Karl-Heinz P. Kohn Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe - Ergebnisse einer ...

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Karl-Heinz P. Kohn Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe - Ergebnisse einer ...
Karl-Heinz P. Kohn

           1-3 Fotos

Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung
                - spezifische Themen, spezifische Bedarfe

             Ergebnisse einer Delphi-Breitband-Erhebung
Karl-Heinz P. Kohn Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe - Ergebnisse einer ...
Impressum
Herausgeber:
Facharbeitskreis „Beratung“ vom
Netzwerk „Integration durch Qualifizierung“
Stefan Nowack (V. i. S. d. P.)
www.kumulus-plus.de
Leitung und Koordination
Fatoş Topaç
Kompetenzzentrum KUMULUS-PLUS
bei Arbeit und Bildung e.V.
Lindenstr. 20-25, 10969 Berlin
Tel.: 030 - 2593095-0
Mail: fatos.topac@aub-berlin.de
Redaktion
Facharbeitskreis Beratung
Gerhard Hackenbracht, Christian Laux
Verfasser
Karl-Heinz P. Kohn
Hochschule der Bundesagentur für Arbeit Mannheim
www.kohnpage.de
Fotos
fotolia.de (Monkey Business Cover + S. 22; Robert Kneschke Cover; Mark Yuill Cover, S. 6, S. 33; Mikael Damkier S. 3; Joachim
Wendler S. 4; Peter Klose S. 7; Jeff Gynane S. 15; Stihl024 S. 17; Mopap S. 21)
Migra e.V. (S. 10, 12, 18, 24)
Anita Schiffer-Fuchs (S. 28)
Manfred Vollmer (S. 30)
Metin Yilmaz (Impressum)
Korrektorat
Karin Gartmann, Berlin
Layout
IT depends
Miriam Asmus - Web- und Grafikdesign
asmus@it-depends.de
Druck
Brandenburgische Universitätsdruckerei und Verlagsgesellschaft Potsdam mbH

Auflage: 1000

© KUMULUS-PLUS, Berlin, August 2011
Das Kompetenzzentrum KUMULUS-PLUS ist Mitglied des deutschlandweiten Netzwerks „Integration durch Qualifizierung“.

Mitglieder des Facharbeitskreises „Beratung“
Karl-Heinz P. Kohn Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe - Ergebnisse einer ...
Vorwort                                                                                             2
  Dr. Dagmar Beer-Kern

A. Anlass und Zielstellung der Erhebung                                                             3

B. Erhebungsmethode                                                                                 5

C. Ergebnisse                                                                                       7
  1. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bildenden Schulsystem und der dualen Berufs-       9
  ausbildung
  2. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bildenden Schulsystem und der schulischen Be-      11
  rufsausbildung
  3. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bildenden Schulsystem und dem Studium an           13
  einer Hochschule
  4. Beratung am Übergang zwischen einem dualen, schulischen oder akademischen beruflichen Bil-     15
  dungsabschluss und der ersten hauptberuflichen Erwerbsarbeitsstelle
  5. Beratung am Übergang zwischen einem beruflichen Bildungsabschluss oder einer abhängigen        17
  Beschäftigung und einer selbstständigen Erwerbstätigkeit
  6. Beratung beim Wechsel der Arbeitgeberin oder des Arbeitgebers                                  19
  7. Beratung bei einer Entscheidung zur beruflichen Fortbildung oder Umorientierung                20
  8. Beratung zur Beendigung von Arbeitslosigkeit und zur aktiven Teilhabe am Erwerbsarbeits-       22
  markt
  9. Beratung beim Zuzug nach Deutschland zur Integration in den deutschen Erwerbsarbeitsmarkt      24
  10. Beratung beim Übergang von bisher oder zeitweise Nichterwerbstätigen in den Erwerbsarbeits-   25
  markt
  11. Beratung zur Stabilisierung während Phasen beruflicher Aus- oder Weiterbildung                26

D. Schlussfolgerungen                                                                               27

Anhang                                                                                              29
  Expertinnen und Experten in der Delphi-Breitband-Erhebung                                         29
  Handlungsempfehlungen                                                                             30
  Quellen                                                                                           35

                                                                                                         
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Dr. Dagmar Beer-Kern

                                         Vorwort

    Die Integration von Menschen mit Migrationshinter-       Welches sind die migrationsspezifischen Themen und
    grund steht seit einigen Jahren ganz oben auf der        Bedarfe in der beschäftigungsorientierten Beratung?
    politischen Agenda in Deutschland. Dabei spielt die      Dieser Frage geht die vorliegende Studie nach und
    Arbeitsmarktintegration eine Schlüsselrolle, denn sie    nutzt dafür das im IQ-Netzwerk gesammelte Experten-
    ist entscheidend für ein selbstbestimmtes Leben und      wissen. Sie gibt einen strukturierten Überblick über
    eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe in einer      die jeweiligen migrationsspezifischen Herausforde-
    zunehmend vielfältiger werdenden Gesellschaft.           rungen und zeigt die Spannbreite der unterschied-
                                                             lichen Beratungsorte und -anlässe.
    Arbeitsmarkt ist aber kein monolithischer Begriff, und
    er ist keine homogene Sphäre. Arbeitsmarkt ist selbst    Durch die kritische Reflexion der Praxis in der Stu-
    vielfältig, und wer die Integration in den Arbeits-      die entsteht auch neues, praxisorientiertes Wissen,
    markt voranbringen will, bewegt sich in zahlreichen      ohne das eine Weiterentwicklung der beschäftigungs-
    unterschiedlichen Handlungsfeldern. Da geht es um        orientierten Beratung weniger erfolgreich wäre. Die
    Aufenthaltsrecht und Zugang zum Arbeitsmarkt. Da         Erkenntnisse der Delphi-Studie dienen aktuell der
    geht es beispielsweise um Anerkennung ausländischer      Entwicklung neuer Studieninhalte in der Berateraus-
    Berufsabschlüsse und um Möglichkeiten beruflicher        bildung an der Hochschule der Bundesagentur für Ar-
    Weiterbildung. Da geht es um das Herausarbeiten des      beit.
    eigenen Kompetenzprofils und um dessen Vermittlung       Ich freue mich auf weitere Zusammenarbeit mit den
    an potenzielle Arbeitgeber. Da geht es um sozialver-     Akteuren der beschäftigungsorientierten Beratung
    sicherungspflichtige Beschäftigung oder um Selbst-       und ihrer Weiterentwicklung im Rahmen des flächen-
    ständigkeit.                                             deckenden Ausbaus des Förderprogramms „Integrati-
                                                             on durch Qualifizierung - IQ“.
    Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat
    deshalb schon vor dem Start zum Nationalen Inte-
    grationsplan das Netzwerk „Integration durch Quali-                                        Dr. Dagmar Beer-Kern
    fizierung“ initiiert und dabei das Netzwerk nicht nur              Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)
    regional implementiert, sondern mit entsprechend un-                      Referatsleiterin IIa6 „Grundsatzfragen der
    terschiedlichen fachlichen Arbeitsschwerpunkten be-                               Migrations- und Ausländerpolitik“
    auftragt. Eines der Themen war die Entwicklung bzw.
    Weiterentwicklung einer beschäftigungsorientierten
    Beratung, die die spezifischen Bedarfe von Migran-
    tinnen und Migranten berücksichtigt.

    Die vorliegende Studie konzentriert sich auf dieses
    Fachwissen, denn beschäftigungsorientierte Bera-
    tung liefert den Schlüssel für alle unterschiedlichen
    Optionen zur Integration am Arbeitsmarkt. Diese Be-
    ratung ist selbst ein Ort des Wissensmanagements. In
    ihr werden nicht nur alle wesentlichen Informationen
    für die Ratsuchenden identifiziert und transportiert.
    In die Arbeit der Beraterinnen und Berater muss auch
    jeweils der aktuelle Stand des Beratungswissens ein-
    gehen – und das sind nicht nur Informationen über
    Bildungs- und Berufswege, sondern auch über die ge-
    eignete Kommunikation und Kompetenzfeststellung,
    insbesondere bei der Beratung von Menschen aus un-
    terschiedlichen Kulturen.


Karl-Heinz P. Kohn Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe - Ergebnisse einer ...
A. Anlass und Zielstellung
            der Erhebung
Personen mit eigener Migrationserfahrung und Nach-
kommen aus Zuwandererfamilien in Deutschland ste-
hen vor besonderen Herausforderungen, wenn sie ihren
Weg durch das Bildungssystem beschreiten, ihr Be-
rufsleben gestalten und sich im Erwerbsarbeitsmarkt
bewegen. Das ist in der Forschung zu Migration und
Integration, aber auch in der integrationspolitischen
Positionierung der Bundesregierung vielfach und dif-
ferenziert herausgearbeitet worden.1 Ein Bündel sich
gegenseitig verstärkender Faktoren bewirkt, dass die-                              Angebote zur Beratung, Information und Kommuni-
se Herausforderungen nur schwer gemeistert werden                                  kation an die Bedürfnisse von Menschen mit Migra-
können und in der Folge die Erwerbsposition von Men-                               tionshintergrund anpassen
schen mit Migrationshintergrund seit langem weit un-                               Angebote zur intensiven Beratung und Information
terhalb des Möglichen verharrt. So bleiben nicht nur                               müssen für Menschen besonders zugeschnitten sein,
ihre allgemeinen individuellen Potenziale zumindest                                die sich in Deutschland und seinem gewachsenen Sys-
teilweise ungenutzt, was sowohl ethisch und sozial                                 tem von Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt neu
wie auch ökonomisch intolerabel ist. Auch spezifische                              zurechtfinden müssen. Das betrifft sowohl jene, die
kulturelle Kompetenzen wie etwa die erworbene Mehr-                                selbst neu eingereist sind, als auch deren in Deutsch-
sprachigkeit oder auch im Herkunftsland erworbene                                  land geborene Nachkommen, da in diesen Familien das
formal attestierte berufliche Qualifikationen werden                               Wissen über Berufe und Wege der Aus- und Weiterbil-
so im Erwerbsarbeitsmarkt nicht genutzt.                                           dung nicht in gleichem Maße präsent sein kann wie
                                                                                   in Familien, die schon seit vielen Generationen unter-
Faktoren, die zu dieser weit suboptimalen Situation                                schiedliche Modelle der Erwerbsarbeit in Deutschland
beitragen, sind: die spezifische sozioökonomische                                  selbst erlebt oder in ihren sozialen Netzwerken ken-
Lage der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, die                                nengelernt haben.
im internationalen Vergleich deutlich erhöhte sozi-
ale Selektivität des deutschen Bildungssystems2, die                               Die Angebote der Politik, der öffentlichen Verwaltung
Herausforderung des Zweitsprachenerwerbs3, kulturell                               und der Wirtschaft zur Information und Beratung
tradierte Erwerbs- und Bildungsmuster, der verstärkte                              sind um spezifische Elemente zu erweitern, die die
Wandel bei Branchen und Berufen sowie – zum Teil auf                               besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Migrati-
den bisher genannten Faktoren basierend – individu-                                onshintergrund berücksichtigen. Dort, wo modellhafte
elle und strukturelle Diskriminierungsprozesse.                                    Ansätze vorhanden sind, ist nach einer Effektivitäts-
                                                                                   kontrolle die Möglichkeit einer nachhaltigen Verste-
Bei der Aufgabe, diesen Kreislauf zu durchbrechen, hat                             tigung zu prüfen. Beim Einsatz von Medien ist sicher-
der Nationale Integrationsplan der Bundesregierung                                 zustellen, dass Menschen mit Migrationshintergrund
der beschäftigungsorientierten Beratung in Bildungs-                               auch erreicht werden und Zugang zu den Informati-
und Berufsfragen eine zentrale Aufgabe zugewiesen                                  onen haben. Auch durch mehrsprachige Publikationen
und deren migrationssensible Anpassung und Weiter-                                 und Anzeigen werden die Menschen mit Migrations-
entwicklung als Zielstellung vorgegeben:                                           hintergrund direkt informiert und aufgeklärt.4

1   Zuwanderungsrat 2004, insbesondere Abschnitte 7.2 und 7.3; Nationaler Integrationsplan 2007, insbesondere Abschnitte 4.2 und 4.3
2   Berger und Kahlert 2008, Ehmke und Baumert 2007
3 Der Begriff Deutsch als Zweitsprache wird in diesem Text gebraucht, um die Herausforderung zu benennen, die nicht nur im Erwerb des Deutschen als einer von
der Muttersprache unterschiedenen zusätzlichen Sprachkompetenz besteht, sondern auch in der Fähigkeit, in dieser Sprache alle wesentlichen außerfamilialen
sozialen Handlungen im Lebensalltag – insbesondere auch alle berufs- und beschäftigungsorientierten Handlungen – kompetent und differenziert vollziehen zu
können. Deutsch ist dabei allerdings häufig nicht die zweit-, sondern die dritt- oder vierterworbene Sprache. Darüber hinaus ist in der schulischen Bildung sowie
im Bereich international eingebundener Arbeitsplätze der Erwerb einer oder zwei weiterer Sprachen zu meistern. .
4   Nationaler Integrationsplan 2007, S. 78-79

                                                                                                                                                                    
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Im von der Bundesregierung geförderten Netzwerk        „Integration durch Qualifizierung“ wurde hierzu im
    „Integration durch Qualifizierung“5 werden seit meh-   Frühjahr 2010 eine Delphi-Breitband-Erhebung durch-
    reren Jahren Erfahrungen mit einem differenzierten     geführt. Die Gesamtschau der Ergebnisse dieser Erhe-
    Modellsystem zur migrationsspezifischen beschäfti-     bung bildet die Grundlage für die Konkretisierung der
    gungsorientierten Beratung erarbeitet. Im Auftrag      im Nationalen Integrationsplan formulierten Zielstel-
    des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wird    lung und der flächendeckenden Umsetzung des sich
    in der vorliegenden Untersuchung herausgearbei-        aus ihr ergebenden Auftrages. Sie dient dem Auftrag
    tet, welche Themen und Bedarfe sich als gemeinsame     gebenden Bundesministerium für Arbeit und Soziales
    Spezifika einer migrationsspezifisch angebotenen       zugleich zur Sicherung der während der praktischen
    beschäftigungsorientierten Beratung zu unterschied-    Modellarbeit des Netzwerks erzielten Erkenntnisse für
    lichen Anlässen innerhalb der Erwerbsbiografie von     die (Weiter-)Entwicklung eines Konzepts zur migra-
    Ratsuchenden mit Migrationshintergrund ergeben.        tionsspezifischen beschäftigungsorientierten Bera-
    Gestützt auf die Expertise der Akteure im Netzwerk     tung.

    5   Netzwerk IQ 2009, S. 46f.; www.intqua.de


Karl-Heinz P. Kohn Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe - Ergebnisse einer ...
B. Erhebungsmethode                                               sen in Bildung und Beruf, zum Beispiel am Übergang
                                                                                          von der allgemeinen Schulbildung zur beruflichen
                                                                                          Ausbildung, am Übergang zwischen Berufsausbildung
                                                                                          und erster Erwerbsarbeit oder auch zwischen aufein-
       Die Mitglieder des Netzwerks „Integration durch Qua-                               ander folgenden beruflichen Stationen innerhalb des
       lifizierung“ verfügen über – insbesondere durch ihre                               Erwerbslebens. Beratungsaufgaben stellen sich aber
       fachliche und praktische Arbeit in den Einzelprojekten                             auch innerhalb noch laufender Phasen von Bildung und
       angereicherte – Erfahrung und entsprechendes Wissen                                Erwerbstätigkeit, zum Beispiel dann, wenn eine Wei-
       über spezifische Themen und Bedarfe migrationsspe-                                 terbildung geplant oder ein noch nicht beschlossener
       zifischer beschäftigungsorientierter Beratung. Dieses                              Wechsel erwogen wird. Deshalb wurde als Raster für die
       Wissen, ergänzt um das Wissen zusätzlich im IQ-Fach-                               Delphi-Erhebung zunächst eine stark differenzierte
       arbeitskreis konsultierter Expertinnen und Experten,                               Topographie wesentlich vorkommender typischer Orte
       wurde in einem Delphi-Breitband-Prozess erhoben6.                                  und Stationen innerhalb eines Erwerbslebens entwor-
                                                                                          fen, um das Gesamtaufgabenfeld beschäftigungsorien-
       Beschäftigungsorientierte Beratung zu Bildungs- und
       Berufsthemen wird bedeutsam an sehr vielen unter-                                  tierter Beratung abstecken zu können. Diese für diese
       schiedlichen möglichen Orten innerhalb der Bildungs-                               Erhebung originär entworfene Gesamtschau wurde um
       und Erwerbsbiographie von Ratsuchenden. Solche                                     den migrationsspezifischen Übergangspol Zuzug aus
       Orte, an denen sich spezifischer Beratungsbedarf er-                               anderen Ländern ergänzt. Das folgende Schaubild prä-
       gibt, liegen zum einen häufig an Übergängen zwischen                               sentiert die Topographie aller berücksichtigten Orte
       unterschiedlichen gegeneinander abgrenzbaren Pha-                                  im Laufe eines Erwerbslebens:

                               Aufgabenfeld beruflicher und beschäftigungsorientierter Beratung
                                   ‑ die wesentlichen Orte im Lauf eines Erwerbslebens ‑
                                                                 Zuzug aus anderen Staaten (Z)

                        Berufliche Erstausbildung                       erste Erwerbsphase                            berufliche Weiterbildung
                                  (B)                                               (E)                                              (W)

                                                                                                                                                                  zweite Erwerbsphase (E+)
                         hochschulische Wege                                 Arbeitsstelle                               beruflicher Aufstieg
Allgemeinbildung (AB)

                                (hB)                                            (A1)                                             (AW)

                                                                     Arbeitsstelle in gleicher
                            schulische Wege                                                                         berufliche Umorientierung
                                                                      beruflicher Stellung
                                   (sB)                                                                                        (UW)
                                                                               (A2)

                              duale Wege                                 Selbstständigkeit                          beruflicher Wiedereinstieg
                                 (dB)                                            (S)                                           (EW)

                                                     Arbeitslosigkeit/Nichterwerbstätigkeit (Alo/N)

                                                                                                                                           Grafik:
                                                                                                                                                     ©Kohn 2010

       6 Die empirische Methode der Delphi-Befragung setzt auf die Sammlung wesentlicher Beiträge aus der Expertise spezifisch fachkundiger Personen in der
       wissenschaftlichen Reflexion und im Praxisfeld des Untersuchungsgegenstandes mit Hilfe einer einheitlichen Fragestellung. Bei der Breitband-Variante der Del-
       phi-Methode wird die Expertise der Erhebungspartner nach der Sammlung der voneinander unabhängig formulierten Antwortbeiträge zusätzlich genutzt, um in
       nachlaufenden Diskursprozessen die gemeinsame Struktur des versammelten Materials herauszuarbeiten. Zur Validität der Methodik vergleiche Häder und Häder
       2000 sowie Häder 2009. Siehe auch Liste der Expertinnen und Experten auf Seite 29.

                                                                                                                                                                                             
Karl-Heinz P. Kohn Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe - Ergebnisse einer ...
Die elf identifizierten Anlässe sind:

                                                             1. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bil-
                                                             denden Schulsystem und der dualen Berufsausbildung
                                                             (AB [dB)
                                                             2. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bil-
                                                             denden Schulsystem und der schulischen Berufsaus-
                                                             bildung (AB [sB)
                                                             3. Beratung am Übergang zwischen dem allgemein bil-
                                                             denden Schulsystem und dem Studium an einer Hoch-
                                                             schule (AB [hB)
                                                             4. Beratung am Übergang zwischen einem dualen,
                                                             schulischen oder akademischen beruflichen Bildungs-
                                                             abschluss und der ersten hauptberuflichen Erwerbsar-
                                                             beitsstelle (in abhängiger Beschäftigung) (B [A1)
    (Der Einfachheit halber wurden keine Differenzie-
                                                             5. Beratung am Übergang zwischen einem beruflichen
    rungen innerhalb des vor der Erwerbsphase liegen-
                                                             Bildungsabschluss oder einer abhängigen Beschäfti-
    den allgemein bildenden Schulsystems vorgenommen,
                                                             gung und einer selbstständigen Erwerbstätigkeit (B/
    obwohl sich auch schon innerhalb dieses Systems
                                                             A1 [S)
    berufs- und beschäftigungsorientierte Beratungs-
    themen ergeben können, beispielsweise bei der Wahl       6. Beratung beim Wechsel der Arbeitgeberin oder des
    von Leistungsfächern in der Sekundarstufe II oder        Arbeitgebers (A1 [A2)
    bei der Erkundung unterschiedlicher Wege zur Fach-       7. Beratung bei einer Entscheidung zur beruflichen
    hochschulreife. Auch ein möglicher Rücksprung in das     Fortbildung oder Umorientierung (E [AW/UW)
    allgemein bildende System, etwa zum nachträglichen
                                                             8. Beratung zur Beendigung von Arbeitslosigkeit und
    Erwerb der Allgemeinen oder Fachhochschulreife blieb
                                                             zur aktiven Teilhabe am Erwerbsarbeitsmarkt (durch
    unberücksichtigt.)
                                                             Beschäftigung auf einer neuen Arbeitsstelle, selbst-
    Ausgehend von dieser Gesamtschau wurden systema-         ständige Gründung eines Unternehmens oder beruf-
    tisch 18 unterschiedliche typische Anlässe beschäfti-    liche Weiterbildung) (Alo [A2/S/W)
    gungsorientierter Beratung differenziert, die sich an    9. Beratung beim Zuzug nach Deutschland zur Inte-
    und zwischen den wesentlichen Orten im Laufe eines       gration in den deutschen Erwerbsarbeitsmarkt (durch
    Erwerbslebens ergeben (können). Diese 18 Anlässe         berufliche Ausbildung, direkte Aufnahme einer Er-
    bildeten – ergänzt um eine frei formulierbare Zusatz-    werbstätigkeit oder berufliche Anpassungs- und Wei-
    kategorie – das Erhebungsraster, innerhalb dessen        terbildung) (Z [B/E/W)
    Einzelfelder die Expertinnen und Experten jeweils spe-
                                                             10.. Beratung beim Übergang von bisher oder zeitwei-
    zifische Themen und Bedarfe migrationsspezifischer       se Nichterwerbstätigen in den Erwerbsarbeitsmarkt
    Beratung schriftlich festhielten. In einer gemein-       (durch berufliche Ausbildung, direkte Aufnahme ei-
    samen Sitzung der Erhebungsteilnehmerinnen und           ner Erwerbstätigkeit oder berufliche Anpassungs- und
    –teilnehmer wurden dann die gemeinsamen Struktur-        Weiterbildung) (N [B/E/W)
    ebenen der versammelten Ergebnisse identifiziert.
    Daraus ergab sich eine teilweise Zusammenfassung auf     11.. Beratung zur Stabilisierung während Phasen be-
    insgesamt elf wesentlich voneinander zu unterschei-      ruflicher Aus- oder Weiterbildung ([B]/[W])
    dender Beratungsanlässe und sieben typische spezi-       Diese elf Beratungsanlässe werden den folgenden Ab-
    fische Herausforderungen, die bei den untersuchten       schnitt C zur Darstellung der Einzelergebnisse glie-
    Beratungsaufgaben bewältigt werden müssen.               dern.


Karl-Heinz P. Kohn Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe - Ergebnisse einer ...
C. Ergebnisse

Spezifische Themen und Bedarfe von Ratsu-
chenden mit Migrationshintergrund bei elf ty-
pischen Anlässen beschäftigungsorientierter
Beratung zu Bildungs- und Berufsfragen

Bei der gemeinsamen Strukturierung der gesammelten                               Unter diesen Gesichtspunkten ergeben sich spezifische
Erhebungsergebnisse ergab sich ein Muster aus fol-                               Aufgaben für die migrationsspezifische Beratung in
genden Herausforderungen an eine migrationsspezi-                                Bildungs- und Berufsfragen, die zu elf typischen An-
fische Beratung:7                                                                lässen des Übergangs zwischen oder der Entscheidung
                                                                                 innerhalb einzelner Orte und Phasen im Laufe eines
1. Herausforderungen, die sich aus einem spezifischen                            Erwerbslebens gebraucht wird. Die folgenden Einzel-
Wissensnachteil über das deutsche Bildungs- und Be-                              ergebnisse werden deshalb entsprechend einem zwei-
schäftigungssystem ergeben
                                                                                 dimensionalen Raster aus elf Anlässen mal sieben Her-
2. Herausforderungen, die sich aus dem Erwerb des                                ausforderungen präsentiert. Gliederungsebenen dieser
Deutschen als Zweitsprache ergeben, in der das eigene                            Darstellung beziehen sich jeweils auf die Bezeichnung
Agieren in Bildung, Beruf und in der Beratung formu-                             nach dem Muster [Beratungsanlass.Herausforderung].
liert werden muss                                                                [4.6] steht also für die Herausforderung Förderung bei
3. Herausforderungen, die sich aus dem Aufenthalts-                              der Beratung an der „Zweiten Schwelle“ bei der Bera-
status in Deutschland und aus der formalen Anerken-                              tung am Übergang nach der abgeschlossenen Berufs-
nung im Ausland erworbener Zertifikate ergeben                                   ausbildung zur ersten Erwerbsarbeit.

4. Herausforderungen, die sich aus diskriminierendem                             Um Redundanzen möglichst zu vermeiden, werden für
Verhalten oder diskriminierenden Strukturen ergeben                              den ersten Beratungsanlass an der „Ersten Schwelle“
5. Herausforderungen, die sich – besonders unter Be-                             zwischen allgemein bildendem Schulsystem und der
rücksichtigung der unter 1 bis 4 genannten Punkte                                Aufnahme eines dualen Berufsausbildungsweges alle
– für die Potenzialanalyse und für die Aufgabe des Em-                           sieben Herausforderungen ausführlich beleuchtet. Da-
powerment ergeben                                                                bei ergeben sich neben anlassspezifischen eine Reihe
                                                                                 grundsätzlicher Aufgaben, die auch an den anderen Or-
6. Herausforderungen an den Zugang zur und an die                                ten und zu den anderen Anlässen zu meistern sind. Für
Praxis der ausbildungs- und arbeitsmarktpolitischen                              die folgenden Beratungsanlässe 2 bis 11 wird deshalb
Förderung und Unterstützung                                                      zum Teil auf Ausführungen im Abschnitt 1 verwiesen
7. Ansprüche an die Kompetenz der Beraterinnen und                               und werden nur solche Themen und Bedarfe differen-
Berater, die sich aus den unter 1 bis 6 genannten Her-                           zierter dargestellt, die sich zusätzlich und anlassspezi-
ausforderungen ergeben                                                           fisch ergeben haben. Weil jeweils nur anlassspezifisch

7 Diskutiert wurde die weitere Differenzierung der Herausforderung 3. Bei einer Clusterung stellt sich immer die Aufgabe, einen Kompromiss zwischen möglichst
hoher Differenziertheit und möglichst perabler Übersichtlichkeit zu finden. Für die Präsentation der folgenden Einzelergebnisse erscheint die Zusammenfassung
der beiden durchaus unterschiedlichen Themen Aufenthaltsstatus und Anerkennung von Zertifikaten sinnvoll.

                                                                                                                                                                
Karl-Heinz P. Kohn Migrationsspezifische beschäftigungsorientierte Beratung - spezifische Themen, spezifische Bedarfe - Ergebnisse einer ...
stark wirksame Herausforderungen differenziert dar-                             markieren, wo einzelne Herausforderungen zu einzel-
    gestellt werden, erscheint die Nummerierung der be-                             nen Beratungsanlässen spezifisch erläutert werden.
    handelten Punkte auf der zweiten Gliederungsebene                               Die hellgrün gefärbten Markierungen verweisen auf
    sprunghaft.                                                                     spezifische Ausführungen, die zu einem Beratungs-
    Die folgende Übersichtsgrafik fasst die Fundstellen                             anlass für mehrere Herausforderungen gemeinsam
    spezifischer Ausführungen zu den unterschiedlich ge-                            formuliert werden. Die Einzelfelder enthalten die je-
    nannten Herausforderungen zusammen. Türkise Felder                              weilige Abschnittsnummer.

                                                                         A2/S/W
                                                               AW/UW

                                                                                            B/E/W
                                            dB

                                                                                   B/E/W
                                                     A2
     dB

                        hB
              sB

                                  A1

                                            B/A1 [

                                                                                                      [B]/[W]
                                                                         Alo [
     AB [

              AB [

                        AB [

                                                                                            AB [
                                                     A1 [
                                  B[

                                                               E[

                                                                                   Z[

    1.1 2.1 3.1 4.1 5.1 6.1 7.1                                                                                 Wissensnachteil (W)

    1.2 2.2 3.2 4.2 5.2                                        7.2                                              Zweitsprache (DaZ)
                                                                                                                Aufenthalt/Zertifikat-
    1.3                                                        7.3
                                                                                                                migration (AZ)8
    1.4 2.4 3.4 4.4 5.4                                                 8.4         9       10        11 Diskriminierung (D)

    1.5 2.5 3.5     5.5     7.4 8.5                                                                             Empowerment (E)
         -      4.5     6.5  -   -
    1.6 2.6 3.6 - 5.6 - 7.7 8.6                                                                                 Förderung (F)
                4.7     6.7
    1.7 2.7 3.7                            5.7                          8.7                                     Beratungskompetenz (BK)

    8 Der Begriff Zertifikatmigration wird hier gewählt, um zu verdeutlichen, dass es bei der Umsetzung von in anderen Ländern erworbenen Zertifikaten am Ar-
    beitsmarkt nicht hinreicht, eine rechtlich formale Anerkennung zu erreichen. (Der Begriff „Anerkennung“ wird im Fachdiskurs meist ausschließlich auf diesen
    Aspekt bezogen.) Die attestierten Kompetenzen und Potenziale müssen auch ganz real von Arbeitgebern am deutschen Arbeitsmarkt anerkannt, d.h. als Kriterium
    akzeptiert werden. Zertifikatmigration umfasst also sowohl die formal-rechtliche als auch die reale Anerkennung am Arbeitsmarkt. Vgl. Abschnitt 9 S. 24


1. Beratung am Übergang zwischen dem all-                                      einbeziehen muss. Dies gilt auch für die Öffnung mög-
gemein bildenden Schulsystem und der du-                                       lichst vieler Informationsfelder über berufliche Bil-
                                                                               dungs- und Platzierungsoptionen. Und es ergibt sich
alen Berufsausbildung (AB [ dB)                                                eine hohe Verantwortung dort, wo Informationen und
                                                                               Beratungsangebote durch junge Schulabgängerinnen
                     Übergangsberatung                                         und Schulabgänger – meist wegen der eigenen großen
                  Schule - duale Ausbildung                                    Unsicherheit und entsprechendem Vermeidungsver-
                                                                               halten – nicht initiativ abgerufen und in Anspruch
                                                                               genommen werden.9 Durch intensive Öffentlichkeits-
                                                                               arbeit sind die Jugendlichen und ihr familiäres Umfeld
                                                                               anzusprechen und im Bedarfsfalle auch aktiv aufzusu-
                                                                               chen.10

                                                                               Zu diesem Beratungsanlass ergeben sich für die oben
                                                                               genannten Herausforderungen folgende Besonder-
                                                                               heiten:
Die Beratung an der sogenannten „Ersten Schwelle“,
also am Übergang vom allgemein bildenden Schul-                                Herausforderung Wissensnachteil [1.1]
system in die berufliche Ausbildung und damit in die                           Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit Migra-
erste Phase des Berufslebens, ist für die meisten Rat-                         tionshintergrund haben sowohl durch ihre Schicht-
suchenden von besonderer Bedeutung. Wie weit sich                              zugehörigkeit als auch insbesondere durch die Er-
hier Horizonte und alternative Optionen öffnen, wie                            werbsgeschichte ihres familiären und außerfamiliären
nah die berufliche Wahlentscheidung den eigenen                                sozialen Umfeldes überproportional häufig einen
Hoffnungen (Neigung) und Möglichkeiten (Eignung)                               eingeschränkten Blick auf die Vielfalt beruflicher Op-
kommt, das entscheidet nicht nur mit über die Verwirk-                         tionen. Unterdurchschnittliche Erwerbschancen der
lichung der grundrechtlich garantierten Berufsfrei-                            Eltern, Bestätigung dieses Eindrucks durch die Erfah-
heit, sondern auch mit über die Optimierung des eige-                          rungen ihrer gleichaltrigen Freunde und Bekannten
nen Erwerbspotenzials und damit über die individuelle                          sowie fehlende Rollenvorbilder für gesellschaftlichen
Chance auf gesellschaftliche Teilhabe. Gleichzeitig er-                        und beruflichen Aufstieg führen zur Unterschät-
gibt sich dieser wesentliche Beratungsanlass zu einem                          zung der eigenen Optionen. Auch mangelt es an der
Zeitpunkt, an dem die Ratsuchenden in der Regel noch                           Unterstützung – zum Beispiel durch erfolgreich Be-
ohne eigene Erwerbserfahrung sind und ihre Entschei-                           rufstätige – in entsprechenden sozialen Netzwerken,
dungen dadurch auf sehr unsicherer Datengrundlage                              deren Bedeutung für die berufliche Platzierung in
fällen müssen. Zum einen bedeutet dies, dass Vorerfah-                         der jüngeren Arbeitsmarktforschung betont wird11.
rungen, die über die Familie vermittelt werden können                          Wissensdefizite werden zum Teil verstärkt durch Fehl-
– oder eben nicht –, starke Wirkung entfalten können.                          einschätzungen auf der Grundlage von Informationen
Zum anderen ergibt sich eine hohe Verantwortung für                            aus der Herkunftsgesellschaft, etwa wenn die duale
die Fachkräfte in der Beratung und in der psycholo-                            Berufsausbildung als minderwertiger Weg gegenüber
gischen Eignungsdiagnostik. Dies gilt nicht nur für die                        schulischen Ausbildungsangeboten wahrgenommen
Aufgabe einer ausgesprochen explorativen Potenzial-                            wird. Der starke soziale Bezug auf die eigene ethnische
erhebung, die auch nicht formal zertifizierte Qualifi-                         Gemeinschaft stellt eine Hürde für alternative Infor-
kationen aufspüren und in den Entscheidungsprozess                             mationsquellen dar.

9 Auch wenn die hohe Last der hier beschriebenen Verantwortung professionell durch ein Konzept der „positiven Nichtsicherheit“ reduziert werden kann (vgl.
Nestmann et al. 2007), gilt doch gerade für die so entstehende Offenheit der Anspruch auf ein Öffnen möglichst vieler möglicher Optionen, damit sowohl Be-
rufswahlerstentscheidungen als auch Anpassungs- und Veränderungsentscheidungen im weiteren Verlauf des Erwerbslebens nicht auf unterkomplexer Grundlage
getroffen werden – ein Suboptimum, das sich insbesondere für Entscheiderinnen und Entscheider mit Migrationshintergrund ergeben kann.
10 Wie es zum Beispiel im Rahmen der öffentlich finanzierten Berufsberatung durch Informationsveranstaltungen und eigene Unterrichtstätigkeit der Berate-
rinnen und Berater an allgemein bildenden Schulen geschieht.
11   Vgl. Klinger und Rebien 2009

                                                                                                                                                             
liche Zugangsschranken vor einem Ausbildungsweg
                                                                                       in Deutschland und schwer lösbare Aufgaben bei der
                                                                                       Anerkennung formaler Abschlusszertifikate.

                                                                                       Herausforderung Diskriminierung [1.4]
                                                                                       Nicht selten haben Schulabgängerinnen und Schulab-
                                                                                       gänger mit Migrationshintergrund bereits offene und
                                                                                       subtile Diskriminierung in der Schule und in der außer-
                                                                                       schulischen Gesellschaft erlebt und können entweder
                                                                                       passiv oder abwehrend im Berufswahlprozess und auf
                                                                                       staatliche Beratungsangebote reagieren. Häufig wur-
                                                                                       de eine resignative Einschätzung der eigenen Chancen
                                                                                       bereits verinnerlicht. Solche möglichen Voreinstellun-
                                                                                       gen müssen erkannt und von Beginn an als wesent-
     Herausforderung Zweitsprache [1.2]
                                                                                       liche Rahmenbedingung, aber auch als Thema der Be-
     Aus der Bildungs- und Integrationsforschung wissen                                ratung berücksichtigt werden. Innerhalb der Beratung
     wir, dass der Erwerb der Zweitsprache Deutsch im all-                             an der „Ersten Schwelle“ geht eine besondere Gefahr
     gemein bildenden Schulsystem nur unvollkommen ge-                                 diskriminierenden Ausschlusses von der migrations-
     lingt12. Dies gründet zum einen in der suboptimalen                               ignorierend „neutralen“ und auf die Kompetenz in der
     Betreuung der Schülerinnen und Schüler, insbesonde-                               Zweitsprache Deutsch fußenden Konstruktion von Eig-
     re in den Grund- und Hauptschulen, und zum anderen                                nungstests aus. Befunde zur ethnischen Diskriminie-
     in der relativ geringen Zeitspanne des Halbtagsschul-                             rung bei der Personalauswahl in Ausbildungsbetrieben
     besuchs, die wegen der weiteren Nutzung der Erstspra-                             unterstreichen die Notwendigkeit zur aktiven Antidis-
     che im familiären und außerfamiliären sozialen Umfeld                             kriminierungsarbeit am Übergang von allgemein bil-
     häufig die einzige Möglichkeit zur aktiven Anwendung                              dender Schule zu dualer Berufsausbildung.
     der Zweitsprache bleibt. Insbesondere die intensive
     explorative Erhebung von Leistungspotenzialen und                                 Herausforderung Empowerment [1.5]
     beruflichen Vorstellungen in der Beratung an der „Ers-                            Aus den bisher genannten Faktoren, die die Chancen
     ten Schwelle“ bedarf der differenzierten sprachlichen                             von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an der
     Kommunikation zwischen Beratenden und Ratsuchen-                                  „Ersten Schwelle“ zum Teil objektiv einschränken, zum
     den. Fehlende Verständigungselemente zwischen bei-                                Teil deren subjektives Agieren im Berufswahlprozess
     den erschweren die Potenzialanalyse und erschweren                                beeinträchtigen, ergibt sich eine massive und kom-
     auch die Kompensation des unter 1.1 beschriebenen                                 plexe Anforderung an die beschäftigungsorientierte
     Wissensnachteils. Eine besondere sprachliche Hürde                                Beratung, tatsächlich vorhandene Potenziale zu erken-
     ergibt sich auch vor dem Einbezug des familiären Um-                              nen, sie auch für die Ratsuchenden transparent zu ma-
     feldes in die Beratung, zum Beispiel der Eltern, deren                            chen, ihre Weiterentwicklung und Nutzung zu fördern
     Zweitsprachkompetenz häufig geringer ist als die der                              und die Ratsuchenden so in die Lage zu versetzen, ihre
     ratsuchenden Kinder.                                                              grundrechtlich garantierte Berufsfreiheit13 im Rahmen
                                                                                       ihrer tatsächlichen Möglichkeiten wahrzunehmen. Die
     Herausforderung Aufenthaltsrecht und Zertifikat-                                  Umsetzung dieser Aufgabe erfordert ein differenzier-
     migration [1.3]                                                                   tes und nachhaltig wirksames Beratungsinventar, weil
     Je nach Aufenthaltsstatus, erreichter Bildungspositi-                             die genannten schwächenden Faktoren aus teils objek-
     on zum Zeitpunkt der Zuwanderung und der Differenz                                tiven Nachteilen, teils subjektiven Fremd- und Selbst-
     zwischen den Zertifizierungssystemen in der allge-                                zuschreibungen sich gegenseitig verstärken und den
     meinen und beruflichen Bildung des Herkunftslandes                                Weg zu zentralen Ressourcen an der „Ersten Schwelle“
     und des Aufnahmelandes ergeben sich zum Teil recht-                               versperren oder zumindest behindern.

     12   Vgl. Schroeder 2007
     13   Der Begriff der Berufsfreiheit umfasst sowohl die Berufswahlfreiheit als auch die Berufsausübungsfreiheit.

10
Herausforderung Förderung [1.6]                            2. Beratung am Übergang zwischen dem all-
Ein wesentliches Element für eine differenzierte und       gemein bildenden Schulsystem und der schu-
nachhaltige Ermächtigungs- und Antidiskriminie-            lischen Berufsausbildung (AB [ sB)
rungsstrategie ist das für alle Jugendlichen an der
„Ersten Schwelle“ verfügbare ausbildungsmarktpo-
litische Fördersystem aus berufsvorbereitenden Bil-                        Übergangsberatung
dungsmaßnahmen, ausbildungsbegleitenden Hilfen,                   Schule - schulische Berufsausbildung
Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrich-
tungen und Berufsbildungswerken sowie der finan-
ziellen Unterstützung im Rahmen der Berufsausbil-
dungsbeihilfe. Dieses Fördersystemlässt zwar an vielen
Stellen individuelle Bedarfsanpassungen zu, stellt aber
in seiner Komplexität aus unterschiedlichen Maßnah-
meformen und vielfältigen Akteuren auf drei unter-
schiedlichen Ebenen (unterschiedliche Förderquellen,
Träger und zuständigen Zertifizierungsstellen sowie
den Lehrenden an beiden Ausbildungsorten im dualen
                                                           Der Übergang zwischen dem allgemein bildenden Schul-
System) eine besondere Herausforderung an die Ko-
                                                           system und einem schulischen Weg der Berufsausbil-
ordinierung und nachhaltige Qualitäts- und Erfolgssi-
                                                           dung stellt eine zweite Option an der „Ersten Schwel-
cherung. Um den sich aus den in den vorhergehend
                                                           le“ dar. Die Wahl dieses beruflichen Ausbildungsweges
beschriebenen Faktoren entstehenden migrations-
                                                           kann aus unterschiedlichen Gründen geschehen. Zum
spezifischen Förderbedarf zu befriedigen, müssen an
                                                           einen gibt es Berufe, die auf dualem Wege nicht er-
vielen Stellen der individuellen Förderstrategie diskri-
                                                           reichbar sind und ausschließlich schulisch ausgebil-
minierende Strukturen erkannt und beseitigt werden,
                                                           det werden. Hierzu gehören insbesondere die nicht
zum Beispiel im Bereich der Potenzialanalyse und der
                                                           akademischen therapeutischen Berufe, etwa in der
adäquaten Didaktik in Maßnahmen. Alle Impulse hier-
                                                           Physiotherapie, der Ergotherapie oder der Logopädie,
für gehen von den Beratungsfachkräften aus, die in der
                                                           aber auch nicht akademische pädagogische Berufe, die
Regel zugleich die Entscheiderinnen und Entscheider
                                                           Berufe des Pflegewesens und der technischen Assis-
für die Förderung sind, und alle Fäden laufen hier auch
                                                           tenz. In diesen Bereichen bestimmt also die Berufs-
wieder zusammen. In der beschäftigungsorientierten
                                                           wahl auch die Wahl der Ausbildungsorganisation auf
Beratung ist zugleich ein komplexes migrationsspezi-
                                                           schulischem Wege. Andere Berufsziele stehen sowohl
fisches Förderungsmanagement zu leisten.
                                                           in dualer wie in schulischer Ausbildungsform zur Verfü-
Anspruch Beratungskompetenz [1.7]                          gung – dies vor allem im Bereich des kaufmännischen
                                                           und Bürowesens sowie in der Informations- und Kom-
Die unter den Punkten 1.1 bis 1.6 beschriebenen Her-
                                                           munikationstechnik. Nicht selten beruht die optionale
ausforderungen sind nur zu meistern, wenn die Bera-
                                                           Wahl des schulischen Ausbildungsweges auf einer am
tungsfachkräfte über zugleich konzentrierte wie dif-
                                                           Ausbildungsmarkt individuell nicht realisierbaren
ferenzierte spezifische interkulturelle Kompetenzen
                                                           dualen Chance. Aber auch die einfachere Einbindung
verfügen. Durchgängig migrationssensibel und anti-
                                                           des Erwerbs der Fachhochschulreife oder die schon
diskriminierend zu gestaltende Beratungsaufgaben er-
                                                           zuvor genannte generelle Bevorzugung eines schu-
geben sich auf der Gesamtpalette beraterischer Kom-
                                                           lischen Ausbildungsweges können Motive zur Wahl
petenz – von der ertragreichen Kommunikation unter
                                                           einer solchen Ausbildungsform sein. Als Wahloption
spracherschwerten Bedingungen über die tatsächlich
                                                           an der „Ersten Schwelle“ unterliegt sie den gleichen
kulturell umfassende Potenzial- und Bedarfsanalyse
                                                           Unsicherheiten über entscheidungsrelevante Daten
und besonderen psychologischen Strategien des Em-
                                                           wie die zuvor im Abschnitt 1 zur dualen Ausbildung
powerment bis hin zum komplexen migrationsspe-
                                                           genannten – sowohl auf der Seite der Ratsuchenden
zifischen Förderungsmanagement. Solche Aufgaben
                                                           als auch auf der Seite der Beratenden.
bedürfen der gezielten Entwicklung beraterischer
Spezialkompetenzen. Sie können in einer „normalen“         Ebenso gilt der überwiegende Teil der unter Punkt 1
Beratung unter „normalen“ Bedingungen und mit              gemachten Ausführungen zu spezifischen Herausfor-
beraterischen Standardkompetenzen nicht bewältigt          derungen in der und zu Ansprüchen an die migrations-
werden.

                                                                                                                     11
hen betrieblichen Praxisanteilen inferior gesehen wer-
                                                                                      den. Gleichwohl besteht eine wichtige Aufgabe in der
                                                                                      beschäftigungsorientierten Beratung an der „Ersten
                                                                                      Schwelle“ darin, die schulische Option insbesondere
                                                                                      dort aktiv in die Gespräche einzubringen, wo sich mit
                                                                                      ihr das Berufswahlspektrum erweitern lässt. (Gerade
                                                                                      im schulischen Ausbildungsspektrum finden sich Be-
                                                                                      rufe, deren Marktchancen im strukturellen Wachstum
                                                                                      des Dienstleistungssektors sehr gut sind und deren
                                                                                      Bedeutung weiter zunehmen wird.) Aber auch Fehlein-
                                                                                      schätzungen insbesondere der Marktchancen an der
                                                                                      „Zweiten Schwelle“ bei Berufen, die auch dual erlernt
                                                                                      werden können, müssen erkannt und transparent ge-
     spezifische Beratung auch für die Übergangsberatung                              macht werden.
     zur schulischen Berufsausbildung. Wegen der zum Teil                             Herausforderung Zweitsprache [2.2]
     komplementär zu erwägenden beruflichen Optionen
     sowohl auf dualen als auch auf schulischen Ausbil-                               Schulische Ausbildungen setzen stärker noch als du-
     dungswegen werden ohnehin beide möglichen Über-                                  ale Ausbildungen mit ihren verstärkten praktischen
     gänge jeweils innerhalb ein und desselben Beratungs-                             Anteilen auf das Medium Sprache als Instrument
     gesprächs thematisiert werden. Einige spezifische                                der Wissensvermittlung. Sie sind also für Auszubil-
     Themen und Bedarfe des Übergangs in eine schulische                              dende mit Deutsch als Zweitsprache einerseits eine
     Berufsausbildung werden im Folgenden zusätzlich                                  größere Herausforderung und bieten andererseits
     hervorgehoben:                                                                   stärkere Möglichkeiten zur praktischen Anwendung
                                                                                      der Zweitsprache und damit zum Ausbau der eigenen
     Herausforderung Wissensnachteil [2.1]                                            Sprachkompetenz. Die Eignung eines schulischen Aus-
     Das Wissen um die oben beschriebene (Teil-)Komple-                               bildungsweges für Ratsuchende mit Migrationshinter-
     mentarität dual und schulisch ausgebildeter beruf-                               grund ist also in dieser dialektischen Hinsicht beson-
     licher Optionen gehört zu den tiefergehenden Wis-                                ders zu thematisieren und zu prüfen.
     sensbeständen über das deutsche Bildungssystem,
                                                                                      Herausforderung Diskriminierung [2.4]
     die bei Ratsuchenden mit Migrationshintergrund und
     ihren Eltern in der Regel nicht oder nur in lückenhaf-                           Entsprechend der unter Punkt 2.2 herausgearbeite-
     ter oder gar inhaltlich verzerrter Form vorhanden sind.                          ten Dialektik der relativen Position schulischer Aus-
     Dafür ist unter anderem die Dominanz des dualen Sys-                             bildungswege im Gesamtsystem beruflicher Ausbil-
     tems in der öffentlichen Wahrnehmung von und in der                              dungen kann die Wahl schulischer Optionen entweder
     Debatte über Berufsausbildung verantwortlich, aber                               vorschnell ausgeschlossen werden, weil Ratsuchende
     auch die mögliche Differenz zwischen dem deutschen                               auf ihrem bisherigen schulischen Weg Signale er-
     Berufsausbildungssystem und dem der Herkunftslän-                                halten haben, dass sie von anspruchsvolleren Wegen
     der. So wird häufig der Ertrag schulischer Bildungs-                             ausgeschlossen bleiben14 – oder gerade umgekehrt
     wege über- und der Ertrag dualer Ausbildungswege                                 vorschnell als Alternative zu am Ausbildungsmarkt
     unterschätzt, weil in den meisten Ländern außerhalb                              schwieriger zu realisierenden dualen Berufsausbil-
     des deutschsprachigen Raumes Ausbildungen mit ho-                                dungen gesehen und getroffen werden.

     14 Eine entsprechende Diskriminierung ergibt sich aus der Versagung der Finanzierung von Schulgebühren für Berufsausbildungen, die zum Teil nur über diesen
     kostenpflichtigen Weg erreichbar sind, insbesondere für die Kinder aus Bedarfsgemeinschaften nach dem II. Sozialgesetzbuch, unter ihnen überproportional viele
     Zuwandererfamilien. Inwieweit dieser die Berufsfreiheit und damit grundrechtseinschränkende Umstand durch die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungs-
     gerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09 - 1 BvL 3/09 - 1 BvL 4/09), in dem der Gesetzgeber insbesondere zur Erhöhung der Bedarfssätze für Bildungskosten der
     Kinder verpflichtet wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen.

12
Herausforderung Empowerment und Förderung                                     3. Beratung am Übergang zwischen dem all-
[2.5 + 2.6]                                                                   gemein bildenden Schulsystem und dem Stu-
Neben den unter 1.5 und 1.6 genannten Inhalten muss                           dium an einer Hochschule (AB [ hB)
in der migrationsspezifischen Beratung die Option
schulischer Berufsausbildungswege mit spezifischem
                                                                                                  Übergangsberatung
Problembewusstsein der Beratenden bearbeitet wer-
                                                                                               Schule - Hochschulbildung
den. So kann einerseits das aktive Einbringen aus-
sichtsreicher schulisch ausgebildeter Berufe ange-
zeigt sein. Dabei ist breiter Raum in der Beratung
zu reservieren für Möglichkeiten der Finanzierung
solcher Ausbildungswege15, die in der Regel nicht
nur keine Ausbildungsvergütung erbringen, sondern
im Gegenteil häufig die Zahlung nicht unerheblicher
Schulgebühren erfordern. In anderen Fällen kann es
von besonderer Bedeutung sein, alle Möglichkeiten
des differenzierten ausbildungsmarktpolitischen För-
dersystems nach dem III. Sozialgesetzbuch aktiv zu
                                                                              Die Komplexität der Themen in der Beratung von Rat-
thematisieren und verständlich zu erläutern, um zur
                                                                              suchenden mit oder auf dem Weg zu einem Schulab-
nachhaltigen Verfolgung eines dualen Ausbildungs-
                                                                              schluss mit Allgemeiner oder Fach-Hochschulreife
weges im angestrebten Berufsfeld zu ermutigen und
                                                                              ergibt sich aus dem außerordentlich vielfältigen und
diesen finanziell und beraterisch begleitend zu unter-
                                                                              sich beschleunigt verändernden System unterschied-
stützen.
                                                                              lichster Studiengangangebote, der Dauer dieses beruf-
Anspruch Beratungskompetenz [2.7]                                             lichen Bildungsweges, dem nur losen Zusammenhang
                                                                              zwischen akademischen Fachabschlüssen und einer je-
Zusätzlich zu den unter Punkt 1.7 genannten Kompe-
                                                                              weils vielfältig sich eröffnenden Palette unterschied-
tenzen wird unter anderem bei dieser Übergangsbe-
                                                                              licher adäquater akademischer Ausübungsberufe und
ratung zwischen allgemein bildender und beruflich
                                                                              aus der sich aus dem Vorgenannten ergebenden beson-
ausbildender Schule deutlich, dass Beraterinnen und
                                                                              deren Herausforderung bei der Gegenüberstellung von
Berater bei Ratsuchenden mit Migrationshintergrund
                                                                              Bildungsinvestitionen und Platzierungsaussichten am
in besonders professioneller Weise über ihr kommu-
                                                                              Arbeitsmarkt. Entsprechend groß sind auch in diesem
nikatives Instrumentarium verfügen und ein hohes
                                                                              formal höchsten Bildungsübergang an der „Ersten
Bewusstsein über ihre unterschiedlichen Teil-Aufga-
                                                                              Schwelle“ die objektiven und subjektiven Unsicher-
ben in der Beratung haben und anschließend verant-
                                                                              heiten bei Ratsuchenden vor der Studienwahlent-
wortungsvoll mit diesen umgehen müssen: Wo wegen
                                                                              scheidung. Da Ratsuchenden mit Hochschulzugangs-
spezifischer Wissensnachteile die Information zu von
                                                                              berechtigung auch alle anderen (in den Abschnitten
den Ratsuchenden selbst nicht thematisierten Be-
                                                                              1 und 2 genannten) beruflichen Bildungswege offen
rufszielen eingebracht werden soll, wo nachhaltige
                                                                              stehen, werden auch diese entweder als prioritäre, al-
Ermutigung zur Aufgabe wird, wo Ratsuchende mit
                                                                              ternative oder ein Studium ergänzende Optionen zu-
Potenzialen sich bestimmte Wege nicht zutrauen, da
                                                                              sätzlich thematisiert.
ist in besonders sensibler Weise eine Gratwanderung
zu leisten zwischen beeinflussenden und den eigenen                           Herausforderung Wissensnachteil [3.1]
Standpunkt der Ratsuchenden respektierenden Inter-
                                                                              Der Erwerb der beschriebenen komplexen Informati-
ventionen.
                                                                              onen und das entscheidungsrelevante Management
Auch ist ein komparatives Wissen über Ausbildungs-                            dieser Informationen stellt für alle Studienwählerinnen
wege in wichtigen Herkunftsländern von Bedeutung,                             und Studienwähler eine besondere Herausforderung
um mögliche Fehleinschätzungen über den Ertrag ein-                           dar. Diese Herausforderung erhöht sich für Ratsu-
zelner Ausbildungswege thematisieren zu können.                               chende, die aus Familien ohne akademische Bildungs-

15 Solche Finanzierungsmöglichkeiten basieren in der Regel auf dem Bundesausbildungsförderungsgesetz oder auf Stipendien, liegen also außerhalb
der für die Berufsberatung zuständigen Sozialgesetzbücher III und II.

                                                                                                                                                  13
erfahrung stammen, weil entsprechende Bewertungs-                                spezifischen ökonomischen Nachteilen und mündet
     kriterien und –hilfen aus dem sozialen Umfeld fehlen.                            in einer geringeren Kraft zur Bildungsinvestition und
     Für Studieninteressierte mit Migrationshintergrund                               zur Überbrückung bildungsrenditefreier Zeiten nach
     kommt die Differenz zwischen dem akademischen Aus-                               erfolgreichem Studienabschluss.
     bildungs- und Arbeitsmarkt des Herkunftslandes, das
     ihren eigenen Bewertungshintergrund und den ihrer                                Herausforderung Empowerment [3.5]
     Eltern bestimmen kann, und den entsprechenden Zu-                                Um Studienberechtigte mit Migrationshintergrund zur
     sammenhängen in Deutschland hinzu.                                               Aufnahme eines Studiums zu ermutigen, muss in der
                                                                                      Regel die größte Distanz zur familiären Bildungserfah-
     Herausforderung Zweitsprache [3.2]                                               rung überwunden und die Bereitschaft zur höchsten
     Schwierigkeiten bei der Anwendung der Zweitsprache                               Bildungsinvestition gefördert werden. Dabei ist ins-
     können bei Ratsuchenden mit formal höchsten allge-                               besondere in Zeiten negativer Arbeitsmarktbericht-
     mein bildenden Schulabschlüssen16 leicht unterschätzt                            erstattung und bei einem Interesse für vermeintlich
     werden. Stellt aber der Erwerb der Sprachkompetenz                               „arbeitsmarktfernere“ Studiengänge nicht nur gegen
     auf der akademischen Ebene für jede Sprachteilneh-                               skeptische Haltungen im familiären und außerfamili-
     merin und jeden Sprachteilnehmer eine besondere                                  ären sozialen Umfeld zu argumentieren, sondern auch
     Herausforderung dar, so wächst diese zusätzlich für                              gegen das mediale Überzeichnen des vermeintlichen
     Studieninteressierte aus Familien ohne akademische                               Bildungsinvestitionsrisikos. Wegen der langen Aus-
     Bildungserfahrung und ein weiteres Mal für Studi-                                bildungsdauer akademischer Wege und der in akade-
     eninteressierte mit Migrationshintergrund, die diese                             mischen Berufen häufig geforderten Flexibilität und
     Herausforderung in ihrer Zweitsprache meistern müs-                              Mobilität gehören auch individuelle Überlegungen zur
     sen. Hinzu kommt die fortschreitende Internationa-                               eigenen Lebensplanung im Spannungsfeld zwischen
     lisierung des Studiensystems, die eine gute bis sehr                             beruflicher und privater Lebenswelt sowie traditio-
     gute Beherrschung auch der englischen Sprache für                                nellen (Geschlechts-)Rollenbildern in den Themen-
     die Bewältigung des Studienalltags voraussetzt, was                              kreis der Beratung.
     Studierende mit Migrationshintergrund in ihrer Dritt-
     sprachkompetenz fordert. Diese besondere Herausfor-                              Herausforderung Förderung [3.6]
     derung stellt sich deshalb auch in den entsprechenden                            Wenn der längste und teuerste Bildungsweg erwogen
     Beratungsprozessen, in denen Informationen aus dem                               wird, Familien mit Migrationshintergrund aber sel-
     akademischen System verarbeitet und bewertet wer-                                ten über entsprechende finanzielle Mittel verfügen,
     den müssen.                                                                      kommt der Beratung über finanzielle Fördermöglich-
                                                                                      keiten eine besondere Rolle zu. Gerade im Bereich der
     Herausforderung Aufenthaltsrecht und Zertifikat-                                 Studienfinanzierung existiert neben den Möglich-
     migration [3.3]                                                                  keiten nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz
     Analog 1.3 und siehe Abschnitt zu Beratungsanlass 9.                             (BAföG) ein sehr unübersichtliches dezentral ver-
                                                                                      ortetes Stipendiensystem unterschiedlichster Stif-
     Herausforderung Diskriminierung [3.4]                                            tungen und Organisationen, die in den letzten Jahren
     Befunde aus der Bildungsforschung zeigen, dass Stu-                              gerade für Studieninteressierte mit Migrationshinter-
     dieninteressierte aus Familien ohne akademische Bil-                             grund spezifische Angebote bereithalten. Für einzel-
     dungserfahrung deutlich stärker auf negative Signale                             ne Ratsuchende ist es fast unmöglich, sich ohne die
     des Arbeitsmarktes reagieren und ihre Studienbetei-                              fachliche Expertise von Beraterinnen und Beratern,
     ligung aufgeben.17 Die diesem Verhalten zugrunde                                 die sich auf die Beratung zu akademischen Bildungs-
     liegende Verunsicherung speist sich sowohl aus psy-                              wegen konzentrieren, hierüber einen differenzierten
     chologischen Momenten wie aus objektiven schicht-                                Überblick zu verschaffen.

     16 Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit Studienwählerinnen und Studienwählern, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im deutschen Schulsystem erwor-
     ben haben (sogenannte „Bildungsinländer“). Themen in der Beratung von Studieninteressierten mit im Ausland erworbener Hochschulzugangsberechtigung
     (sogenannter „Bildungsausländer“) werden im Abschnitt zu Beratungsanlass 9 behandelt.
     17   Markant deutlich wurde das beim Rückgang der Studienbeteiligung in Ingenieurdisziplinen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Vgl. Minks 2004

14
Anspruch Beratungskompetenz [3.7]
Zusätzlich zu den unter 1.7 und 2.7 genannten Erfor-
dernissen ergeben sich wesentliche Leistungsanfor-
derungen an die Beratenden durch die Menge, Kom-
plexität, Veränderungsdynamik und die Distanz der
benötigten Informationen und Bewertungsaufgaben.

Die drei bisher behandelten Beratungsanlässe an der
„Ersten Schwelle“ zwischen allgemein bildendem
Schulsystem und der beruflichen Erstausbildung bil-
den das Spektrum dessen ab, was in der Arbeitsver-
waltung als Berufsberatung für Jugendliche18 gegen-
über dem Erwachsenenbereich abgegrenzt wird: In
den Beratungsgesprächen mit Erwachsenen werden
                                                                               len. Deshalb sind gerade auch in der beschäftigungs-
weniger Prozesse der Berufswahl thematisiert, son-
                                                                               orientierten Beratung von Erwachsenen mit Migrati-
dern wird der Schwerpunkt beraterischen Handelns                               onshintergrund, deren unterschiedliche Anlässe im
auf eine möglichst schnelle (Re-)Integration von Er-                           Folgenden ausdifferenziert werden, die Themen, Be-
wachsenen mit Berufserfahrung in den Arbeitsmarkt                              darfe und Beratungskompetenzen von Bedeutung, die
gelegt.19 Solche „integrationsbegleitende Beratung“                            in den ersten drei Abschnitten zur Beratung an der
genannte Gespräche unterliegen in der Regel einer                              „Ersten Schwelle“ dargestellt wurden. Es werden im
deutlichen Verengung des möglichen Berufsspekt-                                Folgenden die spezifischen anlassbezogenen Zusatz-
rums auf den bisherigen Berufsbereich und immer                                anforderungen an die migrationsspezifische Beratung
einer stark formalisierten und standardisierten Ope-                           herausgearbeitet. Diese können aber auch in der Be-
rationalisierung des Auswahlprozesses mit Hilfe vor-                           ratung Erwachsener nur aufbauend auf der Basis des
gegebener computergestützter Dateneingabemasken.                               bisher Geschilderten gemeistert werden.
Damit wird nicht nur die beraterische Kommunikation
stark eingeschränkt, es wird mit dieser Einschränkung
auch der Ausschluss von Optionen innerhalb des Ge-
                                                                               4. Beratung am Übergang zwischen einem
samtspektrums von (Weiter-)Bildung und Berufswahl
in Kauf genommen. Bei dieser Verfahrensweise wird                              dualen, schulischen oder akademischen be-
übersehen, dass auch bei jedem Beratungsanlass jen-                            ruflichen Bildungsabschluss und der ersten
seits der „Ersten Schwelle“, also im gesamten Verlauf                          hauptberuflichen Erwerbsarbeitsstelle (in
des Erwerbslebens von Ratsuchenden, (neue) Berufs-                             abhängiger Beschäftigung) (B [ A1)
wahlprozesse nicht nur legitim, ja deren Ergebnisse
auch grundrechtlich zugesichert sind. Ihre Akzeptanz                                               Übergangsberatung
und ihr intensiver und explorativer Einbezug in die                                        Erstausbildung - erste Arbeitsstelle
beschäftigungsorientierte Beratung von Erwachsenen
birgt auch erhöhte Chancen für das Ziel nachhaltiger
Integration am Arbeitsmarkt. Dies gilt insbesondere
für Ratsuchende mit Migrationshintergrund, die we-
gen der bisher geschilderten spezifischen Hürden und
des hochgradig sozial selektiven Bildungssystems
häufiger vor der Herausforderung stehen, in früheren
Lebensphasen nicht realisierbare Optionen nachzuho-

18   Die Altersgrenze des Jugendlichenbereichs wird von der Bundesagentur bei 25 Jahren gezogen.
19   Etwa nach Phasen der Arbeitslosigkeit oder des Nichterwerbs während Phasen ausschließlicher Familienarbeit

                                                                                                                                      15
Dieser Ort einer beschäftigungsorientierten Beratung                            Herausforderung Wissensnachteil [4.1]
     wird häufig auch als „Zweite Schwelle“ bezeichnet.                              Ratsuchende, die mit ihrem Ausbildungsweg bereits
     Ratsuchende stehen hier vor der Aufgabe, nach ihrem                             fachspezifische Kenntnisse erworben und eine fach-
     erfolgreichen Abschluss im dualen System, an einer                              lich-organisatorische Sozialisation erfahren haben,
     beruflichen Fachschule oder an einer Hochschule die                             verfügen über mehr Wissen als Ratsuchende an der
     erste Arbeitgeberin oder den ersten Arbeitgeber zu                              „Ersten Schwelle“ und können auch schon Teil ent-
     finden. Dabei geht es in der Regel darum, als Fachkraft                         sprechender Netzwerke geworden sein. Andererseits
     eingestellt zu werden, mit dem erworbenen beruflichen                           haben sich auf diesem Weg Ratsuchende mit Migrati-
     Zertifikat in den Fach-Arbeitsmarkt einzumünden und
                                                                                     onshintergrund häufig ein weiteres Stück von der Er-
     also die ersten (materiellen und immateriellen) Erträ-
                                                                                     fahrungswelt ihrer Familie entfernt und können diese
     ge aus der geleisteten Bildungsinvestition zu erzielen.
                                                                                     Wissensquelle für die anstehende Entscheidung und
     Während bei der dualen Ausbildung grundsätzlich eine
                                                                                     Strategie kaum ertragreich nutzen. Die Unterschät-
     hohe Wahrscheinlichkeit besteht, im eigenen Ausbil-
                                                                                     zung der Vielfalt möglicher adäquater Erwerbsopti-
     dungsbetrieb als Fachkraft einmünden zu können, wird
                                                                                     onen und das Übersehen anderer auf das eigene Nei-
     am Ende eines schulischen oder akademischen Ausbil-
                                                                                     gungs- und Eignungsprofil gut passender Optionen
     dungsweges immer ein weiterer Wahl- und Entschei-
                                                                                     können die Folge sein.
     dungsprozess erforderlich.20 Je nachdem, wie zahlreich
     die unterschiedlichen Ausübungsformen sind, die der                             Herausforderung Zweitsprache [4.2]
     fachliche Arbeitsmarkt bietet, kann diese Aufgabe
     über die reine Arbeitgeberwahl weit hinausgehen und                             Die Kompetenz in der Zweitsprache Deutsch wächst
     zur zweiten umfassenden Berufswahl werden. So kann                              mit deren in der Regel intensiven Einbindung und
     etwa ein angestellter Physiotherapeut Patienten in ei-                          Anwendung auf allen beruflichen Ausbildungswegen.
     ner freien Praxis oder in einem Klinikum behandeln, er                          Sie bleibt gleichwohl immer die in einer Zweitsprache.
     kann aber auch für die Gesundheitsvorsorge und Bera-                            Sowohl bei der Entschlüsselung häufig beeinflussend
     tung von einer Krankenkasse oder einem Fitnessstu-                              formulierter Stelleninformationen als besonders auch
     dio angestellt werden. Für eine Politologin entfaltet                           bei aller im Bewerbungs- und Personalauswahlprozess
     sich zwischen Tätigkeiten wie der der Meinungs- und                             zu leistender Kommunikation (Vorstellungsgespräch,
     Marktforscherin, der Journalistin, der Dozentin in der                          Assessment Center) kommt es auf Feinheiten an. Des-
     Politischen Bildung oder der politikberatenden Refe-                            halb bedürfen insbesondere Ratsuchende mit Migrati-
     rentin eine breite Palette fachlich adäquater, bezogen                          onshintergrund an der „Zweiten Schwelle“ einer inten-
     auf das praktische Arbeitsumfeld aber stark diverser                            siven (nicht nur) beraterischen Vorbereitung auf die
     beruflicher Optionen. Mit der Entscheidung über die                             anstehenden Aufgaben.21
     persönliche Einmündung nach der „Zweiten Schwelle“
                                                                                     Herausforderung Diskriminierung [4.4]
     stellen sich Ratsuchenden also auch Fragen, die mit
     der Arbeitsplatzwahl auch eine weitere Berufswahl                               Diskriminierungspotenzial ergibt sich sowohl aus dem
     und damit auch Fragen der Lebensplanung und Per-                                unter 4.1 genannten Wissensnachteil wie insbeson-
     sönlichkeitsentfaltung berühren. So finden sich auch                            dere auch in einem mit Vorurteilen behafteten Perso-
     an der „Zweiten Schwelle“ ein Ort und ein Bedarf be-                            nalauswahlprozess.22 Migrationsspezifische beschäf-
     schäftigungsorientierter Berufsberatung, die tenden-                            tigungsorientierte Beratung hat hier die Aufgabe,
     ziell alle bereits unter den drei erstgenannten Bera-                           Ratsuchende bei der Entwicklung einer zugleich effek-
     tungsanlässen geschilderten Herausforderungen und                               tiven wie individuell geeigneten Strategie im Umgang
     Diskriminierungspotenziale aufweisen.                                           mit dieser Situation zu unterstützen.

     20 Dies kann natürlich auch nach einer dualen Ausbildung erforderlich werden, etwa wenn der Betrieb (wie seit einiger Zeit politisch gefordert und gefördert)
     über seinen eigenen Fachkraftbedarf hinaus ausgebildet hat, wenn sich Auszubildende und Ausbilder nicht unbefristet weiter aneinander binden wollen oder wenn
     im Ausbildungsbetrieb bestimmte Ausübungsformen des Berufes für die Ratsuchenden nicht möglich sind.
     21   Gerade in dieser Phase erscheint eine Ausweitung der Beratungsdienstleistung auf Trainings- und Coachingelemente sinnvoll.
     22   Antidiskriminierungsarbeit und –gesetzgebung versuchen gerade auch diesem empirisch gut belegten Phänomen entgegenzuwirken.

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