Karl-Heinz P. Kohn Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe - Ergebnisse einer ...
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Karl-Heinz P. Kohn 1-3 Fotos Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe Ergebnisse einer Delphi-Breitband-Erhebung
Impressum Herausgeber: Facharbeitskreis „Beratung“ vom Netzwerk „Integration durch Qualifizierung“ Stefan Nowack (V. i. S. d. P.) www.kumulus-plus.de Leitung und Koordination Fatoş Topaç Kompetenzzentrum KUMULUS-PLUS bei Arbeit und Bildung e.V. Lindenstr. 20-25, 10969 Berlin Tel.: 030 - 2593095-0 Mail: fatos.topac@aub-berlin.de Redaktion Facharbeitskreis Beratung Gerhard Hackenbracht, Christian Laux Verfasser Karl-Heinz P. Kohn Hochschule der Bundesagentur für Arbeit Mannheim www.kohnpage.de Fotos fotolia.de (Monkey Business Cover + S. 22; Robert Kneschke Cover; Mark Yuill Cover, S. 6, S. 33; Mikael Damkier S. 3; Joachim Wendler S. 4; Peter Klose S. 7; Jeff Gynane S. 15; Stihl024 S. 17; Mopap S. 21) Migra e.V. (S. 10, 12, 18, 24) Anita Schiffer-Fuchs (S. 28) Manfred Vollmer (S. 30) Metin Yilmaz (Impressum) Korrektorat Karin Gartmann, Berlin Layout IT depends Miriam Asmus - Web- und Grafikdesign asmus@it-depends.de Druck Brandenburgische Universitätsdruckerei und Verlagsgesellschaft Potsdam mbH Auflage: 1000 © KUMULUS-PLUS, Berlin, August 2011 Das Kompetenzzentrum KUMULUS-PLUS ist Mitglied des deutschlandweiten Netzwerks „Integration durch Qualifizierung“. Mitglieder des Facharbeitskreises „Beratung“
Vorwort 2 Dr. Dagmar Beer-Kern A. Anlass und Zielstellung der Erhebung 3 B. Erhebungsmethode 5 C. Ergebnisse 7 1. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bildenden Schulsystem und der dualen Berufs- 9 ausbildung 2. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bildenden Schulsystem und der schulischen Be- 11 rufsausbildung 3. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bildenden Schulsystem und dem Studium an 13 einer Hochschule 4. Beratung am Übergang zwischen einem dualen, schulischen oder akademischen beruflichen Bil- 15 dungsabschluss und der ersten hauptberuflichen Erwerbsarbeitsstelle 5. Beratung am Übergang zwischen einem beruflichen Bildungsabschluss oder einer abhängigen 17 Beschäftigung und einer selbstständigen Erwerbstätigkeit 6. Beratung beim Wechsel der Arbeitgeberin oder des Arbeitgebers 19 7. Beratung bei einer Entscheidung zur beruflichen Fortbildung oder Umorientierung 20 8. Beratung zur Beendigung von Arbeitslosigkeit und zur aktiven Teilhabe am Erwerbsarbeits- 22 markt 9. Beratung beim Zuzug nach Deutschland zur Integration in den deutschen Erwerbsarbeitsmarkt 24 10. Beratung beim Übergang von bisher oder zeitweise Nichterwerbstätigen in den Erwerbsarbeits- 25 markt 11. Beratung zur Stabilisierung während Phasen beruflicher Aus- oder Weiterbildung 26 D. Schlussfolgerungen 27 Anhang 29 Expertinnen und Experten in der Delphi-Breitband-Erhebung 29 Handlungsempfehlungen 30 Quellen 35
Dr. Dagmar Beer-Kern Vorwort Die Integration von Menschen mit Migrationshinter- Welches sind die migrationsspezifischen Themen und grund steht seit einigen Jahren ganz oben auf der Bedarfe in der beschäftigungsorientierten Beratung? politischen Agenda in Deutschland. Dabei spielt die Dieser Frage geht die vorliegende Studie nach und Arbeitsmarktintegration eine Schlüsselrolle, denn sie nutzt dafür das im IQ-Netzwerk gesammelte Experten- ist entscheidend für ein selbstbestimmtes Leben und wissen. Sie gibt einen strukturierten Überblick über eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe in einer die jeweiligen migrationsspezifischen Herausforde- zunehmend vielfältiger werdenden Gesellschaft. rungen und zeigt die Spannbreite der unterschied- lichen Beratungsorte und -anlässe. Arbeitsmarkt ist aber kein monolithischer Begriff, und er ist keine homogene Sphäre. Arbeitsmarkt ist selbst Durch die kritische Reflexion der Praxis in der Stu- vielfältig, und wer die Integration in den Arbeits- die entsteht auch neues, praxisorientiertes Wissen, markt voranbringen will, bewegt sich in zahlreichen ohne das eine Weiterentwicklung der beschäftigungs- unterschiedlichen Handlungsfeldern. Da geht es um orientierten Beratung weniger erfolgreich wäre. Die Aufenthaltsrecht und Zugang zum Arbeitsmarkt. Da Erkenntnisse der Delphi-Studie dienen aktuell der geht es beispielsweise um Anerkennung ausländischer Entwicklung neuer Studieninhalte in der Berateraus- Berufsabschlüsse und um Möglichkeiten beruflicher bildung an der Hochschule der Bundesagentur für Ar- Weiterbildung. Da geht es um das Herausarbeiten des beit. eigenen Kompetenzprofils und um dessen Vermittlung Ich freue mich auf weitere Zusammenarbeit mit den an potenzielle Arbeitgeber. Da geht es um sozialver- Akteuren der beschäftigungsorientierten Beratung sicherungspflichtige Beschäftigung oder um Selbst- und ihrer Weiterentwicklung im Rahmen des flächen- ständigkeit. deckenden Ausbaus des Förderprogramms „Integrati- on durch Qualifizierung - IQ“. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat deshalb schon vor dem Start zum Nationalen Inte- grationsplan das Netzwerk „Integration durch Quali- Dr. Dagmar Beer-Kern fizierung“ initiiert und dabei das Netzwerk nicht nur Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) regional implementiert, sondern mit entsprechend un- Referatsleiterin IIa6 „Grundsatzfragen der terschiedlichen fachlichen Arbeitsschwerpunkten be- Migrations- und Ausländerpolitik“ auftragt. Eines der Themen war die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung einer beschäftigungsorientierten Beratung, die die spezifischen Bedarfe von Migran- tinnen und Migranten berücksichtigt. Die vorliegende Studie konzentriert sich auf dieses Fachwissen, denn beschäftigungsorientierte Bera- tung liefert den Schlüssel für alle unterschiedlichen Optionen zur Integration am Arbeitsmarkt. Diese Be- ratung ist selbst ein Ort des Wissensmanagements. In ihr werden nicht nur alle wesentlichen Informationen für die Ratsuchenden identifiziert und transportiert. In die Arbeit der Beraterinnen und Berater muss auch jeweils der aktuelle Stand des Beratungswissens ein- gehen – und das sind nicht nur Informationen über Bildungs- und Berufswege, sondern auch über die ge- eignete Kommunikation und Kompetenzfeststellung, insbesondere bei der Beratung von Menschen aus un- terschiedlichen Kulturen.
A. Anlass und Zielstellung der Erhebung Personen mit eigener Migrationserfahrung und Nach- kommen aus Zuwandererfamilien in Deutschland ste- hen vor besonderen Herausforderungen, wenn sie ihren Weg durch das Bildungssystem beschreiten, ihr Be- rufsleben gestalten und sich im Erwerbsarbeitsmarkt bewegen. Das ist in der Forschung zu Migration und Integration, aber auch in der integrationspolitischen Positionierung der Bundesregierung vielfach und dif- ferenziert herausgearbeitet worden.1 Ein Bündel sich gegenseitig verstärkender Faktoren bewirkt, dass die- Angebote zur Beratung, Information und Kommuni- se Herausforderungen nur schwer gemeistert werden kation an die Bedürfnisse von Menschen mit Migra- können und in der Folge die Erwerbsposition von Men- tionshintergrund anpassen schen mit Migrationshintergrund seit langem weit un- Angebote zur intensiven Beratung und Information terhalb des Möglichen verharrt. So bleiben nicht nur müssen für Menschen besonders zugeschnitten sein, ihre allgemeinen individuellen Potenziale zumindest die sich in Deutschland und seinem gewachsenen Sys- teilweise ungenutzt, was sowohl ethisch und sozial tem von Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt neu wie auch ökonomisch intolerabel ist. Auch spezifische zurechtfinden müssen. Das betrifft sowohl jene, die kulturelle Kompetenzen wie etwa die erworbene Mehr- selbst neu eingereist sind, als auch deren in Deutsch- sprachigkeit oder auch im Herkunftsland erworbene land geborene Nachkommen, da in diesen Familien das formal attestierte berufliche Qualifikationen werden Wissen über Berufe und Wege der Aus- und Weiterbil- so im Erwerbsarbeitsmarkt nicht genutzt. dung nicht in gleichem Maße präsent sein kann wie in Familien, die schon seit vielen Generationen unter- Faktoren, die zu dieser weit suboptimalen Situation schiedliche Modelle der Erwerbsarbeit in Deutschland beitragen, sind: die spezifische sozioökonomische selbst erlebt oder in ihren sozialen Netzwerken ken- Lage der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, die nengelernt haben. im internationalen Vergleich deutlich erhöhte sozi- ale Selektivität des deutschen Bildungssystems2, die Die Angebote der Politik, der öffentlichen Verwaltung Herausforderung des Zweitsprachenerwerbs3, kulturell und der Wirtschaft zur Information und Beratung tradierte Erwerbs- und Bildungsmuster, der verstärkte sind um spezifische Elemente zu erweitern, die die Wandel bei Branchen und Berufen sowie – zum Teil auf besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Migrati- den bisher genannten Faktoren basierend – individu- onshintergrund berücksichtigen. Dort, wo modellhafte elle und strukturelle Diskriminierungsprozesse. Ansätze vorhanden sind, ist nach einer Effektivitäts- kontrolle die Möglichkeit einer nachhaltigen Verste- Bei der Aufgabe, diesen Kreislauf zu durchbrechen, hat tigung zu prüfen. Beim Einsatz von Medien ist sicher- der Nationale Integrationsplan der Bundesregierung zustellen, dass Menschen mit Migrationshintergrund der beschäftigungsorientierten Beratung in Bildungs- auch erreicht werden und Zugang zu den Informati- und Berufsfragen eine zentrale Aufgabe zugewiesen onen haben. Auch durch mehrsprachige Publikationen und deren migrationssensible Anpassung und Weiter- und Anzeigen werden die Menschen mit Migrations- entwicklung als Zielstellung vorgegeben: hintergrund direkt informiert und aufgeklärt.4 1 Zuwanderungsrat 2004, insbesondere Abschnitte 7.2 und 7.3; Nationaler Integrationsplan 2007, insbesondere Abschnitte 4.2 und 4.3 2 Berger und Kahlert 2008, Ehmke und Baumert 2007 3 Der Begriff Deutsch als Zweitsprache wird in diesem Text gebraucht, um die Herausforderung zu benennen, die nicht nur im Erwerb des Deutschen als einer von der Muttersprache unterschiedenen zusätzlichen Sprachkompetenz besteht, sondern auch in der Fähigkeit, in dieser Sprache alle wesentlichen außerfamilialen sozialen Handlungen im Lebensalltag – insbesondere auch alle berufs- und beschäftigungsorientierten Handlungen – kompetent und differenziert vollziehen zu können. Deutsch ist dabei allerdings häufig nicht die zweit-, sondern die dritt- oder vierterworbene Sprache. Darüber hinaus ist in der schulischen Bildung sowie im Bereich international eingebundener Arbeitsplätze der Erwerb einer oder zwei weiterer Sprachen zu meistern. . 4 Nationaler Integrationsplan 2007, S. 78-79
Im von der Bundesregierung geförderten Netzwerk „Integration durch Qualifizierung“ wurde hierzu im „Integration durch Qualifizierung“5 werden seit meh- Frühjahr 2010 eine Delphi-Breitband-Erhebung durch- reren Jahren Erfahrungen mit einem differenzierten geführt. Die Gesamtschau der Ergebnisse dieser Erhe- Modellsystem zur migrationsspezifischen beschäfti- bung bildet die Grundlage für die Konkretisierung der gungsorientierten Beratung erarbeitet. Im Auftrag im Nationalen Integrationsplan formulierten Zielstel- des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wird lung und der flächendeckenden Umsetzung des sich in der vorliegenden Untersuchung herausgearbei- aus ihr ergebenden Auftrages. Sie dient dem Auftrag tet, welche Themen und Bedarfe sich als gemeinsame gebenden Bundesministerium für Arbeit und Soziales Spezifika einer migrationsspezifisch angebotenen zugleich zur Sicherung der während der praktischen beschäftigungsorientierten Beratung zu unterschied- Modellarbeit des Netzwerks erzielten Erkenntnisse für lichen Anlässen innerhalb der Erwerbsbiografie von die (Weiter-)Entwicklung eines Konzepts zur migra- Ratsuchenden mit Migrationshintergrund ergeben. tionsspezifischen beschäftigungsorientierten Bera- Gestützt auf die Expertise der Akteure im Netzwerk tung. 5 Netzwerk IQ 2009, S. 46f.; www.intqua.de
B. Erhebungsmethode sen in Bildung und Beruf, zum Beispiel am Übergang von der allgemeinen Schulbildung zur beruflichen Ausbildung, am Übergang zwischen Berufsausbildung und erster Erwerbsarbeit oder auch zwischen aufein- Die Mitglieder des Netzwerks „Integration durch Qua- ander folgenden beruflichen Stationen innerhalb des lifizierung“ verfügen über – insbesondere durch ihre Erwerbslebens. Beratungsaufgaben stellen sich aber fachliche und praktische Arbeit in den Einzelprojekten auch innerhalb noch laufender Phasen von Bildung und angereicherte – Erfahrung und entsprechendes Wissen Erwerbstätigkeit, zum Beispiel dann, wenn eine Wei- über spezifische Themen und Bedarfe migrationsspe- terbildung geplant oder ein noch nicht beschlossener zifischer beschäftigungsorientierter Beratung. Dieses Wechsel erwogen wird. Deshalb wurde als Raster für die Wissen, ergänzt um das Wissen zusätzlich im IQ-Fach- Delphi-Erhebung zunächst eine stark differenzierte arbeitskreis konsultierter Expertinnen und Experten, Topographie wesentlich vorkommender typischer Orte wurde in einem Delphi-Breitband-Prozess erhoben6. und Stationen innerhalb eines Erwerbslebens entwor- fen, um das Gesamtaufgabenfeld beschäftigungsorien- Beschäftigungsorientierte Beratung zu Bildungs- und Berufsthemen wird bedeutsam an sehr vielen unter- tierter Beratung abstecken zu können. Diese für diese schiedlichen möglichen Orten innerhalb der Bildungs- Erhebung originär entworfene Gesamtschau wurde um und Erwerbsbiographie von Ratsuchenden. Solche den migrationsspezifischen Übergangspol Zuzug aus Orte, an denen sich spezifischer Beratungsbedarf er- anderen Ländern ergänzt. Das folgende Schaubild prä- gibt, liegen zum einen häufig an Übergängen zwischen sentiert die Topographie aller berücksichtigten Orte unterschiedlichen gegeneinander abgrenzbaren Pha- im Laufe eines Erwerbslebens: Aufgabenfeld beruflicher und beschäftigungsorientierter Beratung ‑ die wesentlichen Orte im Lauf eines Erwerbslebens ‑ Zuzug aus anderen Staaten (Z) Berufliche Erstausbildung erste Erwerbsphase berufliche Weiterbildung (B) (E) (W) zweite Erwerbsphase (E+) hochschulische Wege Arbeitsstelle beruflicher Aufstieg Allgemeinbildung (AB) (hB) (A1) (AW) Arbeitsstelle in gleicher schulische Wege berufliche Umorientierung beruflicher Stellung (sB) (UW) (A2) duale Wege Selbstständigkeit beruflicher Wiedereinstieg (dB) (S) (EW) Arbeitslosigkeit/Nichterwerbstätigkeit (Alo/N) Grafik: ©Kohn 2010 6 Die empirische Methode der Delphi-Befragung setzt auf die Sammlung wesentlicher Beiträge aus der Expertise spezifisch fachkundiger Personen in der wissenschaftlichen Reflexion und im Praxisfeld des Untersuchungsgegenstandes mit Hilfe einer einheitlichen Fragestellung. Bei der Breitband-Variante der Del- phi-Methode wird die Expertise der Erhebungspartner nach der Sammlung der voneinander unabhängig formulierten Antwortbeiträge zusätzlich genutzt, um in nachlaufenden Diskursprozessen die gemeinsame Struktur des versammelten Materials herauszuarbeiten. Zur Validität der Methodik vergleiche Häder und Häder 2000 sowie Häder 2009. Siehe auch Liste der Expertinnen und Experten auf Seite 29.
Die elf identifizierten Anlässe sind: 1. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bil- denden Schulsystem und der dualen Berufsausbildung (AB [dB) 2. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bil- denden Schulsystem und der schulischen Berufsaus- bildung (AB [sB) 3. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bil- denden Schulsystem und dem Studium an einer Hoch- schule (AB [hB) 4. Beratung am Übergang zwischen einem dualen, schulischen oder akademischen beruflichen Bildungs- abschluss und der ersten hauptberuflichen Erwerbsar- beitsstelle (in abhängiger Beschäftigung) (B [A1) (Der Einfachheit halber wurden keine Differenzie- 5. Beratung am Übergang zwischen einem beruflichen rungen innerhalb des vor der Erwerbsphase liegen- Bildungsabschluss oder einer abhängigen Beschäfti- den allgemein bildenden Schulsystems vorgenommen, gung und einer selbstständigen Erwerbstätigkeit (B/ obwohl sich auch schon innerhalb dieses Systems A1 [S) berufs- und beschäftigungsorientierte Beratungs- themen ergeben können, beispielsweise bei der Wahl 6. Beratung beim Wechsel der Arbeitgeberin oder des von Leistungsfächern in der Sekundarstufe II oder Arbeitgebers (A1 [A2) bei der Erkundung unterschiedlicher Wege zur Fach- 7. Beratung bei einer Entscheidung zur beruflichen hochschulreife. Auch ein möglicher Rücksprung in das Fortbildung oder Umorientierung (E [AW/UW) allgemein bildende System, etwa zum nachträglichen 8. Beratung zur Beendigung von Arbeitslosigkeit und Erwerb der Allgemeinen oder Fachhochschulreife blieb zur aktiven Teilhabe am Erwerbsarbeitsmarkt (durch unberücksichtigt.) Beschäftigung auf einer neuen Arbeitsstelle, selbst- Ausgehend von dieser Gesamtschau wurden systema- ständige Gründung eines Unternehmens oder beruf- tisch 18 unterschiedliche typische Anlässe beschäfti- liche Weiterbildung) (Alo [A2/S/W) gungsorientierter Beratung differenziert, die sich an 9. Beratung beim Zuzug nach Deutschland zur Inte- und zwischen den wesentlichen Orten im Laufe eines gration in den deutschen Erwerbsarbeitsmarkt (durch Erwerbslebens ergeben (können). Diese 18 Anlässe berufliche Ausbildung, direkte Aufnahme einer Er- bildeten – ergänzt um eine frei formulierbare Zusatz- werbstätigkeit oder berufliche Anpassungs- und Wei- kategorie – das Erhebungsraster, innerhalb dessen terbildung) (Z [B/E/W) Einzelfelder die Expertinnen und Experten jeweils spe- 10.. Beratung beim Übergang von bisher oder zeitwei- zifische Themen und Bedarfe migrationsspezifischer se Nichterwerbstätigen in den Erwerbsarbeitsmarkt Beratung schriftlich festhielten. In einer gemein- (durch berufliche Ausbildung, direkte Aufnahme ei- samen Sitzung der Erhebungsteilnehmerinnen und ner Erwerbstätigkeit oder berufliche Anpassungs- und –teilnehmer wurden dann die gemeinsamen Struktur- Weiterbildung) (N [B/E/W) ebenen der versammelten Ergebnisse identifiziert. Daraus ergab sich eine teilweise Zusammenfassung auf 11.. Beratung zur Stabilisierung während Phasen be- insgesamt elf wesentlich voneinander zu unterschei- ruflicher Aus- oder Weiterbildung ([B]/[W]) dender Beratungsanlässe und sieben typische spezi- Diese elf Beratungsanlässe werden den folgenden Ab- fische Herausforderungen, die bei den untersuchten schnitt C zur Darstellung der Einzelergebnisse glie- Beratungsaufgaben bewältigt werden müssen. dern.
C. Ergebnisse Spezifische Themen und Bedarfe von Ratsu- chenden mit Migrationshintergrund bei elf ty- pischen Anlässen beschäftigungsorientierter Beratung zu Bildungs- und Berufsfragen Bei der gemeinsamen Strukturierung der gesammelten Unter diesen Gesichtspunkten ergeben sich spezifische Erhebungsergebnisse ergab sich ein Muster aus fol- Aufgaben für die migrationsspezifische Beratung in genden Herausforderungen an eine migrationsspezi- Bildungs- und Berufsfragen, die zu elf typischen An- fische Beratung:7 lässen des Übergangs zwischen oder der Entscheidung innerhalb einzelner Orte und Phasen im Laufe eines 1. Herausforderungen, die sich aus einem spezifischen Erwerbslebens gebraucht wird. Die folgenden Einzel- Wissensnachteil über das deutsche Bildungs- und Be- ergebnisse werden deshalb entsprechend einem zwei- schäftigungssystem ergeben dimensionalen Raster aus elf Anlässen mal sieben Her- 2. Herausforderungen, die sich aus dem Erwerb des ausforderungen präsentiert. Gliederungsebenen dieser Deutschen als Zweitsprache ergeben, in der das eigene Darstellung beziehen sich jeweils auf die Bezeichnung Agieren in Bildung, Beruf und in der Beratung formu- nach dem Muster [Beratungsanlass.Herausforderung]. liert werden muss [4.6] steht also für die Herausforderung Förderung bei 3. Herausforderungen, die sich aus dem Aufenthalts- der Beratung an der „Zweiten Schwelle“ bei der Bera- status in Deutschland und aus der formalen Anerken- tung am Übergang nach der abgeschlossenen Berufs- nung im Ausland erworbener Zertifikate ergeben ausbildung zur ersten Erwerbsarbeit. 4. Herausforderungen, die sich aus diskriminierendem Um Redundanzen möglichst zu vermeiden, werden für Verhalten oder diskriminierenden Strukturen ergeben den ersten Beratungsanlass an der „Ersten Schwelle“ 5. Herausforderungen, die sich – besonders unter Be- zwischen allgemein bildendem Schulsystem und der rücksichtigung der unter 1 bis 4 genannten Punkte Aufnahme eines dualen Berufsausbildungsweges alle – für die Potenzialanalyse und für die Aufgabe des Em- sieben Herausforderungen ausführlich beleuchtet. Da- powerment ergeben bei ergeben sich neben anlassspezifischen eine Reihe grundsätzlicher Aufgaben, die auch an den anderen Or- 6. Herausforderungen an den Zugang zur und an die ten und zu den anderen Anlässen zu meistern sind. Für Praxis der ausbildungs- und arbeitsmarktpolitischen die folgenden Beratungsanlässe 2 bis 11 wird deshalb Förderung und Unterstützung zum Teil auf Ausführungen im Abschnitt 1 verwiesen 7. Ansprüche an die Kompetenz der Beraterinnen und und werden nur solche Themen und Bedarfe differen- Berater, die sich aus den unter 1 bis 6 genannten Her- zierter dargestellt, die sich zusätzlich und anlassspezi- ausforderungen ergeben fisch ergeben haben. Weil jeweils nur anlassspezifisch 7 Diskutiert wurde die weitere Differenzierung der Herausforderung 3. Bei einer Clusterung stellt sich immer die Aufgabe, einen Kompromiss zwischen möglichst hoher Differenziertheit und möglichst perabler Übersichtlichkeit zu finden. Für die Präsentation der folgenden Einzelergebnisse erscheint die Zusammenfassung der beiden durchaus unterschiedlichen Themen Aufenthaltsstatus und Anerkennung von Zertifikaten sinnvoll.
stark wirksame Herausforderungen differenziert dar- markieren, wo einzelne Herausforderungen zu einzel- gestellt werden, erscheint die Nummerierung der be- nen Beratungsanlässen spezifisch erläutert werden. handelten Punkte auf der zweiten Gliederungsebene Die hellgrün gefärbten Markierungen verweisen auf sprunghaft. spezifische Ausführungen, die zu einem Beratungs- Die folgende Übersichtsgrafik fasst die Fundstellen anlass für mehrere Herausforderungen gemeinsam spezifischer Ausführungen zu den unterschiedlich ge- formuliert werden. Die Einzelfelder enthalten die je- nannten Herausforderungen zusammen. Türkise Felder weilige Abschnittsnummer. A2/S/W AW/UW B/E/W dB B/E/W A2 dB hB sB A1 B/A1 [ [B]/[W] Alo [ AB [ AB [ AB [ AB [ A1 [ B[ E[ Z[ 1.1 2.1 3.1 4.1 5.1 6.1 7.1 Wissensnachteil (W) 1.2 2.2 3.2 4.2 5.2 7.2 Zweitsprache (DaZ) Aufenthalt/Zertifikat- 1.3 7.3 migration (AZ)8 1.4 2.4 3.4 4.4 5.4 8.4 9 10 11 Diskriminierung (D) 1.5 2.5 3.5 5.5 7.4 8.5 Empowerment (E) - 4.5 6.5 - - 1.6 2.6 3.6 - 5.6 - 7.7 8.6 Förderung (F) 4.7 6.7 1.7 2.7 3.7 5.7 8.7 Beratungskompetenz (BK) 8 Der Begriff Zertifikatmigration wird hier gewählt, um zu verdeutlichen, dass es bei der Umsetzung von in anderen Ländern erworbenen Zertifikaten am Ar- beitsmarkt nicht hinreicht, eine rechtlich formale Anerkennung zu erreichen. (Der Begriff „Anerkennung“ wird im Fachdiskurs meist ausschließlich auf diesen Aspekt bezogen.) Die attestierten Kompetenzen und Potenziale müssen auch ganz real von Arbeitgebern am deutschen Arbeitsmarkt anerkannt, d.h. als Kriterium akzeptiert werden. Zertifikatmigration umfasst also sowohl die formal-rechtliche als auch die reale Anerkennung am Arbeitsmarkt. Vgl. Abschnitt 9 S. 24
1. Beratung am Übergang zwischen dem all- einbeziehen muss. Dies gilt auch für die Öffnung mög- gemein bildenden Schulsystem und der du- lichst vieler Informationsfelder über berufliche Bil- dungs- und Platzierungsoptionen. Und es ergibt sich alen Berufsausbildung (AB [ dB) eine hohe Verantwortung dort, wo Informationen und Beratungsangebote durch junge Schulabgängerinnen Übergangsberatung und Schulabgänger – meist wegen der eigenen großen Schule - duale Ausbildung Unsicherheit und entsprechendem Vermeidungsver- halten – nicht initiativ abgerufen und in Anspruch genommen werden.9 Durch intensive Öffentlichkeits- arbeit sind die Jugendlichen und ihr familiäres Umfeld anzusprechen und im Bedarfsfalle auch aktiv aufzusu- chen.10 Zu diesem Beratungsanlass ergeben sich für die oben genannten Herausforderungen folgende Besonder- heiten: Die Beratung an der sogenannten „Ersten Schwelle“, also am Übergang vom allgemein bildenden Schul- Herausforderung Wissensnachteil [1.1] system in die berufliche Ausbildung und damit in die Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit Migra- erste Phase des Berufslebens, ist für die meisten Rat- tionshintergrund haben sowohl durch ihre Schicht- suchenden von besonderer Bedeutung. Wie weit sich zugehörigkeit als auch insbesondere durch die Er- hier Horizonte und alternative Optionen öffnen, wie werbsgeschichte ihres familiären und außerfamiliären nah die berufliche Wahlentscheidung den eigenen sozialen Umfeldes überproportional häufig einen Hoffnungen (Neigung) und Möglichkeiten (Eignung) eingeschränkten Blick auf die Vielfalt beruflicher Op- kommt, das entscheidet nicht nur mit über die Verwirk- tionen. Unterdurchschnittliche Erwerbschancen der lichung der grundrechtlich garantierten Berufsfrei- Eltern, Bestätigung dieses Eindrucks durch die Erfah- heit, sondern auch mit über die Optimierung des eige- rungen ihrer gleichaltrigen Freunde und Bekannten nen Erwerbspotenzials und damit über die individuelle sowie fehlende Rollenvorbilder für gesellschaftlichen Chance auf gesellschaftliche Teilhabe. Gleichzeitig er- und beruflichen Aufstieg führen zur Unterschät- gibt sich dieser wesentliche Beratungsanlass zu einem zung der eigenen Optionen. Auch mangelt es an der Zeitpunkt, an dem die Ratsuchenden in der Regel noch Unterstützung – zum Beispiel durch erfolgreich Be- ohne eigene Erwerbserfahrung sind und ihre Entschei- rufstätige – in entsprechenden sozialen Netzwerken, dungen dadurch auf sehr unsicherer Datengrundlage deren Bedeutung für die berufliche Platzierung in fällen müssen. Zum einen bedeutet dies, dass Vorerfah- der jüngeren Arbeitsmarktforschung betont wird11. rungen, die über die Familie vermittelt werden können Wissensdefizite werden zum Teil verstärkt durch Fehl- – oder eben nicht –, starke Wirkung entfalten können. einschätzungen auf der Grundlage von Informationen Zum anderen ergibt sich eine hohe Verantwortung für aus der Herkunftsgesellschaft, etwa wenn die duale die Fachkräfte in der Beratung und in der psycholo- Berufsausbildung als minderwertiger Weg gegenüber gischen Eignungsdiagnostik. Dies gilt nicht nur für die schulischen Ausbildungsangeboten wahrgenommen Aufgabe einer ausgesprochen explorativen Potenzial- wird. Der starke soziale Bezug auf die eigene ethnische erhebung, die auch nicht formal zertifizierte Qualifi- Gemeinschaft stellt eine Hürde für alternative Infor- kationen aufspüren und in den Entscheidungsprozess mationsquellen dar. 9 Auch wenn die hohe Last der hier beschriebenen Verantwortung professionell durch ein Konzept der „positiven Nichtsicherheit“ reduziert werden kann (vgl. Nestmann et al. 2007), gilt doch gerade für die so entstehende Offenheit der Anspruch auf ein Öffnen möglichst vieler möglicher Optionen, damit sowohl Be- rufswahlerstentscheidungen als auch Anpassungs- und Veränderungsentscheidungen im weiteren Verlauf des Erwerbslebens nicht auf unterkomplexer Grundlage getroffen werden – ein Suboptimum, das sich insbesondere für Entscheiderinnen und Entscheider mit Migrationshintergrund ergeben kann. 10 Wie es zum Beispiel im Rahmen der öffentlich finanzierten Berufsberatung durch Informationsveranstaltungen und eigene Unterrichtstätigkeit der Berate- rinnen und Berater an allgemein bildenden Schulen geschieht. 11 Vgl. Klinger und Rebien 2009
liche Zugangsschranken vor einem Ausbildungsweg in Deutschland und schwer lösbare Aufgaben bei der Anerkennung formaler Abschlusszertifikate. Herausforderung Diskriminierung [1.4] Nicht selten haben Schulabgängerinnen und Schulab- gänger mit Migrationshintergrund bereits offene und subtile Diskriminierung in der Schule und in der außer- schulischen Gesellschaft erlebt und können entweder passiv oder abwehrend im Berufswahlprozess und auf staatliche Beratungsangebote reagieren. Häufig wur- de eine resignative Einschätzung der eigenen Chancen bereits verinnerlicht. Solche möglichen Voreinstellun- gen müssen erkannt und von Beginn an als wesent- Herausforderung Zweitsprache [1.2] liche Rahmenbedingung, aber auch als Thema der Be- Aus der Bildungs- und Integrationsforschung wissen ratung berücksichtigt werden. Innerhalb der Beratung wir, dass der Erwerb der Zweitsprache Deutsch im all- an der „Ersten Schwelle“ geht eine besondere Gefahr gemein bildenden Schulsystem nur unvollkommen ge- diskriminierenden Ausschlusses von der migrations- lingt12. Dies gründet zum einen in der suboptimalen ignorierend „neutralen“ und auf die Kompetenz in der Betreuung der Schülerinnen und Schüler, insbesonde- Zweitsprache Deutsch fußenden Konstruktion von Eig- re in den Grund- und Hauptschulen, und zum anderen nungstests aus. Befunde zur ethnischen Diskriminie- in der relativ geringen Zeitspanne des Halbtagsschul- rung bei der Personalauswahl in Ausbildungsbetrieben besuchs, die wegen der weiteren Nutzung der Erstspra- unterstreichen die Notwendigkeit zur aktiven Antidis- che im familiären und außerfamiliären sozialen Umfeld kriminierungsarbeit am Übergang von allgemein bil- häufig die einzige Möglichkeit zur aktiven Anwendung dender Schule zu dualer Berufsausbildung. der Zweitsprache bleibt. Insbesondere die intensive explorative Erhebung von Leistungspotenzialen und Herausforderung Empowerment [1.5] beruflichen Vorstellungen in der Beratung an der „Ers- Aus den bisher genannten Faktoren, die die Chancen ten Schwelle“ bedarf der differenzierten sprachlichen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an der Kommunikation zwischen Beratenden und Ratsuchen- „Ersten Schwelle“ zum Teil objektiv einschränken, zum den. Fehlende Verständigungselemente zwischen bei- Teil deren subjektives Agieren im Berufswahlprozess den erschweren die Potenzialanalyse und erschweren beeinträchtigen, ergibt sich eine massive und kom- auch die Kompensation des unter 1.1 beschriebenen plexe Anforderung an die beschäftigungsorientierte Wissensnachteils. Eine besondere sprachliche Hürde Beratung, tatsächlich vorhandene Potenziale zu erken- ergibt sich auch vor dem Einbezug des familiären Um- nen, sie auch für die Ratsuchenden transparent zu ma- feldes in die Beratung, zum Beispiel der Eltern, deren chen, ihre Weiterentwicklung und Nutzung zu fördern Zweitsprachkompetenz häufig geringer ist als die der und die Ratsuchenden so in die Lage zu versetzen, ihre ratsuchenden Kinder. grundrechtlich garantierte Berufsfreiheit13 im Rahmen ihrer tatsächlichen Möglichkeiten wahrzunehmen. Die Herausforderung Aufenthaltsrecht und Zertifikat- Umsetzung dieser Aufgabe erfordert ein differenzier- migration [1.3] tes und nachhaltig wirksames Beratungsinventar, weil Je nach Aufenthaltsstatus, erreichter Bildungspositi- die genannten schwächenden Faktoren aus teils objek- on zum Zeitpunkt der Zuwanderung und der Differenz tiven Nachteilen, teils subjektiven Fremd- und Selbst- zwischen den Zertifizierungssystemen in der allge- zuschreibungen sich gegenseitig verstärken und den meinen und beruflichen Bildung des Herkunftslandes Weg zu zentralen Ressourcen an der „Ersten Schwelle“ und des Aufnahmelandes ergeben sich zum Teil recht- versperren oder zumindest behindern. 12 Vgl. Schroeder 2007 13 Der Begriff der Berufsfreiheit umfasst sowohl die Berufswahlfreiheit als auch die Berufsausübungsfreiheit. 10
Herausforderung Förderung [1.6] 2. Beratung am Übergang zwischen dem all- Ein wesentliches Element für eine differenzierte und gemein bildenden Schulsystem und der schu- nachhaltige Ermächtigungs- und Antidiskriminie- lischen Berufsausbildung (AB [ sB) rungsstrategie ist das für alle Jugendlichen an der „Ersten Schwelle“ verfügbare ausbildungsmarktpo- litische Fördersystem aus berufsvorbereitenden Bil- Übergangsberatung dungsmaßnahmen, ausbildungsbegleitenden Hilfen, Schule - schulische Berufsausbildung Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrich- tungen und Berufsbildungswerken sowie der finan- ziellen Unterstützung im Rahmen der Berufsausbil- dungsbeihilfe. Dieses Fördersystemlässt zwar an vielen Stellen individuelle Bedarfsanpassungen zu, stellt aber in seiner Komplexität aus unterschiedlichen Maßnah- meformen und vielfältigen Akteuren auf drei unter- schiedlichen Ebenen (unterschiedliche Förderquellen, Träger und zuständigen Zertifizierungsstellen sowie den Lehrenden an beiden Ausbildungsorten im dualen Der Übergang zwischen dem allgemein bildenden Schul- System) eine besondere Herausforderung an die Ko- system und einem schulischen Weg der Berufsausbil- ordinierung und nachhaltige Qualitäts- und Erfolgssi- dung stellt eine zweite Option an der „Ersten Schwel- cherung. Um den sich aus den in den vorhergehend le“ dar. Die Wahl dieses beruflichen Ausbildungsweges beschriebenen Faktoren entstehenden migrations- kann aus unterschiedlichen Gründen geschehen. Zum spezifischen Förderbedarf zu befriedigen, müssen an einen gibt es Berufe, die auf dualem Wege nicht er- vielen Stellen der individuellen Förderstrategie diskri- reichbar sind und ausschließlich schulisch ausgebil- minierende Strukturen erkannt und beseitigt werden, det werden. Hierzu gehören insbesondere die nicht zum Beispiel im Bereich der Potenzialanalyse und der akademischen therapeutischen Berufe, etwa in der adäquaten Didaktik in Maßnahmen. Alle Impulse hier- Physiotherapie, der Ergotherapie oder der Logopädie, für gehen von den Beratungsfachkräften aus, die in der aber auch nicht akademische pädagogische Berufe, die Regel zugleich die Entscheiderinnen und Entscheider Berufe des Pflegewesens und der technischen Assis- für die Förderung sind, und alle Fäden laufen hier auch tenz. In diesen Bereichen bestimmt also die Berufs- wieder zusammen. In der beschäftigungsorientierten wahl auch die Wahl der Ausbildungsorganisation auf Beratung ist zugleich ein komplexes migrationsspezi- schulischem Wege. Andere Berufsziele stehen sowohl fisches Förderungsmanagement zu leisten. in dualer wie in schulischer Ausbildungsform zur Verfü- Anspruch Beratungskompetenz [1.7] gung – dies vor allem im Bereich des kaufmännischen und Bürowesens sowie in der Informations- und Kom- Die unter den Punkten 1.1 bis 1.6 beschriebenen Her- munikationstechnik. Nicht selten beruht die optionale ausforderungen sind nur zu meistern, wenn die Bera- Wahl des schulischen Ausbildungsweges auf einer am tungsfachkräfte über zugleich konzentrierte wie dif- Ausbildungsmarkt individuell nicht realisierbaren ferenzierte spezifische interkulturelle Kompetenzen dualen Chance. Aber auch die einfachere Einbindung verfügen. Durchgängig migrationssensibel und anti- des Erwerbs der Fachhochschulreife oder die schon diskriminierend zu gestaltende Beratungsaufgaben er- zuvor genannte generelle Bevorzugung eines schu- geben sich auf der Gesamtpalette beraterischer Kom- lischen Ausbildungsweges können Motive zur Wahl petenz – von der ertragreichen Kommunikation unter einer solchen Ausbildungsform sein. Als Wahloption spracherschwerten Bedingungen über die tatsächlich an der „Ersten Schwelle“ unterliegt sie den gleichen kulturell umfassende Potenzial- und Bedarfsanalyse Unsicherheiten über entscheidungsrelevante Daten und besonderen psychologischen Strategien des Em- wie die zuvor im Abschnitt 1 zur dualen Ausbildung powerment bis hin zum komplexen migrationsspe- genannten – sowohl auf der Seite der Ratsuchenden zifischen Förderungsmanagement. Solche Aufgaben als auch auf der Seite der Beratenden. bedürfen der gezielten Entwicklung beraterischer Spezialkompetenzen. Sie können in einer „normalen“ Ebenso gilt der überwiegende Teil der unter Punkt 1 Beratung unter „normalen“ Bedingungen und mit gemachten Ausführungen zu spezifischen Herausfor- beraterischen Standardkompetenzen nicht bewältigt derungen in der und zu Ansprüchen an die migrations- werden. 11
hen betrieblichen Praxisanteilen inferior gesehen wer- den. Gleichwohl besteht eine wichtige Aufgabe in der beschäftigungsorientierten Beratung an der „Ersten Schwelle“ darin, die schulische Option insbesondere dort aktiv in die Gespräche einzubringen, wo sich mit ihr das Berufswahlspektrum erweitern lässt. (Gerade im schulischen Ausbildungsspektrum finden sich Be- rufe, deren Marktchancen im strukturellen Wachstum des Dienstleistungssektors sehr gut sind und deren Bedeutung weiter zunehmen wird.) Aber auch Fehlein- schätzungen insbesondere der Marktchancen an der „Zweiten Schwelle“ bei Berufen, die auch dual erlernt werden können, müssen erkannt und transparent ge- spezifische Beratung auch für die Übergangsberatung macht werden. zur schulischen Berufsausbildung. Wegen der zum Teil Herausforderung Zweitsprache [2.2] komplementär zu erwägenden beruflichen Optionen sowohl auf dualen als auch auf schulischen Ausbil- Schulische Ausbildungen setzen stärker noch als du- dungswegen werden ohnehin beide möglichen Über- ale Ausbildungen mit ihren verstärkten praktischen gänge jeweils innerhalb ein und desselben Beratungs- Anteilen auf das Medium Sprache als Instrument gesprächs thematisiert werden. Einige spezifische der Wissensvermittlung. Sie sind also für Auszubil- Themen und Bedarfe des Übergangs in eine schulische dende mit Deutsch als Zweitsprache einerseits eine Berufsausbildung werden im Folgenden zusätzlich größere Herausforderung und bieten andererseits hervorgehoben: stärkere Möglichkeiten zur praktischen Anwendung der Zweitsprache und damit zum Ausbau der eigenen Herausforderung Wissensnachteil [2.1] Sprachkompetenz. Die Eignung eines schulischen Aus- Das Wissen um die oben beschriebene (Teil-)Komple- bildungsweges für Ratsuchende mit Migrationshinter- mentarität dual und schulisch ausgebildeter beruf- grund ist also in dieser dialektischen Hinsicht beson- licher Optionen gehört zu den tiefergehenden Wis- ders zu thematisieren und zu prüfen. sensbeständen über das deutsche Bildungssystem, Herausforderung Diskriminierung [2.4] die bei Ratsuchenden mit Migrationshintergrund und ihren Eltern in der Regel nicht oder nur in lückenhaf- Entsprechend der unter Punkt 2.2 herausgearbeite- ter oder gar inhaltlich verzerrter Form vorhanden sind. ten Dialektik der relativen Position schulischer Aus- Dafür ist unter anderem die Dominanz des dualen Sys- bildungswege im Gesamtsystem beruflicher Ausbil- tems in der öffentlichen Wahrnehmung von und in der dungen kann die Wahl schulischer Optionen entweder Debatte über Berufsausbildung verantwortlich, aber vorschnell ausgeschlossen werden, weil Ratsuchende auch die mögliche Differenz zwischen dem deutschen auf ihrem bisherigen schulischen Weg Signale er- Berufsausbildungssystem und dem der Herkunftslän- halten haben, dass sie von anspruchsvolleren Wegen der. So wird häufig der Ertrag schulischer Bildungs- ausgeschlossen bleiben14 – oder gerade umgekehrt wege über- und der Ertrag dualer Ausbildungswege vorschnell als Alternative zu am Ausbildungsmarkt unterschätzt, weil in den meisten Ländern außerhalb schwieriger zu realisierenden dualen Berufsausbil- des deutschsprachigen Raumes Ausbildungen mit ho- dungen gesehen und getroffen werden. 14 Eine entsprechende Diskriminierung ergibt sich aus der Versagung der Finanzierung von Schulgebühren für Berufsausbildungen, die zum Teil nur über diesen kostenpflichtigen Weg erreichbar sind, insbesondere für die Kinder aus Bedarfsgemeinschaften nach dem II. Sozialgesetzbuch, unter ihnen überproportional viele Zuwandererfamilien. Inwieweit dieser die Berufsfreiheit und damit grundrechtseinschränkende Umstand durch die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungs- gerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09 - 1 BvL 3/09 - 1 BvL 4/09), in dem der Gesetzgeber insbesondere zur Erhöhung der Bedarfssätze für Bildungskosten der Kinder verpflichtet wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen. 12
Herausforderung Empowerment und Förderung 3. Beratung am Übergang zwischen dem all- [2.5 + 2.6] gemein bildenden Schulsystem und dem Stu- Neben den unter 1.5 und 1.6 genannten Inhalten muss dium an einer Hochschule (AB [ hB) in der migrationsspezifischen Beratung die Option schulischer Berufsausbildungswege mit spezifischem Übergangsberatung Problembewusstsein der Beratenden bearbeitet wer- Schule - Hochschulbildung den. So kann einerseits das aktive Einbringen aus- sichtsreicher schulisch ausgebildeter Berufe ange- zeigt sein. Dabei ist breiter Raum in der Beratung zu reservieren für Möglichkeiten der Finanzierung solcher Ausbildungswege15, die in der Regel nicht nur keine Ausbildungsvergütung erbringen, sondern im Gegenteil häufig die Zahlung nicht unerheblicher Schulgebühren erfordern. In anderen Fällen kann es von besonderer Bedeutung sein, alle Möglichkeiten des differenzierten ausbildungsmarktpolitischen För- dersystems nach dem III. Sozialgesetzbuch aktiv zu Die Komplexität der Themen in der Beratung von Rat- thematisieren und verständlich zu erläutern, um zur suchenden mit oder auf dem Weg zu einem Schulab- nachhaltigen Verfolgung eines dualen Ausbildungs- schluss mit Allgemeiner oder Fach-Hochschulreife weges im angestrebten Berufsfeld zu ermutigen und ergibt sich aus dem außerordentlich vielfältigen und diesen finanziell und beraterisch begleitend zu unter- sich beschleunigt verändernden System unterschied- stützen. lichster Studiengangangebote, der Dauer dieses beruf- Anspruch Beratungskompetenz [2.7] lichen Bildungsweges, dem nur losen Zusammenhang zwischen akademischen Fachabschlüssen und einer je- Zusätzlich zu den unter Punkt 1.7 genannten Kompe- weils vielfältig sich eröffnenden Palette unterschied- tenzen wird unter anderem bei dieser Übergangsbe- licher adäquater akademischer Ausübungsberufe und ratung zwischen allgemein bildender und beruflich aus der sich aus dem Vorgenannten ergebenden beson- ausbildender Schule deutlich, dass Beraterinnen und deren Herausforderung bei der Gegenüberstellung von Berater bei Ratsuchenden mit Migrationshintergrund Bildungsinvestitionen und Platzierungsaussichten am in besonders professioneller Weise über ihr kommu- Arbeitsmarkt. Entsprechend groß sind auch in diesem nikatives Instrumentarium verfügen und ein hohes formal höchsten Bildungsübergang an der „Ersten Bewusstsein über ihre unterschiedlichen Teil-Aufga- Schwelle“ die objektiven und subjektiven Unsicher- ben in der Beratung haben und anschließend verant- heiten bei Ratsuchenden vor der Studienwahlent- wortungsvoll mit diesen umgehen müssen: Wo wegen scheidung. Da Ratsuchenden mit Hochschulzugangs- spezifischer Wissensnachteile die Information zu von berechtigung auch alle anderen (in den Abschnitten den Ratsuchenden selbst nicht thematisierten Be- 1 und 2 genannten) beruflichen Bildungswege offen rufszielen eingebracht werden soll, wo nachhaltige stehen, werden auch diese entweder als prioritäre, al- Ermutigung zur Aufgabe wird, wo Ratsuchende mit ternative oder ein Studium ergänzende Optionen zu- Potenzialen sich bestimmte Wege nicht zutrauen, da sätzlich thematisiert. ist in besonders sensibler Weise eine Gratwanderung zu leisten zwischen beeinflussenden und den eigenen Herausforderung Wissensnachteil [3.1] Standpunkt der Ratsuchenden respektierenden Inter- Der Erwerb der beschriebenen komplexen Informati- ventionen. onen und das entscheidungsrelevante Management Auch ist ein komparatives Wissen über Ausbildungs- dieser Informationen stellt für alle Studienwählerinnen wege in wichtigen Herkunftsländern von Bedeutung, und Studienwähler eine besondere Herausforderung um mögliche Fehleinschätzungen über den Ertrag ein- dar. Diese Herausforderung erhöht sich für Ratsu- zelner Ausbildungswege thematisieren zu können. chende, die aus Familien ohne akademische Bildungs- 15 Solche Finanzierungsmöglichkeiten basieren in der Regel auf dem Bundesausbildungsförderungsgesetz oder auf Stipendien, liegen also außerhalb der für die Berufsberatung zuständigen Sozialgesetzbücher III und II. 13
erfahrung stammen, weil entsprechende Bewertungs- spezifischen ökonomischen Nachteilen und mündet kriterien und –hilfen aus dem sozialen Umfeld fehlen. in einer geringeren Kraft zur Bildungsinvestition und Für Studieninteressierte mit Migrationshintergrund zur Überbrückung bildungsrenditefreier Zeiten nach kommt die Differenz zwischen dem akademischen Aus- erfolgreichem Studienabschluss. bildungs- und Arbeitsmarkt des Herkunftslandes, das ihren eigenen Bewertungshintergrund und den ihrer Herausforderung Empowerment [3.5] Eltern bestimmen kann, und den entsprechenden Zu- Um Studienberechtigte mit Migrationshintergrund zur sammenhängen in Deutschland hinzu. Aufnahme eines Studiums zu ermutigen, muss in der Regel die größte Distanz zur familiären Bildungserfah- Herausforderung Zweitsprache [3.2] rung überwunden und die Bereitschaft zur höchsten Schwierigkeiten bei der Anwendung der Zweitsprache Bildungsinvestition gefördert werden. Dabei ist ins- können bei Ratsuchenden mit formal höchsten allge- besondere in Zeiten negativer Arbeitsmarktbericht- mein bildenden Schulabschlüssen16 leicht unterschätzt erstattung und bei einem Interesse für vermeintlich werden. Stellt aber der Erwerb der Sprachkompetenz „arbeitsmarktfernere“ Studiengänge nicht nur gegen auf der akademischen Ebene für jede Sprachteilneh- skeptische Haltungen im familiären und außerfamili- merin und jeden Sprachteilnehmer eine besondere ären sozialen Umfeld zu argumentieren, sondern auch Herausforderung dar, so wächst diese zusätzlich für gegen das mediale Überzeichnen des vermeintlichen Studieninteressierte aus Familien ohne akademische Bildungsinvestitionsrisikos. Wegen der langen Aus- Bildungserfahrung und ein weiteres Mal für Studi- bildungsdauer akademischer Wege und der in akade- eninteressierte mit Migrationshintergrund, die diese mischen Berufen häufig geforderten Flexibilität und Herausforderung in ihrer Zweitsprache meistern müs- Mobilität gehören auch individuelle Überlegungen zur sen. Hinzu kommt die fortschreitende Internationa- eigenen Lebensplanung im Spannungsfeld zwischen lisierung des Studiensystems, die eine gute bis sehr beruflicher und privater Lebenswelt sowie traditio- gute Beherrschung auch der englischen Sprache für nellen (Geschlechts-)Rollenbildern in den Themen- die Bewältigung des Studienalltags voraussetzt, was kreis der Beratung. Studierende mit Migrationshintergrund in ihrer Dritt- sprachkompetenz fordert. Diese besondere Herausfor- Herausforderung Förderung [3.6] derung stellt sich deshalb auch in den entsprechenden Wenn der längste und teuerste Bildungsweg erwogen Beratungsprozessen, in denen Informationen aus dem wird, Familien mit Migrationshintergrund aber sel- akademischen System verarbeitet und bewertet wer- ten über entsprechende finanzielle Mittel verfügen, den müssen. kommt der Beratung über finanzielle Fördermöglich- keiten eine besondere Rolle zu. Gerade im Bereich der Herausforderung Aufenthaltsrecht und Zertifikat- Studienfinanzierung existiert neben den Möglich- migration [3.3] keiten nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz Analog 1.3 und siehe Abschnitt zu Beratungsanlass 9. (BAföG) ein sehr unübersichtliches dezentral ver- ortetes Stipendiensystem unterschiedlichster Stif- Herausforderung Diskriminierung [3.4] tungen und Organisationen, die in den letzten Jahren Befunde aus der Bildungsforschung zeigen, dass Stu- gerade für Studieninteressierte mit Migrationshinter- dieninteressierte aus Familien ohne akademische Bil- grund spezifische Angebote bereithalten. Für einzel- dungserfahrung deutlich stärker auf negative Signale ne Ratsuchende ist es fast unmöglich, sich ohne die des Arbeitsmarktes reagieren und ihre Studienbetei- fachliche Expertise von Beraterinnen und Beratern, ligung aufgeben.17 Die diesem Verhalten zugrunde die sich auf die Beratung zu akademischen Bildungs- liegende Verunsicherung speist sich sowohl aus psy- wegen konzentrieren, hierüber einen differenzierten chologischen Momenten wie aus objektiven schicht- Überblick zu verschaffen. 16 Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit Studienwählerinnen und Studienwählern, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im deutschen Schulsystem erwor- ben haben (sogenannte „Bildungsinländer“). Themen in der Beratung von Studieninteressierten mit im Ausland erworbener Hochschulzugangsberechtigung (sogenannter „Bildungsausländer“) werden im Abschnitt zu Beratungsanlass 9 behandelt. 17 Markant deutlich wurde das beim Rückgang der Studienbeteiligung in Ingenieurdisziplinen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Vgl. Minks 2004 14
Anspruch Beratungskompetenz [3.7] Zusätzlich zu den unter 1.7 und 2.7 genannten Erfor- dernissen ergeben sich wesentliche Leistungsanfor- derungen an die Beratenden durch die Menge, Kom- plexität, Veränderungsdynamik und die Distanz der benötigten Informationen und Bewertungsaufgaben. Die drei bisher behandelten Beratungsanlässe an der „Ersten Schwelle“ zwischen allgemein bildendem Schulsystem und der beruflichen Erstausbildung bil- den das Spektrum dessen ab, was in der Arbeitsver- waltung als Berufsberatung für Jugendliche18 gegen- über dem Erwachsenenbereich abgegrenzt wird: In den Beratungsgesprächen mit Erwachsenen werden len. Deshalb sind gerade auch in der beschäftigungs- weniger Prozesse der Berufswahl thematisiert, son- orientierten Beratung von Erwachsenen mit Migrati- dern wird der Schwerpunkt beraterischen Handelns onshintergrund, deren unterschiedliche Anlässe im auf eine möglichst schnelle (Re-)Integration von Er- Folgenden ausdifferenziert werden, die Themen, Be- wachsenen mit Berufserfahrung in den Arbeitsmarkt darfe und Beratungskompetenzen von Bedeutung, die gelegt.19 Solche „integrationsbegleitende Beratung“ in den ersten drei Abschnitten zur Beratung an der genannte Gespräche unterliegen in der Regel einer „Ersten Schwelle“ dargestellt wurden. Es werden im deutlichen Verengung des möglichen Berufsspekt- Folgenden die spezifischen anlassbezogenen Zusatz- rums auf den bisherigen Berufsbereich und immer anforderungen an die migrationsspezifische Beratung einer stark formalisierten und standardisierten Ope- herausgearbeitet. Diese können aber auch in der Be- rationalisierung des Auswahlprozesses mit Hilfe vor- ratung Erwachsener nur aufbauend auf der Basis des gegebener computergestützter Dateneingabemasken. bisher Geschilderten gemeistert werden. Damit wird nicht nur die beraterische Kommunikation stark eingeschränkt, es wird mit dieser Einschränkung auch der Ausschluss von Optionen innerhalb des Ge- 4. Beratung am Übergang zwischen einem samtspektrums von (Weiter-)Bildung und Berufswahl in Kauf genommen. Bei dieser Verfahrensweise wird dualen, schulischen oder akademischen be- übersehen, dass auch bei jedem Beratungsanlass jen- ruflichen Bildungsabschluss und der ersten seits der „Ersten Schwelle“, also im gesamten Verlauf hauptberuflichen Erwerbsarbeitsstelle (in des Erwerbslebens von Ratsuchenden, (neue) Berufs- abhängiger Beschäftigung) (B [ A1) wahlprozesse nicht nur legitim, ja deren Ergebnisse auch grundrechtlich zugesichert sind. Ihre Akzeptanz Übergangsberatung und ihr intensiver und explorativer Einbezug in die Erstausbildung - erste Arbeitsstelle beschäftigungsorientierte Beratung von Erwachsenen birgt auch erhöhte Chancen für das Ziel nachhaltiger Integration am Arbeitsmarkt. Dies gilt insbesondere für Ratsuchende mit Migrationshintergrund, die we- gen der bisher geschilderten spezifischen Hürden und des hochgradig sozial selektiven Bildungssystems häufiger vor der Herausforderung stehen, in früheren Lebensphasen nicht realisierbare Optionen nachzuho- 18 Die Altersgrenze des Jugendlichenbereichs wird von der Bundesagentur bei 25 Jahren gezogen. 19 Etwa nach Phasen der Arbeitslosigkeit oder des Nichterwerbs während Phasen ausschließlicher Familienarbeit 15
Dieser Ort einer beschäftigungsorientierten Beratung Herausforderung Wissensnachteil [4.1] wird häufig auch als „Zweite Schwelle“ bezeichnet. Ratsuchende, die mit ihrem Ausbildungsweg bereits Ratsuchende stehen hier vor der Aufgabe, nach ihrem fachspezifische Kenntnisse erworben und eine fach- erfolgreichen Abschluss im dualen System, an einer lich-organisatorische Sozialisation erfahren haben, beruflichen Fachschule oder an einer Hochschule die verfügen über mehr Wissen als Ratsuchende an der erste Arbeitgeberin oder den ersten Arbeitgeber zu „Ersten Schwelle“ und können auch schon Teil ent- finden. Dabei geht es in der Regel darum, als Fachkraft sprechender Netzwerke geworden sein. Andererseits eingestellt zu werden, mit dem erworbenen beruflichen haben sich auf diesem Weg Ratsuchende mit Migrati- Zertifikat in den Fach-Arbeitsmarkt einzumünden und onshintergrund häufig ein weiteres Stück von der Er- also die ersten (materiellen und immateriellen) Erträ- fahrungswelt ihrer Familie entfernt und können diese ge aus der geleisteten Bildungsinvestition zu erzielen. Wissensquelle für die anstehende Entscheidung und Während bei der dualen Ausbildung grundsätzlich eine Strategie kaum ertragreich nutzen. Die Unterschät- hohe Wahrscheinlichkeit besteht, im eigenen Ausbil- zung der Vielfalt möglicher adäquater Erwerbsopti- dungsbetrieb als Fachkraft einmünden zu können, wird onen und das Übersehen anderer auf das eigene Nei- am Ende eines schulischen oder akademischen Ausbil- gungs- und Eignungsprofil gut passender Optionen dungsweges immer ein weiterer Wahl- und Entschei- können die Folge sein. dungsprozess erforderlich.20 Je nachdem, wie zahlreich die unterschiedlichen Ausübungsformen sind, die der Herausforderung Zweitsprache [4.2] fachliche Arbeitsmarkt bietet, kann diese Aufgabe über die reine Arbeitgeberwahl weit hinausgehen und Die Kompetenz in der Zweitsprache Deutsch wächst zur zweiten umfassenden Berufswahl werden. So kann mit deren in der Regel intensiven Einbindung und etwa ein angestellter Physiotherapeut Patienten in ei- Anwendung auf allen beruflichen Ausbildungswegen. ner freien Praxis oder in einem Klinikum behandeln, er Sie bleibt gleichwohl immer die in einer Zweitsprache. kann aber auch für die Gesundheitsvorsorge und Bera- Sowohl bei der Entschlüsselung häufig beeinflussend tung von einer Krankenkasse oder einem Fitnessstu- formulierter Stelleninformationen als besonders auch dio angestellt werden. Für eine Politologin entfaltet bei aller im Bewerbungs- und Personalauswahlprozess sich zwischen Tätigkeiten wie der der Meinungs- und zu leistender Kommunikation (Vorstellungsgespräch, Marktforscherin, der Journalistin, der Dozentin in der Assessment Center) kommt es auf Feinheiten an. Des- Politischen Bildung oder der politikberatenden Refe- halb bedürfen insbesondere Ratsuchende mit Migrati- rentin eine breite Palette fachlich adäquater, bezogen onshintergrund an der „Zweiten Schwelle“ einer inten- auf das praktische Arbeitsumfeld aber stark diverser siven (nicht nur) beraterischen Vorbereitung auf die beruflicher Optionen. Mit der Entscheidung über die anstehenden Aufgaben.21 persönliche Einmündung nach der „Zweiten Schwelle“ Herausforderung Diskriminierung [4.4] stellen sich Ratsuchenden also auch Fragen, die mit der Arbeitsplatzwahl auch eine weitere Berufswahl Diskriminierungspotenzial ergibt sich sowohl aus dem und damit auch Fragen der Lebensplanung und Per- unter 4.1 genannten Wissensnachteil wie insbeson- sönlichkeitsentfaltung berühren. So finden sich auch dere auch in einem mit Vorurteilen behafteten Perso- an der „Zweiten Schwelle“ ein Ort und ein Bedarf be- nalauswahlprozess.22 Migrationsspezifische beschäf- schäftigungsorientierter Berufsberatung, die tenden- tigungsorientierte Beratung hat hier die Aufgabe, ziell alle bereits unter den drei erstgenannten Bera- Ratsuchende bei der Entwicklung einer zugleich effek- tungsanlässen geschilderten Herausforderungen und tiven wie individuell geeigneten Strategie im Umgang Diskriminierungspotenziale aufweisen. mit dieser Situation zu unterstützen. 20 Dies kann natürlich auch nach einer dualen Ausbildung erforderlich werden, etwa wenn der Betrieb (wie seit einiger Zeit politisch gefordert und gefördert) über seinen eigenen Fachkraftbedarf hinaus ausgebildet hat, wenn sich Auszubildende und Ausbilder nicht unbefristet weiter aneinander binden wollen oder wenn im Ausbildungsbetrieb bestimmte Ausübungsformen des Berufes für die Ratsuchenden nicht möglich sind. 21 Gerade in dieser Phase erscheint eine Ausweitung der Beratungsdienstleistung auf Trainings- und Coachingelemente sinnvoll. 22 Antidiskriminierungsarbeit und –gesetzgebung versuchen gerade auch diesem empirisch gut belegten Phänomen entgegenzuwirken. 16
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