20 21 22 Praxis und Theorie im Internationalen Familienzentrum
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IFZ e. V. 2021 / 2022 In Erinnerung an die Opfer des rassistischen Terroranschlags in Hanau am 19. Februar 2020: Gökhan Gültekin Sedat Gürbüz Said Nesar Hashemi Mercedes Kierpacz Hamza Kurtović Vili Viorel Păun Fatih Saraçoğlu Ferhat Unvar Kaloyan Velkov #SayTheirNames 3
I nhaltsverzeichnis Inhalt 04 Grußwort der Bürgermeisterin: Dr. Narges Eskandari-Grünberg 06 Einführung: Stefan Gebauer und Karsten Althaus 08 Erinnerungen an „die Gusti“ – Aus dem Leben der Gründerin und aus den Anfängen des IFZ: Dr. Elisabeth Gebhardt-Jaekel 12 Buchempfehlung zum Thema „Flucht und Migration“: Marlene Krekeler 20 Diskriminierungskritische Sprache – Wir sind auf dem Weg: Anna Willich 21 Ja, was sollen sie denn machen? Situation geflüchteter Familien im Spannungsfeld von Kindeswohlgefährdung: Carina Engel, Torsten Wyrwa 23 „Jemanden ganz für mich!“ – Die Magie des Programms „Balu und Du“ und dessen Ausweitung auf Kinder mit Fluchthintergrund: Anne Katrin Strupp-Nassabi 29 Buchempfehlung zum Thema „Flucht und Migration“: Marlene Krekeler 32 Kinderschutz über Ländergrenzen: Amelie Fauser 33 Buchempfehlung zum Thema „Flucht und Migration“: Marlene Krekeler 39 Hemats langer Weg von Afghanistan nach Deutschland: Hemat 40 Das Kopftuch im (Arbeits-)Alltag: Salima El Morabiti 46 4
IFZ e. V. 2021 / 2022 Erste Umfrage zur Diversität in unserer Einrichtung – Zusammenfassung der Ergebnisse: Curriculum-AG des Qualitätszirkels Diversität: Jens Dohrmann, Fehmi Odabaş, Anne Katrin Strupp-Nassabi, Anna Willich, Senka Turk 48 Assoziationen zum Begriff „Diversität“ – eine Gedankenübertragung in die Praxisräume: Senka Turk 54 Der rassismuskritische Safer Space – muss das sein? Jenny Scherz, Anna Willich 56 Ein Montagmorgen um 7:30Uhr eines total verrückten Jahres: Marion Ring 60 Denkräume erweitern, öffnen, teilen: Erziehungspartnerschaft im Abstand: Mia Neumann 63 Da öffnete sich die Tür zum Wald: Layla Antar 66 Die „neue Normalität“ an der ESB Ludwig-Richter-Schule: Jonas Blahowetz, Jacobo Quiroz, Liliana Raekow 68 Die offene Jugendarbeit im “Lichtblick” stellt sich neu auf: Ioannis Dimitriadis 73 Fotograf: Arez Ghaderi 79 Zahlen, Daten, Fakten 80 Einrichtungsverzeichnis 82 Impressum 87 5
„D enkräume erweitern“ - Grußwort für das Internationale Familienzentrum Liebe Leser*innen, ein Jahr voller Herausforderungen liegt hinter uns. Die Corona-Pandemie hat viele Selbstverständ- lichkeiten infrage gestellt. Oftmals war es nicht mehr einfach möglich, die Familie oder Freunde zu besuchen, gemeinsam zu feiern oder am kulturellen Leben teilzunehmen. Um der Einsamkeit und auch der Besorgnis zu entgehen mussten neue Formen des Zusammenseins und der Solidarität gefunden werden. Menschen haben füreinander eingekauft, sich Trost gespendet und ihre persönlichen Treffen ins Digitale verlagert. Die Pandemie hat uns schwer getroffen, aber sie hat uns auch kreativ gemacht. „Denkräume erweitern“ ist das Thema des diesjährigen Tätigkeitsberichtes des Internationen Famili- enzentrums. Ich kann mir kein Motto vorstellen, mit dem das vergangene Jahr besser auf den Punkt gebracht werden könnte. Es müssen neue Wege gefunden werden, miteinander in Kontakt zu treten, das Soziale auch unter widrigen Bedingungen stattfinden zu lassen. Die Aufgaben, vor denen die Gesellschaft steht, sind zu groß, um sie ruhen zu lassen, bis sich die Verhältnisse normalisiert haben. Das Internationale Familienzentrum ist hier beispielhaft vorangegangen. Mit großer Verve ist es gelungen, Klient*innen zu erreichen und neue Angebote zu schaffen. Als Bürgermeisterin und Dezernentin für Diversität, Antidiskriminierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt ist es mir ein Kernanliegen, dass Begegnung ermöglicht wird. Die Krisen, denen wir gegenüberstehen, lassen sich nur gemeinsam bewältigen. Im gegenseitigen Austausch, im Verständnis für den anderen liegt der Schlüssel zu einer diskriminierungsarmen, lebenswerten Stadt für alle. 6
IFZ e. V. 2021 / 2022 Mit dem Wissen und der Expertise, die in den vergangenen Jahren gesammelt, mit den neuen Denkräumen, die erschlossen wurden, werden wir auch den kommenden Herausforderungen begegnen können. Ein Krieg ist ausgebrochen mitten in Europa. Russland hat unprovoziert die Ukraine überfallen. Dieser Krieg macht uns Angst. Er bedroht das Leben der Menschen in der Ukraine und nimmt ihnen ihr Zu- hause. Viele von ihnen müssen das Land verlassen und fliehen in europäische Nachbarstaaten. Diese zeigen sich solidarisch. Die europäischen Länder haben signalisiert, dass die Ukrainer*innen bei ihnen einen sicheren Hafen finden können. Wir wollen ihnen diese Sicherheit und eine Perspektive bieten. In solchen Zeiten, bin ich besonders froh, dass Frankfurt starke zivilgesellschaftliche Institutionen wie das Internationale Familienzentrum hat. Denn viele der Ankommenden werden der Hilfe bedürftig sein. Krieg und Flucht hinterlassen psychische Narben und es braucht eine Community, damit umgehen zu können. Frankfurt kann diese Community bieten. Migration – zu der natürlich auch Fluchtgeschichten gehören – ist ein essentieller Teil der Identität dieser Stadt. © Privat Ich bin dankbar, mit Ihnen zusammen Denkräume eröffnen zu können, wie wir den Menschen in Notsi- tuationen beistehen, wie wir den Krisen begegnen. Ihre Bürgermeisterin und Diversitätsdezernentin, Dr. Nargess Eskandari-Grünberg 7
E inführung Letztes Jahr schrieben wir an dieser Stelle, dass schen müssen eine Unterbringung bekommen, in ein hoffentlich einzigartiges Jahr hinter uns liegt. Großunterkünften, aber auch in verschiedenen So kann man sich täuschen. Es war nun das zwei- anderen Wohnmöglichkeiten. Kinder müssen so te Jahr, das von Corona geprägt war. schnell wie möglich in Kitas und Schulen aufge- nommen werden, es wird zu einer Überbelegung Aus diesem Grund möchten wir uns zuerst bei und somit zu einem höheren Arbeitsanfall für Mit- den Mitarbeitenden des IFZ bedanken: Für ihr arbeitende kommen. Beratungsangebote aller Art Durchhaltevermögen, für ihren Einsatz, ihre Kraft werden vermehrt nachgefragt werden. alles zu bewältigen, ihre Beharrlichkeit und ihre Ideen, wie mit dieser einzigartigen Krise umge- Zusätzlich ist es aber wichtig, auf das Zusammen- gangen werden kann. In den sozialen Bereichen leben in unserer Stadt zu achten. Wir müssen gibt es kaum die Möglichkeit in ein Homeoffice darauf Wert legen, dass es nicht nur in Frankfurt, „entschwinden“ zu können, es ist meistens die Ar- sondern auch in unserer Einrichtung zu Spaltun- beit direkt an den Klient*innen, Familien, Kindern gen oder Unstimmigkeiten kommen könnte. Das und Jugendlichen. Dieses erhöhte Risiko haben IFZ hat auch in Zeiten so großer Krisen, gerade wir leider auch in erhöhten Ansteckungszahlen durch die vielfältige Personalbesetzung, extreme gespiegelt bekommen. Trotzdem wurden die An- Belastungen gemeistert. Als Einrichtung der pä- gebote aufrechterhalten, und die Arbeit mit und dagogischen und Sozialen Arbeit sind wir dem für unsere Klient*innen wurde in gewohnt hohem humanistischen Menschenbild verpflichtet. Dies Maße ausgeführt. Danke nochmals an alle hierfür. greift auch unser Leitbild auf, in dem es heißt, Zum Thema Corona, besonders zum Umgang da- dass sich die Teams „(...) gezielt mit Stereotypen, mit in unserer täglichen Arbeit, finden Sie vielfälti- Ausgrenzung und Diskriminierung auseinander ge Artikel im diesjährigen Bericht. (...)“ setzen. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sowohl bei Nutzer*innen als auch bei Mitar- Nun scheint eine neue Herausforderung hinzuzu- beitenden Unsicherheiten und Ängste entstehen kommen. Durch den Krieg in der Ukraine stehen können. Die mediale Aufarbeitung dieser Katast- wir alle vor vielfältigen Aufgaben. Geflüchtete Men- rophe lässt uns nicht unberührt. Unabhängig vom 8
IFZ e. V. 2021 / 2022 „Verursacher“ des Krieges: Am Ende leiden alle beit in aller inhaltlichen, textlichen und grafischen Menschen, hierauf müssen wir uns konzentrieren. Güte und Vielfalt darzustellen. Unser diesjähriges übergreifendes Thema lautet Allgemein sind, neben dem Thema Corona, das „Denkräume erweitern“. In „Begegnungen im große Feld Rassismus, aber auch Fluchterfah- Abstand“ (dem letztjährigen Titel) ist bereits viel- rungen und Ankommen in Frankfurt Themen im fältig dargestellt worden, wie wir als IFZ inden diesjährigen Tätigkeitsbericht. Dies haben wir aus unterschiedlichen Bereichen und Einrichtungen unterschiedlichen Sichtweisen und Perspektiven coronabedingt neue Konzepte, Methoden und versucht darzustellen. Formen der (Zusammen-)Arbeit entwickelt haben – da ist mitten im Krisenmanagement sehr viel Gu- Einführend möchten wir Sie über übergreifende tes und Gelingendes entstanden. Diese Erfahrun- Themen des IFZ aus dem Zeitraum der Veröffent- gen möchten wir nun reflektieren und herausstel- lichung des letzten Tätigkeitsberichtes bis heute len, und wir haben daher für die nun anstehende informieren. Ein erneutes Wachstum des Vereins Veröffentlichung den Titel „Denkräume erweitern“ hat trotz aller Widrigkeiten stattgefunden. Be- ausgerufen. Dieser Titel wird der rote Faden sein, sonders im Bereich der Erweiterten Schulischen der sich durch viele Texte und Beiträge zieht. Betreuungen (ESB Hellerhofschule und ESB Uh- landschule) und durch den Ausbau der Jugend- Der diesjährige Tätigkeitsbericht hat sich etwas hilfe in der Grundschule mussten und durften wir verändert. Wir haben die Versäulung der vier Be- viele neue Mitarbeitende gewinnen. Auf der Seite reiche aufgehoben und haben die verschiedenen „Zahlen – Daten – Fakten“ finden Sie eine ent- Artikel aus den Bereichen eher thematisch geord- sprechende Entwicklung der letzten Jahre. Aber net. Dies passt hervorragend zum gesamten Kon- auch in vielen anderen Bereichen wurde erweitert, zept und der Entwicklung im IFZ; die Bereiche ar- verstärkt und ausgebaut. beiten immer enger zusammen und sind vielfach auch übergreifend tätig. Wir freuen uns, Ihnen er- Bei diesem Thema sind wir bereits bei einem kur- neut die Möglichkeit geben zu können, unsere Ar- zen Ausblick für dieses Jahr und somit bei einer 9
Einführung großen neuen Herausforderung: Durch das soge- vorher Teamleitung ESB Ludwig-Richter-Schule, nannte „Gute-Kita-Gesetz“ werden wir dieses Jahr die so frei gewordene Stelle der Bereichsleitung zusätzlich 10-12 Fachkräfte nur im Bereich Kitas Jugend-Schule-Beruf übernommen. Sie merken: einstellen können. Dies entlastet die Mitarbeiten- Es gab einige Veränderungen und Rochaden, die den in den Kitas spürbar und sorgt für eine besse- sich aber bereits in kurzer Zeit sehr gut eingespielt re Arbeit mit Kindern. Dies begrüßen wir natürlich haben und viel Input geben. Besonders freut uns, sehr. Dennoch wird es eine Herausforderung sein, dass wir diese Positionen intern besetzen konnten in einem sehr engen Arbeitsmarkt diese Fachkräf- und hier auf eine sehr gute Basis setzen können. te zu gewinnen. Eine weitere wichtige Entwicklung im IFZ ist der Es gab zudem noch weitere Veränderungen im Start des Qualitätszirkels Diversität. Er bildet ei- IFZ seit dem letzten Bericht. Dies betrifft beson- nen zentralen Bestandteil unserer Arbeit, den wir ders die Ebene der Bereichsleitungen. Bereits natürlich auf den verschiedenen Ebenen voran- vor einem Jahr haben wir angekündigt, die Stel- bringen und fördern wollen. Auch hierzu finden Sie le einer Leitung Pädagogik und Entwicklung zu im Weiteren mehrere interessante Artikel. schaffen. Hierdurch wurde der Unterbau der Ge- schäftsführungsebene gestärkt und dem großen Wir möchten es nicht versäumen, uns an dieser Wachstum des IFZ in den letzten Jahren gerecht. Stelle auch bei unseren Geldgeber*innen, der Für diese Position konnten wir Frau Hafida Allouss Stadt Frankfurt, dem Land Hessen, dem Landes- gewinnen, vorher war sie die Bereichsleitung Ju- wohlfahrtsverband und dem Bistum Limburg zu gend-Schule-Beruf. Ihre Nachfolge in diesem Be- bedanken. Ganz besonders möchten wir unseren reich wurde Frau Julia Trapp, zuvor Leitung der Dank gegenüber dem Magistrat und den Stadt- ESB Frauenhofschule, die dann Anfang 2022 verordneten zum Ausdruck bringen. Das unse- dankenswerter Weise nochmals den Bereich rer Arbeit entgegengebrachte Vertrauen und die wechselte und nach dem Abschied von Wolfram finanzielle Unterstützung tragen wesentlich zur Prühs die neue Bereichsleitung Hilfen zur Erzie- Existenzsicherung des Internationalen Familien- hung wurde. Zeitgleich hat Herr Sergio Terelle, zentrums bei. 10
IFZ e. V. 2021 / 2022 Ebenso richtet sich unser Dank an die Stiftungen Wir freuen uns auf ein spannendes neues Jahr mit und Einzelpersonen, mit deren Hilfe wir so man- vielen neuen Herausforderungen und ches Projekt initiieren konnten. Vor allem mit der wünschen Ihnen interessante Momente beim Le- Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt sen unseres diesjährigen Tätigkeitsberichts. und dem Jugendamt können wir auch weiterhin im Rahmen der Familienbildung das Projekt „Will- kommenstage in der frühen Elternzeit“ durchfüh- Frankfurt am Main, im März 2022 ren. Allen an der Entstehung dieses Berichts maßgeb- lich Beteiligten, im besonderen den Autor*innen, die erneut hochqualifizierte Arbeit beschreiben und in fast schon wissenschaftlicher Form ihre Gedanken und Weiterentwicklungen darstellen, möchten wir ebenfalls unseren Dank ausdrücken, Stefan Gebauer Karsten Althaus insbesondere dem Team der Redaktionskonfe- Vorsitzender des Geschäftsführung renz Frau Anna Willich, Herrn Jens Dohrmann, Vorstands Herrn Torsten Wyrwa und Herrn Sergio Terelle für die Ideen zur Gestaltung, das Sammeln der ein- zelnen Artikel und Unterstützen der Autor*innen, den Titel des Tätigkeitsberichts und noch zusätz- lich für die Lektor*innenarbeit sowie den Verbes- serungsvorschlägen. Auch hier haben wir eine deutliche fachliche Weiterentwicklung erlebt. 11
E rinnerungen an „die Gusti“ – Aus dem Leben der Gründerin und aus den Anfängen des IFZ noch etwas weiß. Daher hier, gut ein Jahr nach ihrem hundertsten Geburtstag, einige Erinnerun- gen von ihrer Tochter – ein kleiner Rück-Blick auf ihre Persönlichkeit und ihr Werk, um „der Gus- ti“, dieser ständig gründenden Gründerin, wieder Leben, Kontur und Farbe zu geben und ein we- nig von der Wärme, Empathie und Ausstrahlung spüren zu lassen, die für sie so charakteristisch gewesen sind. Eine „Pionierin“ wurde meine Mutter oft genannt, weil sie immer wieder Neuland betrat, mutig, ent- schlossen und im Vertrauen darauf, dass die Sa- che schon irgendwie glückt. Und eine Pionierin war sie schon als Kind. Denn als einziges – und noch dazu als jüngstes – von vier Kindern einer Arbeiterfamilie in Nürnberg hatte sie das Glück, die Oberschule zu besuchen, das Abitur zu ma- © Privat chen und später, allen Widrigkeiten zum Trotz, auch noch studieren und promovieren zu dürfen. Ihr Grundschullehrer, dem sie zeitlebens dankbar Wer das IFZ in seinen frühen Jahren erlebt hat, hat war, förderte als ihr „guter Geist“ gegen den Wi- ihr Bild in Erinnerung – mit wehendem Rocksaum, derstand des Vaters das talentierte und wissbe- fast immer in Eile und oft zu spät, den Kopf prall gierige Kind. voll mit Plänen, Projekten und Ideen. Aber war sie erst einmal da, dann war sie da, in eindringlicher In der Familie ging es dürftig zu. „Wir waren ein- Präsenz, voller Optimismus, Tatkraft und Zuver- fach arm“, hat meine Mutter einmal gesagt. Es sicht, ganz auf ihr Gegenüber, dessen Fragen, gab meist nur das Nötigste, und oft nicht einmal Sorgen und Nöte konzentriert: „die Gusti“, wie das. Zur Schule wurde kilometerweit zu Fuß mar- sie im familiären Ambiente der IFZ-Frühzeit hieß. schiert, war kein Geld für den Gasautomaten da, Heute, Jahrzehnte später, ist sie schattenhaft ge- erledigte man die Schulaufgaben eben im Schein worden, ist sie die ‚Gründerin‘, von der man kaum der Straßenlaterne auf der Fensterbank, und die 12
IFZ e. V. 2021 / 2022 vier Schwestern schliefen jeweils zu zweit in ei- ter eine tief gläubige Frau, die ihr Vertrauen auf nem Bett. Gott an ihre Töchter weitergab. Für meine Mutter sollte dies Gottvertrauen zeitlebens die wichtigste Der Vater, gelernter Kunstschlosser, ein talentier- Quelle sein, die ihr Kraft gab für ihren unermüdli- ter, vielfältig interessierter und kreativer Mann, chen, oft spontanen Einsatz für jeden, dessen Not hatte etwas vom Typus des genialen Erfinders, sie sah. der das Unmögliche möglich macht – oder es zu- mindest hartnäckig versucht, wovon seine jüngste Trotz Armut war das Familienleben rege, Aus- Tochter eine gute Portion mitbekommen hat. Er tausch, Lektüre, Bildung und Kultur waren wichtig, war in der Arbeiter*innenbewegung aktiv, vertrat vor allem das Musizieren hatte einen hohen Stel- als Gründungsmitglied der Kommunistischen Par- lenwert. Wenn die vier Schwester mit ihren schö- tei Deutschlands die Ziele und Ideale des Kom- nen Stimmen abends am offenen Fenster sangen munismus und trat als überzeugter Pazifist für – es war ja eine noch weitgehend radiolose Zeit die Idee des Weltfriedens ein. Als früher Globalist –, gingen die Fenster der Nachbar*innen auf, und erlernte er die Weltsprache Esperanto, die ge- alle hörten freudig zu. schaffen worden war, um Brücken zwischen den Völkern und Nationen zu bauen und die Ghet- 1929 brach die Weltwirtschaftskrise aus. Ausge- toisierung zu überwinden – ein Anliegen, damals löst von einem Crash an der New Yorker Börse so brennend aktuell, wohl auch so utopisch, wie überrollte sie rasch, wie ein Tsunami, die Kontinen- heute. 1943, mitten im Krieg, schrieb er an Hitlers te. Auch Deutschland brachte sie soziales Elend, Reichsluftfahrtminister und Reichsmarschall Gö- Verzweiflung, Massenarbeitslosigkeit. Ein Ausweg ring, er solle „endlich aufhören mit dem dummen schien da für viele die Auswanderung zu sein, so Krieg“ – eine ebenso impulsive wie tollkühne Tat, auch für den Vater der jungen Gusti – sie war da die er kurz darauf seinen Töchtern beichtete. Sie gerade acht Jahre alt. Ohne Arbeit, ohne Pers- bangten voller Entsetzen um ihn, doch der Brief pektive, aber voller Elan, sah er in der Sowjetuni- kam wenig später, geöffnet und wieder verschlos- on damals noch ein Land der Verheißung, zumal sen, an ihn zurück. Auch einige Vorladungen zur es von seiner Seite her noch aus St. Petersburg Gestapo überstand er, mit sehr viel Glück, folgenlos. deutsch-russische Vorfahren gab. Er fackelte nicht Die Eltern waren ein spannungsreiches Paar: der lang: die Umsiedlung wurde beschlossen, der Wä- Vater ein selbst erklärter Atheist, allerdings von scheschrank verkauft, Widerstand war zwecklos. der toleranten Art, der anderen ihre Religion und Erst im letzten Moment blies er das Unternehmen jeden auf seine Fasson selig werden ließ, die Mut- überraschend ab, zur gewaltigen Erleichterung 13
Erinnerungen an „die Gusti“ – Aus dem Leben der Gründerin und aus den Anfängen des IFZ von Töchtern und Frau. Ein düster-prophetischer mit dem Menschen wie mit der Kunst besaß sie Traum habe ihn gewarnt, gab er der erstaunten die richtige Fähigkeit: sich einlassen und sich ein- Familie als Begründung an. fühlen zu können, ohne Vorbehalt, zu rätseln, zu enträtseln und zu verstehen. Die Familie blieb in Nürnberg, der Heimatstadt. Sie durchlebte, durchlitt und überstand dort den Krieg: Nachkriegszeit – Aufbruchzeit: Studium und Ab- die verheerenden Luftangriffe, die dem Standort schluss, Familiengründung. Mein Vater, ein zu- der Rüstungsindustrie und der ‚Stadt der Reichs- nächst brotloser Philosoph, der durch den Wehr- parteitage‘ galten, die Einsätze in der Kriegspro- dienst bedingt erst nach ihr sein Studium beenden duktion, den Arbeitsdienst. Die herzkranke Mutter konnte, sollte später langjähriger Leiter der katho- starb in den ersten Kriegsjahren, ohnehin hatte lischen Rabanus-Maurus-Akademie in Frankfurt nur selten das Geld für Arzt oder Medikamente sein. Auch er verdankte seine Bildungskarriere gereicht. Wenig später starb die älteste der vier übrigens einem „guten Geist“: bei ihm war es die Schwestern bei Geburt ihres ersten Kindes, auch Lehrerin, die dem Sohn einfacher Eltern von der hier war kein Geld für Arzt oder Klinik da, um sie Dorfschulklasse heraus zu Abitur und Studium zu retten. verhalf. Im Sommersemester 43, kurz nach der Hinrich- Die junge Familie wohnte bei Vater und Schwes- tung von Sophie Scholl, fing meine Mutter in Mün- tern in Nürnberg und schlug sich irgendwie durch. chen zu studieren an. Das Wintersemester 43/44 Kleine Artikel für eine Metzgerszeitung, die meine begann sie noch in Wien, wenig später vom Krieg Mutter in dieser Zeit schrieb, waren für ihre spä- unterbrochen. Von der Kunstgeschichte wechsel- ter recht erfolgreiche Autorinnenkarriere vielleicht te sie bald zur Psychologie, vom Artefakt zu den schon der Probelauf… Menschen, denen sie sich lebenslang mit all ih- ren Kräften widmen sollte. Doch auch die Freude Nachkriegszeit – Trümmerzeit: Scharen von Ge- an Kunst und Kultur, die Neugier auf das Andere, flüchteten und Vertriebenen, umherirrende Heim- das Fremde erhielt sie sich als eine bereichernde kehrende aus Krieg und Gefangenschaft, Hunger, Herausforderung, ob sie nun unermüdlich durch Mangel, Kälte und Not. In Frankfurt linderte ers- Museen und Kirchen zog, Reisen unternahm, so- te Nöte die „Katholische Volksarbeit“, entstanden bald und solange sie das konnte, oder, ungläubig zwischen 1945 und 1947 aus Suppenküche und staunend über sich selbst, hoch oben auf der Chi- Bahnhofsmission und bald durch ein Jugendwerk nesischen Mauer stand. Denn für die Interaktion und Bildungsangebote erweitert. Heute, ein Drei- 14
IFZ e. V. 2021 / 2022 vierteljahrhundert später, bietet sie als „Haus der A Volksarbeit e.V.“ (HdV) eine Vielzahl von Hilfen für alle erdenklichen Lebens- und Krisensituationen * an. Mit Gründung des „Familienbildungswerks im HdV“ 1954 trat meine Mutter in Frankfurt auf den Abwechslung Achtsamkeit Plan. Sie wurde mit dessen Aufbau betraut und Akzeptanz sollte es erfolgreiche Jahrzehnte lang leiten. Vom Alle Trümmer-Nürnberg über ein Gastspiel in Mün- Alles chen, wo vergeblich auf eine Assistentenstelle für Allg. Reflexion von Privilegien den Vater gehofft worden war, ging es ins bom- Allgegenwärtig benversehrte Frankfurt weiter, wo sie wie so viele Alter andere kräftig Pionier*innenarbeit leistete. Andersartigkeit Andersgeschlechtlich Der Bedarf war immens. Die Menschen, aus der Anderssein, Anders Anerkennung Antiableismus Bahn geworfen, desillusioniert und verstört, hun- verschiedener Gruppen Antiadultismus gerten nach Zuspruch, Orientierung und Rat. Eine Antidiskriminierung Erziehungsberatungsstelle mit Therapieangebo- Antirassismus ten entstand, eine Heilpädagogische Kindertages- Antisexismus stätte kam dazu. 1957 folgte ein „Hauswirtschaft- Anwerbung licher Sonderlehrgang für noch nicht berufsreife Arbeitsvermittlung Mädchen“ – eine Art Vorläufer der BVB-Reha des Aufklärung IFZ. Eine „Elternschule“, auch das war damals Auseinandersetzung mit noch neu, wandte sich explizit auch an die Vä- Vielfältigkeit Ausgrenzung ter. Die Atmosphäre war familiär, die Einrichtung, Äussere Erscheinung christlich geprägt, stand allen Rat- und Hilfesu- Austausch chenden offen. 1962 erschien das erste Gusti Gebhardt-Buch, * Assoziationen zum Begriff „Diversität“ das al punto den Zeitgeist traf: „Von Fünf bis Fünf- undzwanzig. Geschlechtserziehung in Gesprächen.“ 15
Erinnerungen an „die Gusti“ – Aus dem Leben der Gründerin und aus den Anfängen des IFZ Im verkrampft-verklemmten Deutschland einer In diesem Sinn verstand sie auch ihre langjährige Zeit, die noch tief im Geist der fünfziger Jahre Tätigkeit im Rundfunkrat des HR, die sie freudig steckte, kam es für viele wie ein Befreiungsschlag ausfüllte, solange sie dies konnte: als Möglich- – heute kaum vorstellbar: da war eine katholische keit, durch die Programmgestaltung Themen pu- Autorin, die klar und verständlich über Aufklärung blik zu machen, die aktuell und hilfreich waren für sprach, Orientierung gab und Eltern von ihren die, denen sie sich verpflichtet fühlte, und als ein Zweifeln und Ängsten befreite. Das Buch erreich- Teil des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags, te hohe Auflagen und wurde in mehrere Sprachen den sie sehr ernst nahm. Denn sie hatte ja selbst übersetzt, weitere Bücher zu Erziehung, Ehe und durch ihren guten Lehrer erfahren, wie wichtig die Familie folgten. Bildung als Schlüssel zu einem autonomen Leben ist. Auf großes Interesse stieß sie auch mit dem The- ma „Legasthenie“, das sie im Fernsehen – ein Ende der sechziger Jahre tauchte mit der „Ha- für sie neues Medium – frühzeitig als eine spezi- schwiese“, wie sie in den Anfängen hieß, und den fische Störung vorstellte. „Immer diese dummen ersten Fixer*innen eine neue, rasch ausgreifende Fehler“, eine zehnteilige Dokumentation im ZDF Problematik auf. Die Drogenszene entstand, sie 1967/68 mit hoher Sehbeteiligung und lebhafter wuchs und etablierte sich – Frankfurt war früh ein Resonanz, machte die Lese-Rechtschreibstörung Drogen-Fokus und ist es noch. Die jungen Abhän- vielen Familien bekannt und zeigte anhand einer gigen, die nach und nach hilf- und orientierungslos speziellen Lernmethode Wege zur Behandlung in den Beratungsstellen anlandeten, waren eine und Förderung der betroffenen Kinder. Eltern wurde ganz eigene, stark fordernde, kräfteverzehrende so die Sorge genommen, sie hätten ein „dummes Klientel, die mit ihren Ansprüchen die Grenzen Kind“, und die Kinder wurden aus dem Kreislauf der herkömmlichen Therapie- und Beratungsar- von Misserfolgen und Entmutigung erlöst, in dem beit sprengten und nach eigens für sie entwickel- sie durch solche Zuschreibung steckten. Wie mit ten Hilfsangeboten verlangten. So entstand 1971, ihren Publikationen und den zahlreichen Vorträ- noch unter dem Dach des Familienbildungswerks, gen, die sie zu aktuellen Themen hielt, kam es ihr die Hermann-Hesse-Schule, wie sie von der ers- auch hier darauf an, auch jenseits der Schwelle ten Schüler*innengeneration getauft worden war, der Institution möglichst viele Ratsuchende an als deutschlandweit einzige Schule für Drogenab- ihren Erfahrungen aus dem Beratungsalltag teil- hängige, die dort ihre unterbrochene Bildungskar- haben zu lassen. riere fortsetzen und einen staatlich anerkannten Abschluss erwerben konnten. Andere Angebote 16
IFZ e. V. 2021 / 2022 kamen dazu, doch sie reichten nicht aus – eine eigene, auf die Suchthilfe und mit ihr assoziierte Konfliktfelder fokussierte Einrichtung musste her. Wieder ein Stück Pionier*innenarbeit. Es wurde geplant, Mitarbeitende wurden gefun- den, auf teils unkonventionelle Art. So heuerte meine Mutter einen Ex-Seemann für die Suchthil- fe an, noch ehe er sein Psychologendiplom in der Tasche hatte. Mühsam – wie zu allen Zeiten – war natürlich die Beschaffung von Geld. Es gelang ihr oft erst im letzten Moment, die nötigen Mittel aufzutreiben. Klinken mussten geputzt, potentiel- le Geldgeber*innen mussten hartnäckig belagert werden, zähe Überzeugungsarbeit stand an. Doch wenn es um die Verwirklichung ihrer Projekte ging, konnte „die Gusti“, bei all ihrem Charme, erstaun- lich lästig sein. „Wenn man die Gusti Gebhardt zur Vordertür rausschmeißt, kommt sie zur Hintertür wieder rein“– diese seufzende Feststellung des © Arez Ghaderi damaligen Sozialministers Armin Clauss hätte auch der Stadtkämmerer Ernst Gerhardt unter- schrieben, mit dem sie eine fast freundschaftliche und für ihre Projekte durchaus lukrative Bezie- hung verband. Wie bei ihren „Drogenleuten“, bei denen sie han- 1975 erfolgte dann die Gründung der Jugendbe- delte, als die Dramatik dieses Problems gerade ratung und Jugendhilfe (JJ) als ein e.V., der heute erst ins allgemeine Bewusstsein drang, erkannte ein erfolgreicher Träger mit umfassenden ambu- meine Mutter auch bei den „Gastarbeitern“, wie lanten und stationären Angeboten im Bereich der sie in den 70er Jahren hießen, schon früh, dass Jugend-, Eingliederungs- und speziell der Sucht- die herkömmlichen Hilfsangebote vielfach an ih- hilfe ist. nen vorbeigingen, sie enttäuschten oder gar nicht 17
Erinnerungen an „die Gusti“ – Aus dem Leben der Gründerin und aus den Anfängen des IFZ erst erreichten. Es scheiterte an den Sprachbarri- Er begann 1975 in einer ehemaligen Schweizer eren und an gegensätzlichen Vorstellungen über Bank an der Bockenheimer Landstraße, einem das, was der und die jeweils andere zu „erbringen“ nüchternen Zweckbau mit spärlichem Garten als habe. Die Gesellschaft war seinerzeit, über ein Außenbereich. Die Geschäftsstelle, eine Sozial- halbes Jahrhundert ist es ja jetzt schon her, auf beratung in verschiedenen Sprachen – eine sei- dieses Szenario nicht eingestellt: dass die erste nerzeit geradezu revolutionäre Idee –, die Erzie- Migrant*innengeneration nach ihrem „Gastspiel“ hungsberatung, der Hort und ein Kindergarten nicht einfach die Bühne verlassen würde, um still- wurden dort etabliert. Der Kindergarten landete im schweigend in die Heimatländer zurückzukehren, obersten Stock – für die vitalen, bewegungshung- sondern dass sie blieb – und mit ihr ein gewalti- rigen, teils traumatisierten Kinder nicht gerade der ges Stück Arbeit, das vor diesen Menschen lag, ideale Ort, denn zum ‚Auslauf‘ ging es allenfalls in um auch innerlich anzukommen in einem noch den nahegelegenen Grüneburgpark. Die Leitung immer fremden Land. Fragen, Nöte und Probleme des Kindergartens übernahm Ortrud Heyme, eine wurden auf einmal sichtbar, die eigener Antworten frühere Schauspielerin, die unglaublich engagiert, bedurften – und eine solche Antwort war eine Ins- kreativ und behutsam auf ‚ihre Kinder‘ einging und titution, speziell konzipiert für Familien mit Migrati- sie auch unter den schwierigen Erstbedingungen onshintergrund. Das IFZ war geboren, wenn auch förderte. Gerade frisch psychologie-diplomiert zunächst nur im Kopf seiner Gründerin. und auf dem Sprung zur ersten Stelle, habe ich sie aus nächster Nähe, sprich der harten Praxis Von der ‚Internationalen Elternschule‘, wie sie in heraus erlebt, denn ich fungierte etliche – für mich ihren Anfängen hieß, mit ihrem überschaubaren äußerst anstrengende – Wochen als ihre Helferin. interkulturellen Team im provisorischen Domizil, Aber auch in den vielen Jahren danach habe ich bis zum weit über Frankfurt hinaus bekannten und ihren Einsatz für die IFZ-Kinder und deren Eltern geschätzten IFZ mit seiner Vielzahl professionel- bewundert. ler Mitarbeitender und seiner Kernkompetenz des kultur- und migrationssensiblen fachlichen Han- 1976 zog das IFZ in die Bockenheimer Falkstraße delns von heute war es ein langer Weg – ein von um. Geschäftstelle unten, Hort in der Mitte, die Er- Aufbruchstimmung getragener, oft aber auch mü- ziehungsberatung unterm Dach im vierten Stock, hevoller Weg, der von vielen Engagierten Schritt nicht unbedingt barrierefrei und für kommende für Schritt gebahnt und bewältigt worden ist und Klimakrisen gewiss nicht gewappnet, wovon sich der nach wie vor, Tag für Tag, neue Herausforde- ihr späterer Leiter, Mitarbeiter der ersten Stunde, rungen bringt. allerdings nicht abschrecken ließ – im Gegenteil: 18
IFZ e. V. 2021 / 2022 er blieb dem IFZ engagierte Jahrzehnte lang er- geschafft, all das, was sie bewegt und geschaffen halten. 1977 kam als ‚Flaggschiff‘ der Wiesenhüt- hat, darin unterzubringen? Ihre zwei Kinder kamen tenplatz dazu, und auf diese ‚Beute‘ war meine jedenfalls nicht zu kurz, sie haben sich selten be- Mutter besonders stolz. Erst im letzten Jahr wurde klagt. Und auch für Freude gab es in ihrem Leben der denkmalgeschützte Bau, intensiv genutzt und ja reichlich Platz – für Freude an den Menschen, abgenutzt, an die Stadt zurückgegeben. Zahlrei- an den Dingen, an einem Gang über den Trödel- che Erweiterungen folgten in den Jahren danach, markt, an einem schönen Augenblick… und ein Ende ist noch nicht abzusehen. Für Freude, die sie verbreitete und die in denen Das IFZ war das letzte Projekt meiner Mutter, und nachlebt, die „die Gusti“ gekannt haben. es lag ihr wohl am meisten am Herzen. Ich erinnere mich an die Begeisterung, mit der sie einige Sätze Dr. Elisabeth Gebhardt-Jaekel, stellvertretende Türkisch lernte und sich über jeden Zuwachs für Vorstandsvorsitzende des IFZ e.V. ihre multikulturelle IFZ-Familie freute – eine Fami- lie, in der ganz unterschiedliche Persönlichkeiten und Schicksale in einem Ziel zusammenfanden. Eine chilenische Kinderärztin, geflohen vor dem Pinochet-Regime, ist mir in besonderer Erinne- rung, eine großartige Frau. Aber es waren auch so viele andere, aus allen möglichen Ecken der Welt, die das IFZ bereicherten. 1977, im Jahr der offiziellen Gründung des IFZ, gab meine Mutter die Leitung ab, noch ehe sie Kenntnis von ihrer Krebserkrankung hatte. Die Jahre, die ihr noch blieben, hat sie intensiv ge- nutzt, froh über jeden produktiven Moment, der ihr noch gegönnt war. Wenige Wochen vor ihrem 64. Geburtstag, im Februar 1985, ist sie gestorben. Wenn ich auf das Leben meiner Mutter zurück- schaue, frage ich mich: wie hat sie es eigentlich 19
Buchtipp Buchempfehlung zum Thema „Flucht und Migration“ „Der Platz an der Sonne" von Christian Torkler Der 2018 veröffentlichte Roman erzählt die Geschichte von Josua Brenner. Ein junger Mann, der an das Scheitern nicht glaubt, obwohl er allen Grund dazu hätte: Er lebt 1987 in Berlin - der Hauptstadt der Neuen Preußischen Republik, die nach dem dritten Weltkrieg schon lange in Trümmern liegt. Als er sich für den langen Weg in das rei- che und sichere Afrika entscheidet, nimmt die umgekehrte Flucht- geschichte seinen Lauf. Sie ist spannend, dramatisch wie humorvoll und wirkt dabei durch die deutsche Perspektive provozierend nah. Die Details zu Schlepper- und Abschottungspraktiken schockieren, weil sie alles andere als frei erfunden sind - sie finden nur auf der anderen Seite des Mittelmeeres statt. "Stereotype Darstellungen werden hier unter umgekehrten Vorzei- chen weitergeführt (...). So behält das kontinentale Doppelporträt den faden Beigeschmack, dass auf einer zweiten Ebene typisierte Vorstellungen des afrikanischen beziehungsweise europäischen Kon- tinents fortgeschrieben werden." (Deutschlandfunk, 06.12.2018) "Christian Torkler (...) erzählt auf leichtfüßige Weise vom unzerstör- baren Menschentraum eines besseren Lebens in einer besseren Welt. Er erzählt von einem Traum, der tödlich enden kann, wenn man ihn in die Tat umsetzt." (Bettina Ruczynski, Sächsische Zeitung, 08.11.2018) 20
D IFZ e. V. 2021 / 2022 iskriminierungskritische Sprache – Wir sind auf dem Weg Unsere Sprache beeinflusst unser Denken, sie Wortes zudem anzeigen, dass dieses rassistisch entspringt aber auch unseren Gedanken und oder anders diskriminierend konnotiert ist. Aller- gibt diese wieder. Sie formt uns und wir können dings nutzen wir diese Worte ohnehin nur, wenn sie formen. Ein ausgesprochenes oder niederge- unbedingt notwendig, so dass wir probieren, diese schriebenes Wort ist immer als Handlung zu wer- gänzlich zu überwinden. Doch welche Formen der ten. Daher sehen wir es als eine unserer großen Diskriminierung transportieren wir weiterhin mit Verantwortungen, auf unsere Sprache im Detail unserer Sprache? zu achten. Sie ist leider durchzogen von diskri- minierenden Formulierungen, und es scheint un- So haben wir uns geeinigt, dass wir vor allem auf möglich, diskriminierungsfrei zu sprechen oder Bezeichnungen von Personen mit dem Suffix „– auch zu schreiben. Allein unsere Unkenntnis be- ling“ verzichten wollen. Denn schaut man die Be- stimmter Zusammenhänge oder Hintergründe deutung des Suffix „–ling“ nach, so finden wir im ist Ursache hierfür. Aber wir können uns auf den Duden folgenden Hinweis: Weg machen hin zu einer zumindest diskriminie- rungssensiblen Sprache. Dies ist auch Anspruch „(…) kennzeichnet in Bildungen mit Adjektiven – der vorliegenden Veröffentlichung. Dabei befinden seltener mit Substantiven oder Verben – eine Per- wir uns in einem Lernprozess, werden vieles noch son, die durch etwas (Eigenschaft oder Merkmal) übersehen und manches vielleicht irgendwann charakterisiert ist (Beispiel Frechling, Schönling, anders denken, anders beurteilen und als Ergeb- Schützling)“ nis anders verwenden. Und weiter heißt es: „Es gibt im Deutschen eine Und zumindest ein Anfang ist gemacht: So ganze Reihe von Substantiven mit dem Suffix – herrscht im Internationalen Familienzentrum e.V. ling (…) Solche Bildungen haben häufig stark ab- Einigkeit darüber, dass wir eine geschlechterge- wertenden Charakter (…).“ rechte Sprache verwenden wollen, in der sich so viele Menschen wie möglich wiederfinden und an- Um es klar zu sagen: Auch wenn uns das häu- gesprochen fühlen. Dabei probieren wir, wenn im- fig nicht bewusst ist, so werden Begriffe, die sich mer möglich, geschlechtsneutrale Bezeichnungen auf Personen beziehen und auf „–ling“ enden, von zu finden. Zudem nutzen wir das Genderstern- uns als abwertend wahrgenommen, als defizitär. chen, um auch Geschlechter zu symbolisieren, die Zudem schreiben sie der betroffenen Person eine durch die gewöhnliche Grammatik nicht abgebil- identitätsstiftende Charaktereigenschaft zu. Um det werden. Ein Sternchen kann zu Beginn eines es noch klarer zu sagen: Worte wie *Flüchtling, 21
*Flüchtlingsfamilie etc. sind also klar diskriminie- Welche Begriffe können wir alternativ nutzen? rende Formulierungen. Sie führen dazu, dass wir „Mann/Frau/Person/Kind mit Fluchterfahrung“ ist Menschen mit Fluchterfahrung nur oder zumin- eine Möglichkeit von vielen. Wichtig ist aber vor al- dest sehr stark in nur einem Aspekt ihrer Identität lem, dass wir uns überlegen, was wir ausdrücken wahrnehmen - nämlich in dieser Erfahrung – und wollen und welche Infos zur Identität der Person diesen dann auch noch als nachteilig einstufen.1 überhaupt im Kontext relevant sind (z.B. ist für ein Gespräch vielleicht gar nicht die Fluchterfahrung Es kann dabei nicht die Aufgabe der Personen mit als solche relevant, sondern nur die Sprachkennt- Fluchterfahrungen sein, dass sie uns die Facet- nisse. Dann reicht es, diese zu benennen.) Wir tenhaftigkeit ihrer Identität erst wieder vor Augen neigen dazu, bestimmte Merkmale einer Person führen müssen, dass sie beweisen müssen, wie zu benennen, auch wenn sie völlig irrelevant für viele Kompetenzen und Ressourcen sie mitbrin- das Gespräch sind. Dann müssen wir uns fragen, gen, teilweise auch auf Grund der Fluchterleb- was wir genau damit bezwecken wollen und kön- nisse. Es ist die Aufgabe der von rassistischen nen die Aussage daraufhin wahrscheinlich kon- Strukturen Privilegierten, an ihrer Wahrnehmung kretisieren bzw. verändern und damit vorurteilsbe- zu arbeiten. Und dies geschieht nicht zuletzt über wusster gestalten. Darauf gilt es im (Berufs-)Alltag ihre Sprache. Und ja, das bedeutet, ein wenig zu achten und uns einander ggf. aufmerksam zu Mühe aufzubringen. Diese ist für die sprechende machen. Person jedoch recht überschaubar und viel klei- ner, als wenn die betroffene Person sich aus einer Als IFZ nehmen wir uns vor, stetig über unser defizitorientierten Zuschreibung herausarbeiten sprachliches Handeln nachzudenken und halten muss. Kurz gesagt: an seiner Sprache zu arbei- Sie hierzu auf dem Laufenden. Zudem bitten wir ten ist zumutbar. Der strukturelle Rassismus ist es Sie, dass Sie uns Rückmeldungen und Anregun- nicht. An unserer Sprache zu arbeiten, sie zu ent- gen zukommen lassen, sollten Sie diskriminieren- wickeln und auf sie zu achten ist sogar zwingend de Sprache in unserer Veröffentlichung oder an notwendiger Teil einer diskriminierungsbewussten anderer Stelle entdecken. Hierfür bedanken wir Arbeit und damit einer unserer Kernaufträge. uns im Voraus! Anna Willich, Koordination Öffentlichkeitsarbeitti 1 Vergleiche hierzu Aladin El-Mafaalani, Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismus- kritischen Widerstand; Köln 2021 22
„J IFZ e. V. 2021 / 2022 a, was sollen sie denn machen?“ Situation geflüchteter Familien im Spannungsfeld von Kindeswohlgefährdung In dem folgenden Artikel versuchen wir zu be- sicher, zumindest vor den Gefahren, die sie aus schreiben, welche Situationen die Menschen ihrer Heimat kannten. Hier gab es andere „Ge- vorgefunden haben, als sie nach Deutschland fahren“ und Probleme, von denen sie nie gehört gekommen sind und noch immer erleben. Wir hatten oder nicht dachten, damit in Berührung zu beschreiben, welche Situation die Jugendämter kommen: Läuse kannten sie, die kamen und gin- vorgefunden haben, als sie mit den Problemen gen oder man lernte damit zu leben; Probleme in der Kinder in ihren Familien konfrontiert wurden der Schule – auch damals fanden die Lehrer, die und wir beschreiben, welche Situation sich für älteste sei „zu lebendig“ und wenn man krank war die Familienhelfer*innen im Kontakt mit den ge- musste man aushalten bis der Arzt ins Dorf kam. flüchteten Familien ergeben hat. Dies ist kein wis- Die Gefahren in Deutschland hießen „Termine“, senschaftlicher Artikel im Sinne einer Studie, die „Krankenversicherung“, „Elternabende“ oder „Por- eine gewisse Aussagekraft aufgrund empirischer nografie auf dem Handy der Kinder“. Erhebungen hat. Wir beschreiben Situationen aus verschiedenen Fällen und aus Sicht der handeln- *** den Personen. Wir versuchen ein Dilemma zu be- Was sollte er denn jetzt machen? Er wollte sich schreiben, in dem sich die handelnden Personen auf die Schienen legen. Seine Kinder waren weg befinden, daher die Problemstellung: Ja, was sol- und er durfte sie nicht sehen. Er wusste nicht ein- len sie denn machen? mal, wo sie waren. Er hatte ihnen nie etwas getan und sich so gut er konnte um sie gekümmert. Er *** konnte aber nicht so, wie er wollte. Das alles war …und dann kam die Polizei und das Jugendamt zu viel für ihn. Nachdem er aus der Psychiatrie und hat die Kinder mitgenommen… Die Eltern entlassen wurde, wusste er nicht wohin. hatten sich geschlagen. Das war ja schon immer so. Sie hatte sich geärgert. Mit den Läusen hatte alles angefangen. Eigentlich hatte alles damals in Kundus begonnen. Er war 20 Jahre älter als sie, aber das war einfach nicht so wichtig. Es hätte sie schlimmer treffen können. Er hatte einen guten Job bei den Deutschen bekommen. Der Krieg war © Torsten Wyrwa schlimm genug und die ständige Angst und die brutalen Männer. Sie schlugen ihn, traten ihn, fol- terten ihn und bedrohten seine Familie. Sie konn- ten nicht bleiben. Was sollten sie denn tun? In Deutschland war alles anders. Sie waren hier 23
„Ja, was sollen sie denn machen?“ Situation geflüchteter Familien im Spannungsfeld von Kindeswohlgefährdung Von der Notunterkunft, wo er vorher war, schick- aber noch blöder, die sind zu fünft. Manchmal fühlt te man ihn in die nächste, wo er erstmal bleiben sie sich, als sei sie im Gefängnis. Sie fühlt sich konnte oder musste. Über Umwege erreichten eingeengt, vor allem weil sie sich nach 22:00 Uhr ihn dann all die Briefe von der Polizei, dem Ge- nicht mehr in den Fluren oder Spielräumen aufhal- richt, dem Jobcenter, der Krankenkasse, dem ten darf. Allgemein ist S. jedoch sehr glücklich in Jugendamt und wem auch sonst noch. Er konnte der Einrichtung. Dass so viele Menschen in einem das alles nicht lesen oder verstehen, doch ihm war Gebäude wohnen, macht ihr nichts aus, ganz im klar, dass alle etwas von ihm wollten und er dem Gegenteil, sie fühlt sich damit wohl und nie alleine. nicht gerecht werden konnte. Seit er seine Kinder wieder manchmal sehen darf, geht es ihm besser. *** Dem 11 jährigen Mädchen gefällt es grundsätzlich gut in der Unterkunft, in der sie zusammen mit ih- © Patricia Wedel rer Mutter lebt. Sie freundete sich schnell mit an- deren Kindern aus der Einrichtung an. Es gibt im Gebäude viele Räume, in denen sie gemeinsam spielen können. Da sich die Einrichtung direkt an der Hauptstraße befindet, ist es sehr gefährlich außerhalb zu spielen. Einen Spielplatz gibt es für die Kinder nicht. Hinter dem Gebäude gibt es je- *** doch einen freien Platz, auf dem die Kinder gerne Das Baby war erst 4 Wochen alt. Die Mutter war in gemeinsam mit dem Ball spielen und Fußballtur- großer Sorge, weil es so viel geschrien hatte. Im niere machen. Die Einrichtung bietet zudem Tanz- Krankenhaus wurde eine Ohrenentzündung fest- und Sportkurse an sowie einen Fernsehraum und gestellt und nach 2 Tagen konnten sie wieder ent- die Möglichkeit Musik zu machen. Für Kinder bis lassen werden. Zum Glück gab es da jemand, der zu zwölf Jahren wird eine Kinderbetreuung ange- die Sprache konnte. Weitere 2 Tage später muss- boten, wo sie allerdings ungern hingeht, da sie te sie zur Nachuntersuchung bei einer Fachärz- lieber ohne Aufsicht und selbstständig entschei- tin. In Begleitung der Familienhilfe gingen sie zu den möchte, was sie unternimmt. Sie lebt in ei- dem Termin, sonst hätte wahrscheinlich die ältere nem Zimmer mit ihrer Mutter und für sie ist das Tochter sie begleiten müssen und deswegen in nicht ausreichend. Wenn ihre Mutter telefoniert der Schule gefehlt. Hier wurde nach der Kranken- oder Besuch hat, kann sie ihre Hausaufgaben kassenkarte des Babys gefragt, die es nicht hatte. nicht in Ruhe erledigen. Bei ihrer Freundin ist es Die Karte der Mutter reichte nicht. Nach wieder- 24
IFZ e. V. 2021 / 2022 holter Intervention der Familienhelferin und Tele- ner Augenärztin. Sechs Wochen Wartezeit waren fonaten mit der Krankenkasse und der Zusage der schon eher ein Glücksfall. Eigentlich nur Routine, Kasse, dass sie eine Nummer an die Praxis faxen aber es hatte ja noch nie eine Untersuchung der würden und unter Androhung (!), dass andern- Kinder gegeben. Termine mit dieser Familie wa- falls eine Privatrechnung geschickt werde und es ren eine besondere Herausforderung. Mit zwei gegebenenfalls zu Zwangsmaßnahmen komme, Kindern etwa 45 Minuten an dem vereinbarten wurde die Mutter mit dem Baby zur Ärztin gelas- Ort in der Kälte zu stehen und auf die Mutter zu sen. Nun war es dringend, eine Karte zu beantra- warten, die telefonisch nicht zu erreichen war, die gen. Hierfür verlangt die Krankenkasse allerdings Kinder nicht wussten, wo sie war, Hunger hatten eine Geburtsurkunde. Um für das Baby eine Ge- und für so lange Outdoor-Aktivitäten nicht gut ge- burtsurkunde ausstellen zu können, benötigt das kleidet waren: das erfordert ein besonders hohes zuständige Amt wiederum die Geburtsurkunde Maß an professionaler Distanz, Geduld, fachlich beider Eltern, den Pass und die Heiratsurkunde situativer Reflexion der Möglichkeiten der Klientin. und Unterschrift des Vaters wegen der Namens- Eigentlich sind das die Momente, in denen sich gebung oder eine Erklärung, dass er mit dem Na- die Familienhelferin überlegt, dass Gärtnerin auch men einverstanden sei. Jedoch befand sich der ein schöner Beruf gewesen wäre. Vater nicht im Land, es existierte keine Heiratsur- Dies durfte sich für den anstehenden Termin auf kunde - weder hier, noch in Afghanistan. Auch die keinen Fall wiederholen. Der Termin wurde in den Geburtsurkunde der Mutter war nicht vorhanden. neu angeschafften Familienkalender eingetragen Somit konnte keine richtige Geburtsurkunde be- (mit Bildchen) und in den Terminkalender des antragt werden, lediglich eine Bescheinigung, Handys mit Weckfunktion (eine Stunde vor dem dass das Kind geboren wurde. Zur Vorlage bei der Termin). Sicherheitshalber erinnerte die Helferin Krankenkasse reichte dies jedoch nicht. Sie be- das Mädchen beim letzten Termin nochmal daran nötigten zudem einen Auszug aus dem Geburten- und rief am Abend vorher nochmal die Mutter an. register, welcher auch beantragt werden musste. Sie hatte sich vorgenommen, die Familie abzuho- Die anstehenden Vorsorgeuntersuchungen sind len und dies etwa eine Stunde vorher, sie würden nicht gesichert, zusätzlich sind die Ärzte gehalten, etwa eine halbe Stunde brauchen. Auf das Klin- bei ausbleibenden „U-Untersuchungen“ eine ent- geln und Klopfen sowie das Telefon reagierte nie- sprechende Meldung ans Jugendamt zu machen. mand. Nach einer Weile öffnete ein süßer kleiner Aber was sollte sie denn tun? Junge mit großen Augen im Schlafanzug die Tür. Er war der erste, der wach war… *** Es ergab sich bei der ältesten ein Myopiewert von Es ist sehr schwierig, einen Termin bei einer minus 8,5 Dioptrin. Dies ließ ihre Verhaltensauffäl- Fachärztin zu bekommen, insbesondere bei ei- ligkeiten während des Unterrichts und ihre schwa- 25
„Ja, was sollen sie denn machen?“ Situation geflüchteter Familien im Spannungsfeld von Kindeswohlgefährdung chen Lernleistungen in völlig neuem Licht erscheinen. Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder den Jugendlichen in die Gefährdungseinschätzung *** einzubeziehen und, sofern dies nach fachlicher „Obwohl die Bedingungen in vielen Flüchtlings- Einschätzung erforderlich ist, unterkünften offenbar nicht mit den Kinderrechten 1. sich dabei einen unmittelbaren Eindruck von laut UN-Kinderrechtskonvention zu vereinbaren dem Kind und von seiner persönlichen Umge- sind, stellen diese Unterkünfte über viele Monate bung zu verschaffen sowie bis Jahre den Lebensmittelpunkt für geflüchtete 2. Personen, die gemäß § 4 Absatz 3 des Geset- Kinder, Jugendliche und ihre Eltern dar. Anstelle zes zur Kooperation und Information im Kin- einer gezielten Förderung und einer kindgerech- derschutz dem Jugendamt Daten übermittelt ten Umgebung werden geflüchtete Kinder und Ju- haben, in geeigneter Weise an der Gefähr- gendliche viel zu oft und viel zu lange in Strukturen dungseinschätzung zu beteiligen. untergebracht, in denen mangelhafte hygienische Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefähr- Bedingungen herrschen, sie keine Privatsphäre dung die Gewährung von Hilfen für geeignet und genießen, mit Fremden zusammenwohnen müs- notwendig, so hat es diese den Erziehungsbe- sen und oft diversen Gefährdungsmomenten auf- rechtigten anzubieten. grund nicht abschließbarer Zimmer oder gemein- (2) Hält das Jugendamt das Tätigwerden des schaftlicher Sanitäranlagen ausgesetzt sind. Die Familiengerichts für erforderlich, so hat es das beengte Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erzie- erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit, dass Kon- hungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage flikte eskalieren, wodurch Kinder und Jugendliche sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos nicht nur Zeugen, sondern auch Opfer von Gewalt mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und und Bedrohung werden.“ (Lewek/Naber 2017: 31) kann die Entscheidung des Gerichts nicht abge- wartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, *** das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu neh- § 8a SGB VIII Schutzauftrag bei Kindeswohlge- men. fährdung: (1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhalts- *** punkte für die Gefährdung des Wohls eines Kin- „Wir schaffen das!“ hatte sie gesagt. Die Bundes- des oder Jugendlichen bekannt, so hat es das kanzlerin hatte wiederholt gezeigt, dass sie in der Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Lage war, sich auch gegen parteiinterne Wider- Fachkräfte einzuschätzen. Soweit der wirksame stände durchzusetzen. Sie galt national und inter- Schutz dieses Kindes oder dieses Jugendlichen national als verlässliche Konstante und so wurde nicht in Frage gestellt wird, hat das Jugendamt die sie für hunderttausende Menschen in Not zur Hoff- 26
IFZ e. V. 2021 / 2022 nungsträgerin. Dieses Land hat in seiner jüngeren B (Nachkriegs-)Geschichte wiederholt gezeigt, dass es zu solchen Kraftanstrengungen in der Lage ist. Die „Flüchtlinge“ nach dem Krieg, die „Gastarbei- ter“ und ihre Familien, die „Spätaussiedler“ aus dem Osten von Europa und nun die geflüchteten Personen aus den Kriegsgebieten: Das war eine enorme Herausforderung für die Länder, die Krei- Barrierefreiheit se, die Städte und Gemeinden. Alles Mögliche und Beeinträchtigung Unmögliche wurde zu einer Unterkunft umfunktio- Begegnung niert. Es war nicht möglich, auf alle Belange Rück- Behindertenrecht sicht zu nehmen. Was sollten sie auch machen? Behinderung/en Zeit zum Planen gab es keine. Benachteiligung Im IFZ erinnern sich viele an die Zeit, als die Ju- Bereicherung / Bereichernd gendlichen in Hotels und Containern betreut wur- Bewusstsein den, und wie dankbar diese waren, als wenigstens Bildung Binäre Geschlechterordnung einer mit einem Ball vorbeikam und sie zum Fuß- Breite ball abgeholt hat. Alles andere kam erst später... Bunt Bunte Vielfalt *** Transgenerationale Weitergabe von Gewalt und Trauma C Gewalterfahrungen in der Familie spielen eine Chance entscheidende Rolle, dass Eltern Gewalt (gegen- Chancengleichheit als über ihren Kindern ) ausüben. „Es ist jedoch kei- pädagogisches Ziel neswegs so, dass Kinder von gewalttätigen Eltern Chemie wieder gewalttätig werden oder Kinder von Opfern wieder zu Opfern. Auf jeden Fall kann man jedoch sagen, dass schwere Traumatisierungen der El- tern sich auf den Umgang mit den Kindern auswir- ken.“(Richter-Appelt 2000: 16) „Es ist vielmehr anzunehmen, dass kumulative Be- lastungen durch Minoritätenstatus, ungesicherten Aufenthaltsstatus, mangelnde Integration, finan- 27
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