KAMPF DER SYSTEME Eine neue europäische Football-Liga will den Sport in Europa kommerzialisieren. Die deutsche Liga läuft parallel weiter. Können ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
JULI 2021 Studierendenmagazin für Dortmund KAMPF DER SYSTEME Eine neue europäische Football-Liga will den Sport in Europa kommerzialisieren. Die deutsche Liga läuft parallel weiter. Können beide überleben?
Eins vorab Menschen mit einer Behinderung werden in unserer Gesellschaft oft nicht wahrgenom- men. Im Interview erzählt Inklusionsaktivistin Laura Gehlhaar, was sich in Deutschland ändern muss – und warum sie Behinderten- werkstätten für schönen Schein hält. 10 TEXTPATRICK SCHOLZ FOTODANIELA ARNDT L iebe Leser*innen, der beliebteste Sport in Deutschland ist mit Abstand der Fußball. Auch ich bin großer Fan. Fußball macht Spaß, Fußball ist einfach zu verstehen und Fußball verbindet verschiedenste Menschen. Viele andere Mannschafts- sportarten lassen mich hingegen irgendwie kalt. Die Regeln sind mir häufig zu kompliziert und beim ersten Spiel nicht auf Anhieb zu verstehen. Zu diesen Sportarten gehört American Football. Wie Eventfans beim Fuß- ball, die sich nur die Welt- und Europameisterschaften anschauen, interes- siere ich mich beim Football nur für das eine Großereignis: den Super Bowl. Das Finale der Nordamerikanischen Football-Liga NFL habe ich mir in den vergangenen paar Jahren nicht entgehen lassen. Das liegt weniger am Sport- lichen, sondern vor allem an der Inszenierung: Gerade die Halbzeitshow fas- 26 Sex vor der Ehe? In traditionel- len Familien immer noch tabu. Amina hat sogar überlegt, ziniert mich, wenn das Spielfeld zur Bühne für die größten Musikstars der sich das Jungfernhäutchen Welt wird. Echte Footballfans hören das wahrscheinlich nicht gerne. rekonstruieren zu lassen. Die Geschichte einer Entscheidung. Unser Autor Marcel Brandt ist so ein Fan. Er verfolgt den Sport schon seit vielen Jahren. Ab Seite 14 schreibt er über die Entwicklung der Football- szene in Deutschland und Europa. Darüber, wie eine neue Liga helfen soll, den Sport in Europa weiter wachsen zu lassen und warum es daran trotz- dem Kritik gibt. Außerdem erfahrt ihr in diesem Heft, wie Studierende ein Auslandssemester während der Corona-Pandemie erlebt haben (S. 6) und 34 warum ASMR-Videos immer beliebter werden (S. 30). Für den „Kurts Trip“ nimmt unser Autor Emad Almansour euch mit auf eine Wanderung ins Sauerland (S. 38). Von Klimaschutz bis Hochschulge- Viel Spaß beim Lesen! setz: Die Stimmen junger Men- schen werden zu wenig gehört. Kein Wunder – das Durchschnitts- alter im Bundestag beträgt 53 Jahre. Her mit der Jugendquote!
Inhalt 4 MOMENTE Kurt in der grünen Hölle des Westens 6 WEIT WEG UND DOCH ZUHAUS Studierende über ihr Corona-Auslandssemester 10 SCHLUSS MIT AUSBEUTUNG Inklusionsaktivistin Laura Gehlhaar im Interview 13 KURTS ARBEIT Waran war noch nicht dabei: Eileen ist Tiersitterin 14 EINE CINDERELLA STORY? Wie Europas Football künftig aussehen soll 20 GRÜNDERINNEN Leider gibt es immer noch viel zu wenige 25 SAG MAL, PROF ...? Was tun, wenn uns jemand zum Kuscheln fehlt? 26 DAS ZWEITE ERSTE MAL Wenn das Jungfernhäutchen rekonstruiert wird 30 KRATZ QUIETSCH FLÜSTER Wie ASMR für Entspannung sorgen soll 34 JUGEND AN DIE MACHT Unser Autor fordert eine Jugendquote im Bundestag 37 KURT DAHEIM True Crime für echte Hobby-Sherlocks 38 KURTS TRIP Auf Wanderung: Süßes oder Sauerland? 39 IMPRESSUM Wer was wann wie gemacht hat und Rätsel FOTOMARCO RUHLIG ILLUSTRATIONNANNA ZIMMERMANN & AURÉLIEN GUILLERY COVERBEN HERSHEY/UNSPLASH BACKCOVERAMEER BASHER/UNSPLASH
Schöne Aussicht Am liebsten weit weg. Bis das wieder richtig geht, müssen sich die meisten Studierenden noch gedulden. Der Stadt kann man aber auch im Ruhrgebiet entfliehen. Ganz ohne Maske, Test und digitalen Impfpass. Erholung bietet der Baldeneysteig in Essen oder die Wanderroute durch das Rumbachtal in Mülheim. FOTOMONA BERGMANN 5
I WANT TO BREAK FREE Mehr als ein Jahr erschienen Reisen fast wie eine Utopie. Trotzdem haben sich Studierende getraut, ein Auslandssemester während der Pandemie zu machen. Vier von ihnen reden über die Angst vor Einsamkeit, leere Großstädte und die Sehnsucht nach Normalität. TEXTSOPHIE BRACH FOTOPRIVAT & NORDNORDWEST/WIKIMEDIA COMMONS (CC BY-SA 3.0) Amrei Quincke (25) aus Essen studiert im Master BWL an der Uni Trier und war von Januar bis März 2021 in Mailand, Italien. F ür mich war klar: Wenn ich einen Master mache, mache ich ein Aus- landssemester. Wegen Corona hat mir meine Uni angeboten, zu Hau- se zu bleiben und das Ganze digital zu machen, da die Vorlesungen in Mailand komplett online liefen. Das kam für mich aber nicht infrage – ich wollte das andere Land hautnah erleben. Außer- dem habe ich eine Freundin in Mailand, die mich ermutigt hat, zu ihr zu kom- men. Mit ihrer Hilfe habe ich eine Woh- nung gefunden, die nur fünf Minuten hätte gerne einen längeren Roadtrip ge- von ihrer entfernt war. Ich hatte davor macht. Das ging leider nicht. Auch die mit den anderen Studierenden aus dem typischen Erasmus-Events wie Partys Auslandsprogramm geschrieben. Wir und Ausflüge sind ausgefallen. Das war haben uns alle nacheinander entschie- ein bisschen schade. den, einfach zu fahren und das Risiko zusammen einzugehen. Meine italienischen Mitbewohner wa- ren zumindest sehr nett und haben mir Meine Einstellung war immer: Ich den italienischen Lifestyle vorgelebt. kann jederzeit zurück nach Hause. Au- Sie haben mir zum Beispiel ausgetrie- ßerdem hätte es in Mailand gute Kran- ben, meine Spaghetti mit einem Löffel kenhäuser gegeben. Obwohl die Pande- zu essen. Jetzt drehe ich sie nur noch mie Bergamo in der Nähe von Mailand mit der Gabel auf. vor einem Jahr richtig hart getroffen hat, hatte ich keine Angst. Als die ers- LEERES MAILAND, ten Lockerungen kamen, saßen wir mit NIEDRIGE MIETEN zehn Leuten wieder zusammen. Das war schön, weil wir ein Stück Norma- Einen Vorteil an Corona gab es tatsäch- lität erreicht hatten. Abgesehen davon lich: Mailand war deutlich leerer. Die konnten wir kostenlose PCR-Tests von Domplatte war wie leergefegt. Sonst ist der Uni aus machen. sie voll mit Touristen. Auch die Mieten waren niedriger. Ich musste 150 Euro Mailand durften wir am Anfang nicht weniger zahlen als üblich. verlassen, weil es eine rote Zone in Ita- lien war. Das heißt, die Ansteckungs- Ich bereue es nicht, nach Mailand gegan- zu Hause zu bleiben. Aber ich kriege gefahr war sehr hoch. Später sind die gen zu sein. Der Freund meiner besten meine Studienzeit nicht zurück. Ich bin Infektionszahlen gesunken. Dann sind Freundin hat mir aber gesagt, wie unso- echt froh, dass ich die für ein Auslandse- wir an den Comer See gefahren. Ich zial ich wäre. Hier hätte jeder die Pflicht, mester nutzen konnte. 6
Matthäus Fizon (25) studiert Englisch und Französisch auf Lehramt an der RUB und war von Oktober 2020 bis Juni 2021 Teaching Assistant an einer Schule in Charlotte, North Carolina, USA. M ein Auslandssemester war schon bei der Einreise ziemlich aufre- gend. Die USA sind da sehr streng. Ich hatte Sorge, dass ich es gar nicht erst ins Land schaffe. Als ich in Düsseldorf am Flughafen war, musste die Dame an der Ausreisekontrolle erstmal telefonieren und fragen, ob ich wirklich einreisen darf. Letztendlich hat alles geklappt und ich konnte aufbrechen. So oder so hätte ich für mein Studium ins Ausland gemusst. Zudem hatte ich keine Lust auf noch ein Corona-Semes- ter in Deutschland. Deswegen bin ich Teaching Assistant in den USA gewor- den. Das ist wie ein Praktikum an einer Schule – nur mit mehr Verantwortung. Ich durfte sogar eigene Unterrichts- stunden leiten. Was die Corona-Beschränkungen an- ging, hatte ich Glück. Im Prinzip war in North Carolina alles offen: Restaurants, Bars und zeitweise auch die Schulen. In meinen ersten Wochen im Oktober lief der Unterricht noch in Präsenz. Das war eine große Umstellung für mich. Aus dem Homeoffice-Betrieb in Deutsch- land in einen echten Arbeitsalltag zu Fall die ganze Familie anstecke. Deswe- wechseln, war hart. Als ich nach meinem gen bin ich später in ein Airbnb gezo- ersten Tag nach Hause gekommen bin, gen. Über das Internet habe ich neue habe ich mich direkt ins Bett gelegt und Leute in der Umgebung kennengelernt, fast zehn Stunden geschlafen. Weil die mit denen ich viel nach der Schule ge- Fallzahlen aber wieder stiegen, mussten macht habe, zum Beispiel Barhopping die Schulen bis Februar schließen. Seit- in Charlotte. dem haben sich immer mehr Menschen impfen lassen, sodass die Kinder wieder Anfangs hatte ich Angst vor den ho- zur Schule gehen konnten. hen Arztrechnungen in den USA, falls ich an Covid erkranken würde. Zum men darf. Genauso problemlos lief die CORONA-IMPFUNG Glück war ich über mein Austausch- zweite Impfung später. IM DRIVE-IN programm gut versichert, sodass ich im schlimmsten Fall nicht an den me- Meine Zeit in den USA habe ich auch für Meine Gastfamilie hatte Sorgen wegen dizinischen Kosten bankrottgegangen Reisen genutzt. Über die Springbreak der Pandemie. Irgendwann haben sie wäre. Im März habe ich sogar meine war ich mit einem Mietwagen in Colo- nichts mehr unternommen. Für mich erste Impfung bekommen, weil Lehrer rado unterwegs. Anfang Februar war ich war es dann nicht mehr leicht, rauszu- als „Frontline Worker“ gelten. Das lief mit ein paar Deutschen in Miami. Weil gehen. Meistens habe ich das mit einem wie in einem McDonald’s-Drive-in. Kei- die Schule noch online lief, haben wir Un- schlechten Gefühl gemacht. Schließlich ner hat gefragt, ob ich die Impfung als terricht vom Strand aus gemacht. Ohne wusste ich, dass ich im schlimmsten Nicht-Amerikaner überhaupt bekom- Corona wäre das so nie passiert. 7
Petra Nennig (25) studiert Grundschul- lehramt in Regensburg und war von Sep- tember 2020 bis Februar 2021 in Prag, Tschechien. I n meinem Auslandssemester habe ich etwas Besonderes gewagt: Ich habe mir ein Haus mit bis zu 20 Leu- ten geteilt – und das während einer Pandemie. Für das Auslandssemester in Prag hat- te ich mich schon im November 2019 angemeldet, also vor Corona. Als die Pandemie anfing, habe ich immer ge- dacht: Nach dem Sommer hat sich das bestimmt erledigt. Im Herbst hat sich abgezeichnet, dass es nicht vorbei sein wird. Ich bin trotzdem gefahren und habe mich sicher gefühlt. Es war zunächst schwierig, Leute ken- nenzulernen. Am Anfang habe ich in einer Dreier-WG gewohnt, die ich über Facebook gefunden hatte. Mein Mitbewohner war schon Mitte 30 und meine russische Mitbewohnerin musste irgendwann ausziehen, weil sie Probleme mit ihrem Visum hatte. Deshalb habe ich mich für Communi- ty Living entschieden. Da habe ich mir mit 15 bis 20 Mitbewohnern Wohn- zimmer und Küche geteilt. Auf diese Art habe ich einige Tschechen, aber auch viele andere internationale Stu- dierende kennengelernt. Das hat mein Auslandssemester gerettet. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich früher abge- In unserem Haus gab es mal einen Co- reist, weil ich in meiner alten Woh- rona-Fall. Dann mussten wir uns alle nung vereinsamt wäre. Auch die Uni testen lassen und in Quarantäne gehen. war komplett digital. Es gab fast keine Richtige Sorgen habe ich mir trotzdem Erasmus-Veranstaltungen. nicht gemacht. Ich hatte zumindest die Gewissheit, dass ich nicht weit von CORONA-FALL Deutschland entfernt war. IM EIGENEN HAUS In diesem Community Living waren wir In Prag galten strenge Corona-Be- wie in einer Bubble. Die meisten Leute, schränkungen. Die meiste Zeit war die die dort gewohnt haben, hatten keine Größere Trips innerhalb Tschechiens Stadt im Lockdown mit nächtlichen Familie in Prag, die sie hätten anstecken waren nicht möglich. Wir durften später Ausgangssperren. Aber die Tschechen können. Dem erkrankten Mitbewohner nicht mehr unseren Distrikt verlassen. haben eine andere Mentalität als die ging es schnell wieder gut. Deswegen Dennoch war gerade der letzte Monat Menschen hier in Deutschland. So hatten wir wenig Angst vor Covid. der schönste für mich – wahrscheinlich, strikt haben sie sich nicht an die Re- weil das Wetter sich gebessert hat und geln gehalten. Zum Beispiel waren viele Von Prag habe ich viel gesehen, weil wir ich mehr rausgehen konnte. Ich hätte Menschen während der Ausgangssperre tagsüber viele Spaziergänge gemacht ha- mir auch vorstellen können, im Som- unterwegs und haben Partys gefeiert. ben und nur wenige Touristen da waren. mersemester noch zu bleiben. 8
Sven Maletzke (24) studiert Raumpla- nung im Master an der TU Dortmund und war von Februar bis Juli 2021 in Zagreb, Kroatien. I n Deutschland habe ich im Prinzip ein komplettes Jahr drinnen ver- bracht. Da hatte ich oft richtig schlech- te Laune. Als ich die Zusage für das Auslandssemester bekommen habe, war für mich sofort klar, dass ich es mache – trotz Beschränkungen und Online-Vorlesungen. Nach Kroatien wollte ich, weil ich das Land mit gutem Wetter assoziiert habe und Zagreb eine interessante Stadt ist. Bei der Einreise habe ich gemerkt, wie privilegiert wir Deutschen sind. An der Grenzkontrolle stand ich nur zwei Minuten an. Da habe ich bloß mei- nen Reisepass und meinen negativen COVID-Test gezeigt und erklärt, dass ich Erasmus-Student bin. Andere Men- schen ohne deutschen Pass mussten deutlich mehr und detailliertere Fragen beantworten. Normalerweise sind viele Vorlesungen in Zagreb auf Englisch. Aufgrund von Corona gab es weniger Kurse und die waren auch noch auf Kroatisch. Das war interessant für mich, weil mein Kroa- tisch nur für Hallo, Tschüss und Danke reichte. Die Professoren haben mir nach den Vorlesungen extra Sprechstunden gegeben, in denen sie mir auf Englisch erklärt haben, was in der Vorlesung be- Ab März war sehr viel in Kroatien ge- sprochen wurde. öffnet, zum Beispiel die Terrassen von Restaurants, Bars und Cafés. Die Men- ZURÜCK ZUR schen haben sich immer mehr auf den NORMALITÄT Tourismus im Sommer vorbereitet. Deswegen gibt es keine Überlegungen, Das, was mir am Uni-Alltag gefehlt hat, irgendetwas wieder zu schließen. Ich war das In-die-Mensa-gehen mit Kom- glaube, in Europa war Kroatien mit militonen. Immerhin habe ich mir die Abstand das offenste Land im Frühling Wohnung mit einem anderen Studen- 2021. Das war wie eine Erlösung für ten geteilt. Es waren wohl auch deutlich mich: Einfach mal wieder rauszugehen, weniger Erasmus-Studierende in Kro- mich mit mehreren Leuten zu treffen atien als üblich. In Zagreb hatten wir und ein Bier zu trinken, statt stunden- trotzdem große WhatsApp-Gruppen, in lang in der Wohnung vor dem Laptop nicht so verbreitet. Außerdem hatte die wir jederzeit reinschreiben konnten, zu hocken. ich immer dieses Gefühl: „Ich bin jung. um uns mit mehreren Leuten zu tref- Wenn ich mich jetzt anstecke, ist ein fen. Montags war in einer Bar Erasmus- Angst, mich anzustecken, hatte ich ei- schwerer Verlauf eher unwahrschein- Abend, nachdem die Außengastrono- gentlich nie. Als ich in Zagreb angekom- lich.“ Ich war einfach froh, endlich wieder mie wieder öffnen durfte. men bin, waren die Mutationen noch soziale Kontakte zu haben. 9
» HAUPTSACHE: SATT, STILL UND SAUBER « Jede*r Zehnte in Deutschland ist schwerbehindert. Doch für die Gesellschaft sind diese Menschen oft unsichtbar. Aktivistin Laura Gehlhaar erklärt im Interview, woran das liegt, warum Inklusion in Deutschland versagt und was sich ändern muss. TEXTMERLE MATHIE TUMMES FOTOMARCO RUHLIG W enn Laura Gehlhaar in ih- rem Rollstuhl durch die Stadt fährt, ist sie irritierten Blicken und blöden Sprüchen ausgesetzt. Für viele ist es nicht normal, Menschen mit einer Behinderung im Alltag zu sehen. Als Autorin, Aktivistin und Unternehmensbe- raterin setzt sich Gehlhaar dafür ein, dass sich das ändert. Sie tritt in Talkshows auf und spricht mit großen Konzernen über Inklusion und Barrierefreiheit. Ihre These: Menschen mit einer Behinderung werden in unserer Gesellschaft systematisch aus- geschlossen. Deutschland habe noch eini- ges nachzuholen, damit diese Menschen gerne hier leben, sagt sie. Sie haben vor einiger Zeit Sprüche gesammelt, die Sie täglich zu hören bekommen: „Kannst du Sex haben?“, „Ich habe mal Zivi gemacht, darf ich dich schieben?“. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie so etwas hören? Ich habe mich geärgert, war wütend, manchmal auch belustigt. Erst später habe ich gemerkt, wo diese Scham und diese komischen Vorurteile herkom- men: Wenn Menschen ohne Kontakt zu einer Behinderung aufwachsen, fehlen ihnen gewisse Perspektiven. Wenn wir Behinderungen, unterschiedliche Kör- per und unterschiedliche Gesundheits- zustände früh kennenlernen, dann nor- malisieren wir das. Dann würden diese Fragen und Sprüche wegfallen. Sie haben selbst erst seit ungefähr zehn Jahren Kontakt zu anderen 10
Menschen mit Behinderung. Damals einen Weg gefunden, gehört zu werden. BEHINDERTEN waren Sie Mitte zwanzig. Wieso ist Andere Behinderte haben dieses Privi- WERKSTÄTTEN dieser Teil unserer Gesellschaft im- leg nicht. Menschen in Wohnheimen mer noch so unsichtbar? haben teilweise noch nicht mal einen IN DEUTSCHLAND Laut einer Studie des Statistischen Bun- Internetzugang, beziehungsweise kein desamtes lebt jeder zehnte Mensch in Smartphone oder Laptop. Mehr als 320.000 Menschen Deutschland mit einer Schwerbehinde- arbeiten in deutschen Behinder- rung. Mehr als 320.000 Menschen arbei- Aber manche Menschen sind dort tenwerkstätten. ten in Deutschland in Behindertenwerk- auch super aufgehoben, oder? Davon haben … stätten. Diese Werkstätten befinden sich Richtig, die gibt es auch. Das ist auch • … 75,5 Prozent eine aber am Rande der Gesellschaft: in In- toll, dass es genau so ist. Aber man darf geistige Behinderung 1. dustriegebieten. Die meisten Leute, die nicht alle behinderten Menschen in ei- • … 21 Prozent eine dort arbeiten, leben auch in sogenannten nen Topf werfen. psychische Behinderung 2. Behindertenwohnheimen. Auch die sind • … 3,5 Prozent eine am Rande der Gesellschaft. Ziel dieser Viele Unternehmen werben ja auch körperliche Behinderung. Einrichtungen ist es eigentlich, die Men- damit, dass ihre Produkte teilweise schen an den ersten Arbeitsmarkt zu in Behindertenwerkstätten herge- Unternehmen wie Volkswagen, bringen. Aber das gelingt nur sehr weni- stellt werden. Woher kommt dieses Thyssenkrupp und Siemens las- gen Beschäftigten. Bild der Wohltatsindustrie, wenn es sen ihre Produkte zum Teil in Behin- auf der anderen Seite doch Ausbeu- dertenwerkstätten produzieren. Behindertenwerkstätten verhindern tung ist? also, dass Menschen mit einer Behin- Das System der Behindertenwerkstät- Acht Milliarden Euro beträgt der derung in die Gesellschaft integriert ten existiert seit dem Zweiten Welt- jährliche Umsatz aller Behinder- werden. krieg. Es ist fest in unserer Struktur tenwerkstätten in Deutschland. Ja, definitiv. Behindertenwerkstätten verankert. Die Gesellschaft glaubt Dieser Jahresumsatz setzt sich sind das Gegenteil von Inklusion! Ziel dran, dass sie etwas Gutes für Behin- zusammen aus den Zuschüssen, die dieser Einrichtungen ist es eigentlich, derte tut, wenn diese irgendwie be- die Werkstätten vom Staat erhalten, die Menschen an den ersten Arbeits- schäftigt werden. Das wird nicht mehr und ihrem wirtschaftlichen Umsatz. markt zu bringen, also in die freie Wirt- infrage gestellt. Hauptsache: satt, still schaft. Eines der vielen Probleme ist, und sauber. Mehr nicht. Alles darü- Verminderter Mehrwertsteuer- dass Menschen mit einer Behinderung ber hinaus wird nicht mehr gefördert. satz: Behindertenwerkstätten dürfen über einen Kamm geschert werden. Ich Das ist sehr, sehr traurig. Ich habe das einen verminderten Mehrwertsteu- bin mir zu 100 Prozent sicher, dass vie- selbst auch erlebt. In meiner Anfangs- ersatz von sieben Prozent auf ihre le Menschen, die körperliche, kognitive zeit wurde mir gesagt: „Wieso sprichst Leistungen berechnen. oder auch psychische Behinderungen du überhaupt darüber?“ Ich stoße oft haben, an den ersten Arbeitsmarkt ge- auf Verwunderung, wenn ich laut bin Beschäftigte verdienen durch- hören. Es ist natürlich einfacher, diese und gegen die Strukturen rede. Aber schnittlich 206,95 Euro pro Menschen in diese sehr diskriminie- Nicht-Behinderte haben sich lang ge- Monat. renden Strukturen zu integrieren. Ich nug angemaßt, über das Leben von möchte sagen: gefangen zu halten. Be- Behinderten zu entscheiden. Das muss hindertenwerkstätten sind eine Geld- sich unbedingt ändern. 1 Geistige Behinderung bedeutet eine signi- fikant verringerte Fähigkeit, neue oder kom- maschine für Unternehmen. Sie sparen plexe Informationen zu verstehen und neue unheimlich viel, wenn sie die Produkti- Was muss sich ändern, damit behin- Fähigkeiten zu erlernen und anzuwenden on an solche Werkstätten weitergeben. derte Menschen in Deutschland bes- (beeinträchtigte Intelligenz). Quelle: WHO ser leben können? 2 Ist eine psychische Erkrankung nicht nur Warum? Der Schlüssel zur Inklusion ist eine vorübergehend, kann dies zu spürbaren Die Leute verdienen nicht mal den Min- Verankerung im Gesetz. Wenn gesetz- Beeinträchtigungen bis hin zu Behinderung führen. Quelle: Caritas destlohn, sie arbeiten für einen Hunger- lich vorgeschrieben wäre, dass ich zum lohn. Ein weiteres Problem: Menschen Beispiel barrierefreien Zugang zu Re- mit einer Behinderung haben keine staurants und Friseuren habe, würde Lobby in Deutschland. Ich bin eine sich schlagartig viel ändern. Menschen sehr, sehr privilegierte Behinderte. Ich mit unterschiedlichen Behinderungen habe studiert, ich bin seit Jahren am könnten sich ihren Platz in dieser Ge- ersten Arbeitsmarkt tätig und ich habe sellschaft sichern. Dann würde eine Ge- 11
sellschaft sehen, dass es Menschen mit müssen Eltern dafür noch kämpfen, Als Studentin mit Behinderung habe Behinderungen gibt, die natürlich mit- dass ihr Kind auf ein allgemeines Gym- ich während meines Studiums indivi- spielen und mitgestalten. Dann würden nasium gehen darf? Was soll das? Wo duelle Bedürfnisse. Ich brauche mehr nicht-behinderte Menschen solche mit leben wir denn eigentlich? Flexibilität. Zum Beispiel brauche ich Behinderung besser verstehen. eine längere Studiumszeit – aufgrund Sie haben ein allgemeines Gymna- meiner chronischen Erkrankung falle Wie gehen denn andere Länder mit sium besucht. Was denken Sie, wie ich öfters mal aus. Ich konnte diese Menschen um, die eine Behinderung wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie Sachen an meiner Uni besprechen. Wir haben? auf eine inklusive Schule gegangen haben gemeinsam nach Möglichkeiten Jedes Mal, wenn ich in den USA oder wären? für mich gesucht. Das war sehr befrei- in Großbritannien war, habe ich mich Es hätte mein Selbstbewusstsein un- end. Auf dem Gymnasium hatte ich auf einmal sehr erleichtert gefühlt. In glaublich gestärkt. Ich hätte in den Pau- keine Wahlmöglichkeiten. An der Uni den USA konnte ich mich frei bewe- sen andere behinderte Kinder gesehen. wurde individuell auf meine Bedürfnis- gen. Egal, was ich vorhatte: Ich konnte Allein das hätte mich von diesem ekel- se eingegangen, das war sowohl in den das einfach machen, ohne mich vorher haften Sonderstatus befreit. Ich merke Niederlanden als auch in Deutschland zu erkundigen, ob es in der Bar oder einfach in den ersten paar Sekunden, eine sehr schöne und inklusive Erfah- in dem Restaurant eine barrierefreie ob eine Person in ihrem Leben mit Be- rung. Da habe ich gemerkt: Es liegt Toilette gibt. Dort habe ich selbstver- hinderung vertraut ist oder nicht. Sie nicht an mir, mich einem System un- ständlich andere Menschen mit einer begegnen mir mit so einer schönen, ru- terzuordnen. Behinderung getroffen – weil diese higen Natürlichkeit und Selbstverständ- Orte eben barrierefrei sind. Ich habe lichkeit. Das tut mir sehr gut. Dann Lassen Sie uns in die Zukunft blicken: mich akzeptiert gefühlt. Ich wurde mit- kann ich mich fallen lassen. Ich kann Wie sieht eine barrierefreie und in- bedacht. In den USA durfte ich als Roll- dann erstmal Laura sein, und dann ir- klusive Welt aus? stuhlfahrerin die Orte aussuchen, die gendwann behindert. Ich wünsche mir, dass Vielfalt sich etab- ich besuchen möchte. Hier in Deutsch- liert. Sie soll normal werden. Ich glaube land suchen die Orte aus, ob ich diese Sind Sie für eine Abschaffung von För- nämlich fest daran, dass Vielfalt unse- besuchen darf. derschulen oder sollen die Eltern und re Gesellschaft stabilisiert. Von unter- Kinder immer noch die Wahl haben? schiedlichen Perspektiven können wir Was kann Deutschland von den USA Ich bin eine ganz große Freundin von lernen und sie verstehen. und von Großbritannien lernen? Wahl haben. Die sollen ihre scheiß Gesetze um- Was kann jede*r Einzelne dazu bei- setzen (lacht). Die sollen sich an die Sie haben in den Niederlanden stu- tragen? UN-Behindertenkonvention halten. diert und ein Auslandssemester in Nicht-Behinderte sollen sich selbststän- Da steht zum Beispiel drin, dass behin- Berlin gemacht. Welche Erfahrungen dig mit Inklusion auseinandersetzen. derte Kinder ein Recht darauf haben, haben Sie an der Uni mit Ihrer Behin- Ich möchte nicht ständig Denkanstöße inklusiv beschult zu werden. Warum derung gemacht? dazu liefern müssen. 12
⁄⁄ KURTSARBEIT Frauchentausch Mehrere Nächte in fremden Wohnungen verbringen die meisten Studierenden nur im Urlaub. Anders ist es bei Eileen Schröders – sie wohnt bei fremden Menschen und kümmert sich um deren Tiere. Die 24-Jährige verdient ihr Geld als Housesitterin. TEXTANASTASIA ZEJNELI FOTOLARA WANTIA E ileen Schröders wohnt mal mit zwei Katzen in Lünen, mal mit einem Hund in Bochum oder drei Kaninchen in Dortmund. Sie schläft in Ehebetten, Gästezimmern und auf auch die Möglichkeit, auf exotische Tiere aufzupassen, aber das traue ich mir eher nicht zu.“ Sie war anfangs erstaunt, wie viele Kund*innen wollen, dass sie bei ihnen in der Wohnung der Couch im Wohnzimmer. Immer bei fremden Tieren und in übernachtet und nachts auf die Tiere aufpasst. „Natürlich fremden Wohnungen. fand ich es am Anfang komisch, dass mir Leute ihre Schlüs- sel anvertrauen und mich bei ihnen wohnen lassen. Aber ih- Eigentlich studiert die 24-Jährige Kultur- und Literaturwis- nen ist es wichtig, dass die Tiere versorgt sind“, sagt Eileen. senschaften an der TU Dortmund und wohnt im Studieren- Im Gegensatz zu anderen Angeboten wie Tierpensionen, wo denwohnheim. Seit 2017 kümmert sie sich im Nebenjob um Besitzer*innen Hund und Katze abgeben, bleiben die Haustie- die Haustiere ihr unbekannter Menschen. re beim Housesitting in der bekannten Umgebung. Das sei für viele Tierbesitzer*innen sehr wichtig. Die Kund*innen finden Eileen über eine Website, die sich auf die Vermittlung von Tierbetreuung spezialisiert hat. Um die Eileen darf keine Haustiere im Wohnheim halten. Daher freut eigene Arbeit anzubieten, müssen sich die Housesitter*innen es sie, dass sie sich um Tiere kümmern kann. Drei bis fünf ein Profil anlegen und über die Erfahrungen mit Tieren ei- Kund*innen hat Eileen durchschnittlich im Monat. Meistens nen kurzen Text verfassen. Ihren Lohn kann Eileen selbst hat sie ein Vorgespräch bei den Personen zu Hause, wo sie festlegen. Für eine Übernachtung und die Betreuung zahlen auch die Tiere kennenlernt. „Ich habe gelernt, auf mein Bauch- die Kund*innen bei ihr 30 Euro. Wenn Eileen nur Gassi geht gefühl zu hören. Wenn mir die Tiere oder die Person komisch oder die Katze füttert, nimmt sie sieben bis zehn Euro. „Ich vorkommen, lehne ich den Auftrag ab.“ Einmal war sie bei ei- habe am Anfang weniger verlangt. Den Lohn sehe ich eher nem großen Hund und seinem Besitzer zum Kennenlernen. als nettes Taschengeld an, da ich es hauptsächlich wegen der Sie sollte über Nacht auf den Hund aufpassen. „Er hat mich Tiere mache.“ mehrmals angesprungen und hatte seine Vorderfüße auf mei- nen Schultern. Da habe ich echt Angst bekommen“, erzählt Über die Website hat Eileen eine Haftpflichtversicherung ab- Eileen. Sie lehnte den Auftrag ab. geschlossen. Somit ist sie bei der Arbeit in der fremden Woh- nung abgesichert. Dafür und für die Vermittlung nimmt das Für Eileen ist es der perfekte Nebenjob, da sie flexibel arbeiten Portal 20 Prozent der Einnahmen. Bestimmte Voraussetzun- kann und sich gerne um Tiere kümmert. Man gewöhne sich gen müsse man als Housesitter*in nicht mitbringen, sagt Ei- auch daran, in Ehebetten zu schlafen, sagt Eileen und lacht. leen. Sie selbst sei mit Hunden und Kaninchen aufgewachsen. „Wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre mir eine Couch aber „Die Leute merken es schon, wenn man sich auskennt. Es gibt trotzdem lieber.“ 13
EINE FOOTBALL-LIGA FÜR EUROPA Sobald in Amerika der Football fliegt, schauen Millionen Deutsche hin. In der eigenen Stadt interessiert das dagegen nur wenige. Eine neue Liga will den Football-Hype endgültig nach Europa bringen. Doch nicht alle feiern das Projekt. TEXTMARCEL BRANDT FOTOANDREAS GEBEK, ASSINDIA CARDINALS/ROLAND SCHICHO, EUROPEAN LEAGUE OF FOOTBALL, HAMBURG SEA DEVILS & MICHAEL FREITAG K urze, englische Befehle sind zu hören. Dann prallen Protekto- ren aufeinander, es knallt, wie bei einem mittelschweren Verkehrs- unfall. Immer und immer wieder, erst geben wird. Damit bahnt sich eine Re- volution im deutschen und europäi- schen Football an. Doch die neue Liga hat nicht nur Unterstützer*innen. Und so ist ein Konflikt entstanden zwischen die Rufe, dann die Protektoren. Die alten Vereinsstrukturen und einem Männer auf dem Rasenplatz laufen für neuen Hype. Mit Vorwürfen auf beiden Lai*innen unsortiert durcheinander. Seiten und der Frage: Geht es hier noch Doch für die Akteure auf dem Feld folgt um das Wohl der Sportart oder nur um alles einem genauen Plan. Jede Barrika- das Plus einiger weniger Bankkonten? de, jede Pylone, jeder Spieler hat seinen genauen Platz. Alle sind dick eingepackt Da sind zum einen die Vertreter*innen mit Schützern über den Schultern und der bisherigen, intakten Strukturen. einem Helm mit Gesichtsgitter. Dazu gehört vor allem der American Football Verband Deutschland (AFVD). Es ist Anfang Mai, irgendwo in Barce- Hier sind knapp die Hälfte aller Foot- lona. Football-Kommentator Patrick ballspieler in Europa aktiv. Der AFVD Esume steht am Spielfeldrand und lässt organisiert den Football in einem Ver- seine Community via Instagram-Story einssystem, genau wie andere deutsche an diesem Spektakel teilhaben. Der Sportverbände, etwa im Fußball oder Fanliebling aus Deutschland ist in sei- Handball. Die Vereine spielen in Ligen ner neuen Rolle unterwegs. Er ist seit und können auf- und absteigen. Die Ende 2020 Commissioner einer neuen German Football League (GFL) ist dabei Liga: der European League of Football die höchste Spielklasse. (ELF). Als Commissioner ist er mit dem Geschäftsführer der Chef dieser Liga. Zum anderen ist da die neue Liga mit einer komplett anderen Struktur. Die Seit Oktober 2020 ist bekannt, dass es Teilnehmer in der ELF sind keine Ver- wieder eine europäische Football-Liga eine, sondern Franchises, also Kapital-
Patrick Esume ist neuer Commissioner der European League of Football (ELF).
2018 lag bei gut 1500 Fans pro Spiel. Lediglich der German Bowl 2019 erin- nerte mit gut 20.000 Zuschauer*innen an alte Zeiten. NFL-HYPE IN DEUTSCHLAND Dabei erlebt American Football in den vergangenen Jahren einen riesigen Hype in Deutschland. Die amerikanische NFL kürt seit Ende der 1960er Jahre im gro- ßen Endspiel, dem Super Bowl, einen Meister. Dank der amerikanischen In- szenierung wurde der Super Bowl schnell zum größten Sportereignis der Welt. 2012 sicherte sich ProSiebenSat.1 nicht nur die Rechte für diese große Show, sondern auch für Spiele in der gesamten Saison. Zuerst auf Sat.1, später auf Pro- SiebenMaxx und ProSieben, übertragen die Sender jedes Wochenende die ameri- Die Try Outs der Klubs für die neu gegründete Liga waren hart, die Saisonvorbe- kanische Liga: Die neue Show „ran Foot- reitung kurz, aber anstrengend. Trotzdem boten die ersten Spieltage gute Partien. ball“ ist geboren. Im Gegensatz zu an- deren Sportberichterstattungen bezieht die Show ihre Fans mit ein. Eine locke- gesellschaften. Diese haben sich für die schnell zur NFL Europe (NFLE). Diese re Wortwahl der Kommentatoren und ELF neu gegründet. Das ganze System Liga funktionierte deutlich besser. Bis Experten gehört ebenfalls zum Erfolg. beruht auf Markenrechten. Das bedeu- 2007 spielten die Teams insgesamt 15 Die deutsche Fangemeinde rund um die tet, jede Franchise erhält eine Lizenz Saisons. Gerade die deutsche Fange- neue Sendung wächst seitdem von Jahr der Liga, darf zum Beispiel das Logo meinde war groß. Bei den Heimspielen zu Jahr. Den vergangenen Super Bowl der ELF nutzen. Die Liga bekommt im der Schwergewichte Düsseldorf Rhein sahen zwischenzeitlich 2,41 Millionen Gegenzug Werbegeld und Markenrech- Fire, Frankfurt Galaxy und den Ham- Menschen. Das ist ein Marktanteil von te der Franchises. Die Liga vermarktet burg Sea Devils waren zwischen 20.000 26,3 Prozent. alles dann zentral. Dieses System ist und 30.000 Zuschauer*innen im Stadi- in den nordamerikanischen Top-Ligen on. Am Ende bestand die Liga nur noch Max Paatz ist seit Jahren aktiv im deut- eine gängige Methode und funktioniert aus fünf deutschen Teams und den schen Football. Zuerst in der GFL, jetzt komplett ohne Verbände oder Vereine. Amsterdam Admirals aus den Nieder- als General Manager der Hamburg Sea So bahnt sich langsam der Konflikt mit landen. Der Aufwand, mit den riesigen Devils in der ELF. Es gebe viele Grün- dem AFVD an. Aus der GFL sind Spieler Kadern zu reisen, war einfach zu groß. zur neuen ELF abgewandert. GFL-Ver- Immerhin gehören im Football knapp eine mussten, auch aufgrund von ELF- 60 Spieler zu einer Mannschaft, mit Be- Franchises in direkter Nähe, ihr Team treuerstab kommen 70 bis 100 Perso- vom Ligabetrieb abmelden. Die Sorge nen pro Team zusammen. Gleichzeitig bei Verantwortlichen wächst. konnten nur wenige Vereine hohe Zu- schauerzahlen verzeichnen. Am Ende DEUTSCHE VEREINE OHNE schrieben viele von ihnen rote Zahlen, NENNENSWERTEN ERFOLG sodass es sich für die meisten einfach nicht mehr rechnete. Die Geschichte einer europäischen Football-Liga ist nicht neu. Bereits An- Die GFL konnte vom Ende der NFL Eu- fang der 1990er Jahre gründete die rope nicht profitieren. Diese Zuschau- amerikanische Football-Liga NFL (Na- erzahlen erreichte die GFL nie. Sie tional Football League) die World Foot- waren auch nach dem Ende der NFLE Max Paatz, General Manager der ball League. Die war nicht besonders rückläufig und stagnieren nun seit Jah- Hamburg Sea Devils, ist mit seinem erfolgreich und reduzierte sich deshalb ren. Der Zuschauerschnitt in der Saison Klub in die neue Liga gewechselt. 16
de, warum er zwischen den Ligen ge- umsetzen. Diese Neuerungen hat der wechselt ist, sagt er. Genaueres will er Ligavorstand in die Wege geleitet. dazu nicht sagen. Paatz lobt die Arbeit des TV-Formates: „Ran Football ist Wilfried Ziegler ist der Geschäftsfüh- ran Football, weil es über Social Media rer des Essener Football-Teams Assin- funktioniert.“ Damit spielt Paatz auf dia Cardinals, das aktuell in der GFL 2 den Einsatz eines Netmans an. Dieser spielt. Er verweist auf die Strukturen sitzt neben den Kommentatoren im des AFVD und ihre Trägheit: „Natürlich Studio und holt die Stimmen der Fans ist es ein zäher Prozess, im Verbands- aus der Community in die Sendung. Bei system zu arbeiten. Da dauern Ent- „ran Football“ übernimmt das Chris- scheidungen manchmal Jahre.“ toph „Icke“ Dommisch. Genau da setzt Paatz seine Kritik gegenüber den AFVD- EIN NEUER PLAYER Verantwortlichen an. Denn anders als IN EUROPA Axel Streich sitzt im GFL-Ligavorstand. vielleicht erwartet, konnte der Verband Er räumt Organisationsfehler seines Ver- diesen Hype nicht in größere Aufmerk- Mit der Verkündung der ELF wurde den bandes ein, will aber weiter kämpfen. samkeit für die GFL ummünzen. Verantwortlichen der GFL schnell klar: In Städten mit einem GFL-Verein wird Axel Streich ist Teil des GFL-Ligavor- eine zusätzliche Franchise ein Ringen suchten Verantwortliche der ansässigen standes. Er räumt Fehler in der Organi- um Spieler, Verantwortliche und mut- Vereine, als eine Franchise Teil der ELF sation der vergangenen Jahre ein. „Die maßlich auch Fans mit sich bringen. zu werden. Das kam allerdings nicht zu- GFL hätte mit Sicherheit den Weg, den Axel Streich sagt über das Vorgehen stande. Jetzt stellen die Vereine gar kein sie jetzt geht, schon früher anstoßen der ELF: „Ich finde es schade, was da in Team in einer professionellen Liga. können.“ Dabei spricht Streich von Än- einigen Vereinen angerichtet wird. Das derungen der GFL-Strukturen, die der müsste alles nicht sein. Ich halte es mo- Elmshorn, Max Paatz‘ ehemaliger Ver- Liga mehr Freiheiten einräumen. Die ralisch bei einigen Verantwortlichen für ein, konnte als Aufsteiger in die GFL GFL gliederte sich 2020 aus dem Ver- Minimum fragwürdig, was sie tun und nicht die finanziellen Mittel aufbrin- band aus und vermarktet und organi- wie sie da vorgehen.“ In der GFL-Saison gen. Das Team bekam keine Lizenz siert sich nun selbst. Nun kann die Liga 2021 sind drei Vereine nicht mehr da- für die erste Liga. Spieler und Verant- schneller Entscheidungen treffen und bei. In Hildesheim und Ingolstadt ver- wortliche gingen dann zahlreich zu den Der aktuelle Meister der German Football League: die New Yorker Lions aus Braunschweig 17
» In fünf Jahren werden wir mehr als 20 Teams aus mehr als 10 Nationen in der Liga haben. « Patrick Esume, Commissioner der neu gegründeten ELF Hamburg Sea Devils. Laut Streich müs- einmal mittrainiert und dann waren sie deutschen Football-Fan, der den Sport sen auch Stuttgart, Frankfurt und Köln nicht mehr da.“ Selbst, wenn neue Mit- hauptsächlich aus Amerika kennt? Die kämpfen. Alle drei Vereine haben eine glieder generiert werden, kann nicht Grundvoraussetzungen sind gut, denn ELF-Franchise direkt vor der Haustür. jeder neue Spieler auf dem Niveau spie- der Sendeplatz ist ähnlich. „ran Foot- In einem schriftlichen Statement teilt len und den Aufwand auf sich nehmen. ball“, also ProSiebenMaxx, überträgt die ELF-Commissioner Patrick Esume mit: Sowohl in der GFL als auch in der ELF ELF direkt in ihrer ersten Saison. Doch Er sei davon überzeugt, Konkurrenz gibt es so gut wie keine Vollprofis un- beim spielerischen Niveau gibt Paatz belebe das Geschäft und beide Ligen ter den Sportlern. Außerdem gehören zu: „Man muss natürlich Abstriche ma- könnten parallel existieren. Sowohl zur Teilnahme an der European League chen. Wir werden uns nie auf ein Level Streich als auch Ziegler sind da anderer of Football weite Auswärtsfahrten. Ein mit der NFL setzen können. Das ist Meinung. Für sie gibt es an den einzel- Fakt, der viele in der ELF noch überra- vermessen.“ Er fügt an, dass ein oberes nen Standorten nicht genug gute Spie- schen werde, so Ziegler. GFL-Niveau aber zu schaffen sei. Auch ler, um zwei Mannschaften auf dem die nächsten Schritte sind laut Com- Niveau zu stellen. So ambitioniert die Pläne der ELF sind, missioner Esume ambitioniert: „In fünf die Bedingungen für die erste Saison- Jahren werden wir mehr als 20 Teams IST DIE ELF vorbereitung waren eher schlecht. Die aus mehr als 10 Nationen in der Liga ha- SCHON FIT GENUG? Franchises in Frankfurt und Hamburg ben.“ Auch nach seinem Besuch in Bar- waren schon früh relativ weit mit dem celona wirkte Esume in seinem Podcast Diesbezüglich gibt Paatz zu, es gebe Ab- Training. Sie profitierten von einer guten euphorisiert: „Ich war überrascht, wie wanderungen und es hätten sich Teams Infrastruktur und Spielern der GFL-Ver- gut die Dragons sind und wie gut die von der GFL abgemeldet. Doch die Liga eine vor Ort. Andere Standorte hatten Franchise organisiert ist.“ starte trotzdem. Er ist sich sicher: „Es es schwerer. Die Leipzig Kings beispiels- sind nach wie vor Teams da, die Quali- weise veranstalteten am 15. Mai ein Try DIE GFL GIBT tät im Kader und natürlich eine sport- Out, also ein Training für alle Interes- SICH KÄMPFERISCH liche Daseinsberechtigung haben.“ Im sierten, um neue Spieler zu finden. „Ich Gegensatz zum Essener Geschäftsfüh- bin auch nicht der, der sagt: Ein Team Der Essener Präsident reagiert skeptisch rer ist er davon überzeugt, dass auch braucht drei Monate Vorbereitungszeit. auf das Ziel der ELF: „Ich halte das für durch den NFL-Hype im TV Spieler Aber mit einem Try Out vier Wochen nicht realisierbar. In der NFL Europe ha- zum Sport kommen können: „Im Ver- vor Saisonstart halte ich es schon für et- ben Frankfurt und Düsseldorf schwarze hältnis zu den bestehenden Mitglie- was knapp, wenn ich am Ende auf GFL- Zahlen geschrieben, die restlichen Teams derzahlen ist American Football die am Niveau spielen will“, so Axel Streichs massiv rote. Die Reisekosten wurden stärksten wachsende Sportart im Deut- Einschätzung. Max Paatz sagt über die einfach unterschätzt. Das wird hier auch schen Sport Bund.“ Vorbereitung: „Es ist ein Projekt. Daraus passieren.“ Egal, ob die ELF-Franchises machen wir keinen Hehl. Es gibt Teams, tatsächlich nicht mit so hohen Kosten Wilfried Ziegler hat in Essen andere Er- die noch ein bisschen zurück sind, aber rechnen oder mit erfolgreicher Mar- fahrungen gemacht: „Wir haben jedes die arbeiten mit Hochdruck.“ ketingarbeit ihre Ziele erreichen, Axel Jahr im Januar sehr viele Leute bekom- Streich gibt sich selbstbewusst: „Die GFL men, die Football gesehen haben und Da stellt sich nun die Frage: Wie at- wird daran nicht zugrunde gehen, das ist jetzt auch spielen wollen. Die haben traktiv wird die erste Saison für den mal sicher.“ 18
19
TROTZ GUTER GRÜNDE Die Idee ein eigenes Unternehmen zu gründen, ist scheinbar für die wenigsten Frauen attraktiv. Nur 15,7 Prozent der Start-up-Gründer*innen in Deutschland sind weiblich. Der Anteil reiner Frauenteams ist noch geringer. Was sind die Gründe? TEXTKASSANDRA KREß FOTOUDO GEISLER & JULIUS GNOTH PHOTOGRAPHY 20
E s ist ein Businesstreffen. Die Ge- schäftsführerinnen der Firma UVIS, Katharina Obladen und Tanja Zirnstein, nehmen den Werk- studenten mit, damit er sich ansehen dungsinkubator der Universität Köln festgestellt. Im Inkubator beraten und unterstützen Start-up-Coaches grün- dungsinteressierte Studierende und Wissenschaftler*innen bei ihrer Idee. Aufgrund der negativen Erlebnisse arbeiten die drei mittlerweile viel mit Frauen zusammen: einer Anwältin, ei- ner Steuerberaterin und einer Buchhal- terin. Für den Ladenausbau hatten sie kann, wie ihr Produkt eingebaut wird. Dort waren sie das einzige Frauenteam. außerdem eine Architektin engagiert. Prompt halten die Geschäftspartner „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Um „fachlich und sachlich“ diskutieren den Studenten für den Chef. „Plötzlich wir immer sehr das Einhorn unter den zu können, erklärt die 25-jährige Jana, redeten alle nur noch mit ihm“, berich- Start-ups sind“, sagt Katharina. Jetzt, die vorher eine Ausbildung zur Kauf- tet die 29-jährige Katharina. Das war da sie sich einen Namen gemacht ha- frau für Marketingkommunikation ab- nur eine von vielen Situationen, in der ben, verliefen Gespräche mit männli- solviert hat. Geschäftspartner Tanja und Katharina chen Geschäftspartnern in der Regel nicht auf Anhieb ernstnahmen. Gerade auf Augenhöhe. Negative Erlebnisse wie IN DER GESELLSCHAFT in der Anfangsphase ihres Start-ups, bei besagtem Businesstreffen blieben VERANKERTE STEREOTYPE das sie 2016 gegründet haben, sei das aber länger im Gedächtnis. Eine Kehrt- öfter vorgekommen, erzählt Kathari- wende hin zum respektvollen Umgang Im Start-up-Bereich finden sich gesell- na. Sie hat vorher BWL und Kunstge- bemerkten Tanja und Katharina meist, schaftliche und kulturelle Rollenbilder schichte studiert. sobald das Gegenüber die Kompetenz und Stereotype, die sich produzieren der beiden erkannt hätte. und reproduzieren, erklärt Alexander SEXISMUS ERLEBEN Hirschfeld, einer der Autor*innen des DIE FRAUEN HÄUFIG Ähnliche schlechte Erfahrungen haben Female Founders Monitors (FFM). Seit auch die drei Geschäftsführerinnen des 2018 untersucht die Studie die Diver- Die beiden Gründerinnen aus Köln sa- Unverpacktladens und angeschlosse- sität der deutschen Start-ups und be- gen, sie befinden sich mit ihrer Firma nen Low-Waste-Cafés Püngel & Prütt leuchtet die Ursachen für die immer gerade in einer Wachstumsphase, sind in Mülheim an der Ruhr gemacht. Lara, noch niedrige Frauenquote. Der Bericht mittlerweile zu neunt im Unternehmen. Jana und Ariane haben sich Anfang zeigt, dass diese sich in den letzten Jah- Nicht überraschend zu Zeiten, in denen 2020, kurz vor Beginn der Coronapan- ren kaum verändert hat. Der Anteil von Hygiene eine so bedeutende Rolle spielt demie, selbständig gemacht. Einige reinen Frauenteams geht auseinander, wie in der Pandemie. Denn sie verkau- Male mussten sie sich sexistische Sprü- je nachdem, welche Studie vorliegt. Der fen ein Modul, das Rolltreppenläufe mit che von Geschäftspartnern anhören. Female Founders Monitor kommt auf UV-Licht von Keimen befreit. Mittler- Zum Beispiel antwortete einer auf den 10,9 Prozent. Eine Studie der Unter- weile haben sie außerdem eine antibak- Hinweis, dass die Heizung kaputt sei, nehmensberatung Boston Consulting terielle Beschichtung entwickelt, die auf dass er vorbeikommen und die Frau- Group von 2019 verortet den Anteil bei Treppengeländer und andere Flächen en wärmen könnte. Auch mit Kunden nur vier Prozent. aufgesprüht wird. habe es solche Situationen gegeben – wenn auch selten. Einer erzählte ihnen Beide Studien kommen zu dem Schluss, Als junge Frauen im Technikbereich etwa, dass Frauen besser in der Küche dass ein Hauptgrund dafür die Finan- sind sie immer noch die Ausnahme. aufgehoben seien und das Putzen in zierung ist. Denn wer sich mit einem Das haben die beiden bereits im Grün- den Genen hätten. eigenen Unternehmen selbstständig 21
machen will, braucht Kapital. Die meis- Finanzierungsrunde gegen sie entschie- men und so behandelt, wie er wohl auch ten Gründer*innen greifen dafür auf den. Jahre später habe er offenbart, er mit männlichen Kunden umgehen wür- eigene Ersparnisse zurück. So auch hätte nicht geglaubt, dass sie so lange de.Bei Start-ups herrscht das Klischee Tanja und Katharina, die den Start des durchhalten. „Er dachte, dass wir uns von Gründer*innen vor, die regelmäßig Unternehmens und den ersten Testlauf nach dem Studium einen Mann suchen, Überstunden leisten oder sich ander- selbst finanziert haben. Doch sobald es heiraten, Kinder kriegen und keinen weitig für das Geschäft aufopfern. Dass um staatliche oder investitionsbasierte Bock mehr auf die Gründung haben“, da etwas Wahres dran ist, bestätigen Finanzierung geht, wird deutlich, dass sagt die 28-jährige Juristin Tanja. „Das die Gründerinnen. Katharina und Tanja Geldgeber*innen Frauen- und Männer- ist schon etwas schockierend zu hören.“ verzichteten etwa in ihrer Gründungs- teams unterschiedlich bewerten. Die Man kann laut Alexander Hirschfeld da- phase eine Zeit lang auf ihr Gehalt. Daten des FFM zeigen: Besonders Busi- von ausgehen, dass diese Diskriminie- ness Angels und Venture Capitalists rung nicht bewusst geschieht. Vielmehr Auch Ariane, Lara und Jana vom Un- (Näheres dazu in der Infobox) bevorzu- seien strukturelle und kulturelle Grün- verpacktladen blicken auf eine stressi- gen Männerteams eindeutig. Die Stu- de die Ursache. „Die Investoren sehen ge Zeit zurück. Vor allem in der Pha- die der Boston Consulting Group gibt in Männern etwas anderes als in Frauen se kurz vor der Eröffnung. Bis zu 70 zudem an, dass 96 Prozent der deut- und stellen deshalb andere Fragen.“ Stunden pro Woche hätten sie im La- schen Venture Capital-Unternehmen den gearbeitet. In den ersten Monaten ausschließlich von Männern geführt GRÜNDERINNEN WÜNSCHEN standen sie regelmäßig zwölf Stunden werden. Venture Capital finanzierte laut SICH BESSERE VEREINBARKEIT pro Tag im Geschäft und das bei ei- FFM im vergangenen Jahr 1,6 Prozent nem Lohn, der eher auf dem Niveau Frauenteams der deutschen Start-up- Mit der Finanzierung hatten die Frau- eines „Studijobs“ liegt, sagen sie. Die Branche und 17,6 Prozent Männer- en vom Unverpacktladen Püngel & Arbeitszeit sei seitdem gesunken, der teams. Business Angels finanzierten Prütt weniger Probleme als gedacht, Stundenlohn – der Pandemie geschul- laut FFM im vergangenen Jahr 25,7 sagen sie. Ihr Startkapital hätten sie det – aber kaum gestiegen. Prozent reine Männerteams und nur sich durch eine Crowdfunding-Aktion 7,7 Prozent Frauen-Teams. sichern können. Anschließend hätten Bei so viel Einsatz für das eigene Projekt sie relativ zügig einen Bankkredit be- stellt sich die Frage nach der Verein- Auf der Suche nach Geldgeber*innen kommen. Mit ihrem Bankberater hät- barkeit von Arbeit und Familie umso sind Tanja und Katharina mit ihrer Fir- ten sie im Gegensatz zu vielen anderen mehr. Auch die Geschäftsführerinnen ma UVIS ebenfalls abgelehnt worden. Geschäftspartnern positive Erfahrun- von UVIS und Püngel & Prütt werden Ein Business Angel hatte sich bei einer gen gemacht. Er habe sie ernst genom- sich diese Frage in Zukunft vielleicht 22
stellen müssen. Der Founders Monitor Frauen den Kontakt zu anderen Start- mal das Angebot, einen weiteren Laden von 2019 zeigt, dass Gründerinnen mit up-Unternehmer*innen noch ähnlich zu übernehmen. „Beide Male mussten Kindern wesentlich weniger Zeit für ihr gut bewerten, wächst die prozentuale wir uns nur kurz angucken und wuss- Start-up zur Verfügung haben als Grün- Lücke, wenn es um die Kooperation mit ten, dass wir das nicht wollen“, erklärt der mit Kindern. Im FFM 2020 wünsch- etablierten Unternehmen oder den Zu- Jana. Durch die Pandemie hätten sie ten sich 41,3 Prozent der befragten gang zu Kapital und Investitionen geht. bisher ohnehin nicht die Gelegenheit Mütter mehr politische Unterstützung gehabt, Laden und Café als Treffpunkt zur Vereinbarkeit, wohingegen das nur Aus der niedrigen Frauenquote bei voll auszukosten. In Zukunft wollen sie 19,7 Prozent der Väter angaben. „Das Start-ups lässt sich allerdings nicht auch Workshops und Konzerte im Café bringt gut zum Ausdruck, dass sich schlussfolgern, dass Frauen kein Inte- veranstalten. Frauen selbst in diesem Bereich am resse an Selbstständigkeit haben. Das Ende häufiger um die Kinder kümmern. verdeutlicht die Zahl der Existenzgrün- NACHHALTIGKEIT FÜR Das zeigt, dass es auch hier nach wie vor dungen. Der Unterschied zwischen bei- GRÜNDERINNEN VORRANGIG eine recht traditionelle Rollenverteilung den Modellen ist, dass Start-ups wach- gibt“, erläutert Alexander Hirschfeld. sen wollen, Existenzgründungen nicht. „Keine von uns hat, glaube ich, den An- Zwar befragt die Studie nur Frauen, Laut Gründungsmonitor 2020 der Kre- spruch hiermit reich zu werden“, sagt die schon ein erfolgreiches eigenes Un- ditanstalt für Wiederaufbau (KfW) liegt die 26-jährige Ariane. Finanziell solle ternehmen haben. Dennoch könne das der Frauenanteil bei Existenzgründun- es nach der Pandemie gerne bergauf laut Hirschfeld ein Hinweis darauf sein, gen mit 36 Prozent deutlich höher als gehen, aber ihre Hauptmotivation sei, dass die Familienplanung Frauen häufig bei Start-ups. Bemerkenswert ist außer- nachhaltig zu leben und nah und un- vom Gründen abhält. dem, dass gerade die Anzahl von Frauen verpackt einkaufen zu können. Mit dem steigt, die sich in Teilzeit selbstständig Geschäft wollen sie Umwelt- und Klima- FRAUEN GRÜNDEN SELTENER machen. Die Zahl neuer Unternehmen schutz vorantreiben. Lara, die neben- WACHSTUMSORIENTIERT von Frauen, die Vollzeit beschäftigt bei Soziologie studiert, ergänzt: „Es ist sind, sinkt seit 2018. Bei Männern hin- nicht mehr zu bestreiten, dass sich was Mitverantwortlich für ein erfolgreiches gegen steigt aktuell die Anzahl neuer ändern muss auf ganz vielen Ebenen.“ Start-up sei außerdem das richtige Netz- Firmen in Voll- und in Teilzeit. werk, stellt der Female Founders Moni- Das findet auch Katharina von UVIS: tor fest. Ähnlich wie die Finanzierung Ariane, Jana und Lara haben gerade kei- „Es macht gerade auch wirklich Spaß, seien Kontakte eine wichtige Ressource. ne Lust auf Wachstum. Seit dem Start dass man ein Produkt hat, mit dem man Während die befragten Männer und ihres Geschäfts hatten sie bereits zwei- helfen kann und nicht nur ein Konsum- 23
gut vertreibt.“ Sie und Geschäftspartne- die Caretaker, sondern auch, wenn sie Wenn es um Studien zu Gründungen rin Tanja entwickelten das UV-Modul Unternehmen gründen.“ Männer hin- und Selbstständigkeit geht, werden vor- zu Zeiten der Schweinegrippe für ei- gegen seien risikobereiter und würden rangig erfolgreiche Geschäftsfrauen be- nen Schüler*innenwettbewerb und lie- so schneller die Insolvenz in Kauf neh- fragt. So wie auch beim Female Founders ßen es sich anschließend patentieren. men. Dabei trete in den Hintergrund, Monitor und der Studie der Boston Con- Dass Green Economy und eine soziale „was sie damit ihren Mitarbeiter*innen sulting Group. Zum Scheitern der Selbst- Unternehmensführung für Start-up- antun und somit auch den Familien ständigkeit von Frauen fehlen hingegen Gründer*innen in Deutschland immer dahinter“, schätzt Banning. Für die repräsentative Erhebungsdaten. Solche wichtiger werden, belegen die Daten des Frauen von UVIS sei Aufgeben nie eine Studien könnten die Ursachen dafür, Female Founders Monitor. Frauen leg- Option. „Wichtig ist es nichtsdesto- dass Frauen in diesem Bereich unterre- ten hierbei im Vergleich zu den männ- trotz Rückschläge einzuordnen und zu präsentiert sind, erfassen und das Aus- lichen Kollegen noch etwas mehr Wert bewerten, um daraus zu lernen.“ maß klarer benennen. auf Sinnhaftigkeit. Für Männer sind demnach ökonomische Ziele wichtiger als für die befragten Frauen. Über die Gefahr zu scheitern, denken START-UP-LEXIKON Business Angels Ariane, Lara und Jana vom Unver- Business Angels sind vermögen- packtladen kaum nach. Trotz Corona Venture-Capital de Privatpersonen, die Start-ups seien sie optimistisch. Dass sie zu dritt Bei Venture-Capital (Risikokapital) gerade in der Anfangsphase als sind und nicht alles alleine stemmen handelt es sich um zeitlich begrenz- Geldgeber*innen und/oder mit Rat- müssen, sei eine Erleichterung. te Kapitalbeteiligungen an jungen, schlägen und Kontakten unterstützen. innovativen, nicht börsennotierten Im Gegenzug erhalten sie Unterneh- STUDIEN ZUM SCHEITERN Unternehmen. Diese zeichnen sich mensanteile. Damit haben sie die VON GRÜNDERINNEN FEHLEN durch ein überdurchschnittliches Chance, an den Gewinnen eines jun- Wachstumspotenzial aus, obwohl sie gen Unternehmens beteiligt zu wer- Start-up-Coachin Jules Banning, die sich zum Teil (noch) nicht rentieren. den, teilen aber auch die Risiken. Laut selbst schon einmal ein Unternehmen Venture Capitalists können entweder gründerplattform.de, einer Webseite auflösen musste, zieht es vor, von Einzelpersonen oder Gesellschaften vom Bundeswirtschaftsministerium „aufgeben“ statt von „scheitern“ zu sein. Sie investieren oft gleichzeitig in und der KfW-Bank, ist das Ziel der sprechen. Dass sie weniger risikobereit mehrere Projekte. Und tun das in dem meisten Business Angels der erfolgrei- seien, liegt für Banning am höheren Bewusstsein, dass sie ihre Anlage che Ausstieg aus dem Unternehmen. Verantwortungsbewusstsein von Frau- womöglich nicht wiederbekommen, Dabei verkaufen sie die eigenen en: „Sie sind nicht nur in der Familie wenn ein Unternehmen scheitert. Anteile gewinnbringend weiter. 24
Sie können auch lesen