Jungenarbeit und Qualifi zierung und lokale Projektentwicklung - Gewaltpravention - Vielfalt Mediathek

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Jungenarbeit und Qualifi zierung und lokale Projektentwicklung - Gewaltpravention - Vielfalt Mediathek
Jungenarbeit                      ..
              und    Gewaltpravention
 Qualifizierung und
 lokale Projektentwicklung

 Dokumentation des Modellprojekts 2008–2010

                                   Projektleitung
                         MANNE e. V. Potsdam
Impressum

                                                                          MANNE e.V. Potsdam
                                                                               Kiezstraße 16
                                                                              14467 Potsdam

                                                          Jungenarbeit und Gewaltprävention -
                                                 Qualifizierung und lokale Projektentwicklung

                                                  Dokumentation des im Rahmen von
                      »VIELFALT TUT GUT. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokatie«
                                                           geförderten Modellprojekts

                                                                                 Oktober 2010
                                                                                                 Fotos: Archiv MANNE e.V. Potsdam

                                                        Redaktion: Christian Bliß, Peter Moser
                                                         Satz: Alexander Bentheim, Hamburg
                                                          Druck: Eggers Druck, Heiligenhafen

                                                                         www.mannepotsdam.de

2   Modellprojekt Jungenarbeit und Gewaltprävention MANNE e.V. Potsdam
Inhalt

04       Editorial - Christian Bliß

05       Vorwort - Prof. Frieder Burkhardt

06       Inhaltliche Annäherungen zu den Themen Rechtsextremismus, Jungenarbeit und Gewaltprävention

06          Handlungsmöglichkeiten in der Zivilgesellschaft - Ulrich Dovermann
08          Wie Gewalt entsteht - Rainer Neutzling
13          Sind Jungen besonders »rechtsextremistisch gefährdet«? - Peter Moser

18       Konzeption des Modellprojekts

18          Ziele des Modellprojekts »Jungenarbeit und Gewaltprävention«
19          Zielgruppe: Rechtsextremistisch gefährdete Jungen
19          Methodische Grundhaltungen
21          Struktur und Inhalte des Modellprojekts
22          Gesamtstruktur des Modellprojekts
23          Übersicht: Curriculum der Fortbildungsphase

25       Reflexion und Evaluation des Modellprojekts

25          Auswertung der Fortbildungsphase
29          Auswertung der Praxisphase
34          Übersicht Teilnehmerprojekte
38          Auswertung des Gesamtprojekts auf der Teilnehmerebene
40          Auswertung des Gesamtprojekts auf der Trägerebene
42          Zielüberprüfung
44          Schlussbetrachtung

46       Ausblick

47       Über MANNE e.V.

48       Anhang

50       Dank

51       DVD der Filmdokumentation

                                                            MANNE e.V. Potsdam Jungenarbeit und Gewaltprävention Modellprojekt   3
Christian Bliß
    Editorial

    Mit der vorliegenden Dokumentation                schatz der einzelnen Teilnehmer anzu-

                                                                                                                                                      Foto: privat
    geht das Modellprojekt »Jungenarbeit              siedeln. Insofern liegen sie auch in de-
    und Gewaltprävention - Qualifizie-                ren besonderer Verantwortung - selbst
    rung und lokale Projektentwicklung«               wenn MANNE e.V. die Weiterentwick-
    nach mehr als drei Jahren zu Ende.                lung und Optimierung der Praxispro-        mit der Reflexion und Evaluation der
    Zwischen 2008 und 2010 wurden 14                  jekte gerne weiterhin unterstützt.         einzelnen Projektebenen und -phasen
    Männer im Bereich der Jungenpäda-                                                            bzw. dem Modellprojekt als Ganzem.
    gogik umfassend qualifiziert. Es wur-             Die Dokumentation (die im Übrigen          Dazu wurden die Abschlussberichte
    den elf Projekte konzipiert und ange-             auch als Download auf unserer Web-         der Teilnehmer und der Coaches um-
    boten, acht davon wurden in acht                  seite zur Verfügung steht) gliedert sich   fassend ausgewertet und mit den Ein-
    Landkreisen des Landes Brandenburg                in drei große Abschnitte:                  drücken des Leitungsteams sowie mit
    erfolgreich durchgeführt und veran-                                                          den Projektzielen abgeglichen.
    kert.                                             Der erste Teil widmet sich der inhalt-     Des Weiteren werden in diesem Ab-
                                                      lichen Annäherung zu den Themen            schnitt die von den Teilnehmern ent-
    Vieles ist im hinter uns liegenden Zeit-          Rechtsextremismus,       Jungenarbeit      wickelten Praxisprojekte als Kern des
    raum passiert. Manches davon findet               und Gewaltprävention. Ulrich Dover-        Modellprojekts mit ihren Konzepten
    sich auf diesen Seiten bzw. auf der bei-          mann von der Bundeszentrale für po-        und Ergebnissen vorgestellt. Eine
    liegenden Filmdokumentation wieder.               litische Bildung zeigt im Abschnitt        Schlussbetrachtung fasst die Stärken
    Diverse andere Prozesse und Entwick-              »Handlungsmöglichkeiten in der Zi-         und Erfolge sowie die Verbesserungs-
    lungen können im Rahmen einer Do-                 vilgesellschaft« auf, wie rechtsextre-     möglichkeiten des Modellprojekts zu-
    kumentation nur schwer abgebildet                 me Gesinnungen und Haltungen zu-           sammen, bevor in einem Ausblick
    werden - dazu gehören neben den Ler-              rückgedrängt werden können. Rainer         weitere Chancen und Möglichkeiten
    nerfahrungen des Trägers MANNE                    Neutzling, Autor des Klassikers            zur Stärkung der Jungenarbeit im Land
    e.V. im Krisenmanagement und in der               »Kleine Helden in Not«, analysiert in      Brandenburg aufgezeigt werden.
    komplexen Projektsteuerung vor al-                seinem Beitrag anhand von Fallbei-
    lem die individuellen Erfahrungen,                spielen die möglichen Ursachen von         Wir von MANNE e.V. wünschen Ihnen
    die die Qualifizierungsteilnehmer auf             Gewalt. Im darauf folgenden Ab-            eine ebenso aufschlussreiche wie in-
    ihrem Weg zum »Jungenarbeiter« ge-                schnitt beschäftigt sich Peter Moser       spirierende Lektüre der vorliegenden
    macht haben.                                      von MANNE e.V. mit der Frage, warum        Dokumentation und einige ganz kon-
                                                      gerade Jungen als besonders rechts-        krete Einsichten in das Modellprojekt
    In der geschlechtsbewussten Arbeit                extremistisch gefährdet gelten.            durch die beiliegende DVD.
    mit Jungen und männlichen Jugend-
    lichen kommt es nicht nur auf das theo-           Der zweite Teil der Dokumentation
    retische und methodisch-praktische                geht auf die Konzeptentwicklung des
    Know-How, sondern in besonderem                   Modellprojekts ein. Nach einer Be-
    Maße auch auf einen reflektierten                 nennung der Projektziele, der Ziel-
    Umgang des Pädagogen mit seiner ei-               gruppe und der methodischen Grund-
    genen Männlichkeit an; mit deren in-              haltungen, die im Zuge der konzeptio-
    dividuellen Ausprägungen ebenso wie               nellen Vorüberlegungen entstanden
    mit ihrer kollektiven Geschichte. Im              sind, findet sich in diesem Abschnitt
                                                                                                 Christian Bliß, Jahrgang 1976, Diplompädago-
    Hinblick auf diese »Professionalisie-             eine Darstellung der inhaltlichen Ge-      ge und Trainer für gewaltfreies Handeln. Seit drei
    rung der individuellen Männlichkeit«              samtstruktur des Projekts mit den ein-     Jahren freier Mitarbeiter bei MANNE e.V. Pots-
    als Querschnittsthema des Modellpro-              zelnen Projektphasen sowie des Cur-        dam.
    jekts sind die wirklich nachhaltigen              riculums.
                                                                                                 Redaktion der schriftlichen Dokumentation.
    Projektergebnisse zu einem großen
    Teil im persönlichen Erfahrungs-                  Der dritte Teil befasst sich ausführlich   Kontakt: bliss@mannepotsdam.de

4    Modellprojekt Jungenarbeit und Gewaltprävention MANNE e.V. Potsdam
Prof. Frieder Burkhardt
Vorwort

Auf dem Titelbild des Prospektblat-        »frag-würdig« im besten Sinne des

                                                                                                                                             Foto: privat
tes, welches für Januar 2008 unter der     Wortes.
Überschrift »Jungenarbeit und Ge-
waltprävention« den Beginn einer           Dass es nun auf der sozialen Land-
»Qualifizierung und lokalen Projekt-       karte von Brandenburg neue Adressen           Praxisprojekten zu finden. Hier wa-
entwicklung« ankündigt, sind junge         und Namen gibt, die Ausgangspunkte            ren Lernende wirklich am Werk. Die
Menschen zu sehen, die am Rande ei-        für Weiteres sind, ist mehr als gut. Das      »Entwicklung von lokalen Angebo-
nes Geschehens einen friedlichen           Weitere sind »Projekte« im Sinne von          ten« trägt die Handschrift ihrer Pro-
Eindruck machen: Gruppenbild mit           vorweg genommener Zukunft.                    tagonisten, ist also personal vermit-
Hund. Ein Pärchen wird beim Küssen                                                       telt. Das kann eine Dokumentation
fotografiert. Hände sind in den Ho-        Prävention in Bezug auf Gewalt und            nicht wirklich authentisch vermitteln.
sentaschen. Nur die Kleidung weckt         Grausamkeit unter jungen Menschen             Vielleicht führen die vielen Filme, die
Fragen, Hosen - sehe ich recht - wie bei   ist in dem nun zurückliegenden Vor-           vor Ort gedreht worden sind, weiter.
Himmler ... Ansonsten Abendstimm-          haben nicht als Intervention gelungen.
mung.                                      Das wäre wohl zu schön und zu naiv,           Noch wünschenswerter wäre, wenn
                                           um wahr zu sein, wenn Jungen- und             die viel beschworene »Nachhaltig-
Das Titelbild für die Abschlusstagung      Jugendarbeiter die Visitenkarten der          keit« - über bedrucktes Papier und se-
des Modellprojektes am 5. Juli 2010        so genannten »Rechtsextremen« und             henswert Gefilmtes hinaus - einer
bringt dann die spiegelblanken Stiefel     der jugendlichen Haudegen im Hand-            Weiterarbeit keine engen und vor-
in Front, die sich eine weiße Blume        umdrehen neu mischen könnten. »Prä-           schnellen Grenzen setzt.
aufgeladen haben. Diesmal ist es kei-      vention« ist Weichenstellung für kom-
ne weiße Rose, eher ein Gänseblüm-         mende Generationen und wenn mög-
chen.                                      lich Gegensteuerung gegen jeglichen
                                           »Rückfall in die Barbarei« auf allen
2007 traf ich mich mehrfach mit Rü-        Ebenen und in jedem Milieu der Ge-
diger Stanke und Peter Moser, die mir      sellschaft. Wer sich durch »Schnell-
ihr Vorhaben erläuterten. Es war deut-     schüsse« und kurzatmige »Maßnah-
lich spürbar, dass für die Beiden kein     men« Erfolge verspricht, den bestraft
Projekt ins Land gehen sollte, wie al-     die real existierende gesellschaftliche
le Jahre wieder eben Projekte vom Sta-     Wirklichkeit.
pel laufen. Wenn schon, denn schon ...
Wo »MANNE« drauf stehe, sollten            MANNE e.V. war mit allen an diesem
auch ‚richtige' Männer aus ihrem           Modellprojekt Beteiligten gut bera-
derbdumpfen Schatten und aus ihren         ten, da anzuknüpfen, wo die Ent-
Fixierungen entbunden werden. Jun-         schlusskraft der Teilnehmer und die
genarbeit ist Einsatz für »fürsorgli-      Tat- und Fachkraft der Mitarbeiter
che und lebensbejahende Männlich-          hinreichte. Die Balance zwischen ich-
keit«. Jungenarbeit ist auch Einsatz       nahen Interessen, dem »Gewinn für
»gegen Gewalt- und Missbrauchs-            die Teilnehmer«, und einem zielorien-
handeln« usw.                              tiertem Engagement ist in jeder Sozi-
                                                                                         Frieder Burkhardt ist Jg. 1943. Er hat in Leipzig
                                           alarbeit zu beachten, damit die »Un-          Theologie studiert, war von 1970 bis 1983 in
Wer sich nun in die vorliegende Do-        ternehmen« ihre angebliche Gemein-            Dresden und im Erzgebirge vornehmlich in Of-
kumentation vertieft, dem wird im          wohlorientierung nicht veruntreuen.           fener Jugendarbeit tätig. 1983 bis 1991 Rektor
                                                                                         der Ausbildungsstätte für Gemeindediakonie
Text und auch zwischen den Zeilen
                                                                                         und Sozialarbeit in Potsdam. Von 1992 bis 2008
vieles begegnen, was sehr anregend         Der Charme dieses Modellprojekts ist          Prof. für Sozialethik und -geschichte an der FH
und bedenkenswert ist, aber auch           meines Erachtens in den kreativen             Potsdam.

                                                                    MANNE e.V. Potsdam Jungenarbeit und Gewaltprävention Modellprojekt                      5
Ulrich Dovermann
    Handlungsmöglichkeiten in der Zivilgesellschaft

                                                                                                                                              Foto: Bundeszentrale für politische Bildung
    Meine Damen und Herren,                           sche Antwort auf die Herausforderung
                                                      war: Verwaltungshandeln, Rechtspre-
    die Bundeszentrale für politische Bil-            chung und über die Medien öffentli-
    dung hat dieses Projekt mit ebenso                che Empörung. Die Bildungsinstitu-         doch so vieles vermitteln, was wir
    großer Sympathie wie intensiver För-              tionen wurden ins Feld geführt und         heute als Wissenslücke empfinden.
    derung begleitet. Vorabsprachen und               irgendwie hoffte man wohl auch, dass
    thematische Diskussionen reichen                  mit dem Sterben der alten SS-Genera-       2001 wurde - wiederum unter Beibe-
    lange vor die eigentliche Aktionszeit             tionen das Problem aus der Welt käme.      haltung der staatlichen Bemühungen
    zurück. So oft es irgendwie ging, war             Wir wissen alle, dass das nicht der Fall   gegen den Rechtsextremismus - die
    die bpb auf den Sitzungen des Beira-              war: Der Rechtsextremismus schafft         Zivilgesellschaft ins Feld geführt.
    tes vertreten und die Ergebnisse der              es immer wieder, sich zu tradieren,        Nach der reinen politischen Sicht,
    Projektarbeit rechtfertigen Förderung             Gefolgsleute zu finden, in die Schlag-     nach der eher individualisierten, ju-
    und Einsatz in vollem Umfang. Ich                 zeilen zu kommen. Die Möglichkeiten        gendpflegerischen Sicht, kam nun die
    bedanke mich bei dieser Gelegenheit               der staatlichen Kombattanten wurden        gesellschaftliche Sicht zum Tragen.
    bei allen Akteurinnen und Akteuren                ausgereizt, aber sie reichten für eine     Und die Zivilgesellschaft brachte mit
    für Ihren Einsatz und für dieses eben-            nachhaltige Wirkung offensichtlich         großem Schwung ihre Fähigkeiten
    so wichtige wie spannende Projekt.                nicht aus. Die Sichtweise, dass es sich    und ihre Kompetenzen ins Spiel. Sie
                                                      beim Rechtsextremismus um ein rein         bot - und das ist jetzt nur ein stark ver-
    Die Bundeszentrale für politische Bil-            politisches Phänomen handelt, führte       gröbernder Überblick - Projektvor-
    dung ist kein Forschungsinstitut. Sie             nicht zu hinreichenden Strategien.         schläge in folgenden Bereichen an:
    ist selbst Akteur der politischen Bil-
    dung und in der Form meines Fachbe-               Einen strategischen Wechsel gab es         Œ   Kultur
    reiches Akteur in der präventiven wie             dann unmittelbar nach der deutschen        Œ   allgemeine Pädagogik
    intervenierenden Auseinandersetzung               Vereinigung. Die Aggressionsbereit-        Œ   Toleranzprojekte
    mit allen Formen des Extremismus -                schaft von Jugendlichen schien den         Œ   Projekte der Zivilcourage
    besonders des Rechtsextremismus.                  Strategen nun der Ansatzpunkt für die      Œ   Vorschläge zum historisch-
    Ich kann Ihnen deshalb hier keine                 Maßnahmen gegen Rechtsextre-                   politischen Lernen
    wissenschaftliche Expertise über das              mismus und Fremdenfeindlichkeit zu         Œ   Begegnungsmaßnahmen
    Projekt und den gesellschaftlichen                sein und so stellten sie neben die         Œ   Interkulturelle Projekte
    Bedarf an diesem Projekt liefern. Was             weiterlaufenden staatlich-politischen      Œ   Interreligiöse Dialoge
    ich zu leisten versuchen werde, ist ei-           Regelungen auch das »Aktionspro-           Œ   Genderprojekte mit Fokus auf die
    ne Einordnung Ihrer Arbeit und Ihres              gramm gegen Aggression und Ge-                 weiblichen Opfer
    gedanklichen Ansatzes in die bundes-              walt«. Damit ging der Fokus von der
    weite Arbeit gegen den Rechtsextre-               reinen politischen Perspektive auf ei-     Mit dieser Übersicht ist nicht nur das
    mismus. Dies versuche ich aus der                 ne täterorientierte, sekundär- und ter-    Angebot benannt, das die Zivilgesell-
    Perspektive des bpb-Mitarbeiters,                 tiär-präventive Problemsicht über. Es      schaft leisten kann. Es beschreibt auch
    aber auch des Beirates in den Bundes-             ging zudem auch um die Übertragung         die Grenzen des zivilgesellschaft-
    programmen »Vielfalt tut gut« und                 westlicher Jugendhilfestrukturen auf       lichen Handelns. Zivilgesellschaft
    »Entimon«, sowie als Beobachter der               die neuen Bundesländer. Das Pro-           bietet keine Täterarbeit an, sie greift
    Bemühungen, den Rechtsextremis-                   gramm lief zwar bis 1997, erreichte        nicht grundsätzlich strukturelle Pro-
    mus zurück zu drängen, seit nunmehr               nach offiziellen Angaben auch über         bleme auf, die zu rechtsextremisti-
    20 Jahren.                                        6.500 Jugendliche, es war aber von         schen Schwerpunktbildungen führen,
                                                      Beginn an heftig umstritten und regel-     sie lässt sich nicht auf unmittelbare
    Das Problem »Rechtsextremismus«                   gerecht ausgewertet wurde es auch          Kontakte mit rechtsextremistischen
    begleitet die Bundesrepublik Deutsch-             nicht. Es verschwand gewissermaßen         Gruppierungen ein, wie überhaupt
    land seit ihrer Gründung. Die politi-             von der Bildfläche und es könnte uns       zielgerichtete     Kommunikationen

6    Modellprojekt Jungenarbeit und Gewaltprävention MANNE e.V. Potsdam
Ulrich Dovermann Handlungsmöglichkeiten in der Zivilgesellschaft

zwischen den gesellschaftlichen Mi-       gleichenden, gerechten und versteh-              habituell und sozial offensichtlich
lieus eher die Ausnahme zu sein           baren System ist - so meine ich - ein            derzeit eine Möglichkeit, das
scheinen. Daran haben auch die Ver-       männliches. Wo es fehlt oder bedroht             Mann-sein zu erproben. Wer das für
änderungen und Fortschreibungen der       ist, fühlen sich die Männer in beson-            falsch hält, muss nicht nur korrigie-
Bundesprogramme gegen den Rechts-         derer Weise herausgefordert, entwik-             ren, sondern er muss auch bewei-
extremismus wenig geändert.               keln sie Abneigungen und Aggressio-              sen, dass man außerhalb solcher
                                          nen. Das ist sehr kurz, aber es mag als          Kontexte erfolgreich Mann sein
Die Bundeszentrale für politische Bil-    Anmerkung, als Skizze reichen.                   kann.
dung hat sich in den so entwickelnden                                                   5. Wer diesen Beweis antreten will,
Landschaften der Auseinanderset-          Wenn man nun den Versuch unter-                  muss mit dem entsprechenden
zung immer als komplementärer Part-       nimmt, das Projekt von Manne e.V. in             Denken und Fühlen vertraut sein,
ner der Strategien verstanden. Sie hat    diese politischen, strategischen und             Alternativen glaubwürdig vertreten
sehr eigenständig - aber immer mit        programmatischen Zusammenhänge                   - vor allem aber muss er in der La-
deutlicher Unterstützungsabsicht -        einzuordnen, so kann man schlicht                ge sein, mit diesem Denken und
Projekte der politischen Bildung an-      feststellen, dass es in allen Belangen           Fühlen effizient zu kommunizie-
geboten, von denen anzunehmen war,        passt. Es nimmt die sozialarbeiteri-             ren.
dass sie den unterschiedlichen Akteu-     schen Impulse auf, die im zivilgesell-
ren nützlich sein können. Sie hat sich    schaftlichen Bereich fehlen, es ope-
bemüht, einen qualifizierten Diskurs      riert gender-orientiert, ohne Fokussie-
zum Thema »Extremismus« zu führen.        rung auf Opferperspektiven, es gleicht
Sie hat in den Themen verstärkt An-       da aus, wo die kleinen Männer ihre
gebote gemacht, in denen extremisti-      zentralen Fragen und Probleme haben.
sche Kräfte Zustimmung in der Öff-        Zwischen        politisch-strukturellen
fentlichkeit bekommen. Sie hat die Zi-    Maßnahmen und zivilgesellschaft-
vilgesellschaft bei Projektentwicklun-    licher Kompetenz bietet es da seine
gen beraten und schließlich - und das     Leistungen, wo sie im sozialen Be-
ist ein Alleinstellungsmerkmal in der     reich am dringendsten gebraucht, aber
politischen Bildung - politische Bil-     andernorts nicht angeboten werden.
dung für Rechtsextremisten im Straf-      Ich bedanke mich für diese Arbeit und
vollzug entwickelt und gefördert. Bei     hoffe, dass das weitergeht und größer
letzterem war es das zentrale Anlie-      wird, was Manne begonnen hat.
gen, Methoden und Verfahren zu ent-
wickeln, mit denen man mit extremis-      Im Resultat und als Lehre aus dem, was
tisch beeinflussten Menschen umge-        ich von Manne erfahren habe, hier
hen und nachhaltig kommunizieren          noch fünf Thesen, die ich für die wei-
kann.                                     tere Arbeit im Problemfeld Rechtsex-
                                                                                        Der Verfasser wurde 1949 in Bonn/Rhein gebo-
                                          tremismus mitnehme:                           ren und studierte nach Abitur und Bundeswehr-
Um auf das Projekt von Manne über-                                                      zeit von 1973 bis 1980 Germanistik und Ge-
zuleiten, noch ein kurzer Blick auf die   1. Das Versatzstück zwischen ord-             schichte in Bonn. Bereits während seines Studi-
                                                                                        ums unterrichtete er an Hauptschulen die Fächer
angesprochenen Themen, in denen ex-          nungspolitischen Handeln und zi-
                                                                                        Sport und Deutsch. Im Jahr 1981 wurde er als
tremistische und populistische Kräfte        vilgesellschaftlichem       Engage-        Angestellter im Bereich »Politische Bildung« im
Erfolge im öffentlichen Diskurs er-          ment, die soziale Arbeit als gesell-       Gesamtdeutschen Institut, Bundesanstalt für
zielen. Oberflächlich gesehen sind es        schafts-unterstützendes Moment,            gesamtdeutsche Aufgaben eingestellt. Nach
                                                                                        Auflösung des Hauses im Zuge der deutschen
Themen der Geschichte, der Nation,           braucht in der Auseinandersetzung
                                                                                        Vereinigung wurde er in die Bundeszentrale für
der Ressourcenverteilung und des un-         mit dem Extremismus einen eigen-           politische Bildung übernommen. Dort war er zu-
befriedigenden Erscheinungsbildes            ständigen Raum.                            nächst in der Arbeitsgruppe »Schulische Bil-
von Politik. Dahinter aber liegen         2. Die Jungen als Problemfall der ge-         dung« für didaktische Grundsatzfragen und
                                                                                        Lehrerfort- und -weiterbildung eingesetzt. Seit
hochemotionale Anliegen vieler Men-          sellschaftlichen Entwicklung brau-
                                                                                        2001 ist er - zunächst als Projektleiter, danach
schen, die das Gefühl haben, dass sie        chen Erprobungsfelder für ihr              als ordentlicher Fachbereichsleiter - mit der
nicht mehr geschützt werden, dass die        Mann-sein, Bestätigungen für ihr           Auseinandersetzung mit Extremismus befasst.
Gerechtigkeit keine Rolle mehr spielt,       verändertes Mann-sein und die              Er lebt in Bad Godesberg, ist verheiratet und hat
                                                                                        5 Kinder.
dass Abweichung, Krankheit und               Möglichkeit, sich zu irren.
Fremdheit sie überschwemmen und           3. Wer Konfliktlösungen ohne Gewalt           Kontakt: Deutschherrenstr. 71, 53177 Bonn
dass staatliches Handeln ineffektiv          lehrt, muss auch die Verhältnisse zu
und wirkungslos ist. Das Gegenbild           ändern bereit sein, in denen Gewalt        Der vorliegende Text ist die überarbeitete Aus-
                                                                                        gabe eines Impulsreferates, das bei der Ab-
vom schützenden und beschützenden            das erfolgversprechende Hand-
                                                                                        schlusstagung des Projekts »Jungenarbeit und
Verantwortlichen, vom effektiven und         lungskonzept ist.                          Gewaltprävention« von Manne e.V. in Potsdam
eindeutigen Handeln und vom aus-          4. Rechtsextrem sein ist thematisch,          am 05. Juli 2010 gehalten wurde.

                                                                   MANNE e.V. Potsdam Jungenarbeit und Gewaltprävention Modellprojekt        7
Rainer Neutzling
    Wie Gewalt entsteht

    »Was hat dich denn da so wütend ge-                    Der zum Zeitpunkt des Interviews 17-

                                                                                                                                                 Foto: privat
    macht?«                                                jährige Martin war zwölf Jahre alt, als
                                                           er mit ansehen musste, wie seine zwei
    »Mich hat nichts wütend gemacht. Ich
                                                           Jahre ältere Schwester vom Vater ge-        irgendwie vergessen hatten, auf dem
    fand's einfach nur geil, 'n anderen
                                                           schlagen wurde. Nicht zum ersten Mal        Klo das Licht auszumachen oder so.«
    Menschen fertig zu machen, kaputt zu
                                                           und nicht zum letzten Mal. Doch es          (5)
    hauen. Mehr nicht. Das hat mich nicht
                                                           war das Ereignis, das ihm auf die Fra-      »Wie sah das aus? Was heißt das: Eine
    gestört, ich fand's einfach nur geil.
                                                           ge einfiel, ob er einmal dabei gewesen      auf den Arsch kriegen?«
    Außerdem wollt ich Aufmerksamkeit
                                                           sei, als eines seiner Geschwister ge-       »Auf den Arsch kriegen heißt: Ja, der
    haben, und das hab ich von allen be-
                                                           schlagen wurde.                             ruft dich, dann gehst du hin, und dann
    kommen, von allen Seiten. Alle fanden
                                                           Martin: »Da bin ich von der Schule          sagt er: Was hast du da grad gemacht?
    das toll.«
                                     Rudi, 17 Jahre alt,
                                                           gekommen, und da stand meine                Und wenn du sagst: Ja, ich hab doch
      im Tiefeninterview über seine Gewalterfahrungen      Schwester im Hausflur. Ich hatte gra-       gar nichts gemacht, dann gibt's sofort
                                                           de die Tür aufgeschlossen, und mein         einen mit dem Gürtel auf den Arsch,
                                                           Vater stand am Ende des Hausflurs und       weil Lügen ist das Tödlichste.« (6)
                                                           war voll am Rumbrüllen. Ich wusste          »Das heißt, er steht auf und zieht den
    Wenn Kinder und Jugendliche krasse                     überhaupt nicht, was Sache war, weil        Gürtel aus der Hose?«
    körperliche oder seelische Gewalt                      ich gerade von der Schule gekommen          »Nee, den hat er meist schon in der
    ausüben, tun sie das fast immer, weil                  war, und guckte meine Schwester an          Hand, den holt er sich schon vorher,
    sie selbst Gewalt und Vernachlässi-                    und sagte: Was ist denn hier los? Ja,       wenn er uns dann ruft.«
    gung erfahren haben. Deshalb ist es                    und daraufhin rannte mein Vater zu          »Kannst du dich daran erinnern, als du
    wichtig, sich damit zu beschäftigen,                   meiner Schwester und hat ihr ne Ohr-        selber gehauen wurdest?«
    wie sie - und insbesondere Jungen -                    feige gegeben, von der ihr das Trom-        »Ja, das war in der (Straße), da hatten
    Gewalt erleben, als Opfer und als Zeu-                 melfell geplatzt ist. (Pause) Da ist sie    wir gerade unsere eigene Haushälfte
    gen: Wie schlagen sich diese Erleb-                    auf mich drauf geflogen, und wir sind       gekauft, und da haben ich und meine
    nisse seelisch bei ihnen nieder? Am                    beide vor der Haustür gelandet.« (1)        Schwester im Flur Tennis gespielt.
    Ende geht es darum herauszufinden,                     Interviewer: »Weißt du noch, was du         Und meine Eltern waren grad einkau-
    wie aus manchen von ihnen kindliche                    da gefühlt oder gedacht hast?«              fen, und als meine Eltern nach Hause
    oder jugendliche Gewalttäter werden                    »Im ersten Augenblick hab ich ge-           kamen, hatte ich gerade gerufen: ‘Auf-
    und wie man das möglicherweise hät-                    dacht: Ich niete den gleich um. Warum       schlag!’ und da ist der Tennisball di-
    te verhindern können.                                  hat der das überhaupt gemacht? Das          rekt in den Kronleuchter geflogen.
                                                           ist seine Tochter, sie ist schwächer. (2)   Der ganze Kronleuchter ist dann
    Vor einigen Jahren führte ich im Auf-                  Da hab ich mir gedacht: Jetzt ist egal,     (puch!) runtergefallen. Ja, da hab ich
    trag der Evangelischen Jugendhilfe                     jetzt klatschst du dem eine.« (3)           richtig Dresche gekriegt für. (Pause)
    Münsterland eine Studie über gewalt-                   »Mochtest du deinen Vater nicht be-         Das weiß ich auch noch ziemlich ge-
    tätige Jugendliche durch. Die befrag-                  sonders?«                                   nau.«
    ten Jugendlichen lebten in verschiede-                 »Eigentlich schon, aber auf der ande-       »Was heißt: Richtig Dresche?«
    nen Heimwohngruppen einer Region                       ren Seite überhaupt nicht. Das kann         »Ja, mit den Fäusten, wird dann drauf-
    und waren durch zum Teil massives                      man schwer erklären, weiß nicht.« (4)       gehauen.«
    gewalttätiges Verhalten aufgefallen,                   »War das damals schon so, dass dein         »Kannst du mal so den Ablauf schil-
    nicht selten in rechtsradikalen Zu-                    Vater viel gehauen hat?«                    dern, wie das war?«
    sammenhängen. Wie sich bei den                         »Ja.«                                       »Ach, der kommt auf dich zu gelaufen,
    mehrstündigen Einzelinterviews her-                    »Wie oft ungefähr?«                         und sieht nur: Das ist kaputt, und du
    ausstellte, waren alle Jugendlichen in                 »Also wir haben täglich auf jeden Fall      hast den Schläger in der Hand. Der hat
    der Vergangenheit selbst Opfer mas-                    mindestens eine auf den Arsch ge-           mich direkt genommen und ins Wohn-
    siver Gewalt gewesen.                                  kriegt, wenn wir jetzt zum Beispiel         zimmer geschubst. Da stand ich und

8    Modellprojekt Jungenarbeit und Gewaltprävention MANNE e.V. Potsdam
Rainer Neutzling Wie Gewalt entsteht

hab erst mal ne Ohrfeige gekriegt.         grad kommt. Man kann nicht genau                    mit den Schmerzen verbundenen
Und dann geht's richtig los: Dann          sagen, wie er gehauen hat. Auf jeden                Gefühle ab: Ohnmacht, Trauer,
schubst der dich nur noch die ganze        Fall hat er’s ziemlich oft gemacht.«                Wut, Demütigung, Entsetzen,
Zeit hin und her, und du kriegst           »Und hat eure Mutter euch auch ge-                  Angst, Kummer.
irgendwas ab und du weißt gar nicht        hauen?«                                        (9) Ein gewohnheitsmäßig geschla-
mehr genau, was du abkriegst, kriegst      »Ja, meine Mutter hat immer versucht,               genes Kind ist das entrechtete
einfach nur was ab. (7) Den Rest, das      sich davor zu stellen. Aber die hat                 Kind schlechthin: Oft darf es
merkst du nach ner Zeit auch gar nicht     dann ne Ohrfeige gekriegt und ist in                nicht weinen, es hat auf nichts
mehr, irgendwie.«                          die Küche gegangen.« (12)                           ein Anrecht.
»Was heißt das: Du merkst das gar                                                         (10) Die Ausweglosigkeit gegenüber
nicht mehr?«                               Der kurze Ausschnitt des zweistündi-                der elterlichen Gewalt und die
»Ich hab irgendwie versucht, die           gen Interviews enthält beinahe alle                 Unmöglichkeit der Gegenwehr
Schmerzen zu unterdrücken, weil man        klassischen Aspekte der Entstehung                  droht das Kind emotional aufzu-
denkt eh: Ph!, gleich ist es vorbei,       von Gewalt, wie sie auch in den Erin-               fressen: Die »Säure im Magen«
gleich regt er sich wieder ab, und dann    nerungen der anderen Interviewten                   versinnbildlicht vollkommene
kannst du nach oben gehen.« (8)            auftauchen:                                         Hilflosigkeit, die sich dann gegen
»Und war das auch so?«                     (1) Ein Kind wird unfreiwillig und                  sich selbst richtet.
»Ja, war so.«                                   hilflos Zeuge von Gewalt.                 (11) Die elterliche Gewalt ist meist
»Und wie lange geht das, wenn er so        (2) Das Kind empfindet Unrecht, das                 unberechenbar. Ihr ist auch nicht
draufgehauen hat?«                              in diesem Augenblick jedoch                    durch Wohlverhalten zu ent-
»Fünf bis sechs Minuten.«                       weder benannt noch gesühnt                     kommen. »Glück« und Zufall
»Und dann hört der irgendwann auf?«             werden kann.                                   entscheiden über Schläge oder
»Dann hört der auf, ja.«                   (3) Die damit verbundene Erfahrung                  keine Schläge.
»Sagt er dann irgendwas?«                       von Ohmacht beschwört Rache-              (12) Eigentlich wäre es an der Mutter,
»Ja, ab ins Zimmer. Hoch! Ich will              und Größenfantasien gegenüber                  die Kinder zu schützen. Doch da-
dich heut nicht mehr sehen. Und dann            dem gewalttätigen Elternteil her-              zu ist sie (häufig) nicht in der La-
ist empty. Und dann brauchst du heute           auf - eine erste kritische Identifi-           ge. Oder sie schlägt selbst zu.
auch nicht mehr runter kommen und               kation. Martin wehrte sich zwei
nach irgendwas fragen. (9) (Pause)              Jahre später, mit 14, zum ersten          Irgendwann beginnt Martin, gegen die
Der Tag ist dann gelaufen sozusagen.«           Mal gegen seinen Vater.                   Mutter und seine Geschwister gewalt-
»Versuch mal zu schildern, wie du dich     (4) Das kindlichen Opfer ist gegenü-           tätig zu werden. Er ersetzt den (häufig
fühlst, wenn du ihn da so sitzen siehst         ber gewalttätigen Eltern in einem         abwesenden) Vater als unberechenba-
und er hat schon den Gürtel in der              ambivalenten Verhältnis gefan-            ren Tyrannen. Auch außerhalb der Fa-
Hand, und der ruft dich: Heh, komm’             gen. Der Junge liebt seinen Vater         milie wird Martin zunehmend gewalt-
mal her.«                                       und will von ihm geliebt werden.          tätig.
»Ah, boh, dann kriegst du erst mal voll         Gleichzeitig hasst er ihn.
die Säure im Magen. Der Magen              (5) Die Gewalt ist oft alltägliche Ge-         Interviewer: »Hast du auch außerhalb
blubbert, weil du irgendwie voll auf-           walt. Der Junge und seine Ge-             der Familie Schlägereien gehabt?«
geregt bist, und dann denkst du dir nur         schwister werden über Jahre hin-          Martin: »Ja (leise). Ich war ziemlich
noch: Augen zu und durch. (10) Jetzt            weg mindestens mehrmals im                viel mit Freunden in der Stadt unter-
hörst du dir das erst mal an. Vielleicht        Monat geschlagen.                         wegs, ja, und wenn uns dann irgend
redet der auch nur, wenn du Glück          (6) Das Kind wird vollkommen der               einer nicht passte, der grad Kacke
hast, und er hat ‘n guten Tag, dann re-         Definitionsmacht des gewalttäti-          aussah, haben wir unsern ganzen Frust
det der auch nur mit dir.«                      gen Erwachsenen unterworfen:              an ihm ausgelassen.« (1)
»Das kam vor?«                                  Der Vater entscheidet, ob das             »Wo kam denn der Frust her?«
»Das kam auch schon vor, ja, aber               Kind etwas Strafwürdiges »ge-             »Von allem. Weiß ich nicht. Von allem,
ziemlich selten. Seltener wie das mit           macht« hat oder nicht.                    was eigentlich immer so anfällt: schu-
dem Gürtel halt. Ja, wenn du Glück         (7) Das Kind erlebt die Schläge als            lischer Stress, zu Hause, keine Per-
gehabt hast, hast du Glück gehabt, und          Heimsuchung, wie ein heftig wü-           spektive für später und alle solche Sa-
wenn du kein Glück gehabt hast, dann            tender Gewittersturm. Unter den           chen. Die kamen irgendwie immer
stehst du davor und denkst dir nur:             Schlägen wird er zum bloßen               zusammen. Da dachte ich: Hm, das
(Pause) Mann, mach schnell und                  Gegenstand, der »hin und her«             kannste ja jetzt rauslassen und frisst
kurz.« (11)                                     geschubst wird, rechtlos und ent-         es wenigstens nicht in dich rein.« (2)
»Musst du dich dann umdrehen und                würdigt.                                  »Kannst du mal so eine Situation
...?«                                      (8) Im Laufe der Jahre entwickelt das          schildern?«
»Nein. Der fängt zu schubsen an, so             Kind eine gewisse Fühllosigkeit           »Ja, klar. Sommer letztes Jahr. Ich war
dass du irgendwie hinfällst. Und dann           gegenüber den Schlägen und                in der Stadt mit Freunden. Wir waren
nutzt er die Gelegenheit aus, wie sie           spaltet damit auch alle anderen           am Stadtbrunnen, wo wir uns immer

                                                                     MANNE e.V. Potsdam Jungenarbeit und Gewaltprävention Modellprojekt      9
Wie Gewalt entsteht Rainer Neutzling

     treffen. (3) Und da waren zwei Leute,             (1) Die zunehmenden Frustrationen        ordentlich gewaltfördernd. Eine ent-
     die wohl auch einen getrunken hatten.                 und seelischen Verletzungen ver-     würdigende Erziehung führt fast
     Es war schon so gegen 19 Uhr, die                     langen bald nach stets neuen see-    zwangsläufig zu einem negativen
     lachten ziemlich laut, und wir saßen                  lisch entlastenden Ausbrüchen.       Selbstbild, so dass das Kind wegen
     alle am Brunnen und sagten: Was la-               (2) Seelische Not als Lebensgefühl       zunehmender Konflikte auch außer-
     chen die denn so scheiße? Lachen die                  lässt sich von gewaltbelasteten      halb der Familie bald nur noch Bestä-
     uns aus oder was wollen die von uns?                  Kindern und Jugendlichen oft nur     tigungen seines Gefühls von Wertlo-
     Was sind das überhaupt für Vögel? (4)                 mit Hilfe von eigener Gewalt aus-    sigkeit erfährt. Dem bedrückenden
     Ich hatte die noch nie hier gesehen.                  halten bzw. kurzzeitig beiseite      Lebensgefühl gilt es dann auszuwei-
     (Pause) Tja, das ging so fünf Minuten                 drängen.                             chen - häufig in der Geborgenheit ei-
     oder so: Guck dir den mal an, was hat             (3) Die gewalttätige Gleichaltrigen-     ner Gewalt bejahenden Gleichaltri-
     denn der für Schuhe an? - So abgeläs-                 gruppe verschafft Aufwertung         gengruppe.
     tert die ganze Zeit. Und irgendwann                   und Anerkennung durch Andere.
     sagt dann einer: Ey, dem hau ich jetzt                Das Image des Gefährlichen soll      Warum aber neigen Jungen mehr als
     erst mal eine. Ja guck dir mal den                    alte Wunden heilen: Mir wird         Mädchen zu expressiver Gewalt, ob-
     Spasti an, dem klatsch ich jetzt erst                 niemand (mehr) etwas antun.          wohl Mädchen insgesamt sicher nicht
     mal eine, der kommt ja wohl voll nicht            (4) Ein schiefer Blick, ein falscher     weniger Gewalterfahrungen machen
     mehr klar. Die üblichen Sprüche halt.                 Ton, selbst eine harmlose Bemer-     müssen? Zum einen ist die gesell-
     Ja, und dann ist der erste von uns hin-               kung wird bei Bedarf als tief ver-   schaftliche Wahrnehmung gegenüber
     gegangen, haut dem einen einfach ei-                  letzender und deshalb strafwür-      männlicher Opferschaft und weib-
     ne, ohne dass der damit rechnen konn-                 diger Angriff umgedeutet.            licher Täterschaft nach wie vor sehr
     te. Und wenn der Andere sich dann                 (5) Ist der Gewaltausbruch in diesem     eingetrübt, was das Anzeigeverhalten
     wehrt, dann springt der ganze Treff-                  Sinn hinreichend legitimiert,        und damit die amtlichen Statistiken
     punkt auf, und dann laufen wir los,                   gelten keine allgemeinen Kampf-      gewiss beeinflusst. Gewalt von Mäd-
     und dann geht’s voll rund, würd ich                   regeln mehr. So, wie das kindli-     chen und Frauen wird zu einem erheb-
     sagen.«                                               che Opfer einst beständig entehrt    lichen Maß nicht wahrgenommen.
     »Also dann wurden die beiden ver-                     wurde, können sich die späteren      Zum anderen stehen Jungen und Mäd-
     kloppt.«                                              Opfer nicht auf einen Ehrenko-       chen sehr unterschiedliche Einstel-
     »Dann wurden die beiden verkloppt.«                   dex berufen.                         lungs- und Verhaltensmuster gegenü-
     »Und dann auch nicht mehr eins zu                 (6) Ein Gewaltausbruch kann emo-         ber Gewalt zur Verfügung. Dabei geht
     eins, sondern mehrere auf wenige.«                    tional ausgesprochen positiv auf-    es immer um die Frage, welches Ver-
     »Dann waren wir auch schon ab und                     geladen werden. In solchen Mo-       halten mehr Männlichkeit verspricht,
     zu mehrere auf wenige.« (5)                           menten führen sich die Täter so-     und welches mehr Weiblichkeit. Stark
     »Und wie fühlst du dich da während                    zusagen dem Leben wieder zu.         sein, sich prügeln, überhaupt den Kör-
     dessen?«                                              Die Gewalt hebt für Momente das      per einzusetzen, bedeutet für einen
     »Das ist einfach nur (Pause) toben. Als               aus der erlebten Missachtung         Jungen, seiner Geschlechtsrolle zu
     wenn du tobst irgendwo, du auf der                    und Ohnmacht erwachsene de-          entsprechen. Er wird durch den Ein-
     Wiese voll am Rennen bist, am Fuß-                    pressive Lebensgefühl auf.           satz von Gewalt potentiell in seiner
     ballspielen, schießt grad den Ball weg            (7) Es fehlt oft an Unrechtsbewusst-     Männlichkeit aufgewertet. Zur ge-
     so. (Pause) So’n Gefühl hast du dabei.                sein. Gefürchtet wird lediglich      waltbereiten Männlichkeit gehört ins-
     Bist einfach nur am Austoben.« (6)                    die persönliche Einschränkung,       besondere die Aufgabe des Beschüt-
      »Und hinterher?«                                     die eine Bestrafung durch ein Ge-    zers und Retters. Der männliche Auf-
     »Hinterher denkste erst mal nach:                     richt mit sich brächte. Eine         trag des Beschützers bezieht sich nicht
     Hoffentlich kriegst du keine Anzeige.                 Wiederholung, denn auch der ge-      nur auf konkrete Menschen, sondern
     Hauptsache, dich erkennt keiner, und                  walttätige Erwachsene wurde          auch auf das große Ganze: Soldaten
     dann ist das schon o.k.« (7)                          früher für seine Taten meist nicht   verteidigen eine Stadt, ein System, ei-
     »Und dass dir die Typen vielleicht ein                zur Rechenschaft gezogen.            ne Nation. Gewalt wird gelernt, nicht
     bisschen leid tun?«                               (8) Hat niemand in der Kindheit der      nur im Elternhaus oder in der Gewalt-
     »Nein, tun mir nicht leid. Die haben                  Jungen und Mädchen die erlitte-      clique, sondern auch von den Medien,
     mir da überhaupt ... (Pause). Weiß                    ne Gewalt bezeugen und tröstend      die unentwegt die Botschaft verkün-
     nicht. Ich kannte die nicht, und wenn                 mitleiden können, empfinden sie      den, dass es eine gute männliche Ge-
     ich Leute nicht kenne, tun sie mir nicht              später oft kein Mitleid mit ihren    walt gebe, die befugt sei, die böse
     leid.« (8)                                            Opfern.                              männliche Gewalt zu bekämpfen. An-
                                                                                                leihen an diesem soldatischen Mythos
     Auch der Transfer seiner Gewalter-                Auch eine nicht offen handgreifliche,    machen etwa paramilitärisch auftre-
     fahrungen in spätere Lebenszusam-                 aber seelische Misshandlung - etwa       tende Rechtsradikale. Der Soziologe
     menhänge verlief bei Martin recht                 die ständige Missachtung kindlicher      Joachim Kersten wies einmal darauf
     exemplarisch:                                     Anerkennungsbedürfnisse - ist außer-     hin, dass sich die jungen Männer der

10    Modellprojekt Jungenarbeit und Gewaltprävention MANNE e.V. Potsdam
Rainer Neutzling Wie Gewalt entsteht

rechtsgerichteten Gewalt-Szene häu-        Junge namens Frank berichtete von             letzlichkeit begreiflich zu machen und
fig als »Beschützer eines ganzen           Beleidigungen wie »Du Hurensohn!«,            gleichzeitig Bedrohungsgefühle ab-
Stadtteils« fühlten, wenn sie fremd-       die bei ihm zu einem Ausbruch von             zubauen. »Das aggressive Kind wird
ländisch aussehende Mitbürger an-          Gewalt führen konnten, und begrün-            nur von innen erreicht über ein Ver-
griffen. Solche Angriffe stellten in den   dete dies mit Gefühlen, die in solchen        ständnis seines Erlebens. Täter kön-
Augen eines jungen Rechtsradikalen         Momenten hochkamen: »Ja, also, ko-            nen nur von ihren Übergriffen lassen,
sozusagen eine Mut erfordernde             misch ist, dass halt alles wieder aufge-      wenn ihr Bindungsbedürfnis geweckt,
Männerangelegenheit dar, deren Er-         wuschelt wird, dass alles wieder hoch-        gestärkt, durch Vertrauen entfaltet und
ledigung er in die Hand nehme, weil        kommt von früher, von den Eltern und          erhalten werden kann.« Betroffene
sich das die anderen bloß nicht trau-      so. Dass meine Mutter mich gehauen            Kinder und Jugendliche bedürfen der
ten. Er, nicht die anderen, habe daher     hat und so was.«                              besonderen Betreuung, therapeutisch
das Zeug zum Helden. Individuelles                                                       und pädagogisch. Antigewalt-Trai-
oder kollektives Gewalthandeln kann        Was tun?                                      nings, die das Ziel verfolgen, einen
sich aus völlig unterschiedlichen Mo-      »Wer glaubt, um seinen Stolz, seinen          nach außen drängenden Gewaltim-
tivationen heraus ergeben: Gewalt zur      Selbstwert, seine Identität oder gar          puls per Vernunftentscheid zu unter-
Bekämpfung von Angst, Gewalt auf-          sein Überleben kämpfen zu müssen,             drücken, können sicherlich helfen,
grund seelischer Frustrationen jed-        wird Regeln brechen und aggressives           den Alltag der Jugendlichen und ihrer
weder Art, Demütigungen und Min-           Verhalten zeigen«, sagt der Kinder-           Betreuer zu entlasten. Doch in aller
derwertigkeitsgefühlen. Gewalt pro-        und Jugendpsychiater Franz Resch.             Regel reichen sie für ein seelisches
voziert, macht den Gewalttätigen           Es gelte daher, Kinder einen ange-            Heilen nicht aus. Wenn ein Junge (oder
mächtiger, als er sich ansonsten fühlt.    messenen Umgang mit den eigenen               Mädchen) auf der Suche nach einem
Sie sichert einen Aufmerksamkeits-         Waffen zu vermitteln, Schmerzgren-            akzeptablen Ich die eigene Gewalttä-
erfolg und bindet ein in einen Grup-       zen, körperliche Integrität und Ver-          tigkeit entdeckt und sie fortan zur Ent-
penzusammenhang. Gleichzeitig lässt
Gewalt immer wieder aufs Neue ge-
rade jene Gefühle entstehen, die zu
ihr geführt haben: Angst, Unsicher-
heit, Verletzung - ein Teufelskreis. Die
Verleugnung von Hilflosigkeit und
Schwäche behindert dann sowohl den
inneren Bezug zu sich selbst, als auch
zum Opfer. Ein Übriges ist im gege-
benen Fall der fehlenden emotionalen
Unterstützung in der Familie geschul-
det, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus
der Eltern und innerer Vereinsamung.

Obwohl gewaltbelastete Jugendliche
oft eine krasse Gleichgültigkeit ge-
genüber der eigenen Gewalt an den
Tag legen und andere Menschen nicht
selten plan- und gewohnheitsmäßig
beleidigen, reagieren sie selbst oft un-
gemein empfindlich auf Neckereien.
Der 17jährige Rudi, der am Anfang
zitiert wurde, begründete seine Ge-
waltaktionen oft damit, er sei belei-
digt worden mit Aussagen wie »Leck
mich am Arsch oder so was in der Art«.
Wie auch bei den anderen interview-
ten Jugendlichen wurden in solchen
oder ähnlichen Situationen schnell
die Wunden alter Missachtungserleb-
nisse berührt, worauf sie dann reflex-
                                                                                                                                            Foto: tobeys / photocase.com

artig gewaltsam reagierten. Mitunter
lassen sich regelrechte Trigger aus-
machen, die gewalttätige Impulse aus-
lösen bzw. rechtfertigen sollen. Eine

                                                                    MANNE e.V. Potsdam Jungenarbeit und Gewaltprävention Modellprojekt                                     11
Wie Gewalt entsteht Rainer Neutzling

     wicklung seines beschädigten Ichs                 pold betont, dass es aufgrund früher       und andere Gewaltopfer aufzubrin-
     einsetzt, wird es enorm viel Zuwen-               innerfamiliärer Gewalterfahrungen          gen. Oft fehlte es nicht an emphati-
     dung, Zeit und Mühe kosten, einem                 nicht automatisch zu einem Umschla-        schen Fähigkeiten als vielmehr an ei-
     alternativen gewaltfreien Ich zum in-             gen der Traumatisierungen in gewalt-       ner seelischen Basis für Reue. Eine
     neren Wachstum zu verhelfen. Was                  tätiges Handeln kommen müsse.              solche Lücke im Empfindungsreper-
     auch immer die Jugendlichen nach au-              Unterschiedliche Studien berichteten       toire geht häufig auf die kindliche Er-
     ßen hin zur Schau stellen (Gleichgül-             übereinstimmend, dass etwa ein Drit-       fahrung zurück, selbst nie bemitleidet
     tigkeit oder Abgebrühtheit), ihr Le-              tel aller ehemals misshandelter Eltern     worden zu sein.
     bensthema ist ihr zutiefst negatives              die erlittene Gewalt an ihre Kinder
     Selbstbild, das zudem oft zu heftigen             weitergeben. Etwa zwei Drittel wür-        Ihre spätere Gleichgültigkeit gegenü-
     Autoaggressionen bis hin zum Selbst-              den jedoch nicht zu Tätern. Sie nennt      ber Gewaltopfern ist gewissermaßen
     mord(versuch) führt. Hinter der ju-               drei biografische Aspekte, die es ge-      ein Selbstschutz, weshalb es so wich-
     gendlichen Gewaltfassade steht oft                waltbelasteten Kindern erleichtern,        tig ist, ihnen zu ermöglichen, irgend-
     ein kleines, unglückliches Kind, das              die eigenen Gewalterfahrungen später       wann einmal wieder Mitleid und Reue
     seelisch blockiert ist und sich deshalb           nicht weiterzugeben:                       zu empfinden.
     in jenen Situationen, die an die frühe-           > Nichtwiederholer hatten in der
     ren Misshandlungserfahrungen rüh-                     Kindheit häufig mindestens eine
     ren, nicht anders als gewalttätig zu                  Person, an die sie sich mit ihrem      Literatur
     helfen weiß. Um ihm zu helfen, muss                   Kummer wenden konnten.                 Diepold, Barbara/ Cierpka, Manfred: Der Ge-
     man dieses Kind aufsuchen und es an               > Sie hatten irgendwann in ihrem Le-         waltzirkel: Wie das Opfer zum Täter wird.
                                                                                                    Vortrag. Lindauer Psychotherapiewochen
     die Hand nehmen, damit es noch ein-                   ben eine längere (mehr als ein Jahr)     1997
     mal wachsen kann. »Unter den pro-                     Psychotherapie absolviert.             Kersten; Joachim: Der Männlichkeitskult. In:
     tektiven Faktoren«, schreibt die Ju-              > Und sie lebten gegenwärtig häufi-          Psychologie heute. Weinheim 9/1993
     ristin und Psychoanalytikerin Gisela                  ger in einer befriedigenden Bezie-     Neutzling, Rainer: Gewalt macht die Seele
                                                                                                    krank. Wie Kinder als Zeugen, Opfer und Tä-
     Zenz, »die die Folgen schwerer Trau-                  hung mit einem Ehepartner oder           ter Gewalt erleben. Hannover 2005
     matisierungen mildern können, ist als                 Freund.                                Resch, Franz: Aggressives Verhalten als Krank-
     wichtigster Faktor immer wieder in                »Nicht allein das Ausmaß der Trau-           heit? In: Frühe Kindheit 6/2004
     großer Übereinstimmung verschiede-                matisierung in der Kindheit ist ent-       Sutterlüty, Ferdinand: Gewaltkarrieren. Ju-
                                                                                                    gendliche im Kreislauf von Gewalt und Miss-
     ner Forschungsrichtungen die stabile              scheidend«, so Barbara Diepold, »als         sachtung. Frankfurt/M. 2002
     Beziehung zu einer verlässlichen und              vielmehr die Art und Weise, wie diese      Zenz, Gisela: Konfliktdynamik bei Kindesmiss-
     liebevoll zugewandten erwachsenen                 Traumata durchgearbeitet, betrauert          shandlung und Intervention der Jugendhilfe.
     Person herausgestellt worden. Bei                 und in das Leben integriert werden.          In: Frühe Kindheit 4/2000
     Kindern, die eine solche Beziehung                (...) Vieles spricht dafür, dass im Kon-
     erstmals nach einer Fremdunterbrin-               text neuer Beziehungserfahrungen
     gung außerhalb ihrer Herkunftsfami-               verzerrte Wahrnehmungen der Bezie-
     lie finden, ist daher die Stabilisierung          hungspartner korrigiert werden kön-
     und Erhaltung dieser Beziehung - d.h.             nen, so dass vor allem die empathi-
     die Beziehungskontinuität - von ganz              schen Fähigkeiten nachreifen können
     entscheidender Bedeutung für ihre                 und die Affektregulation neu model-
     weitere Entwicklung.« Die Anforde-                liert wird.«
     rungen an das pädagogische Personal
     etwa von Heimwohngruppen, in de-                  Lernziel: Mitleid                          Rainer Neutzling, geb. 1959 in Bendorf/Rhein.
     nen auch gewaltbelastete Jugendliche              In den Gewaltschilderungen des             Journalist, Schriftsteller und Soziologe M.A.,
                                                                                                  verheiratet, zwei Kinder. Aus der frühen »Alter-
     leben, sind ausgesprochen hoch. Das               17jährigen Rudi fielen während des
                                                                                                  nativpresse" kommend, hat Rainer Neutzling
     wichtigste Ziel ist, die Jugendlichen             Interviews wiederholt Wörter wie           seit 1987 als freier Journalist und Autor für di-
     möglichst mehrere Jahre lang in der               »kaputt treten oder kaputt machen«         verse (sozialpolitische) Fachzeitschriften und
     Gruppe zu halten, was jedoch häufig               für schlagen, und Sprüche wie »Na          verschiedene Rundfunkanstalten gearbeitet. Ab
                                                                                                  1990 war er auch in der Erwachsenenbildung tä-
     nicht gelingt. Gewaltbelastete Ju-                und?! Mir doch egal!«, wenn es um die
                                                                                                  tig zu den Scherpunktthemen »Jungensozialisa-
     gendliche stellen häufig eine Überfor-            Konsequenzen seines Handelns für           tion«, »Männliche und weibliche Pubertät« so-
     derung ihrer Umwelt dar, da sie prak-             sich und andere ging. So wie das be-       wie »Männersexualität«. Hinzu kamen ausge-
     tisch jederzeit in der Lage sind, mit             ständig misshandelte und missachtete       dehnte Vortragsreisen.
     Gewaltausbrüchen und gezielten Re-                Kind das Gefühl haben musste, seine
                                                                                                  Kontakt: neutzling@netcologne.de
     gelverstößen das sensible Gefüge ei-              Würde und Integrität sei den Erwach-
     ner Wohngruppe zu sprengen. Dies                  senen egal, so wenig kann offenbar         Auszüge aus dem Vortrag während der Ab-
     wiederum führt dann schnell zu ihrem              später von ihm erwartet werden, sich       schlusstagung des Modellprojekts. Der Vortrag
                                                                                                  basiert auf dem gleichnamigen Kapitel des Bu-
     Ausschluss und so zu immer wieder                 oder andere zu schonen. Den meisten
                                                                                                  ches »Kleine Helden in Not« von ihm und Die-
     neuen Beziehungsabbrüchen.                        interviewten Jugendlichen fiel es aus-     ter Schnack (komplett überarbeitete Ausgabe,
     Die Psychoanalytikerin Barbara Die-               gesprochen schwer, Mitleid für ihre        Reinbek 2011).

12    Modellprojekt Jungenarbeit und Gewaltprävention MANNE e.V. Potsdam
Peter Moser
Sind Jungen besonders »rechtsextremistisch
gefährdet«?

                                                                                                                                       Foto: Alexander Bentheim
Rechtsextremistisches, gewalttätiges     »Unmännliche« Anteile abwerten
Verhalten wird besonders als Jungen-     und verdrängen
und Männerproblem wahrgenommen.          In ihrem Sozialisationsprozess, vor
Kein Wunder, sind es doch überwie-       allem in ihrer Suche nach Selbstwert,         ßen Jungen jedoch - vor allem in der
gend männliche Jugendliche und jun-      Annerkennung und Zugehörigkeit,               Erwachsenenwelt - in der Regel nicht
ge Männer, die wegen »rechtsextre-       entfremden sich viele Jungen zuneh-           gerade auf Verständnis. Ihre Strategien
mem« und/oder gewalttätigem Ver-         mend von »unmännlich« geltenden               werden als auffälliges, negatives Ver-
halten auffallen sowie angezeigt und     oder empfundenen Gefühlen, Bedürf-            halten bewertet und/oder aber als ty-
verurteilt werden.                       nissen und Verhaltensmöglichkeiten;           pisches Jungenverhalten erkannt, das
                                         sie verdrängen diese oder spalten sie         man letztendlich auch von ihnen als
Hegemoniale Männlichkeiten und           ab. Verhaltensmuster, mit denen Ohn-          »richtigem« Jungen so erwartet. Mög-
individuelles Junge-Sein - für viele     macht, Unterlegenheit und Hilflosig-          liche Ressourcen solcher Verhaltens-
Jungen ein Dilemma                       keit usw. konstruktiv bewältigt werden        strategien werden selten in den Blick
Sobald Jungen sich selbst als »Jungen«   könnten, stehen immer weniger zur             genommen3.
erkennen und definieren, suchen sie      Verfügung, wenn diese ihr Männlich-
in ihrem Aufwachsen Orientierung bei     keitsgefühl bedrohen. Das gilt im Be-         Konkurrenz, Überlegenheit und Sie-
Angehörigen des eigenen Ge-              sonderen auch für Opfererfahrungen            gen sind Bestanteil männlicher He-
schlechts, bei gleichaltrigen Jungen,    von Jungen.                                   gemonialbilder, doch in ihrer Soziali-
bei älteren Jungen und bei erwachse-                                                   sation erfahren viele Jungen häufig
nen Männern.                             Im Dilemma zwischen Männlichkeits-            selbst Abgrenzung, Unterlegenheit
Insbesondere dann, wenn anwesende        anspruch und dem eigenen Selbst               und Abwertung, sowohl gegenüber
Männer mit alternativen Männlich-        können viele Jungen »unmännliche«             Mädchen und Frauen als auch unter-
keitsentwürfen in der Sozialisation      Gefühle und Bedürfnisse oft nur über          einander.
von Jungen fehlen, wirken verstärkt      einen Umweg wahrnehmen bzw.                   Jungen werden von Erwachsenen häu-
hegemoniale      Männlichkeitsbilder     kommunizieren; so entwickeln sich             figer negativer bewertet als Mädchen.
und die damit verbundenen Vorstel-       symbolische      Verhaltenstrategien2.        In der Schule haben sie schlechtere
lungen vom richtigen Junge- bzw.         Beispielsweise verlaufen Annäherun-           Noten und bleiben öfter sitzen. Aus
späteren Mannsein1.                      gen an Mädchen häufig in Formen wie           biologischer Perspektive sind sie an-
                                         Nachpfeifen, coolen Sprüchen oder             fälliger als Mädchen. Dies gilt für
Diese Idealvorstellungen sind stark      körperlicher Übergriffigkeit. So kann         Fehlgeburt, Todgeburt, Säuglings-
verbunden mit Erfolg, Leistung, Stär-    ein Junge einerseits dem Mädchen              und Kinderkrankheiten ebenso wie
ke, Souveränität, Macht, Konkurrenz,     Interesse und andererseits den ande-          für die meisten psychischen Krank-
Potenz, Heterosexualität, Rationa-       ren Jungen männliche Souveränität             heiten. Bedeutsam scheint mir auch,
lität, Nach-Außen-Bezogenheit sowie      signalisieren. Angst vor Gewalt und           dass Jungen im Schnitt ein bis zwei
mit der Abwertung von »weiblichen«,      Schutzbedürfnisse »kommunizieren«             Jahre später als Mädchen in die Pu-
»weichen«, »schwachen«, eben »un-        Jungen häufig, indem sie sich bewaff-         bertät kommen. Der Gehirnforscher
männlichen« Anteilen.                    nen. Trauer und Ohnmacht wird durch           Prof. Gerald Hüther bescheinigt Jun-
                                         Aggressivität »kommuniziert«, Nähe            gen bereits auf Grund ihrer biologi-
Der Widerspruch zwischen hegemo-         und Kontaktwünsche untereinander              schen Ausstattung einen generell stär-
nialen Männlichkeitsbildern und den      durch Balgen und Raufen. Dadurch              keren Bedarf an Zuwendung und Halt
eigenen individuellen Empfindungen       kann ein Junge sein Interesse, Bedürf-        als Mädchen und benennt das männli-
und Erlebnissen kann bei vielen Jun-     nis oder Problem signalisieren, ohne          che Geschlecht als das biologisch
gen zu Verdrängungs- und Abspal-         dass er dabei sein männliche Maske            Schwächere4.
tungsmechanismen führen, die sie von     fallen lassen oder aus der Rolle fallen       Das Aufwachsen und die Umwelt von
bestimmten Empfindungs- und Ver-         muss.                                         Jungen ist überwiegend weiblich ge-
haltensmöglichkeiten abschneiden.        Mit derartigen Verhaltensweisen sto-          prägt und dominiert.

                                                                  MANNE e.V. Potsdam Jungenarbeit und Gewaltprävention Modellprojekt                              13
Sind Jungen besonders »rechtsextremistisch gefährdet«? Peter Moser

                                            Männlichkeit hat gesellschaftlich viel               Abwertung findet aber auch häufig in       Mädchen mehr im »Mittelfeld« blei-
                                            Kritik erfahren und ist durch die Pro-               homogenen Lebenskontexten, also            ben.
                                            zesse der Individualisierung und nicht               unter Jungen und Männern statt.
                                            auch zuletzt infolge ihrer Infrage-                  Gegenüber hegemonialen Männlich-           Der eigene Wert und die eigene Wich-
                                            stellung durch die Frauenbewegung                    keitsentwürfen stehen untergeordnete       tigkeit muss bewiesen, die Position
                                            sehr brüchig geworden. Dies führt zu                 Formen von Männlichkeit, von denen         behauptet werden; durch besondere
                                            einer weiteren Verunsicherung. Es                    man sich abgrenzt und deren Verhal-        Leistungen, etwa durch besondere
                                            bleibt unklar, was denn Junge- und                   tensmuster z.B. als »schwul« abge-         Souveränität, Coolness, Kreativität,
                                            später Mann-Sein heutzutage noch                     wertet werden5. Dies gilt, wie ich wei-    Geschicklichkeit, Potenz, Kampfbe-
                                            bedeutet und welchen Wert dies hat -                 ter unten darstelle, besonders auch für    reitschaft oder Einsatz. Männlichkeit
                                            gerade dann, wenn Frauen offensicht-                 rechtsradikale, soldatisch-faschisti-      wird zu etwas, was man nicht natürlich
                                            lich auch ohne Männer alles genauso                  sche Männlichkeitsentwürfe.                in sich trägt und das die vielfältigsten
                                            gut oder sogar besser machen können.                                                            Ausdrucksformen haben kann, son-
                                            Verwehrt die Jungenrolle die Integra-                Die Beziehungen von erwachsenen            dern zu einen Habitus, der erworben
                                            tion von Unterlegenheit oder anderen                 Männern und auch von Jungen unter-         werden muss. Die vorhandene männ-
                                            »unmännlichen» Seinszuständen und                    einander sind häufig von Konkurrenz        liche Vielfalt wird nicht zur Ressource,
                                            Gefühlen, »hilft« es den Jungen, sich                und Hierarchie geprägt. Es existieren      etwa für die eigene Selbstfindung und
                                            von Weiblichkeit generell abzugren-                  oft Rangordnungen, die bewältigt           authentische Selbstverwirklichung,
                                            zen und diese abzuwerten. Hegemoni-                  werden müssen. Diese Tendenz wird          sondern zur Bedrohung für das eigene
                                            ale Bilder von Weiblichkeit und                      noch dadurch verstärkt, dass die           Männlichkeitsgefühl.
                                            Männlichkeit liefern hier entspre-                   Unterschiede auch zwischen gleichal-       Der Kontakt zu anderen Jungen, z.B.
                                            chende geschlechtsbezogene Stereo-                   trigen Jungen oft sehr groß sind. Jun-     in realen oder virtuellen Peergruppen
                                            typen wie beispielsweise: Frau - emo-                gen scheinen in allem extremer zu          ist dabei wichtigstes Übungs- und Be-
                                            tional, Mann - rational oder Mädchen                 sein. Sie sind oft an der »Spitze«, aber   stätigungsfeld für Jungen beim Erler-
                                            - zickig, Junge - laut.                              ebenso häufig »ganz unten«, während        nen des »richtigen« Jungenverhaltens.
     Foto: FrolleinSophie / photocase.com

14                                           Modellprojekt Jungenarbeit und Gewaltprävention MANNE e.V. Potsdam
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