JOURNALISMUS IN DER DEMOKRATIE - FAKTEN | THESEN KONTROVERSEN - journalistenschule
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JOURNALISMUS IN DER DEMOKRATIE FAKTEN | THESEN KONTROVERSEN Eine Dokumentation der Deutschen Journalistenschule
Vertrauen Sie Journalisten? 44 % der Deutschen vertrauen den etablierten Medien in wichtigen Fragen. 34 % der Deutschen vertrauen den Medien teilweise. 22 % der Deutschen misstrauen den Medien grundsätzlich. Wir wollen mit allen über Journalismus in der Demokratie diskutieren! Quelle: Langzeitstudie Medienvertrauen Uni Mainz, 2018
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, die wichtigste Währung für Journa- listinnen und Journalisten ist Ver- trauen, und das müssen sie sich jeden Tag aufs Neue verdienen: durch gute und seriöse Arbeit, aber auch indem sie erklären, wie sie arbeiten und was Journalismus für die Demokratie be- deutet. DIE WICHTIGSTE Dieser Aufgabe stellt sich auch die Deutsche Journalistenschule (DJS) in WÄHRUNG FÜR München, die 1949 gegründet wur- JOURNALISTINNEN de, um nach der Nazi-Herrschaft den Nachwuchs für ein freies Mediensys- UND JOURNALISTEN tem auszubilden. Absolventen der DJS IST VERTRAUEN. sind für die unterschiedlichsten Zei- tungen, Magazine, TV-Sender, Rund- funkanstalten, Onlineportale und ermöglicht. Ziel ist, die Inhalte einer Pressestellen tätig. Im Rahmen des breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu Projektes #journalistenschule disku- machen. An Recherche oder Redaktion tieren sie jedes Jahr mit Jugendlichen war das Amt nicht beteiligt. überall in Deutschland darüber, was guten Journalismus von Fake News Weil guter Journalismus ohne Freiheit unterscheidet. nicht möglich ist, rückt die Dokumen- tation Artikel 5 auch symbolisch ins Daran knüpft diese Dokumentation Zentrum: mit fünf Thesen, die Grund- an. Sie sammelt Antworten auf häu- sätze der journalistischen Arbeit er- fig gestellte Fragen zu Aufgaben klären und immer wiederkehrende und Arbeitsweise von Journalisten, Vorwürfe aufgreifen. Interessierte von der Nachrichtenauswahl bis zur Bürger finden auf den folgenden Sei- Namensnennung. Sachlich und fak- ten viele Fakten, aber auch die per- tentreu, dabei aber auch kritisch und sönliche Sicht von DJS-Absolventen unterhaltend zeigt sie auf, wie die auf ihren Beruf. Diese Transparenz Pressefreiheit aus Artikel 5 des Grund- soll dazu beitragen, Vertrauen zu stär- gesetzes mit Leben gefüllt wird. Die ken, um eine fruchtbare Diskussion Dokumentation wurde durch eine über die Frage zu ermöglichen: Wofür Finanzierung des Bundespresseamtes brauchen wir Journalisten? 3
INHALT 6 Gute Journalisten werten. Weil nicht jede Nachricht gleich wichtig ist. Wer Nachrichten liest, hört oder sieht, ist gut informiert über das wichtigste Geschehen auf der Welt oder in seinem Heimatort. Das ist jedenfalls der Anspruch und die Aufgabe der Medien. Damit dies gelingt, müssen Journalistinnen und Journalisten auswählen – weil eben nicht jede Information eine Nachricht wert ist. Doch nach welchen Kriterien erfolgt diese Auswahl? Steuern vielleicht Regierun- gen die Berichterstattung? 18 12 Gute Journalisten prüfen. Weil Fake News keine Alternative sind. Ein Beruf – zwölf Meinungen Für jede seriöse Redaktion gilt: Fakten- check statt Fake News. Denn veröffentlicht Warum wird Qualitäts- werden darf nur, was Journalistinnen und Journalisten vorher geprüft und recher- journalismus gebraucht? chiert haben. Investigativreporter sind Zwölf unterschiedliche und bei ihren Recherchen oft wochenlang persönliche Antworten Missständen und Skandalen auf der Spur. von Absolventinnen und Doch wie prüfen Journalisten den Absolventen der Deutschen Wahrheitsgehalt von Informationen? Journalistenschule. Wie laufen investigative Recherchen ab? 4
INHALT 22 26 Gute Journalisten nerven. Gute Journalisten schweigen. Genau die Richtigen. Im richtigen Moment. Journalistinnen und Journalisten Gute Journalistinnen und Jour- müssen Nervensägen sein, um die nalisten nennen ihre Quellen, weil Mächtigen zu kontrollieren. Sie wahren Transparenz Vertrauen schafft. Distanz zur Politik und hören allen Doch sie schweigen, wenn nur Seiten zu, weil sie keiner angehören. Gerüchte kursieren oder Persön- Denn Unabhängigkeit sichert Qualitäts- lichkeitsrechte verletzt würden. journalismus. Doch wie unabhängig Keine Alternative ist Schweigen sind Journalisten? Wie begegnen sie allerdings, wenn Journalisten Feinden der Demokratie? selbst Fehler begehen. Wie trans- parent berichten die Medien? Wie ausgeprägt ist ihre eigene 32 Fehlerkultur? Gute Journalisten lassen sich bezahlen. 38 Pressefreiheit und Um Menschen zu informieren. Medienvielfalt. Fakten und Zahlen Die Digitalisierung hat die klassischen Medien in eine Krise gestürzt. Im Netz finden sich Millionen von wahren und Wie steht es um die Meinungs- vermeintlich wahren Informationen, ein und Pressefreiheit in Deutsch- Großteil davon kostet nichts. Der Journa- land? Wie können Journalistinnen lismus steht vor einer enormen Heraus- und Journalisten in anderen forderung: Wie lässt sich unter diesen Ländern arbeiten? Wie vielfältig Bedingungen Geld verdienen? Muss für Journalismus im Online-Zeitalter über- ist die Medienlandschaft in haupt noch bezahlt werden? Deutschland? 5
# Gute Journalisten werten. Weil nicht jede Nachricht gleich wichtig ist. Haben Sie sich schon mal darüber gewundert, dass ein Thema in den Fernsehnach- richten oder Ihrer Lokalzeitung gar nicht auftauchte und ein anderes dafür umso ausführlicher behandelt wurde? Womöglich haben Sie sich über diese Auswahl geärgert. Vermuten Sie vielleicht sogar, dass Politikerinnen und Politiker die Berichterstattung direkt steuern können? Wir erklären, wie Journalistinnen und Journalisten Informationen bekommen, wie sie daraus die wichtigsten Nachrichten auswählen und warum sie sich dabei nicht vom Staat diktieren lassen, was sie berichten. Was Journalisten Dienstag, 11. September 2001: für wichtig halten In Frankfurt am Main öffnet die Inter- nationale Automobil-Ausstellung (IAA) An manchen Tagen ist allen Redaktio- für die Presse – gewöhnlich berichten nen sofort klar, welches die wichtigste die Medien ausführlich über die News Nachricht ist. Wann dies der Fall ist der Branche. Doch am Nachmittag und wie schwierig die Auswahl sein kommen Nachrichten aus New York, kann, verdeutlichen diese drei ganz nach denen sich niemand mehr für unterschiedlichen Nachrichtentage: die IAA interessiert: Flugzeuge rasen 6
in das World Trade Center. Die An- unterschiedlich eingeschätzt wird. schläge vom 11. September bewegen Bewusstes Verschweigen ist das aber weltweit die Menschen – und sie in- nicht. formieren sich darüber vor allem in den Medien. Wie Journalisten ihre Informationen bekommen Was neu und relevant ist und Men- schen bewegt, ist eine wichtige Nach- Im Idealfall sind Journalisten vor Ort, richt. sie sind gewissermaßen die Augenzeu- gen für ihre Leser, Hörer und Zuschau- Sonntag, 13. Juli 2014: er. Sie sitzen also zum Beispiel im Für Fußballfans gibt es keinen Zweifel Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro, an der wichtigsten Nachricht dieses wenn Deutschland das WM-Finale ge- Tages: Deutschland wird in Brasilien gen Argentinien gewinnt. Sie sind in mit einem 1:0-Sieg über Argentinien New York und berichten vom Grauen zum vierten Mal Weltmeister. Aber der Terroranschläge am 11. September. auch wer sich für dieses Finale gar Doch nicht nur bei solchen Welt- nicht interessiert, dürfte kaum über- ereignissen sind Journalisten dabei. rascht sein, dass für die meisten Sie sitzen im Gemeinderat oder im Redaktionen in Deutschland – die Bundestag, in Gerichts- oder Konzert- ganz sicher nicht nur aus Fußballfans sälen, berichten von Aktionärsver- bestehen – dieser WM-Sieg eine Top- sammlungen oder Parteitagen, von News ist. Pressekonferenzen oder „Fridays for Future“-Demonstrationen. Persönliches Interesse entscheidet nicht darüber, ob eine Nachricht SERIÖSER wichtig ist. JOURNALISMUS SORGT Samstag, 3. Dezember 2016 DAFÜR, DASS ALLE In Freiburg wurde ein später wegen Mordes verurteilter Flüchtling als Ver- VERÖFFENTLICHTEN dächtiger im Fall einer getöteten Stu- dentin festgenommen. Ein regionaler NACHRICHTEN Kriminalfall oder eine bundesweit SORGFÄLTIG GEPRÜFT wichtige Nachricht? Darüber wird in den Redaktionen kontrovers diskutiert. SIND. Dass zum Beispiel die 20.00-Uhr-Tages- schau an diesem Samstag nicht berich- Viele Informationen bekommen tet, wird vielfach kritisiert. Journalisten aber auch am Schreib- tisch. Wenn wie im Fall der getöteten Nachrichtenauswahl ist angreifbar, Studentin in Freiburg ein Verdäch- weil die Bedeutung von Ereignissen tiger festgenommen wird, teilt die 7
POLITIKER die Kunden der Agenturen sind die Medien, also das Mindener KÖNNEN NICHT Tageblatt genauso wie die Süd- PER ANRUF deutsche Zeitung, der Spiegel oder ARD und ZDF. In deren Redaktions- DIE BERICHT- systemen laufen jeden Tag im Minu- ERSTATTUNG tentakt Agenturmeldungen aus aller Welt ein, die oft schon kurz danach STEUERN. veröffentlicht werden. Polizei das meist zuerst in einer Die Agenturen stellen mit einem gro- schriftlichen Pressemitteilung mit. ßen Netzwerk an Korrespondenten si- Solche und zehntausende weitere cher, dass auch die Leser der kleinsten Mitteilungen landen jeden Tag in den Regionalzeitung das Neueste aus aller E-Mail-Postfächern der Redaktionen Welt erfahren. Sie sichern eine Grund- – verschickt von Regierungen und versorgung mit Nachrichten. Parteien, Unternehmen und Gewerk- schaften, Vereinen und Verbänden, Die großen Weltagenturen sind Agence Polizeidienststellen und Gerichten. France-Presse (AFP), Associated Press Die sozialen Medien sind ebenfalls (AP), und Reuters (rtr). Die national längst Quellen für Journalisten, weil führende Nachrichtenagentur ist die Prominente, Politiker und auch Be- Deutsche Presse-Agentur (dpa). In Zei- hörden Neuigkeiten twittern und posten. Aber auch die von jedem Ein- zelnen verbreitete Info kann Anstoß für eine Berichterstattung sein. Doch gerade, wenn Informationen als Mail, YouTube-Video oder Tweet vor- liegen und kein Reporter vor Ort ist, heißt es für Journalisten zunächst: prüfen, ob es sich nicht um Fake News handelt. Seriöser Journalismus sorgt dafür, dass alle veröffentlichten Nachrichten sorgfältig geprüft sind (mehr zur Recherche und zur Sorg- faltspflicht von Journalisten ab S. 12). Eine besondere Rolle im Informa- tionsfluss kommt den Nachrichten- agenturen zu. Deren Artikel können die Leser nicht direkt kaufen: Denn 8
JOURNALISTEN MÜSSEN AUSWÄHLEN UND PRIORITÄTEN SETZEN. tungen und auch auf Onlineportalen sind Artikel von Agenturen meist mit deren Kürzeln gekennzeichnet. Wie Journalisten auswählen Journalisten müssen auswählen und Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Prioritäten setzen. Das liegt allein einer Pressekonferenz ihren berühmt schon daran, dass in 15 Minuten gewordenen Satz über die Flücht- Sendezeit oder auch auf 40 Zeitungs- lingspolitik: „Wir schaffen das.“ Wer seiten nur ein Bruchteil der Themen Jahre später im Netz danach sucht, Platz findet. Auf eine Einmischung findet Videos der damaligen Presse- von Politikern reagieren Journalisten konferenz, aber auch schnell hun- dabei allergisch. Denn in der Demo- derte, ganz unterschiedliche Artikel kratie sollen die Mächtigen keines- und Kommentare. Wie über Merkels falls per Anruf in den Redaktionen Einschätzung damals und heute be- bestimmen, was und wie die Medien richtet wurde und wird, hatte die berichten. Kanzlerin ab dem Moment nicht mehr in der Hand, als sie den Satz vor lau- Wie sollte das auch funktionieren? fenden Kameras sagte. In Deutschland erscheinen mehr als 300 Tageszeitungen, es berichten ARD Dazu kommt: Journalismus ist Team- und ZDF, RTL und Arte, Spiegel und arbeit. Wer zum Beispiel auf einer die Nachrichten-App Upday. Niemand Pressekonferenz sitzt, schickt seinen kann in einer so vielfältigen Medien- Text in die Redaktion, wo ihn min- landschaft steuern, wie berichtet destens noch ein Redakteur liest. Die- wird. Es ist nicht mal vorherzusehen. ses Vier-Augen-Prinzip gilt bei allen Ein Beispiel: Im August 2015 sagte seriösen Medien. Wie die gedruckte 9
WAS EIN JOURNALIST VON TRUMP UND SEINER POLITIK ODER AUCH VON DER ZINSPOLITIK DER EUROPÄISCHEN ZENTRALBANK ODER DEM SPIELERTRANSFER DES FC BAYERN MÜNCHEN HÄLT, GEHÖRT IN EINEN KOMMENTAR UND NICHT IN EINE NACHRICHT. Zeitung am nächsten Tag oder die Bundespräsident Christian Wulff, Nachrichtensendung am Abend aus- nachdem er im Dezember 2011 auf sehen sollen, darüber wird zudem in der Mailbox von Bild-Chefredakteur Redaktionskonferenzen intensiv bera- Kai Diekmann wegen der Recherchen ten und auch gestritten. Was ist das des Blatts eine drohend klingende Top-Thema? Wie wird darüber berich- Nachricht hinterlassen hatte. Der An- tet? Welche Themen sollen sonst noch ruf wurde öffentlich – und schadete ins Blatt oder in die Sendung? Auch dem Bundespräsidenten massiv. das macht es für Politiker unmöglich, die Berichterstattung direkt zu beein- Die Wulff-Affäre gilt heute aber auch flussen. als Beispiel für den Hang mancher Medien, aus jedem Vorwurf und dem Vielmehr ist es so, dass schon der Ein- kleinsten Fehltritt einen Skandal zu druck der Einflussnahme ein schlech- machen. Zeit-Chefredakteur Giovanni tes Licht auf einen Politiker wirft. Das di Lorenzo mahnte auch mit Blick auf erfuhr beispielsweise der damalige die Berichterstattung in diesem Fall: 10
FUNDAMENT Warum Journalisten Nachrichten und Kommentare trennen DES JOURNALISMUS müssen BLEIBEN DIE Gibt es über Donald Trump nicht auch NACHRICHTEN, WEIL Positives zu berichten? Manchmal fra- gen das auch Menschen, die nicht viel SICH DIE MENSCHEN vom US-Präsidenten halten – dabei EINE EIGENE MEINUNG dürfte sich diese Frage so gar nicht stellen: Nachrichten sollen in erster BILDEN SOLLEN. Linie informieren. Journalisten müs- sen dafür auswählen und einordnen, aber ihre eigene Meinung hat in Nach- „Die ständige Skandalisierung auch aus richten in der Regel nichts zu suchen. nichtigem Anlass entpolitisiert auf Dauer Gesellschaften.“ Sie verwische Im Grundsatz gilt: Was ein Journalist zunehmend den „Unterschied zwi- von Trump und seiner Politik oder schen Wichtigem und Unwichtigem“. auch von der Zinspolitik der Euro- pä-ischen Zentralbank oder dem Spie- Wulff trat im Februar 2012 zurück, lertransfer des FC Bayern München nachdem die Staatsanwaltschaft die hält, gehört in einen Kommentar und Aufhebung seiner Immunität bean- nicht in eine Nachricht. tragt hatte. Begonnen hatte die Affäre mit Berichten über einen Privatkredit In seriösen Medien wird deshalb ge- bei seinem Hauskauf, schnell kamen trennt zwischen Meinungsbeiträgen immer weitere Vorwürfe gegen den und der Berichterstattung über das, früheren niedersächsischen Minister- was in der deutschen Kleinstadt oder präsidenten hinzu – bis hin zu absur- in Washington geschieht. Das heißt den Kleinigkeiten wie der Frage, wer nicht, dass es nur schwarz und weiß das Bobby-Car seines Sohnes bezahlt gibt, Medien also nur sachlich-neutra- hatte. Am Ende blieb in einem Ge- le Nachrichtentexte oder meinungs- richtsverfahren lediglich der Vorwurf starke Kommentare veröffentlichen. der Vorteilsnahme, weil ein Filmpro- Journalisten schreiben oder drehen duzent Hotel- und Bewirtungskosten auch Reportagen und Portraits, unter- für Wulff bezahlt haben sollte. Im halten ihr Publikum mit Glossen und Februar 2014 sprach das Landgericht Kolumnen. Sie verfassen Filmkritiken Hannover den früheren Bundespräsi- und Wirtschaftsanalysen, produzie- denten auch davon frei. Das Vorgehen ren Multimedia-Storys und führen der Medien kritisierte Wulff später als Interviews. Doch Fundament des Jour- „Jagdfieber“, doch seinen Anruf beim nalismus bleiben die Nachrichten, früheren Bild-Chef Diekmann wertete weil sich die Menschen eine eigene auch er selbst als Fehler. Meinung bilden sollen. 11
Gute Journalisten prüfen. Weil Fake News keine Alternative sind. Ob Sie Ihre Lokalzeitung aufschlagen oder die Nachrichtensendung einschalten, auf eines müssen Sie sich verlassen können: Was Sie lesen oder hören, stimmt. Deshalb recherchieren gute Journalistinnen und Journalisten sorgfältig, bevor sie etwas ver- öffentlichen. Recherche ist die Lebensversicherung für Qualitätsjournalismus, weil nur damit wahrheitsgetreue Berichterstattung möglich ist. Erfahren Sie, warum seriöse Medien keine Fake News verbreiten, wie Investigativreporter die Mächtigen kontrollieren und warum Recherche Zeit braucht. Warum Recherche mehr als vermeintlichen Informationen kann Internet-Suche ist einen auch erschlagen: Beim Stich- wort „Trump“ zum Beispiel spuckt die Nur zu googlen, ist noch keine Re- Suchmaschine in weniger als einer cherche. Das Internet hat es zwar Sekunde mehr als eine Milliarde auch für Journalisten erleichtert, an Ergebnisse aus. Und was davon ist Informationen zu gelangen. Ob ein nun relevant und korrekt? Genau da Gesetzestext, ein Parteiprogramm oder beginnt Recherche. eine Geschäftsbilanz, im Netz findet sich vieles schneller als zu Zeiten, Das französische „rechercher“ bedeu- in denen alles nur auf Papier vorlag. tet übersetzt „suchen“. Doch mit Su- Doch die Menge an tatsächlichen und che allein ist es nicht getan, Recherche 12
„Recherche ist unverzichtbares Instrument journalis- tischer Sorgfalt“, heißt es in Ziffer 2 des Pressekodex des Deutschen Presserats. In dem Kodex hat der 1956 als Selbstkontrollinstanz der Printmedien gegründete Presserat Richtlinien für die journalistische Arbeit festgeschrieben. Dessen 16 Ziffern beinhalten ethische Standards wie die Achtung der Menschenwürde, die Unschuldsvermutung oder eben die Sorgfaltspflicht. Dieser Pflicht können Journalisten nur nachkommen, indem sie recherchieren. bedeutet für Journalisten vor allem: chen stundenlang Panik herrschte. Überprüfung. Stimmt diese Infor- Kurz vor 18.00 Uhr fielen Schüsse mation? Ist diese Quelle vertrauens- am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ), würdig? Ein solcher Faktencheck erst um 1.26 Uhr gab die Polizei über ist keine Kür, sondern Alltag. Jeden Twitter „vorsichtige Entwarnung“. Tag in jeder seriösen Redaktion in Erst da wurde langsam klar, dass das Deutschland. Attentat eines 18-jährigen Einzeltä- ters die bayerische Landeshauptstadt erschüttert hatte. Er erschoss neun Wieso sorgfältige Recherche Zeit Menschen und anschließend sich braucht selbst. Nach weiteren Ermittlungen stufte das Landeskriminalamt die Tat Oft bleibt im Alltag nicht viel Zeit, um im Oktober 2019 als politisch moti- sorgfältig zu prüfen. Doch diese Zeit viert ein. Die „rechtsradikale und ras- müssen sich Journalisten nehmen, ge- sistische Gesinnung“ des Täters dürfe rade weil Gerüchte meist schneller als nicht vernachlässigt werden. die Wahrheit sind. Bei Katastrophen, Anschlägen oder Amokläufen kursie- Die Süddeutsche Zeitung zählte kurz ren oft schon hunderte Gerüchte und nach der Tat in einer „Timeline der Spekulationen, während nur wenige Panik“ 67 Tatorte während der Abend- gesicherte Informationen vorliegen. und Nachtstunden – und damit 66 Mal So wie am 22. Juli 2016, als in Mün- falschen Alarm. Knapp 3000 Tweets 13
„INFORMATION Die Regeln könnten auch für Jour- nalisten gelten – doch halten sie IST SCHNELL, sich immer selbst daran? Sie soll- ten es, manchmal lassen aber auch WAHRHEIT sie sich von der „großen Gereiztheit“ BRAUCHT ZEIT.” anstecken, wie der Medienwis- senschaftler Bernhard Pörksen die Peter Glaser Stimmung in der vernetzten Gesell- schaft beschreibt. Er urteilt über die tauchten in der Nacht mit dem Be- Berichterstattung bei Attentaten und griff „Amok“ auf, fast 60.000 mit der Terroranschlägen ernüchtert: „Hier Bezeichnung „Terror“. zeigen sich in brutaler Regelmäßig- keit folgende Muster: Sofort-Berichte, Wie gehen Medien in solchen Situa- Sofort-Reaktionen, Falschmeldungen tionen vor? Die einzige Möglichkeit: in Serie, allgemeine Desorientierung, Informationen prüfen, nachfragen, pauschale Verdächtigungen; dies alles auf seriöse und verlässliche Quellen in den sozialen Netzwerken, aber bauen. Um herauszufinden, ob an ei- durchaus auch in den etablierten ner im Netz kursierenden Informati- Medien und den klassischen Redak- on etwas dran ist, reicht es allerdings tionen, die im Wettlauf um Geschwin- nicht, weiter im Internet zu surfen. digkeitspokale unbedingt mitmischen Journalisten müssen dann möglichst wollen.“ selbst vor Ort sein oder viel telefo- nieren, um der Wahrheit näher zu Ratsam wäre es deshalb auch für Jour- kommen. Denn eines muss Tabu sein: nalisten, sich besonders in solchen Ungeprüfte Gerüchte verbreiten. hektischen und unübersichtlichen Momenten an einen Satz des Netz- Die Süddeutsche Zeitung formulierte philosophen Peter Glaser zu erinnern: sieben Regeln #gegendiepanik und für „Information ist schnell, Wahrheit mehr Social-Media-Gelassenheit, dar- braucht Zeit.“ in heißt es unter anderem: Warum gute Journalisten keine „Bevor ich etwas veröffentliche oder Fake News verbreiten an meine Freunde schicke, atme ich dreimal tief durch – und suche min- Ja, Journalisten machen Fehler. Sie destens zwei verlässliche Quellen für schreiben Namen falsch, machen aus die Informationen.“ Milliarden versehentlich Millionen und irren sich bei Jahreszahlen. Jeden „Ich verbreite keine Gerüchte! Ich halte Tag passieren solche Fehler – genau- mich nur an bestätigte Informationen so wie der Maurer mal eine Fuge nicht und versuche mich von Spekulatio- sauber verputzt. Manchmal gibt es nen fernzuhalten.“ auch größere und peinlichere Pannen. 14
So wie zum Beispiel im Juni 2018, als lichen Fehler – jedoch nicht um Fake in verschiedenen Medien plötzlich News als bewusst verbreitete Falsch- eine vermeintliche Top-Nachricht meldungen. auftauchte: „Seehofer kündigt Bünd- nis mit CDU auf.“ Hätte der damali- FAKE NEWS IST ge CSU-Vorsitzende die Fraktionsge- LÄNGST AUCH EIN meinschaft mit der CDU im Bundestag tatsächlich beendet, wäre dies eine KAMPFBEGRIFF, historische Zäsur gewesen. Doch es UM MEDIEN war eine „Ente“, eine Falschmeldung. Dahinter steckte die Satirezeitschrift ZU BESCHIMPFEN. Titanic. Ein Redakteur hatte die Nach- richt unter dem Twitter-Account „HR Was Fake News bewirken können, Tagesgeschehen“ verbreitet, hinter erfuhr zum Beispiel leidvoll ein dem irrtümlich der Hessische Rund- syrischer Flüchtling, der im September funk vermutet wurde. 2015 ein Selfie mit Bundeskanzlerin Merkel knipste. Ein Pressefoto, auf Es gab also eine Quelle, wie jede Nach- dem die Szene festgehalten ist, ging richt sie braucht. Nur war es blöder- um die Welt. Schon bald wurde der weise eine Falle, was bei der – wahr- junge Flüchtling immer wieder diffa- scheinlich zu schnellen – Recherche miert, indem man ihn etwa mit Atten- nicht sofort auffiel. Allerdings wur- taten in Verbindung brachte. Nichts den nur wenige Minuten nach den davon stimmte, aber die verleumde- Falschmeldungen auch schon Korrek- rischen böswilligen Fake News – ver- turen veröffentlicht. Genau deshalb sehen mit seinem Bild – wanderten handelte es sich zwar um einen ärger- durchs Netz. 15
Fake News ist längst auch ein Kampf- Versuch, Journalistinnen und Jour- begriff, um Medien zu beschimpfen. nalisten lächerlich zu machen, passt Besonders oft gebraucht ihn US- zum Kurs der Partei, kritische Be- Präsident Trump, wenn er etwa ge- richterstatter zu beleidigen und zu gen die Berichte der renommierten diffamieren, wo es nur geht.“ Die US-Zeitungen New York Times und „Missachtung von Journalisten und Washington Post oder den Nachrich- permanente Verstöße gegen die Presse- tensender CNN wettert. freiheit“ gehörten zur „DNA dieser Partei“. Warum nur Recherche die Kontrolle der Mächtigen ermöglicht Recherche ist Alltag für alle Journa- listen, aber ganz besonders für Inves- tigativreporter. Wochen- oder auch monatelange Arbeit steckt hinter den großen Enthüllungsgeschichten, die Sinnbild dafür sind, dass Journalisten die Mächtigen kontrollieren sollen. Manchmal verändern die Recherchen von Journalisten sogar die Geschichte eines Landes: Zu den Meilensteinen in der Entwicklung der Pressefreiheit in Deutschland zählt zum Beispiel die „Spiegel-Affäre“. Nach einem Bericht Offen gegen etablierte Medien stellt über ein Nato-Manöver mit dem Titel sich auch immer wieder die AfD. So „Bedingt abwehrbereit“ ließ die Bun- schloss die AfD Baden-Württemberg desanwaltschaft im Oktober 1962 die bereits 2016 die Presse von einem Redaktionsräume des Nachrichten- Landesparteitag aus. Ende 2019 star- magazins durchsuchen. Redakteure teten Bundestags- und Landtagsab- wurden wegen des Verdachts auf geordnete der Partei sogar ein „Aus- Landesverrat festgenommen, auch steigerprogramm“ für „Mitarbeiter Herausgeber Rudolf Augstein saß in der Mainstream-Medien“. Aufgerufen Untersuchungshaft. wurde dabei auch, die „schlimmsten Lügen und Manipulationen der Hal- Eine zentrale Rolle spielte dabei der tungsredaktionen“ zu dokumentie- damalige Verteidigungsminister und ren. Der Vorsitzende des Deutschen CSU-Chef Franz-Josef Strauß, der Journalistenverbands, Frank Überall, schließlich im November 1962 im erklärte zu dieser Kampagne: „Der Zuge der Affäre als Minister zurück- 16
DER SCHUTZ VON Spiegel versichern, dass dafür kein Geld floss. Sie schweigen allerdings INFORMANTEN darüber, wer ihnen das Enthüllungs- video gab. Völlig zu Recht, denn der ERMÖGLICHT ES ERST, Schutz von Informanten ermöglicht es SKANDALE schließlich erst, solche Skandale auf- zudecken. AUFZUDECKEN. Wer würde sich einem Journalisten trat. Das Vorgehen gegen das Nach- mit für ihn heiklen oder auch gefähr- richtenmagazin nahmen nicht nur lichen Informationen anvertrauen, die Medien als Angriff auf die Presse- wenn er seinen Namen am nächsten freiheit wahr. Auch die Öffentlichkeit Tag in der Zeitung lesen müsste? protestierte. „Spiegel tot – die Frei- Auch das Bundesverfassungsgericht heit tot“ war bei Demonstrationen hat immer wieder im Sinne der Pres- auf Plakaten zu lesen. sefreiheit den Schutz von Informan- ten gestärkt (mehr zur Transparenz Welche weitreichenden Folgen die Re- im Umgang mit Quellen ab S. 26). cherchen von Medien haben können, zeigte sich im Jahr 2019 auch bei der Mit der Annahme der Bild- und Ton- Ibiza-Affäre in Österreich. aufnahmen des gut sechsstündigen Gesprächs fing die Arbeit aber erst Die Süddeutsche Zeitung und Der an. Es galt schließlich, den Wahrheits- Spiegel berichteten im Mai über ein gehalt akribisch zu prüfen. heimlich auf Ibiza gedrehtes Video, das zeigt, wie der damalige österrei- So untersuchten Wissenschaftler, ob chische Vizekanzler und FPÖ-Chef die Aufnahmen manipuliert waren. Heinz-Christian Strache vor der Par- Die Journalisten mussten schließlich lamentswahl 2017 einer vermeint- entscheiden, was die Öffentlichkeit lichen russischen Oligarchen-Nichte von dem Video sehen sollte. Bloßes im Gegenzug für Wahlkampfhilfe Hinterzimmer-Geschwätz oder rein Staatsaufträge in Aussicht stellte. private Meinungen wären kein akzep- tabler Grund für Berichterstattung Aber wie waren Süddeutsche Zeitung – es durfte nur um Aussagen gehen, und Spiegel an das Video gekommen? an deren Veröffentlichung ein öffent- Die Aufnahmen wurden den Medien liches Interesse bestand. Dass dies schlicht zugespielt, wie es bei vielen bei den ausgewählten Passagen der anderen großen Enthüllungsgeschich- Fall war, zeigten die Folgen dieses ten auch passiert. Übergeben wurde Recherchecoups: Die rechtskonserva- das Material in diesem Fall den SZ-Re- tive Regierungskoalition in Österreich portern filmreif in einem verlasse- zerbrach, Ende September 2019 kam nen Hotel. Süddeutsche Zeitung und es zu vorgezogenen Neuwahlen. 17
Ein Beruf – zwölf Meinungen Werden Journalisten noch gebraucht? Und wenn ja, wofür? Es gibt viele Gründe, warum eine freie Presse für Demokratien unerlässlich ist, warum der Journalismus in einer unübersichtlichen Welt vielleicht wichtiger denn je ist. Ihre ganz persön- lichen Antworten auf diese Fragen geben hier zwölf Absolventinnen und Absolven- ten der Deutschen Journalistenschule: „Journalist*innen werden „Journalisten gebraucht, weil sie uns werden gebraucht, dabei helfen, Informatio- weil sie uns die nen zu sichten, zu prüfen Welt nahebringen und zu bewerten und und immer wieder diese dann so aufbereiten auch Facetten der und erzählen, dass man Wahrheit.“ mit dem Ergebnis auch Katja Gloger, etwas anfangen kann.“ stern-Autorin Richard Gutjahr, Journalist und Blogger „Journalisten werden gebraucht, weil sie in Zeiten von Fake News ein wichtiges Korrektiv sind und dort für Klarheit sorgen, wo es immer unübersichtlicher wird.“ Oliver Sallet, USA-Korrespondent Deutsche Welle 18
„Journalisten werden gebraucht, weil ein Facebook-Post nicht ausreicht, um zu erklären, warum eine geschlagene Frau mit gebrochener Nase zurückkehrt zu ihrem Peiniger, warum auch E-Autos den Planeten nicht retten werden und warum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern so schwer ist. Dafür braucht es Journalistinnen, die unermüdlich graben und nachforschen, die seriöse Quellen von Fake News unterscheiden und das so aufschreiben, dass Junge und Ältere, Frauen wie Männer Lust haben, bis zur letzten Zeile zu lesen.“ Ursula Ott, Chefredakteurin Chrismon „Journalisten werden gebraucht ... Na ja, dringender brauchen „Journalisten werden gebraucht, die Leute faire Löhne, weil sie sich kluge Politikerinnen und alle Seiten das Recht, öffentlich zu anhören, statt sich nur einer funky Mucke zu tanzen. anzuschließen.“ Bekommen sie das aber verwehrt, fragen Jour- Cornelius Pollmer, Dresden-Korrespondent nalisten immer wieder Süddeutsche Zeitung nach: Warum? “ Dmitrij Kapitelman, freier Journalist und Autor 19
„Journalisten werden gebraucht, weil eine Gesellschaft darauf angewiesen ist, auf eine gemeinsame Realität, eine gemein- same Wahrnehmung der Welt, zurückzugreifen – damit wir auf dieser Grundlage politische Entscheidungen treffen können. An dem meisten, was auf dieser Welt passiert, können wir nicht unmittelbar teilnehmen. Das müssen wir uns erzählen lassen – durch eine Instanz, die versucht ihre Wiedergabe der Realität möglichst zu objektivieren und sich dabei auch kontrollieren lässt.“ Valerie Schönian, Autorin Zeit im Osten und Piper Verlag „Journalisten werden gebraucht, weil wir „Journalisten heute mehr Infor- werden mationen haben als gebraucht, je zuvor und trotzdem weil selbst ein Fußballspiel viele Fragen offen komplexer bleiben. Journalisten als ein 1:0 ist.“ helfen den Bürgern, diese Fragen zu Filippo Cataldo, Sportjournalist beantworten.“ Rico Grimm, Chefredakteur Krautreporter 20
Journalisten werden Journalisten werden ge- braucht ... so wie Metzger, gebraucht, weil sie in der Ärztinnen, Ingenieure Demokratie die Chance, und Pflegerinnen ge- braucht werden: als gut das Privileg und die Pflicht ausgebildete und sauber haben, sich anstelle der arbeitende Fachleute, die ihren Beruf lieben, anderen BürgerInnen auf ihr Handwerk verstehen, ihre professionellen die Suche nach der Wahr- Maßstäbe achten und ihr heit und manchmal auch Können in den Dienst der Allgemeinheit stellen.“ den Wahrheiten zu Michael Watzke, machen. Bayern-Korrespondent Mareike Nieberding, Deutschlandradio Süddeutsche Zeitung Magazin „Journalisten werden gebraucht, weil sie ihren Job als Verteidigung der Demokratie begreifen, die in Zeiten des Rechtsrucks ins Wanken zu geraten scheint. Sie können Information von Lüge unterscheiden, und Meinung von Hetze. Das ist im Moment bitter nötig.“ Alice Hasters, Journalistin und Autorin 21
Gute Journalisten nerven. Genau die Richtigen. Es ist gut möglich, dass Journalisten ausgerechnet Ihren Lieblingspolitiker im Inter- view hart angehen oder kritisch über Ihren Fußballclub berichten. Sie sollten sich darüber nicht ärgern, denn genau das gehört zu seriösem Journalismus. Gute Journa- listinnen und Journalisten berichten fair, aber auch kritisch – über alle Politikerinnen und Politiker, jedes Unternehmen und jeden Fußballclub. Alles andere wäre Hof- berichterstattung, aber kein unabhängiger Journalismus. Lesen Sie, was die Grund- lagen dieser Unabhängigkeit sind, warum Journalisten auch vertrauliche Gespräche führen und welche Grenzen es für neutrale Berichterstattung geben kann. Warum Journalisten frei und Medien nicht – ein Wesensmerkmal unabhängig berichten können jeder Demokratie. Jede Diktatur wird dagegen immer alles daran setzen, die Nur wenige können sich für ihre Presse zu kontrollieren. Arbeit direkt auf die Verfassung be- rufen: Journalisten haben dieses In der NS-Zeit gab es keine Pressefrei- Privileg, weil Artikel 5 des Grundgeset- heit, stattdessen Zeitungen wie das zes die Meinungs- und Pressefreiheit NSDAP-Parteiorgan Völkischer Beob- festschreibt. Der wahrscheinlich be- achter, das antisemitische Hetzblatt kannteste und wichtigste Satz: „Eine Der Stürmer oder einen Propagan- Zensur findet nicht statt.“ Bezogen ist da-Rundfunk. Nach Ende des Zweiten dies auf den Staat, der nicht eingreifen Weltkriegs gehörte die Entstehung darf in die freie Presse. Die Pressefrei- einer freien Presse zu den zentralen heit hat zwar Grenzen, durch Geset- Voraussetzungen für den Aufbau der ze oder natürlich auch durch andere Demokratie in der Bundesrepublik Grundrechte wie die Menschenwürde. Deutschland. Mit Qualität muss die- Doch staatlich gelenkt werden die se Freiheit übrigens nicht zwingend 22
einhergehen, Heribert Prantl schrieb Warum der öffentlich-rechtliche dazu treffend zum 70. Geburtstag des Rundfunk kein Staatsfunk ist Grundgesetzes in der Süddeutschen Zeitung: „Meinungs- und Pressefrei- Vielfalt sichern in Deutschland auch heit unterscheiden nicht nach Quali- die Angebote von ARD und ZDF. Wer tät; das darf nicht sein, weil sonst der- sie als Staatsfunk bezeichnet, irrt. jenige, der über die Qualität urteilt, Denn öffentlich-rechtlich heißt nicht nach seinem Gusto den Schutz der staatlich. Im Gegenteil: Die 1950 nach Pressefreiheit gewähren und entzie- britischem Vorbild gegründete ARD hen könnte.“ versteht sich selbst als „Gegenmo- dell zum zentralistischen NS-Staats- STAATLICH GELENKT rundfunk“. 1963 ging das ZDF auf WERDEN DIE MEDIEN Sendung. Das Deutschlandradio be- richtet seit 1994 bundesweit, zuvor NICHT – EIN WESENS- sendete bereits seit 1962 aus Köln der Deutschlandfunk. Finanziert wird der MERKMAL JEDER öffentlich-rechtliche Rundfunk vor DEMOKRATIE. allem durch den Rundfunkbeitrag, er wird von den Bürgern gezahlt und soll Demokratien brauchen auch eine die Unabhängigkeit der Berichterstat- möglichst breite Medienlandschaft. tung sicherstellen. Die Bürger müssen die Möglichkeit haben, sich in ganz unterschied- Das Bundesverfassungsgericht hat lichen Zeitungen, Fernseh- und Hör- den öffentlich-rechtlichen Rundfunk funksendern oder Onlineportalen zu und sein Finanzierungssystem in den informieren. Ein vielfältiges und sehr vergangenen Jahrzehnten stets vertei- unterschiedliches Angebot, in dem digt. Zuletzt erklärte es im Juli 2018 Platz ist für Bild und FAZ, Spiegel die Beitragspflicht für grundsätzlich und Focus, ARD und RTL und neue verfassungsgemäß. Angebote wie Deutschland3000 oder jung & naiv, kann gar nicht staatlich Im Streit um die Staatsferne der gesteuert werden. Öffentlich-Rechtlichen sorgt neben dem Rundfunkbeitrag die Struktur Funktionieren die Geschäftsmodelle der Aufsichtsgremien immer wie- nicht mehr, hat das gesellschaftliche der für Debatten. Diese Gremien be- Folgen: Denn wenn Zeitungen sterben stehen aus Vertretern verschiedener oder die Pressekonzentration durch gesellschaftlicher Gruppen, also aus Fusionen und Zentralredaktionen Gewerkschaftlern, Arbeitgebervertre- steigt, verringert sich die notwendige tern, Wissenschaftlern, Verbandsver- Medienvielfalt (mehr zu Geschäftsmo- tretern oder auch Politikern. Dass die dellen und Gefahren für die Medien- Staatsferne gewahrt sein muss, machte vielfalt ab S. 32 ). ebenfalls das Bundesverfassungsgericht 23
vertrauliche Gespräche müssen des- halb möglich sein. Gute Journalis- ten fragen sich aber selbstkritisch, wieviel Nähe noch gut ist. Der 2019 verstorbene Ex-stern-Chefredakteur Michael Jürgs mahnte 2018 in einem viel beachteten Essay im Handels- blatt seine Kollegen: „Die Nähe zu Politikern meiden, weil die Mächtigen nur dann zu kontrollieren sind, wenn man sie im Blick behält, statt sich mit ihnen, vor allem in der Arena Berlin, bei gegebenen Anlässen vertraut blicken zu lassen.“ deutlich: Im Jahr 2014 entschieden Sinnbild für unabhängigen Journalis- die Karlsruher Richter, dass der Anteil mus auch im Politraumschiff Berlin staatlicher und staatsnaher Mitglieder ist die Bundespressekonferenz, ein im Fernseh- und Verwaltungsrat des bereits 1949 gegründeter Verein. Ihm ZDF auf ein Drittel zu begrenzen sei. gehören rund 900 Parlamentskorre- spondenten an, die über die Bundes- Warum Journalisten Nähe politik berichten. Das Besondere: Die brauchen – und meiden müssen Journalisten laden zu Pressekonferen- zen ein, Politiker und Persönlichkei- Ja, man kennt sich: Journalisten tref- ten aus anderen Bereichen sind nur fen Politiker, Wirtschaftsbosse, Sport- zu Gast. Eine international einmalige ler oder Schauspieler, über die sie Regelung, die einen unschätzbaren berichten, meist nicht nur einmal. Vorteil hat: Kein Politiker kann Fra- Manchmal gibt es auch Hintergrund- gen verbieten oder den Kreis der Teil- gespräche, die vertraulich bleiben sol- nehmer bestimmen, schließlich ist er len. „Unter drei“, heißt das vor allem nicht Gastgeber in diesen Pressekon- in Politik- und Journalistenkreisen ferenzen. wohlvertraute Codewort. Das bedeu- tet: Was hier gesagt wird, bleibt unter Wenn Journalisten kritisch nach- uns. fragen, ist das übrigens auch kein persönlicher Angriff auf irgend- Stecken die Berichterstatter also doch jemanden. Unwirsch reagieren darauf mit den Mächtigen unter einer Decke? dennoch vor allem Politiker immer Nein, weil gute Journalisten Nähe wieder, übrigens jedweder Couleur. suchen und Distanz wahren können. Wenn sich auch Leser oder Zuschau- Sie müssen nah dran sein, um kennt- er über kritische Fragen ärgern, ver- nisreich berichten zu können. Auch gessen sie oft: Ein Journalist, der in 24
RECHTSEXTREMISTEN Schwieriger ist die Berichterstattung über Populisten. AfD-Politiker vor DÜRFEN KEINE BÜHNE allem provozierten mit ihren Äuße- rungen in den vergangenen Jahren DAFÜR BEKOMMEN, immer wieder – Journalisten müssen IHR GEDANKENGUT dann entscheiden: Betont sachlich be- richten? Empörung teilen? Oder igno- WIDERSPRUCHSLOS rieren? ZU VERBREITEN. Wie sollten sie zum Beispiel im Juni einem Interview eine Gegenposition 2018 auf die Äußerung des Vorsit- einnimmt, offenbart damit nicht sei- zenden der AfD-Bundestagsfraktion, ne eigene Meinung, sondern erledigt Alexander Gauland, reagieren, „Hitler schlicht seine Aufgabe. und die Nazis“ seien „nur ein Vogel- schiss in über 1000 Jahren erfolgrei- Warum Neutralität auch Grenzen cher deutscher Geschichte“? haben kann Die Antwort in vielen Medien: Berich- „Es gibt keinen menschengemachten ten und einordnen, empörte Reaktio- Klimawandel.“ Das kann jeder sagen, nen aufgreifen und in Kommentaren Minderheiten behaupten es entgegen klar Stellung beziehen. aller wissenschaftlichen Belege auch. Und wie sollen Journalisten damit Dazu passt, was der Medienwissen- umgehen? Sie sollen ja möglichst schaftler Bernd Gäbler 2018 in einer neutral bleiben, alle Seiten zu Wort Studie für die Otto-Brenner-Stiftung kommen lassen. Also auch jede Min- so skizzierte: „Es gilt das alte und derheitenmeinung und jede längst bewährte journalistische Konzept: widerlegte Behauptung berücksich- Erst darlegen, dann auslegen. Beides tigen? So einfach dürfen Journalis- gehört zum Journalismus: die coole, ten es sich nicht machen – denn sie distanzierte Beschreibung und der feu- würden ein Zerrbild der Wirklichkeit rige, meinungsstarke Kommentar.“ schaffen, wenn sie den Eindruck er- wecken würden, es sei umstritten, ob Zum Journalismus gehöre das Prinzip, es einen menschengemachten Klima- nicht „parteiisch oder einseitig zu wer- wandel gebe. Auch in der politischen den“. Gleichzeitig gehöre es aber zum Berichterstattung gibt es Grenzen der Journalismus, „sich um seine eigenen Neutralität. Denn natürlich vertei- Existenzbedingungen zu sorgen, also digen Journalisten auch Demokratie Demokratie und Pressefreiheit aktiv und Menschenwürde. Rechtsextremis- zu verteidigen.“ Darum gebe es rote ten zum Beispiel dürfen keine Bühne Linien. „Die Demokratie ist nur so dafür bekommen, ihr Gedankengut stark wie sie von aktiven Demokraten widerspruchslos zu verbreiten. getragen wird“, mahnte Gäbler. 25
Gute Journalisten schweigen. Im richtigen Moment. Sie müssen nicht blind alles glauben, was geschrieben und gesendet wird. Gute Jour- nalistinnen und Journalisten erklären Ihnen, woher sie ihre Informationen haben. Denn Transparenz ist mehr denn je ein Zeichen für Qualitätsjournalismus. Trotz- dem müssen Journalisten manchmal schweigen: Um Informanten zu schützen, Per- sönlichkeitsrechte nicht zu verletzen oder um keine Gerüchte zu verbreiten. Keinen Grund gibt es dafür, über eigene Fehler oder Lügengeschichten in den Medien zu schweigen. Erfahren Sie mehr darüber, wie Journalisten glaubwürdig berichten. Warum Fake News Drei ganz unterschiedliche Beispiele keine Quellen haben für die Bedeutung von Quellen: Journalisten wissen nicht alles. Sie Behauptet das fußballverrückte Schul- müssen für ihre Texte recherchieren, kind, dass Lionel Messi und Cristiano mit Politikern, Wissenschaftlern oder Ronaldo bald in der Bundesliga spie- Menschen auf der Straße sprechen – len werden, wird es mit der simplen und sie sagen grundsätzlich, mit wem Frage nach der Quelle dafür schnell in sie gesprochen und woher sie ihre die Realität zurückgeholt. Es gibt kei- Informationen haben. Die Standard- ne Meldung, in der die Fußballstars frage bei jeder Meldung muss deshalb oder ihre Vereine dies erklären. sein: Was ist die Quelle dafür? Damit kann auch jeder Leser prüfen, ob es Tausende Menschen ziehen bei einer sich um glaubhafte Informationen, Demonstration durch die Stadt. Aber reine Spekulationen oder um Fake wie viele sind es genau? Kein Journa- News handelt. list kann sie allein zählen, also fragt 26
JOURNALISTEN Informationen verlangt. Doch gute Journalisten müssen sich Zeit neh- SAGEN men, recherchieren und offen damit umgehen, dass sie nicht auf alles eine GRUNDSÄTZLICH, Antwort haben (mehr zur Recherche MIT WEM SIE und zur Berichterstattung bei Ka- ta-strophen oder Anschlägen ab S. 12). GESPROCHEN UND WOHER SIE IHRE Wieso Journalisten manchmal schweigen INFORMATIONEN HABEN. Transparenz hat Grenzen. Denn müssten Journalisten immer alle Na- men nennen, wären viele Skandale, er nach: bei der Polizei und bei den Affären oder Mauscheleien niemals Veranstaltern. Meist liegen die Zahlen durch Medien aufgedeckt worden. der Veranstalter höher als diejenigen Ohne ihren wichtigsten Informanten, der Polizei, weshalb Journalisten bei- der unter dem Namen „Deep Throat“ de Teilnehmerschätzungen mit den in die Mediengeschichte einging, hät- jeweiligen Quellen nennen. ten zum Beispiel die Washington Post- Reporter Bob Woodward und Carl Bei Anschlägen oder Amokläufen kur- Bernstein nicht über die Watergate-Af- sieren immer tausende Gerüchte und färe berichten können, die zum Rück- auch bewusste Falschmeldungen in tritt des damaligen US-Präsidenten den sozialen Medien. Meistens lassen Richard Nixon führte. Erst 2005, sie sich schon daran erkennen, dass mehr als 30 Jahre später, wurde sie ohne seriöse und nachprüfbare bekannt, dass sich hinter dem Pseudo- Quellen auskommen. Weil in solchen nym ein FBI-Agent verbarg. Situationen auch für Journalisten an- fangs Vieles unklar oder nicht nach- prüfbar ist, müssen sie mit ihrem MANCHMAL SCHWEIGEN Nichtwissen transparent umgehen. JOURNALISTEN, Viele Berichte stehen in solchen Mo- menten unter der ehrlichen und letzt- UM PERSÖNLICHKEITS- lich einzig möglichen Überschrift: RECHTE ZU SCHÜTZEN. Was wir wissen – und was nicht. Doch manchmal berichten Medien Auch heute können Journalisten ohne trotzdem zu schnell, lassen sich an- solche Whistleblower nicht auskom- stecken von der Hektik in solchen Mo- men. Investigative Recherchen wie menten, geben dem Druck nach, weil etwa in der Ibiza-Affäre in Österreich ihr Publikum – vermeintlich – nach wären unmöglich, wenn Reporter 27
über ihre Quellen in solchen Fällen nicht schweigen könnten (mehr zur Ibiza-Affäre und zur Bedeutung von Recherche ab S. 12). Das Gesetz schützt Journalisten in sol- chen Fällen. In der Strafprozessord- Die Zugehörigkeit nung ist festgeschrieben, dass sie sich auf das Zeugnisverweigerungsrecht zu „ethnischen, reli- berufen können. Auch das Bundes- verfassungsgericht stärkte die Rechte giösen oder anderen der Medien in diesem Punkt schon mehrfach. So stellte es 2015 fest: „Die- Minderheiten“ soll ser Schutz ist unentbehrlich, weil die Presse auf private Mitteilungen nicht verzichten kann, diese Informations- in der Regel nicht quelle aber nur dann fließt, wenn sich der Informant grundsätzlich auf die erwähnt werden, erst Wahrung des Redaktionsgeheimnis- ses verlassen kann.“ recht nicht aus reiner Manchmal schweigen Journalisten Neugier. Doch es kann auch, um Persönlichkeitsrechte zu schützen. So ist es in Deutschland ein „begründetes bewährte und anerkannte Praxis, in Strafverfahren in der Regel nicht den öffentliches Interesse“ Familiennamen eines Angeklagten zu nennen. Unumstritten war zudem lange, nicht über die Nationalität von dafür geben – wie Verdächtigen zu schreiben, um keine Vorurteile gegenüber Minderheiten im Fall der Kölner zu schüren. Doch darüber wird in- zwischen kontrovers diskutiert – ein Silvesternacht. Anlass dafür war die Kölner Silvester- nacht von 2015 auf 2016: Presserat Rund um den Kölner Hauptbahnhof und den Dom wurden damals Frauen sexuell belästigt, überwiegend von nordafrikanischen Männern. Das gan- ze Ausmaß wurde erst nach und nach bekannt. 28
DER SCHUTZ VON INFORMANTEN ERMÖGLICHT ES ERST, SKANDALE AUFZUDECKEN. Am Neujahrstag gab die Kölner Poli- halb später mit dem Wächterpreis der zei am Vormittag sogar noch eine Tagespresse ausgezeichnet. Pressemitteilung unter dem Titel „Ausgelassene Stimmung – Feiern Die Kölner Silvesternacht sorgte weitgehend friedlich“ heraus, bereits dennoch mit dafür, die Regeln für wenige Stunden später berichtete der die Kriminalitätsberichterstattung zu Kölner Stadt-Anzeiger über „sexuelle überprüfen. Im März 2017 änderte Belästigungen in der Silvesternacht“. der Presserat seine Richtlinien. Die Bundesweit gerieten die Vorkomm- Zugehörigkeit zu „ethnischen, reli- nisse jedoch erst Tage später in die giösen oder anderen Minderheiten“ Schlagzeilen. Deshalb standen auch soll in der Regel nicht erwähnt wer- die Medien in der Kritik, der Vorwurf: den, erst recht nicht aus reiner Neu- Sie hätten geschwiegen, weil Auslän- gier. Doch es kann ein „begründetes der unter Verdacht stünden. öffentliches Interesse“ dafür geben – wie im Fall der Kölner Silvesternacht. Manche Redaktionen räumten da- nach ein, zu spät berichtet zu haben. Warum Journalisten über eigene Der Verdacht, die Medien hätten be- Fehler reden müssen wusst etwas verschwiegen, läuft aber ins Leere, denn es waren die lokalen „Sagen, was ist“, war das Motto des Zeitungen, die die sexuellen Über- Spiegel-Gründers Rudolf Augstein. griffe zuerst ans Tageslicht brachten. Im Dezember 2018 setzte es das Ham- Für ihre wochenlangen Recherchen burger Magazin auf seine Titelseite, rund um die Silvesternacht wurden um eine Lügengeschichte aus dem der Kölner Stadtanzeiger, der Express eigenen Haus öffentlich zu machen. und die Kölnische Rundschau des- „In eigener Sache: Wie einer unserer 29
Reporter seine Geschichten fälsch- „EIN TEXT OHNE te und warum er damit durchkam“, schrieb das Nachrichtenmagazin. Der QUELLENANGABE IST mehrfach preisgekrönte Reporter KEIN JOURNALISMUS. Claas Relotius hatte Texte erfunden, der Redaktion und der in der Me- ES REICHT NICHT, dienbranche legendären Dokumen- tationsabteilung des Magazins waren WENN DER REPORTER die Fälschungen nicht aufgefallen. WEIß, DASS DIE Aufgedeckt wurden sie stattdes- sen vom Spiegel-Mitarbeiter Juan GESCHICHTE STIMMT, Moreno, der bei einer Recherche mit DER LESER MUSS Relotius Verdacht geschöpft hatte und diesem auf eigene Faust nachge- ES NACHVOLLZIEHEN gangen war. KÖNNEN.“ Als der Spiegel Ende Mai 2019 den SPIEGEL-AUFKLÄRUNGS- Abschlussbericht einer unabhängigen KOMMISSION ZUM FALL Aufklärungskommission veröffent- RELOTIUS lichte, schrieb Chefredakteur Steffen Klusmann: „Wir haben dem Qualitäts- in vielen Punkten für alle Medien als journalismus in Deutschland mit dem Leitlinien gelten können. Sie forderte Fall Relotius einen gewaltigen Image- unter anderem „Mut zum Nichtwis- schaden zugefügt, das ist uns be- sen“. Die Sätze „Ich weiß es nicht“ wusst.“ Die Kommission arbeitete Ver- oder „Wir wissen es noch nicht“ soll- säumnisse beim Magazin auf, sprach ten nach ihrer Ansicht zu den Stan- aber zugleich Empfehlungen aus, die dardsätzen einer Redaktion gehören. An anderer Stelle heißt es in dem Abschlussbericht unter dem Stich- wort Transparenz: „Ein Text ohne Quellenangabe ist kein Journalismus. Es reicht nicht, wenn der Reporter weiß, dass die Geschichte stimmt, der Leser muss es nachvollziehen können. Er muss wissen können, nicht glau- ben müssen.“ Wie Medien mit Transparenz Vertrauen schaffen können Leser müssen Medien nicht blind ver- trauen, vielmehr haben Journalisten 30
eine Bringschuld. Das fängt mit kla- einer Behörde berichtet, sollte sich ren Quellenangaben bei Nachrichten- möglichst nicht auf einen einzelnen texten an und reicht bis zur Darstel- Mitarbeiter als Quelle verlassen – oder lung des Recherchewegs. Immer öfter zumindest dessen Glaubwürdigkeit schildern Journalisten deshalb gerade und die seiner Informationen sehr ge- bei großen Enthüllungsgeschichten in nau prüfen. Making-of-Berichten, wie sie an Infor- mationen gekommen sind. Erscheint die Story nicht wasserdicht, kann die Entscheidung nur lauten: JOURNALISTEN Wir veröffentlichen sie nicht. MÜSSEN SICH DARAN Ein anderer Grundsatz ist das Vier-Au- MESSEN LASSEN, gen-Prinzip, das heißt: Nichts wird veröffentlicht, was nicht mindestens OB SIE NICHT NUR ein zweiter Journalist gelesen hat. MIT QUELLEN, Wer einen Text gegenliest – Journa- listen sagen: redigiert –, prüft diesen SONDERN AUCH MIT nicht nur auf Rechtschreibfehler, sondern sollte im Zweifel auch fra- EIGENEN FEHLERN gen: Wo ist die Quelle dafür? Manche OFFEN UMGEHEN. Redaktionen leisten sich Dokumenta- tionsabteilungen, in denen die Fakten Transparenz bedeutet auch, alle Sei- eines Textes vor Veröffentlichung ge- ten zu hören. Werden einem Politiker prüft werden. Unfehlbar ist das Sys- schwere Versäumnisse vorgeworfen, tem aber nicht, wie der Fall Relotius muss er Gelegenheit bekommen, sich zeigt, da die Fälschungen des Repor- dazu zu äußern. Seine Reaktion auf ters trotz der Sicherungssysteme des die gegen ihn erhobenen Vorwürfe Spiegel jahrelang nicht auffielen. wird veröffentlicht – und wenn er schweigen will, wird das ebenfalls er- Doch als die Lügen schließlich auf- wähnt. An solchen Grundsätzen kön- flogen, berichtete das Magazin offen nen Leser die Berichte von Journalis- und ausführlich darüber – sowie auch ten messen, sie sollten es sogar. über die anschließende Ursachsen- suche und die Konsequenzen für die In den Redaktionen gelten zudem Re- eigene Redaktion. Zudem sorgte der geln und Prinzipien, die vor Fehlern Fall für ein gewaltiges und sehr oft schützen und Transparenz sichern selbstkritisches Medienecho. Auch sollen: Das Zwei-Quellen-Prinzip zum das war ein Zeichen für notwendige Beispiel, das gerade bei besonders Transparenz: Denn Journalisten müs- heiklen Informationen oder schwe- sen sich daran messen lassen, ob sie ren Vorwürfen greift. Wer über Be- nicht nur mit Quellen, sondern auch stechungs- oder Untreuevorwürfe in mit eigenen Fehlern offen umgehen. 31
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