moment, in                                           Geschichte, Philosophie, Kunst, Geografie und

                                                                                                        XV
Gualtiero Marchesi
.....................................................................................................................................................................................................................
Mit Pierre Troisgros       jede andere Wissensquelle, die zum Bildungs-
und seinem Sohn
Michel beim
                           erwerb beiträgt (wie die Zuflüsse unseres Flus-
Kongress «Identità         ses), entscheidend für die Herausbildung und
golose», Mailand,
2007.
                           freie Entfaltung unserer Persönlichkeit, weil
                           sie schliesslich unsere Art, zu leben, bestimmen.
                           All das entscheidet nun über die Persönlich-
                           keit eines Menschen, doch natürlich wird
                           diese auch stark durch seine gewohnte Um-
                           gebung und das dortige Mikroklima geprägt.
                           Beide Faktoren formen den Charakter jedes
                           einzelnen von uns, je nach geografischer Lage
                           unseres Geburtsortes. Ich stamme aus der
                           Lombardei und ernähre mich gleichsam vom
                           Mikroklima meiner Region. Beweis dafür ist
                           die klassische Situation, in der wir wohl alle                                    Oft stelle ich fest, dass in Italien die ältere
                           schon einmal waren: Wir haben eine Flasche                                        Generation von Köchen ihre Kenntnisse über-
                           guten Weins aus einer Region oder einem                                           haupt nicht an den Nachwuchs weitergibt.
                           Land weit weg von daheim mitgenommen. In                                          Ausserdem sind oft Leute, die knapp in ihren
                           seinem Ursprungsgebiet hat er hervorragend                                        Zwanzigern, also praktisch dafür unvorbe-
                           geschmeckt, doch wenn wir die Flasche fernab                                      reitet sind, als Lehrer mit der Ausbildung der
                           dieses Gebiets in einem anderen Mikroklima                                        neuen angehenden Köche betraut. Wie viel
                           öffnen, ist er nicht mehr wiederzuerkennen.                                       kann jemand vom Kochen verstehen, der nicht
                           Nun verändert sich der Wein aber in der kur-                                      über die Erfahrung verfügt, die sich die wah-
                           zen Zeit bis zum Öffnen der Flasche nicht,                                        ren Meister durch Aufopferung und eisernen
                           sondern es ist unsere jeweilige Beziehung                                         Willen in all den Jahren, in denen sie am Herd
                           zum Mikroklima des neuen Gebiets und des                                          gestanden sind, angeeignet haben?
                           Ursprungsgebiets, die bei uns zu einer verän-                                     Sich einen Namen zu machen gelingt nur de-
                           derten Wahrnehmung des Geschmacks führt,                                          nen, die auf eine Zeit der konstruktiven Arbeit
                           denn dieser ist völlig gleichgeblieben.                                           in der ‹Werkstatt› eines oder mehrerer Lehrer
                           Und noch ein Rat: Schaut nicht lange auf das                                      mit grosser und nachweislicher Erfahrung so-
                           Foto des servierfertigen Gerichts, versucht                                       wie allumfassendem Wissen in Sachen Koch-
                           nicht, es zu kopieren, weil es wahrscheinlich                                     kunst zurückblicken können. Beweis dafür ist,
                           nur eine schlechte Kopie werden würde. Das                                        dass die spärliche Schar der heutigen Meister-
                           Bild würde euch nur beeinflussen, während                                         köche in meinem Restaurant oder in Restau-
                           sich bei aufmerksamer Lektüre des Original-                                       rants anderer namhafter Kollegen ausgebildet
                           rezepts eure Kreativität frei entfalten kann                                      wurde, also auf diese Weise Wissen erwerben
                           und ihr, wenn ihr eurer Phantasie vertraut                                        und es durch praktische, direkt im Arbeitsum-
                           habt, unzählige andere mögliche Varianten                                         feld erlernte Kenntnisse vertiefen konnte.
                           im Kopf haben werdet. Lernen darf kein Kor-                                       Nur so, durch die Tätigkeit in verschiedenen
                           sett sein, das einen nicht mehr atmen lässt,                                      Küchen, in denen vor allem auf die Hochwer-
                           sondern man muss herausfinden, wie der in-                                        tigkeit des Produkts geachtet wird, konnten
                           nere Mechanismus ausgelöst wird, durch den                                        sie sich selbst einen umfassenden Erfahrungs-
                           sich die Vorstellungskraft entfaltet, der die                                     schatz aneignen und somit zu den neuen Spit-
                           zündenden Einfälle kommen lässt, durch den                                        zenvertretern der modernen und kreativen
                           Neues geschaffen und auf einen durch Lektü-                                       Küche werden. Wenn Qualität angestrebt
                           re und Nachdenken erworbenen Erfahrungs-                                          wird, ist es der Koch, der dem Kunden beibrin-
                           schatz zurückgegriffen werden kann, damit                                         gen muss, wie man isst.
                           die Kenntnisse, die man sich angeeignet hat,                                      In Frankreich ist die Situation diesbezüglich
                           auch einen konkreten Niederschlag finden.                                         wahrscheinlich etwas besser, weil die fran-
                           So setzt ein Künstler diese gedanklichen Vor-                                     zösische Esskultur auf der soliden Basis be-
                           stellungen in seinen Werken um, und so baut                                       ruht, die von den berühmten, in den grossen
                           sich auch ein junger Koch gleichsam ein ‹gol-                                     französischen Hotels mit fast schon religiöser
                           denes› Rezept im Kopf auf, auf das er stolz                                       Ehrerbietung die klassische Küche pflegenden
                           sein kann.                                                                        Köchen geschaffen wurde.

                                                                                                       XVI
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe
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                           Die neue Generation französischer Spitzen-                                        In Spanien hat Ferran Adrià die spanische
                           köche ist also durch die Schule der grossen                                       Küche buchstäblich auf den Kopf gestellt. Er
                           Hotels gegangen, doch viele von ihnen stam-                                       hat allerdings keine neue Küche geschaffen,
                           men bereits aus Familien, die im Gastgewerbe                                      sondern eine ‹chemische› Küche, die struktu-
                           tätig waren: so etwa auch Paul Bocuse, der                                        rell ausschliesslich auf neuen Verarbeitungs-
                           seinem Vater und seinem Onkel nachfolgt,                                          methoden der Ausgangsprodukte beruht, er-
                           oder die Gebrüder Troisgros, die ebenfalls in                                     funden. Damit überraschte er alle sehr, doch
                           die Fussstapfen ihres Onkels und ihres Va-                                        da diese Art der Küche ausserhalb des Berei-
                           ters treten. Die Familie Troisgros nenne ich                                      ches der wahren Küche angesiedelt ist, ist sie
                           auch immer gern als Beispiel für Kontinuität                                      nunmehr nur noch eine ‹alte› Neuerung.
                           in der Tradition, sie modernisieren ihren Be-                                     Völlig entgegengesetzt, wenn man schon von
                           trieb ständig. Michel, dem Sohn von Pierre                                        Chemie sprechen will, ist die sympathische
                           Troisgros, ist es gelungen, sich die grosse Er-                                   Definition des Koches durch den grossen Er-
                           fahrung seines Vaters und seines Onkels Jean                                      nesto Illy – für ihn ist er ein ‹Chemiker der
                           zu eigen zu machen, die schon quasi natürli-                                      Intuition›. Genau diese ‹intuitive Chemie› ist
                           cherweise all die Kunst in sich vereinten, die                                    es denn auch, dank der verbrannte Pfannen
                           sie wiederum vom alten Familienvater gelernt                                      und zerkochtes Fleisch vermieden werden
                           hatten. Darauf beruhend konnte Michel den                                         können: Profikoch ist, wer seine Arbeit kor-
                           Grundstein für die Weiterentwicklung einer                                        rekt, mit Umsicht und Intelligenz auszufüh-
                           ohnehin schon perfekten Kochkunst legen.                                          ren weiss.
                           Auch die Räumlichkeiten des Restaurants                                           In diesem Sinne dominiert in der Kochkunst
                           wurden von ihm mehrmals erneuert, wie es                                          immer mehr die Leichtigkeit, man ist stets
                           schon seine Vorgänger getan hatten, um sie                                        auf der Suche nach Schlichtheit, um die Qua-
                           an die jeweils herrschenden Anforderungen                                         lität der Ausgangsprodukte zu betonen. Die
                           anzupassen, denn diese ändern sich ständig.                                       Techniken der Vakuumverpackung und des
                                                                                                             Niedrigtemperaturgarens, beide recht neu,
                                                                                                             wurden exakt zur Erreichung dieses Ziels
                                                                                                             entwickelt. Ich war auch tatsächlich begeis-
                                                                                                             tert, als ich zum ersten Mal von Niedrigtem-
                                                                                                             peraturgaren hörte, doch nach einigem Nach-
                                                                                                             denken wurde mir klar, dass diese Methode
                                                                                                             im Grunde genommen der Fleischreifung ent-
                                                                                                             spricht. Wenn ein Produkt acht bis zehn oder
                                                                                                             zwölf Stunden lang gegart wird, kann man
                                                                                                             zweifellos sagen, dass es einer Verarbeitungs-
                                                                                                             methode unterzogen wurde, die eine gute Al-
                                                                                                             ternative zur Reifung darstellt, weil sie die-
                                                                                                             selben Ergebnisse gewährleistet.
                                                                                                             Diese ‹neue Philosophie› in der Küche hat uns
                                                                                                             der Kunst und der Wahrheit immer näher ge-
                           Doch in der Küche setzt Michel auf eine Fort-                                     bracht. Das bedeutet letztlich, dass die Kunst
                           setzung der grossen Tradition, die er mit-                                        das Mittel ist, das uns zur Wahrheit hinführt.
                           bringt. Umgesetzt wird das durch Lösungen,                                        Und wenn ich von der Reinheit eines Produkts
                           die eben nicht im Widerspruch zur Tradition                                       spreche, beziehe ich mich auf mein Konzept
                           stehen, aber dem Tempo des modernen Lebens                                        ‹meno cucina› (‹weniger Küche›), mit dem ich
                           entsprechen, wie es Escoffier 1902 formulierte.                                   erreichen wollte, dass der Hochwertigkeit des
                           Bei uns gab es kaum vergleichbare Erfolgsge-                                      Produkts mit der richtigen Zubereitung und
                           schichten. Die Besten sind oft Autodidakten,                                      der Aufwertung der Präsentation entspro-
                           weil es in Italien keine Spitzenschule gibt, die                                  chen wird.
                           die Besten ausbildet. Somit bleiben die Besten                                    Wenn ich mir heute mein Kochbuch an-
                           oft die einzigen ‹Besten›, ohne dass weitere                                      sehe, das 1980 mit Rezepten von 1978 und
Mit Yannick Alléno         Spitzenkräfte ausgebildet werden können.                                          1979 erschien, erkenne ich, dass die von mir
im Restaurant
«Ledoyen», Paris,
                           Doch so wird nichts geschaffen, um die Profes-                                    kreierten Gerichte, die damals, vor 30 Jah-
2016.                      sionalität in einem Land weiterzuentwickeln.                                      ren, als kühn betrachtet wurden, keinesfalls

                                                                                                      XVII
Gualtiero Marchesi
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                                                                                                             Köche hatten eben sämtliche Phasen dieser
                                                                                                             langsamen Entwicklung der Kochkunst und
                                                                                                             der damit einhergehenden Anpassungen an
                                                                                                             die Ernährungsgewohnheiten einer neuen und
                                                                                                             sich ständig wandelnden Gesellschaft durch-
                                                                                                             laufen. Doch wenn nur ein paar junge oder
                                                                                                             auch weniger junge Köche durch die Arbeit in
                                                                                                             den noch heute von grossen Meistern geleite-
                                                                                                             ten Küchen Erfahrungen sammeln und diese
                                                                                                             Chancen nutzen konnten, haben sie bestimmt
                                                                                                             alles in der Hand, um sich einst zu den grossen
                                                                                                             Köchen zählen zu können.»

                                                                                                             Die Ausbildung ist somit der wichtigste
                                                                                                             Faktor für die Weiterentwicklung der ita-
                                                                                                             lienischen Küche, sowohl in Italien selbst
                                                                                                             als auch in den anderen Ländern der Welt.
                                                                                                             Leider wurde das Thema der Berufsaus-
                                                                                                             bildung der Köche niemals mit dem nöti-
                                                                                                             gen Ernst angegangen. In den 1970er- und
                           Phantasiegerichte, sondern in ihrer Zuberei-                                      1980er-Jahren gingen gut ausgebildete Be-
                           tung der Tradition verhaftet waren: Ich hatte                                     rufsköche aus den Hotelfachschulen hervor,
                           nichts anderes getan, als Zusammensetzung,                                        man denke etwa an das «Istituto Alberghie-
                           Garung und Präsentation zu erneuern (sowie                                        ro» in Stresa, das «Carlo Porta» in Mailand
                           die Kombinationen und die Abfolgen der Me-                                        oder auch an die Schulen in Como, San Pel-
                           nüs). Vor allem hatte ich das neue, exklusive                                     legrino usw. Dann wurden die Mittel lang-
                           Kontrastkonzept eingeführt, das sich dann als                                     sam immer knapper, und die Ausbildung
                           zutreffend erwies und daher weiterentwickelt                                      war nicht mehr so effizient wie früher. 2004
                           werden sollte.                                                                    war Marchesi Mitbegründer der Koch-
                           Natürlich ist es sehr schwierig, diese Konzep-                                    schule ALMA, die aus den Absolventen der
                           te auf diejenigen zu übertragen, die nicht wie                                    Hotelfachschulen professionelle Köche ma-
                           ich den ganzen langen Weg gegangen sind, der                                      chen sollte. Doch das Projekt blieb in der
                           mich bis dorthin führte. Die Franzosen hat-                                       Anfangsphase stecken. Nach Marchesis
                           ten sich auf die Kunstfertigkeit (und Künst-                                      Idee sollten die jungen Leute ihre Studien
                           lichkeit) der Saucen eingeschossen (ein ‹ma-                                      nach einem Jahr praktisch-technischer
                           gisches› Element, mit dem man zahlreiche                                          Ausbildung mit grösserer Bewusstheit ver-
                           Lebensmittel ‹verjüngen› konnte), als es in                                       tiefen, doch diese zweite Projektphase wur-
                           der Küche noch nicht all die Konservierungs-                                      de nie in die Tat umgesetzt, sodass diese
                           techniken gab, die es heute gibt. Wenn ein Ban-                                   Schüler heute glauben, nach nur fünf Mo-
                           kett in einem grossen Hotel stattfand, musste                                     naten Schulbesuch und weiteren fünf Mo-
                           alles im letzten Moment vorbereitet werden,                                       naten Lehre fertige Küchenchefs zu sein.
                           unabhängig von der Anzahl der Gäste! Heute
                           dagegen wird alles lange im Voraus von Cate-
                           ringfirmen, die durchaus auch sehr gute Qua-
                           lität bieten, vorbereitet: Sie setzen dabei auf
Beim Anrichten             hochtechnisierte und zweifellos sichere Mittel,
im Speisesaal seines
Restaurants in
                           die dank der neuen Konservierungssysteme
Erbusco, 2010.             eingesetzt werden können.

Rechts:
                           Letztlich gilt es zu bedenken, dass die jungen
Mit seinen                 Leute hier nicht wirklich von der Erfahrung
Schwiegersöhnen
Enrico Dandolo und
                           der älteren Generation profitieren konnten,
Michel Magada im           weil der Übergang von der grossen Küche von
Schloss von Colorno
(Provinz Parma),
                           einst zur Küche, die von den Kunden heute er-
2010.                      wartet wird, so schnell erfolgt ist. Die älteren

                                                                                                     XVIII
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe
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Der «Maestro»
während eines
Kurses für
professionelle Köche
in seiner Accademia,
Mailand, 2016.
Im Vordergrund
(Nierchen
schneidend) der
Executive Chef der
Accademia Antonio
Ghilardi, rechts von
Marchesi Osvaldo
Presazzi, Executive
Chef des Restaurants
«Terrazza Gualtiero
Marchesi» in
Tremezzo (Provinz
Como).

                           Daher gründete Marchesi 2014 die «Ac-                                             Bevor sie ihrer Kreativität freien Lauf las-
                           cademia Gualtiero Marchesi», die die Ein-                                         sen können, müssen sie sich natürlich in-
                           stellung der Köche ändern sollte: Kochen                                          tensiv mit Kochtechniken, Tradition und
                           nicht als Selbstzweck, sondern als künst-                                         Produkten befassen. Um es auf den Punkt
                           lerisches Ausdrucksmittel. Zur Erreichung                                         zu bringen, könnte man zwei Begriffe nen-
                           dieses Ziels sind jahrelange Arbeit und                                           nen: Notwendigkeit und Exzellenz. Der
                           Vertiefung auf intellektueller Ebene nötig,                                       Begriff der Notwendigkeit umfasst die
                           ablaufen muss das parallel. Und wer sich                                          grundlegenden Kenntnisse über die Aus-
                           mehr Bewusstheit und eine solide kulturel-                                        gangsprodukte und ihre Verarbeitung,
                           le Basis für sein Kochhandwerk wünscht,                                           die Beherrschung der Technik. Denn wie
                           sollte die Möglichkeit haben, seine Studien                                       schon der Komponist Béla Bartók sagte, ist
                           im Rahmen eines Lehrgangs in Kochwis-                                             die Kenntnis der Materie Voraussetzung
                           senschaften auf universitärer Ebene fort-                                         für die Improvisation.
                           zusetzen. Mit dieser Aufgabe hat Marchesi                                         Exzellenz ist laut Marchesi die Fähigkeit,
                           die von ihm gegründete Stiftung betraut,                                          Kochen zur Kunstform zu erheben: «Ko-
                           umgesetzt wird dies durch das Angebot an                                          chen ist eine Wissenschaft. Der Koch macht
                           seiner Akademie.                                                                  daraus eine Kunst.»
                           Die von Marchesi entwickelte Ausbildung
                           beginnt mit einem Kurs namens «Die Kö-                                            *Enrico Dandolo
                           che der Zukunft» für die besten Absolven-                                         Generalsekretär der Fondazione
                           ten der Hotelfachschulen. Dieser soll ihnen                                       Gualtiero Marchesi und Chairman
                           das Wissen über die Grundlagen des Ko-                                            der Gualtiero Marchesi Group
                           chens und die notwendige Bewusstheit ver-
                           mitteln, die für die Arbeit in einem grossen
                           Restaurantbetrieb erforderlich sind. Nach
                           neun Monaten Studium und Arbeit haben
                           die jungen Leute verstanden, was es bedeu-
                           tet, den Beruf eines Kochs auszuüben, und
                           können entscheiden, ob sie ihre Ausbildung
                           auf universitärer Ebene fortsetzen oder
                           sich voll und ganz der Berufsausübung wid-
                           men und unter der Leitung eines Küchen-
                           chefs, der ihr Lehrer wird, weiterlernen
                           möchten.

                                                                                                       XIX
Eine Welt voller Geschmack, Musik und Farbe
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                                                                  Mein erster richtiger Lehrer

                                                                                          von Andrea Berton*

Links:
Andrea Berton in seinem Restaurant,
Mailand, 2000er-Jahre.

Auf dieser Seite:
Andrea Berton, Gamberi rossi di Sicilia crudi e
cotti, amaranto croccante, olio extravergine di
oliva e sorbetto alla barbabietola, 2014.
Gualtiero Marchesi
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                           Gualtiero Marchesi war dank seiner he-                                            und sein umfassendes fachliches und nicht-
                           rausragenden beruflichen Qualitäten ein                                           fachliches Wissen vermittelt. An seiner
                           grossartiger Koch, vor allem aber war er                                          Seite hatte ich das Gefühl, endlich etwas
                           mein erster richtiger Lehrer.                                                     Bedeutendes zu tun. Durch ihn verstand
                           Nach Abschluss meiner Ausbildung hatte                                            ich, welchen Wert meine Arbeit hatte.
                           ich beschlossen, meine Laufbahn im besten                                         Der Beruf eines Küchenchefs war damals
                           italienischen Restaurant der 1990er-Jahre                                         unterschätzt und galt oft als Notlösung bei
                           anzutreten, und so begann ich in seinem,                                          der Berufswahl, doch dank der Erfahrung
                           das sich in der via Bonvesin de la Riva in                                        mit Marchesi änderte sich meine Wahr-
                           Mailand befand. Von Gualtiero Marchesi                                            nehmung des Berufes grundlegend. Durch
                           hatte ich durch Zufall erfahren: Eines Ta-                                        Gualtiero sah ich ihn mit anderen Augen,
                           ges hatte ich zu Hause eine Zeitschrift ent-                                      als etwas Edleres sozusagen, als eine ele-
                           deckt, auf deren Cover ein Koch mit einer                                         mentare Tätigkeit, die Wissen, Lernen,
                           Haube abgebildet war. Das machte mich so-                                         Konzentration und ständiges Nachforschen
                           fort neugierig, auch wenn ich damals noch                                         erforderte.
                           nicht wusste, dass es Marchesi war. Per-                                          Von ihm habe ich wertvolle Dinge gelernt,
                           sönlich begegnete ich ihm dann beim Vor-                                          die mich noch heute begleiten. Am bedeu-
                           stellungsgespräch mit seinem Küchenchef                                           tendsten war vielleicht, dass er mir damals
                           zum ersten Mal. Mein Eindruck war der                                             bewusst machte, wie wichtig die Ausgangs-
                           eines sehr grossmütigen Menschen, und                                             produkte sind. Marchesi legte immer dar-
                           tatsächlich war er sofort bereit, mir eine                                        auf Wert, deren Rolle zu betonen, sie also
                           Chance zu geben. Von da an war mir klar,                                          nicht zu «zerstören», wie man es damals
                           dass er junge Menschen gern unterstützte.                                         tat. Er war seiner Zeit voraus: Für ihn wa-
                           Gualtiero Marchesi war für mich ein gross-                                        ren die Zutaten der Schlüssel zum Erfolg,
                           zügiger Lehrer, dem ich beruflich ganze                                           ein fundamental wichtiges Element, das es
                           acht Jahre verbunden war. Während die-                                            aufzuwerten, ja recht eigentlich in Szene
                           ser Zeit hat er mir die Kultur des Essens                                         zu setzen galt. Von ihm habe ich gelernt,

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Marchesi mit Andrea
Berton im Castello di
Susegana (Provinz
Treviso), 2004.

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