Rundbrief - Michaeli 2019, Nr. 67 - Pädagogische Sektion am Goetheanum
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b a c k t h e Pädagogische Sektion o n am Goetheanum v e r s i o n E n g l i s h Rundbrief M i c h a e l i 2 0 1 9 , N r. 6 7
Impressum Der Rundbrief der Pädagogischen Sektion Herausgeber: Pädagogische Sektion am Goetheanum Postfach, CH 4143 Dornach 1 Telefon: 0041 61 706 43 15 Telefon: 0041 61 706 43 73 Telefax: 0041 61 706 44 74 E-Mail: paed.sektion@goetheanum.ch Homepage: www.goetheanum-paedagogik.ch Redaktion: Florian Osswald, Dorothee Prange, Claus-Peter Röh Lektorat: Angela Wesser Titelbild: Waldorf 100 Festival Berlin, Tempodrom, Japanische Trommelgruppe aus Kyoto lädt zum Mitmachen ein, Photo Charlotte Fischer Spenden und Beiträge zu Gunsten des Rundbriefes Richtsatz pro Jahr CHF 30 / EUR 30 Innerhalb Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft der Schweiz Goetheanum, CH-4143 Dornach Raiffeisenbank Dornach Konto-Nr.: 10060.71 Clearing Nr.: 80939 Postscheckkonto: 40-9606-4 Vermerk: 1060 Internationale Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft Überweisungen Postfach, CH-4143 Dornach USD-Konto IBAN: CH48 8093 9000 0010 0604 9 Raiffeisenbank Dornach, CH–4143 Dornach BIC: RAIFCH22 Vermerk: 1060 Euro Anthroposophische Gesellschaft Dornach Überweisungen GLS Gemeinschaftsbank Bochum IBAN: DE 53 4306 0967 0000 9881 00 BIC: GENODEM1GLS Vermerk: 1060 Aus Deutschland Freunde der Erziehungskunst e.V. Postbank Stuttgart IBAN: DE91 6001 0070 0039 8007 04 SWIFT / BIC: PBNKDEFFXXX Vermerk: Pädagogische Sektion, Rundbrief Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 3 Zu dieser Ausgabe Dorothee Prange 5 Rückblick auf die Tagung zum Ersten Lehrerkurs in Dornach Colleen O‘Connors 7 Klassenbesprechung Christof Wiechert 11 Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum Claus-Peter Röh 16 Freunde der Erziehungskunst Nana Göbel 25 Internationale Assoziation für Frühe Kindheit Philipp Reubke 29 Neues aus Berlin vom Treffen der Internationalen Konferenz Trevor Mepham 31 Agenda Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67 1
Rückblick auf die Tagung zum Ersten Lehrerkurs in Dornach Goetheanum im Sommer Bandana Basu, Teilnehmerin der Waldorf 100 Jubiläumskonferenz ‘Erster Lehrerkurs’ 2 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Einleitung Einleitung Liebe Kolleginnen und Kollegen, Im letzten Rundbrief hiess es noch: Das Jahr Geburtstag wünscht man dem Geburtstags- mit allen Veranstaltungen und Festlichkeiten kind alles Gute für das neue Lebensjahr oder zu Waldorf 100 ist in vollem Gange! Jetzt Lebensjahrzehnt. schreiben wir schon: Das Waldorf 100 Jahr 2019 neigt sich schon fast dem Ende zu. Was wünschen wir uns für die Waldorfschul- bewegung? Was haben wir in den vergange- Im November 2014 entstanden im Rahmen nen 100 Jahren gelernt? Was können wir ver- des Treffens der Internationalen Konferenz in bessern? Wo ruft etwas nach Veränderung? Israel die ersten Ideen und die Vorbereitun- Wo liegen unsere Stärken und Schwächen? gen der grossen Tagungen (Welterzieherta- gung, (Klassen)lehrertagung, Oberstufenta- Im Rahmen der Tagung zum 1. Lehrerkurs am gung, Tagung zum Ersten Lehrerkurs) began- Goetheanum haben wir gesehen und erlebt, nen. Auch richtete sich der Blick auf die dass die drei Kurse, die Rudolf Steiner den vertiefende Arbeit der Menschenkunde und ersten 12 Lehrern als Vorbereitung für den der Kinderbetrachtung. Das Projekt ‘Bees & Schulbeginn gab, gute Grundlage geben, aus Trees’ entstand im Hinblick auf die Umset- der heraus die genannten Fragen bearbeitet zung in jeder Altersstufe – vom Kindergarten werden können. Was nicht alles darin verbor- bis zur Oberstufe. Die Internationale Konfe- gen ist. Mit Freude und Enthusiasmus wurde renz gestaltete einen Ort, an dem die vielen in den 9 Tagen am Goetheanum daran stu- Initiativen dargestellt werden konnten. Wal- diert und damit gearbeitet. Der Artikel einer dorf 100 entstand. Heute können wir ver- Teilnehmerin, Colleen O’Connors gibt aus- schiedene Publikationen anbieten (siehe führlich Bericht. www.waldorfbuch.de), die z.T. bereits in eng- lischer Sprache erhältlich sind. Eine weitere vertiefende Arbeit in den Jahren war neben der Menschenkunde die Kinder- Die Feierlichkeiten an der Uhlandshöhe in betrachtung. In vielen Schulen wurde neu Stuttgart und das Fest im Tempodrom am begonnen, damit zu arbeiten. Auf Nachfrage 19.9. in Berlin bildeten den Abschluss. Es einer Kollegin entstand so der Beitrag von waren grosse Feste mit vielen wunderbaren Christof Wiechert zur Klassenbetrachtung. Darbietungen kleiner und grosser Schüler, Ansprachen, Musik, Farbigkeit, Freude und Des Weiteren stellen wir in dieser Ausgabe Begegnungen. drei Institutionen vor mit ihren Aufgaben und Tätigkeitsfeldern: IASWECE, Die Freunde Und was kommt jetzt? der Erziehungskunst und die Pädagogische Sektion. Gleich zu Beginn der Vorbereitungen auf den 100. Geburtstag tauchte immer wieder die Die Internationale Konferenz, die wir im Frage auf, was feiern wir eigentlich? Ist es ein Rundbrief Nr. 66 vorgestellt und von den Fest für die zurückliegenden 100 Jahre? Ein Aufgabenfeldern berichtet haben, tagte zu- Fest der Freude und Dankbarkeit? An einem letzt in Berlin. Darüber erfahren Sie mehr in Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67 3
Einleitung dem Artikel von Trevor Mepham, der als Ko- Bitte schicken!!!!!! ordinator für diesen Kreis tätig ist. Es ist viel geschehen im letzten Jahr. Neben Wir beschäftigten uns neben anderem noch- den vielen schönen Erlebnissen sind wie be- mals mit der Charta und dem 10-Punkte Ar- schrieben Fragen für die Weiterarbeit und – beitspapier zu Fragen der Digitalisierung. Hier entwicklung der Bildungsaufgabe entstan- nun die englische Übersetzung der Charta, die den. Gehen wir mutig und freudig in die Zu- im vergangenen Rundbrief noch fehlte. kunft der nächsten 100 Jahre Waldorfpäda- gogik! Im November arbeitet eine Gruppe am Goe- theanum an einem Medienlehrplan. Bitte Viel Freude beim Lesen und mit und an Ihren schickt uns den Medienlehrplan Eures Landes Schülerinnen und Schülern! bzw. Eurer Schule zu, soweit dieser eben bis jetzt erarbeitet ist. Das wird uns eine grosse Ihre Pädagogische Sektion Hilfe sein. 4 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Rückblick auf die Tagung zum Ersten Lehrerkurs in Dornach Waldorf 100 Jubiläumskonferenz – ‘Der erste Lehrerkurs’ Colleen O'Connors, Lehrerin an der High Mowing School, USA Die Tagung ist vorbei, und die meisten Teilneh- zu lassen: Allgemeine Menschenkunde, Me- mer sind mit Autos, Zügen und Flugzeugen thodisch-Didaktisches und die Seminarbespre- nach Hause zurückgekehrt oder an ihre Ur- chungen wurden wieder in der ursprünglichen laubsziele weiter gezogen. Die menschliche chronologischen Einheit präsentiert. Diese In- spirituelle Aktivität, das menschliche Gefühls- tention hat auch zu einer neuen, eher klobigen leben und die menschlichen Taten schwingen Druckausgabe aller vierzehn Tage geführt, die noch immer in den Hallen des Goetheanum einen großen Anhang mit zusätzlichem Studi- und werden von dort aus in die Welt (und enmaterial und Faksimiles enthält. Im Moment nicht nur in die Waldorfwelt) hinausstrahlen, ist dieses Werk nur auf Deutsch verfügbar, aber noch lange nachdem die Sommersonne über die englische Übersetzung ist in Arbeit und für den Zenit durch die feurige Gestalt Michaels eine spanische Übersetzung werden finanzielle herabgestiegen ist. Was im Frühjahr wieder er- Mittel gesucht. wacht, hängt von jedem Einzelnen von uns ab. Die Arbeitsgruppen, locker nach Sprachen ge- 350 Teilnehmer aus rund 40 Nationen brach- gliedert (Deutsch, Englisch, Spanisch), dien- ten ihre Sprachen, Kulturen, Gaben und Fra- ten dazu, den Inhalt der zuletzt gehaltenen gen mit nach Dornach. Von den Kindergärt- Vorlesung sehr frei und interaktiv zu "verar- nerinnen bis hin zum Lobbyisten des Euro- beiten". Wir hatten mehr als 90 Minuten Zeit pean Council für Waldorfpädagogik strömte dazu, und aus den vier Gruppenleitertreffen jeden Morgen um 8.45 Uhr eine ausgewählte, wurde deutlich, dass jede der elf Gruppen lebendige und bemühte Gruppe von Men- diese Aufgabe auf unterschiedliche Weise an- schen in den Grundsteinsaal, um Musik gegangen ist. Als einer der drei Leiter unserer und/oder Eurythmie zu erleben, um unseren Gruppe bestand unsere Herausforderung Tag zu beginnen. Es folgten der Morgenvor- darin, nachdem wir gerade den Vortrag des trag, eine Kaffeepause, die Arbeitsgruppen Tages (oder des halben Tages) "erhalten" hat- und das Plenum. Nach einem köstlichen Mit- ten, das Gefäß ganz spontan so zu gestalten, tagessen vom Speisehaus und einer herrlich dass es dem Inhalt des Vortrags und der langen Mittagspause (2 Stunden und 15 Mi- Gruppe am besten dient. Mit einer lebendigen nuten) wurde am Nachmittag an fünf der Mischung aus künstlerischen Aktivitäten (Wir neun Tage der Ablauf noch einmal wieder- hatten einen Eurythmisten in der Gruppe – holt. Die “Brasilianer" belebten den Beginn danke, Mona!), Partner- und Kleingruppenge- der Nachmittagssitzungen, indem sie uns ver- sprächen, Spaziergängen, stillen, nachdenkli- schiedene Gesänge lehrten. Einschließlich des chen Momenten und kräftigen Gruppendis- ersten und des letzten Tages waren vier Tage kussionen wuchsen wir sukzessive zusammen, Halbtage, die Ruhe, etwas Sightseeing und in der Arbeit, das Verstehen des Menschen er- viel Networking ermöglichten. weitern zu wollen. Jeder Dozent hatte die Aufgabe, einen Tag des In der ersten Hälfte des Plenums wurden zwei ersten Lehrerkurses aufs Neue lebendig werden Gruppen vorselektiert, um etwas aus ihren Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67 5
Rückblick auf die Tagung zum Ersten Lehrerkurs in Dornach Arbeitsgruppen zu "präsentieren". Auch diese richtige und engagierte Pädagogen getrof- Präsentationen sind im Laufe der neun Tage fen zu haben; Lehrer voller Liebe und kreati- "gewachsen" und wurden zu einem wichtigen ver Energien; Lehrer, die sich um die Kinder Bestandteil der kollegialen Verdauungs- und in ihrer Obhut und um die Welt, die wir alle Integrationsprozesse. Die zweite Hälfte des teilen, sorgen. Ich habe oft die Frage gehört: Plenums gab Raum für individuelle Beiträge "Was ist Waldorf?" Diese Tagung war Waldorf und Fragen, oft sanft geleitet von einer Im- vom Feinsten – eine Bewegung im wahrsten pulsidee oder Anfrage durch Claus-Peter Röh Sinne des Wortes, die sich selbst und die Auf- oder Florian Osswald. gaben, wie die der kontinuierlichen Pflege der Sinne, des gesunden Menschenverstands Diese "freie" Konferenz war ein Experiment und des Bewusstseins erfordern, zunehmend für uns alle, und die Pädagogische Sektion bewusst gemacht hat. Und das nicht nur in und die Tagungsgestalter bewiesen den den Ausdrucksformen, sondern auch mit Un- dringend benötigten Mut unserer Zeit, um terstützung unserer gemeinsamen menschli- Raum für den kollegialen Austausch im chen Erfahrung. Rahmen der Tagung zu schaffen. Ganz im Sinne von Steiners Beispiel von 1919 haben Wenn wir weiterhin Waldorf 100 feiern, soll- wir nicht nur zugehört. Wir arbeiteten, ten wir Ehrfurcht, Dankbarkeit und unsere sprachen, bewegten, schafften und ver- gemeinsame und individuelle Verantwortung suchten, in die gegebenen Hinweise einzu- – die "Fähigkeit darauf zu antworten" – zur dringen. Mit einem Finger am Puls der Zeit Pflege der Lehrer, dem Aufwachsen der Kin- näherten wir uns der Frage: "Was verlangen der sowie der Unterstützung der Eltern und die nächsten hundert Jahre Waldorfpäda- der Heilung der Welt, in der wir Waldorf 200 gogik von uns?" feiern wollen, empfinden. Ich fühle mich gesegnet, an dieser Tagung Ich danke euch allen. teilgenommen zu haben und so viele auf- 6 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Klassenbesprechung Beratungen zum Befinden einer Klassengemeinschaft oder die sogenannte Klassenbesprechung Christof Wiechert Einführung: Wir berühren hier die Frage des richtigen In der Schulbewegung weltweit erwacht das Verhältnisses von Fach- und Klassenlehrern. Bewusstsein für die Bedeutung der Schüler- Es ist ein Feld, das der Aufarbeitung harrt. Es oder Kinderbetrachtung oder Kinderbespre- soll bei anderer Gelegenheit angesprochen chung. Es ist das von Rudolf Steiner initiierte werden. Instrument der pädagogischen Selbsthilfe durch die Beratung im Lehrerkreis. An einer Regulär sollte eine Klassenbesprechung oder wachsenden Anzahl von Schulen werden die -betrachtung bei der Übergabe an einen an- Kinder- oder Schülerbesprechungen durch- deren Klassenlehrer oder beim Übergang in geführt, wodurch mehr und mehr die Schu- die Oberstufe stattfinden. len in die Lage versetzt werden, die pädago- gischen Herausforderungen selber zu lösen Das Bild und es weniger nötig erscheint diese 'auszu- Bei der Kinderbetrachtung bemühen wir uns lagern'. im ersten Schritt des Vorgehens, das Kind oder den Schüler als Bild seiner selbst zu er- In diesem Umfeld wird vermehrt die Frage fassen. Ist das geschehen, wird versucht die- nach der Klassenbesprechung gestellt. Gäbe ses Bild zu verstehen aus den Kräften die es es für die Klassenbesprechung auch ein For- geschaffen hat. Ist das zustande gebracht, mat wie für die Kinderbetrachtung? wird darum gerungen die helfenden Mass- nahmen in der Pädagogik selbst zu finden. Es gibt sie. Allein sie ist vollkommen anderer Es sind die bekannten drei Schritte. Natur als die Kinder- oder Schülerbetrach- tung. In einer Klassenbesprechung oder -betrach- tung ist der Weg ein anderer. Eine Klassenbesprechung wird in der Regel einberufen, wenn es Schwierigkeiten bei den Um eine Klassengemeinschaft zu verstehen, Fachlehrern gibt im Umgang mit einer be- muss eine andere Ebene gefunden werden. stimmten Klasse. Die Fachlehrer tun sich Das ist leicht verständlich, denn die Gestalt dann mit dem Klassenlehrer zusammen und einer Klassengemeinschaft erfasst man nicht erörtern ihre Fragen und Probleme. durch die Betrachtung der einzelnen Schüler. Jetzt muss zu einer anderen Ebene, einer Sozial gerät ein solches Unterfangen leicht Meta-Ebene gewechselt werden. unter die Räder, da man entweder die Schü- ler bespricht, die einem Schwierigkeiten be- Diese neue Ebene kann gefunden werden, reiten, oder man gerät an den Klassenlehrer indem die Merkmale der Klassengemein- und sieht in ihm (oder ihr) die Ursache – aus- schaft sichtbar gemacht werden. Diese Merk- gesprochen oder nicht – der vorliegenden male sind einfach auffindbar. Es sind äussere Schwierigkeiten. Merkmale. Werden diese in ihrer Vielfalt zu- Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67 7
Klassenbesprechung sammen gesehen, entsteht ein Bild der Klas- sem Zusammenhang auch auf die Durchmi- sengemeinschaft tatsächlich auf einer ande- schung der Geburtssternzeichen schauen.) ren Ebene. 3. Wie ist das Verhältnis junger oder Der Vorgang ist zunächst das Sammeln dieser älterer Schüler innerhalb der Klasse? Merkmale und sie anschliessend im Zusam- Sind hauptsächlich Kinder in der Klasse, die menhang und -klang zu betrachten. Man das mittlere Alter für die Klasse haben oder braucht sich nicht daran zu stören, dass viele sind viele junge Kinder dabei, oder ältere? der Merkmale sehr offenbare und einfache Kinder, die fast zu jung sind, geben der Klasse sind, nur werden sie selten im Zusammen- eine bestimmte Farbe die anders ist als wenn hang betrachtet. eine Mehrheit der Schüler eher älter ist. Es ist nicht immer nötig alle Merkmale auf- 4. Wie ist die Reihenfolge der Kinder in zuspüren; manchmal spürt man schon nach der Familie? wenigen Versuchen, wie ein Bild der Klasse Hat man eine Klasse vor sich mit Kindern aus entsteht, ohne dass die individuellen Kinder lauter Einzelkinderhaushalten oder hat man es oder Schüler dafür 'herhalten' müssen. mit Kindern zu tun, die aus einer Familie kom- men, in der mehrere Kinder in einem Haushalt Die Merkmale die die Gestalt einer leben? Früher hatte man noch Schüler in der Klassengemeinschaft bestimmen sind Klasse aus Familen mit fünf oder mehr Kin- die folgenden: dern. Solche Kinder aus relativ grossen Fami- lien bringen eine besondere soziale Fähigkeit 1. Wie ist das zahlenmässige Verhältnis in die Klassengemeinschaft. Kinder aus Ein- Jungen – Mädchen? kindfamilien haben diesbezüglich einen ande- Jeder weiss aus Erfahrung, eine ausgespro- ren Weg vor sich und sind mehr angewiesen chene Jungenklasse hat einen anderen Duk- auf eine funktionierende Klassengemeinschaft. tus als eine Mädchenklasse. Mädchen verhal- ten sich in einer von Jungen dominierten 5. Ist eine einseitige Verteilung der Klasse ganz anders als in einer Mädchen- Temperamente wahrnehmbar? klasse. So auch die Jungen. Ist ein ungefähres Hat eine Klassengemeischaft eine gewisse Gleichgewicht vorhanden, sind Jungen oder Grösse, so ab zwanzig Schüler, wird es eher Mädchen in ihrem Verhältnis zu einander selten sein, dass ein bestimmtes Tempera- eher neutral. ment in der Klasse vorherrscht. Es kann aber geschehen, dass ein Temperament vor- 2. Wie verhalten sich die Geburtsdaten herrscht indem es den Takt des Geschehens zueinander? vorgibt. Ist eine echte Gruppe Sanguiniker in Hat man in den Geburtsdaten eine mehr oder einer Klasse, wird die ganze Klasse das spü- weniger gleichmässige Verteilung oder sind ren. Ist eine solide Gruppe Phlegmatiker in viel Wintergeburtstage oder Frühlingsge- einer Klasse anwesend, wird der Lehrer oder burtstage in einer Klasse? Oder hat man ein die Lehrerin das ebenfalls schnell spüren. Problem mit den Geburtstagfeiern, weil so viele im Sommer, d.h. in den Ferien Geburts- 6. Talente und Begabungen, wie sind sie tag haben? Eine Winterklasse aber ist eine verteilt? andere als eine Herbstklasse. (Bei älteren Es ist ein grosses Thema. So ab der vierten, Klassen, d.h. der Oberstufe kann man in die- fünften Klasse beginnen die individuellen Ta- 8 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Klassenbesprechung lente und Begabungen hervorzutreten. Das nung zu tragen und eine sozialfähige Indivi- können Begabungen intellektueller Art sein, dualisierung der Schüler bewerkstelligen. wie z.B. viele gute Rechner in einer Klasse oder gibt es starke musikalische Begabungen? 9. Was entzündet Interesse in der Oder sind ausgesprochene Sportler unter den Klassengemeinschaft? Schülern oder Kinder mit einer starken Phan- Sind die Schüler älter, so ab der sechsten tasie, gute Maler? Kurz, die Individualisierung Klasse, kann wahrgenommen werden, welche der Begabungen und deren Hervortreten än- Unterrichtsgegenstände Begeisterung we- dert die Klassengemeinschaft. cken. Wir haben Klassen gesehen, die die nordische Mythologie langweilig fanden, bei 7. Die Eltern und die Elternhäuser den Griechen aber an der Vorderkante ihrer In dem Zusammenhang der unter 6. genannt Stühle sassen. Andere fanden erst die Römer ist, spielen die Eltern eine bedeutende Rolle. irgendwie spannend. Und wenn sich ab der Die Frage wie Talente und Begabungen mit sechsten Klasse die Naturwissenschaften der Erblichkeit zusammenhängen und wie melden, wie wirkt das? sich das im Laufe der Zeit individualisiert, ist ein in der Erziehungskunst noch wenig er- Oder ist die Klassengemeinschaft vor allem forschtes Gebiet. Die Gesetze der Erblichkeit interessiert an allem Sprachlichen? unter einem geisteswissenschaftlichen Ge- sichtspunkt werden von Steiner in deren Natürlich spielt hier die Interaktion mit dem Grundrissen schon 1910/11 dargestellt in Lehrer, der Lehrerin eine starke Rolle, aber Vorträgen in Nürnberg, Düsseldorf, München dennoch sind diese 'Entzündungen am Stoff' und Basel. (Erkenntnis und Unsterblichkeit, durchaus wahrnehmbar. GA 69b, Dornach 2013) In diesem Zusammenhang sollen auch die Das ist der eine Gesichtspunkt. Ein anderer ist Leistungen der Klasse in allen Lerngegen- das kulturelle Umfeld, in dem die Elternhäu- ständen betrachtet werden. ser beheimatet sind. Ja sogar das Gepräge der Umgebung spielt eine Rolle. Ist sie eher 10. Die Biographie der Klasse städtisch oder ländlich? Steht die Schule in Es ist klar, dass eine einheitliche Klassenfüh- einer Grossstadt in der Nähe einer Universi- rung sich anders auf eine Klassengemein- tät oder ist die Umgebung eher industriell schaft auswirkt, als wenn die Klasse bis zur 7. geprägt? Alle diese Faktoren spielen hinein in drei verschiendene Klassenlehrer gehabt hat. das Leben der Kinder und Schüler und somit ebenfalls in die Klassengemeinschaft. 11. Der Klassenlehrer/In Das Ganze rundet sich in der Betrachtung, 8. Das Vorhergehende zusammenfassend, wenn man auch auf den/die Klassenlehrer/In hat die Klassengemeinschaft ein eher schaut. War die Situation eine solche, dass die intellektuelles, künstlerisches oder Fähigkeiten der Schüler sich haben entfalten soziales Gepräge? können, hatte der Klassenlehrer die richtigen Diese Begriffe solten nicht zu eng gefasst wer- Anlagen, sich mit der Klasse zu verbinden? den. Trotzdem kann dieses empfunden werden. Hatte er/sie sein Temperament so weit im Griff, dass alle Schüler sich in der Atmosphäre Nun ist es ja die Aufgabe der Erziehungs- im Klassenzimmer zu Hause haben fühlen kunst allen diesen Gesichtspunkten Rech- können? War der/die Lehrer/In für die Schüler Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67 9
Klassenbesprechung da und frei von nicht pädagogisch dienlichen Die Mädchen sind eigentlich immer in der Eigenarten? Und vor allem, konnte ein Klima Defensive. Die Begabungen sind sehr ge- des Lernen-Wollens geschaffen werden? streut, kommen aber wenig zum Vorschein, da es eine Art Diktat einiger Jungen gibt, die 12. Das Ergebnis meinen, dass etwas Leisten nicht 'cool' sei. Sind diese Parameter ins Auge gefasst wor- Einige Schüler fühlen sich in diesem Zusam- den, kann eine geistig-seelische Gestalt der menhang nicht wohl. Es wird nötig sein, die Klassengemeinschaft entwickelt und erfasst Anführer dieses rohen Umgangstones so in werden. den Unterricht durch gezielte Aufgaben ein- zubeziehen und immer zurückkehrende Be- Wie sieht eine solche Gestalt aus? fragung ihrer Leistungen, dass der Ton sich dadurch ändert. Viele Schüler hoffen auf Es kann zum Beispiel ein Ergebnis geben, das eine anderen Unterrichtsstil. so aussieht: Die Klasse X hat einen sangui- nisch-sportlichen Grundton, weniger innerlich, Oder: Diese Klasse XY hat einen ausgespro- wenig künstlerisch, aber offen und lernbegie- chen schöngeistigen Tenor. Viele blonde, rig. In der Klasse sind einige ausgesprochen helle Schüler, gesittete Umgangsformen und helle Köpfe anwesend, die zum Teil auch den grosse Talente für Zeichnen, Malen und Spra- Ton angeben darüber wie die anderen sich ver- che sind vorhanden. Es gibt ein schönes halten sollen. Die Mädchen – in der Minderheit Gleichgewicht zwischen Jungen und Mäd- – haben auch diese etwas burschikose sportli- chen. Die Leistungen der Klasse sind über- che Art im Umgang miteinander und mit den durchschnittlich, trotz des Vorherrschens Jungen. Für Feinheiten in der Literatur oder in eines etwas gemächlichen Tons. Alle Lehrer der bildenden Kunst sind sie nicht so zu haben, kommen gerne in diese Klasse, was zur Folge sehr aber für Musikalisches. hat, dass mit Komplimenten an dieser Klasse sparsam umgegangen werden muss, um Die Aufgabe wird sein mit dieser Klasse auch nicht Eitelkeiten hervorzurufen. Viel Licht ist die mehr innerlichen Qualitäten, zum Bei- in dieser Klasse, ein Klassenspiel soll auch für spiel im Geschichtsunterricht zu entwickeln. ein wenig Feuer sorgen. Oder so: Die Klasse Y hat einen ausgespro- Mögen diese Anregungen ein Bild geben, wie chen rohen Charakter. Einige Jungen, nicht man sich neben der individuellen Betrach- die begabtesten, diktieren den Umgangston tung von Schülern dem Wesen einer Klassen- und viele Schüler sind darüber unglücklich. gemeinschaft nähern kann. 10 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum Aufgaben der Pädagogischen Sektion Claus-Peter Röh Einleitung sche Gesellschaft auf der Weihnachtstagung Mit den Waldorf-100-Veranstaltungen welt- 1923/24 neu begründet. In ihrem Zentrum weit ist auch die Arbeit der Pädagogischen stand die Freie Hochschule für Geisteswissen- Sektion am Goetheanum 100-jährig gewor- schaft, deren Sektionen sich in ihren For- den. Aus der Kernaufgabe, den pädagogischen schungsansätzen auf die verschiedenen Le- Impuls Rudolf Steiners zu pflegen und weiter- bensfelder ausrichteten: Während für andere zuentwickeln, ergeben sich die verschiedenen Lebensbereiche Sektionsleiter berufen wur- Arbeitsgebiete dieser Sektion. Sie spannen den, übernahm Rudolf Steiner in der Pädago- sich von der forschenden, inhaltlichen Arbeit gik selber die Leitung. Der Grund dafür lag in in Kolloquien, Schulkonferenzen und Arbeits- der bereits vier Jahre zuvor vollzogenen Grün- tagungen bis zur koordinierenden Zusammen- dung der ersten Waldorfschule in Stuttgart. arbeit mit den Assoziationen, Verbänden, Dort hatte sich der Direktor der Waldorf-As- Hochschulen und Ausbildungsstätten der in- toria Zigarettenfabrik Emil Molt mit der An- ternationalen Schulbewegung. In der Polarität throposophie verbunden und in den Nach- zwischen innerlich vertiefender Arbeit und kriegsunruhen Rudolf Steiner gebeten, zu den nach aussen gehender Wirkung in das Zeitge- Arbeitern zu sprechen. Dessen Zukunftsent- schehen hinein liegt eine Urgeste der Wal- wurf, jedem Kind in einer 'Einheitsschule' eine dorfpädagogik: Einerseits gewinnt sie ihre grundständige Menschen-Bildung zu ermögli- Massstäbe der konkreten täglichen Erziehung chen, führte zur Frage, ob er bereit wäre, eine ganz aus dem Wesen des sich entwickelnden solche Schule zu begründen und zu leiten. jungen Menschen. Zugleich stellt sie sich in Nach seiner Zusage und intensiven Vorberei- dieser Konkretheit immer wieder neu in das tungen hielt Steiner im September 1919 drei öffentliche, gegenwärtige Leben hinein. Im grundlegende pädagogische Kurse für die neu Zusammenspiel beider Richtungen gewinnt gewonnenen Lehrkräfte: die Waldorfpädagogik ihre Fähigkeit, sich mit dem Lauf der Zeit weiter zu entwickeln: Die • Allgemeine Menschenkunde als Grund- Schüler selber tragen ihre Prägungen der je- lage der Pädagogik1 weiligen Gegenwart in die Unterrichte hinein. Zugleich erleben und befragen Erzieher, Leh- • Methodisch-Didaktisches – Erziehungs- rer und Eltern ihr Verhältnis zum Kultur- und kunst II2 Zeitgeschehen miteinander. • Erziehungskunst, Seminarbesprechungen Kurzer Abriss der Geschichte der und Lehrplanvorträge3 Pädagogischen Sektion Ein Jahr nach dem Brand des ersten Goethea- Anschliessend eröffnete die erste „Freie Wal- num wurde die Allgemeine Anthroposophi- dorfschule“ mit 252 Schülern, wovon 191 aus 1 R. Steiner, Allgemeine Menschenkunde, Gesamtausgabe 293 2 R. Steiner, Methodisch-Didaktisches, GA 294 3 R. Steiner, Erziehungskunst – Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, GA 295 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67 11
Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum der Waldorf-Astoria kamen. Was es bedeu- Hochschule … sie sind ein fortlaufendes Se- tete, ein für jene Zeit revolutionäres neues minar. … wer in dieser Weise, indem er lehrt, Schulprinzip nicht nur als Ideal, sondern in indem er erzieht, zu gleicher Zeit auf der der täglichen Arbeit mit den Schülern und einen Seite tiefste psychologische Einsicht in dem Kollegium zu verwirklichen, ist heute die unmittelbare Praxis aus der Handhabung vielleicht nur noch in der Situation einer des Unterrichts … für sich herausholt aus Schul-Neugründung oder eines Berufsein- der Praxis des Unterrichtens, der wird fort- stiegs zu erahnen: Unendlich viele mutige während Neues finden. Neues für sich, Schritte ins zuvor Unbekannte waren zu Neues für das ganze Lehrerkollegium mit gehen und aus der Wahrnehmung der jungen dem alle die Erfahrungen, alle die Erkennt- Menschen und der Unterrichtssituationen zu nisse … in den Konferenzen ausgetauscht verarbeiten. werden sollen.“6 Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Das hier beschriebene Urbild der Weiterent- Waldorfschulbewegung und einer Tagung wicklung an der eigenen pädagogischen Tä- der Pädagogischen Sektion zum „1. Lehrer- tigkeit führt zu einem ersten Arbeitsfeld der kurs“ im Juli 2019 wurde eine neubearbei- Pädagogischen Sektion. Wo es von Kollegien tete, synoptische Sonderausgabe jener drei gewünscht wird, finden Schulbesuche mit oben genannten Kurse erarbeitet und veröf- gemeinsamer Konferenzarbeit statt. Die fentlicht4. wichtigsten, heute gewünschten Themen sind dabei: Konferenz als lebendige Hochschule: „Fortwährend Neues finden“ – Arbeit an einer erneuerten Gemein- Die Kolleginnen und Kollegen jener ersten schaftsbildung im Kollegium: Wie werden Gründungszeit beschrieben, mit welchem In- neue Schritte der Zusammenarbeit mög- teresse Rudolf Steiner die Unterrichte be- lich und welche Bedeutung erhält die suchte und wie er sie selbst immer neu zu Selbstverwaltung? einem solchen Interesse an den jungen Men- schen anregte. In der Neu-Bearbeitung und – Vertiefende Arbeit an der Menschen- Herausgabe der Konferenzen5 durch Christof kunde: Wie gewinnen die menschen- Wiechert und Andrea Leubin spiegelt sich die kundlichen Urbilder und Gedanken päda- Lebendigkeit jener Zeit der pädagogischen gogische Wirksamkeit? Neuentwicklung: Das im Unterricht Erlebte wurde zusammengetragen und so verarbei- – Die Wahrnehmungsfähigkeit im pädago- tet, dass sich aus den Schilderungen wieder gischen Alltag: Wie begegnen wir heute neue Erkenntnisse und Ansätze entwickelten. der Individualität des jungen Menschen? So schloss sich das in Studien und in Schrit- ten des Forschens Gewonnene mit der un- – Konkretes Üben an den Schritten der Kin- mittelbaren Erfahrung zusammen. In dem derbesprechung: Wie entsteht Raum für Sinne waren für Steiner die Lehrerkonferen- das Wesentliche in der Erkenntnisgemein- zen „eigentlich die fortlaufende lebendige schaft? (siehe nachfolgendes Kapitel) 4 R. Steiner, Allgemeine Menschenkunde, Methodisch-Didaktisches – Seminar, Studienausgabe, 2019 5 R. Steiner, Konferenzen mit den Lehrern der freien Waldorfschule 1919 – 1924, Neuherausgabe 2019 6 Ebenda 12 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum – Fragen nach dem Wesen der Erziehungs- Schulung und Selbsterziehung aus freiem kunst: Wie wird der Unterricht in seiner Willen zu den Grundlagen des einzelnen Wal- Methode künstlerisch? dorfpädagogen und zu den Kernaufgaben der Pädagogischen Sektion. Auf diesem Hinter- – Fragen nach dem Umgang mit Medien, grund wurden Artikel, Texte und Spruchgut einem Lehrplan für Medienpädagogik für Lehrer und Schüler in Buchform zusam- mengstellt. Unter dem Titel „Zur meditativen Neben den Schulbesuchen werden zur weite- Vertiefung des Lehrer- und Erzieher-Berufs“ ren Bearbeitung der genannten Themen Ar- ist es über die Pädagogische Sektion erhält- beitstreffen, Kolloquien und Tagungen am lich. Goetheanum von der Pädagogischen Sektion organisiert. Forschungsansätze Aus dem bisher Geschilderten ergeben sich Das sind im Moment die regelmässigen Ar- für die Pädagogische Sektion unterschiedli- beitstagungen zur Meditativen Praxis, zu che Forschungsansätze, deren gemeinsame menschenkundlichen Themen der Erzie- Grundlage die eigene menschliche Weiter- hungskunst und die Förderlehrertagung, die entwicklung ist: im Oktober 2019 gemeinsam mit der Medizi- nischen Sektion zum Thema "Lernen fördern Sprachentwicklung als Zusammenspiel seelischer und leiblicher Wie können die der Sprache innewohnenden Kräfte“ veranstaltet wird. Entwicklungskräfte stärker in das Lernen ein- bezogen werden? Wie findet der junge An Trinitatis findet die jährliche Religions- Mensch heute zu seiner individuellen sprach- lehrertagung statt, sowie alle zwei Jahre die lichen Ausdrucksfähigkeit? Die Arbeit findet vertiefende Ausbildungswoche. in einer Tagung (28. Februar – 1. März 2020) ihren Ausdruck. Alle 4 Jahre findet die Welt-Lehrer- und Er- ziehertagung statt, die von der Internationa- Menschenkunde und Freie Hochschule len Konferenz der waldorfpädagogischen Be- für Geisteswissenschaft wegung verantwortet wird. Nach Ostern Mit der Begründung der Allgemeinen Anthro- 2022 findet die 11. dieser Tagungen statt. Die posophischen Gesellschaft auf der Weih- thematische Ausrichtung ist im Entstehen. nachtstagung 1923 stellte Rudolf Steiner die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft in Zur Vertiefung das Zentrum der durch Anthroposophie erwei- Wesentliche Merkmale der Waldorfpädagogik terten Forschungen. Aufgabe der Pädagogi- leiten sich aus der Tatsache ab, dass im leben- schen Sektion wurde es, die zuvor entworfene digen Prozess des Unterrichtens immer der und 1919 begründete Erziehungskunst zu er- Mensch dem Menschen gegenübersteht. forschen und weiterzuentwickeln. Mehr und Indem der ganze Mensch im Lehrer auf den mehr taucht die Frage nach dem Zusammen- ganzen jungen Menschen wirkt, spielen in- hang zwischen dem Weg der Freien Hoch- nere Haltungen des Interesses, der Gedanken- schule und der allgemeinen Menschenkunde richtung, der Entschiedenheit, der Empathie auf: Wie ist es möglich, vertiefende Aspekte oder der Zeitgenossenschaft eine entschei- der Menschenkunde aus dem Blickwinkel der dende Rolle für das Gelingen der Erziehung. Freien Hochschule für Geisteswissenschaft zu In diesem Sinne gehört die Frage der inneren gewinnen? Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67 13
Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum Herausforderungen der Waldorfpädagogik Der „Rundbrief der Pädagogischen Sektion“ , heute – Befragung von Traditionen das Mitteilungsorgan der Sektion, das an alle Ein Blick in das Zeitgeschehen macht deutlich, Schulen und viele Privatadressen postalisch dass gerade die Entwicklung des kleineren und/oder elektronisch verschickt wird, gibt Kindes heute intensive Beachtung braucht. einen Eindruck aktueller Themen, die uns in Hier stellt sich die Aufgabe für die Pädagogi- der Sektion beschäftigen. sche Sektion das erste Lebensjahrsiebt stärker in den Blick zu nehmen. Die Zusammenarbeit Kooperationspartner in der mit der internationalen Kindergarten-Bewe- internationalen Schulbewegung gung wird an dieser Stelle wichtig. Um die genannten pädagogischen Ziele zu verwirklichen, gehört es zu den zentralen Mittelstufe Aufgaben der Pädagogischen Sektion, die Eine weitere Forschungsarbeit betrifft die Zusammenarbeit mit den Organisationen Pädagogik der Mittelstufe. In den Begegnun- und Verbänden, welche die Anliegen und die gen mit den Kollegien in der Schulbewegung Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik zeigte sich das Bedürfnis, die Methodik der vertreten, zu fördern und auszubauen. Das Mittelstufenklassen in den Blick zu nehmen. geschieht mit den Bünden und Assoziatio- Aus der Arbeit einer Initiativgruppe zu die- nen der verschiedenen Länder auf der gan- sem Forschungsgebiet wird ein Themenheft zen Welt, sowie mit den Freunden der Erzie- entstehen. hungskunst in Berlin, der internationalen Kindergartenvereinigung, der Internationa- Ausbildung zum Waldorflehrer len Assoziation in östlichen Ländern und Die Zukunft der Waldorfpädagogik entschei- dem European Council. Im Buch von Nana det sich am Unterricht im Klassenzimmer – Göbel „Die Waldorfschule und ihre Men- so deutete ein inzwischen verstorbener Kol- schen weltweit“7 findet sich die Zusammen- lege auf eine der grössten Herausforderun- arbeit im Spiegel der Geschichte der Schul- gen der Waldorfschul-Bewegung. Damit ist bewegung wieder. ein grosses Forschungsgebiet im Blickpunkt: die Ausbildung zukünftiger Waldorfpädago- Leitend beteiligt ist die Pädagogische Sektion gen. Wie kann heute in verschiedenen Ge- an der Internationalen Konferenz der Wal- genden der Welt die Ausbildung gestaltet dorfpädagogischen Bewegung (Haager Kreis) sein, um auf der Grundlage der Anthroposo- als Verantwortungsforum für die gemein- phie Pädagogen auszubilden, die dann mit same Wahrnehmung der Schulbewegung in gutem Fachwissen, freudig und mit Interesse den Ländern/Erdteilen. an jedem einzelnen jungen Menschen in den Schulen (Kindergärten gehören dazu) arbei- Zur Organisation der Pädagogischen Sektion ten. In Bezug auf die Organisation der Pädagogi- schen Sektion liegt der Dreh- und Angelpunkt Weitere Fragen und Anliegen gibt es viele, je- in ihrem Büro im Goetheanum. Hier laufen die doch sind die o.g. Gebiete diejenigen, die Fäden zusammen, werden Termine geprüft momentan im Fokus stehen. und vergeben und die Webseite aktualisiert, 7 Nana Göbel, Die Waldorfschule und ihre Menschen, Geschichte und Geschichten, 1919 – 2019, Edition Waldorf 2019 14 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum um laufende Aktivitäten wie Tagungen und verschiedenen Ländern, vor allem durch Bei- Veranstaltungen sichtbar werden zu lassen. träge aus Deutschland über den Bund der Freien Waldorfschulen und der Schweiz über Im Auftrag der Internationalen Konferenz die Arbeitsgemeinschaft sowie durch Stif- wurde die Webseite www.waldorf-resources.org tungsgelder für bestimmte Projekte und eingerichtet, dieser Plattform, die Forschungs- durch die Bereitstellung der Räumlichkeiten ansätze und -ergebnisse der Waldorfschulbe- im Goetheanum. Alle Mittel, die die Sekti- wegung in deutscher, englischer, spanischer onsleiter ausserhalb des Goetheanum durch und chinesischer Sprache den Kolleginnen und Besuche an Schulen oder Mitwirkung an Ta- Kollegen zur Verfügung stellt. gungen u.a. erwirtschaften, fliessen in Gänze der Sektion zu. Finanziell getragen wird die Arbeit der Päda- gogischen Sektion durch freie Spenden aus Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67 15
Freunde der Erziehungskunst Freunde der Erziehungskunst Nana Göbel 2019 wird die Waldorfbewegung einhundert der Vrije School in Den Haag gründete er den Jahre lang Erziehung und Unterricht in nachmaligen »Haager Kreis« bzw. die »Inter- Deutschland geprägt haben. Fast genauso nationale Konferenz der Waldorfschulen«. lange und vor allem durchgehend ist die Vorgespräche hatten bereits 1969 in Stutt- Waldorfpädagogik Teil des schweizerischen gart während der 50-Jahrfeier stattgefun- Bildungswesens, wie auch des Bildungswe- den; zu Pfingsten 1970 wurde für die erste sens in Holland und in England – allerdings Sitzung nach Den Haag eingeladen. Diesem auf sehr unterschiedliche Art. In diesen fast Sitzungsort verdankt die Internationale Kon- einhundert Jahren hat die Waldorfbewegung ferenz ihren Kurz-Namen. Gemeinsam mit im Kindergarten- und im Schulbereich man- Dr. Manfred Leist gründete Ernst Weißert che inhaltliche und methodische Elemente zweitens die »Freunde der Waldorfpädago- zur staatlichen Schule beigetragen, so dass gik«, um ein gegenseitiges Unterstützungsin- diese heute selbstverständlicher Bestandteil strument und eine Organisation für den aller öffentlichen Schulen in Deutschland rechtlichen Schutz der Schulen zu schaffen. sind. Während er in den Aufbau des Haager Krei- ses sehr viel Aufmerksamkeit investierte, 1969 wurde in einem großen Festakt das 50- hatte er keine Zeit für die Freunde der Wal- jährige Bestehen der Freien Waldorfschule dorfpädagogik. Doch er gewann viele ehe- auf der Uhlandshöhe in Stuttgart gefeiert. malige Schüler gerade der Waldorfschule auf Eingeladen waren neben den Kollegen aus der Uhlandshöhe als Mitglieder und mit den deutschen Waldorfschulen viele Vertre- Günther Ziegenbein und Armin Scholter ter der Waldorfschulbewegungen in den be- auch Vorstandsmitglieder. Viertes Vorstands- nachbarten Ländern. Ernst Weißert, Nachfol- mitglied wurde der Justitiar des Bundes der ger von Dr. Erich Schwebsch in der Leitung Freien Waldorfschulen Dr. Manfred Leist. Und des Bundes der Freien Waldorfschulen und die Mitglieder bekamen die Zeitschrift »Er- Nestor der Waldorfschulbewegung nach dem ziehungskunst«, deren Redakteure Leist und II. Weltkrieg in Deutschland, hatte – wie so Weißert waren, als Morgengabe. Darauf be- oft – das rechte Gespür für den Augenblick. schränkte sich die Aktivität. Inzwischen waren die entwicklungsstörenden jahrzehntelangen Differenzen in der Anthro- Anfang der 1970er Jahre regten sich – als posophischen Gesellschaft beigelegt – und so Nachwehen der sog. 1967/68er Ereignisse – war die Zusammenarbeit mit den holländi- sogar in den Waldorfschulen Bestrebungen, schen und englischen Kollegen wieder un- um mehr Schülerbeteiligung und Schüler- aufgeregt möglich. Dieser Augenblick sollte mitwirkung einzurichten. Zaghafte, höflich nicht verpasst werden. vorgetragene Demokratiebestrebungen, die durchaus gehört wurden. Wir begannen, ge- Zwei Initiativen knüpfte Ernst Weißert an fördert von Stefan Leber an unserer Pforz- diesen Entwicklungsmoment der Schulbewe- heimer Waldorfschule und von Ernst Weißert gung an. Gemeinsam mit Wim Kuiper von im Bund der Freien Waldorfschulen, 1973 mit 16 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Freunde der Erziehungskunst baden-württembergischen, dann mit deut- sophischen Bewegung. Die »Freunde der Er- schen Schülertagungen und organisierten ziehungskunst Rudolf Steiners« sind also 1975 die erste internationale Waldorfschü- ganz aus den Entwicklungen der deutschen ler-Tagung in Den Haag. Thema dieser Ta- Waldorfschulbewegung hervorgegangen – gung, an der etwas mehr als fünfhundert von Lehrer- wie von Schülerseite. Und sie Schüler und Ehemalige teilnahmen, war sehr teilten sich am Anfang ein Büro mit dem intensiv der Weltschulvereinsgedanke Rudolf Bund der Freien Waldorfschulen, als dieser Steiners, mit dem wir uns schon in der Vor- noch im ersten Stock des Burschenschafts- bereitung ausführlich beschäftigt hatten. hauses zwischen der Waldorfschule auf der Wie kann diese wunderbare Pädagogik nicht Uhlandshöhe und dem Mensahaus der Chris- nur einer (Bildungs-)Elite zur Verfügung ste- tengemeinschaft residierte. So blieb es auch hen, sondern möglichst vielen Menschen un- für die nächsten zehn, fünfzehn Jahre. Die terschiedlicher Herkünfte und unterschiedli- Arbeit geschah immer in engster Vernetzung cher ökonomischer Bedingungen? Wir fanden: mit der deutschen Waldorfschulbewegung. die Weltschulvereinsidee muss praktisch wer- den. Wir waren ein kleiner Trupp aus der Vor- Von Anfang an ging es uns um die Zukunfts- bereitung der Haager Schülertagung: An- fähigkeit der Menschheit. Die Motive waren dreas Büttner, Christa Geraets, Jean-Claude nicht klein. Überhaupt nicht. Die Menschheit Lin, Andreas Maurer, Paul Vink und ich. braucht – davon waren und sind wir über- zeugt – um ihre Zukunftsfähigkeit zu erhal- Im Frühjahr 1976 besuchten wir Ernst Wei- ten, eine Erziehung, die aus dem rechten Ver- ßert und trugen ihm unsere Motive vor. Wir hältnis zwischen physischer und geistiger sprachen mit großem Enthusiasmus über den Welt schöpft. Sie braucht eine Erziehung, in Weltschulverein, über Freiheit im Bildungs- der jeder Beteiligte, Eltern, Kinder und Lehrer, wesen und baten um seine Zustimmung und sich als Bürger dieser beiden Welten sehen seine Unterstützung für eine entsprechende darf. Mit der Waldorfschule, so unsere Hypo- Initiative. Das Ergebnis war sein Angebot, these, wird eine gesunde Entwicklung des dass wir statt etwas Neues zu gründen lieber Menschen veranlagt. Und dieser gesunden den Verein »Freunde der Waldorfpädagogik« Entwicklung bedürfen alle Menschen. Des- übernehmen könnten, für den er keine Zeit halb wollten wir von Anfang an Kindergärten habe, was dann auch sehr schnell geschah. und Schulen finanziell unterstützen, um Andreas Büttner und ich wurden in den Vor- möglichst vielen Kindern und Jugendlichen stand gewählt, Andreas Büttner übernahm den Genuss dieser Pädagogik zu ermöglichen. die Geschäftsführung und Dr. Manfred Leist Es geht uns bis heute nicht darum, eine klas- passte gewissermaßen auf, dass wir keinen sische Entwicklungshilfe-Organisation zu Unsinn anstellten. Zu dieser Zeit hatte der sein, denn wir konzentrieren uns nicht auf ty- Verein ein Spendenvolumen von etwa 10.000 pische Entwicklungsländer und typische Ent- DM im Jahr. wicklungsaufgaben. Es ging uns von Anfang an darum, die Waldorfpädagogik zugänglich Kurz danach nannten wir den Verein in zu machen – gerade auch für Kinder, die »Freunde der Erziehungskunst Rudolf Stei- nicht aus zahlungskräftigen Elternhäusern ners« um und wir kamen Ernst Weißert sehr stammen. Es ging uns um eine Schule, in der entgegen, indem wir den Namen Weltschul- Kinder aus verschiedenen Schichten gemein- verein nicht benutzten. Denn an ihm klebte sam unterrichtet werden. Nur auf diesem viel unerfreuliche Geschichte der anthropo- Wege, so dachten wir, kann eine Gesellschaft Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67 17
Freunde der Erziehungskunst wachsen, die nicht aus schichtgebundenen che Subventionen für den Schulbetrieb zu Wesen ohne gegenseitiges Verständnis be- bekommen. Die erste Waldorfschule in Stutt- steht, sondern in der durch die Freundschaft gart hingegen musste ohne solche Subven- aus der Kindheit später Gräben überwunden tionen auskommen und konnte bis zu ihrer werden können. Hinzu kam ein zweites star- Schließung 1938 nur dadurch existieren, dass kes Motiv: die Freiheit im Bildungswesen. viele Freunde und Förderer sie regelmäßig mit Schon in den 1970er Jahren gab es heftige Spenden kofinanzierten. Ohne herausragende Bestrebungen durch Früheinschulung einer- freigebige Persönlichkeiten wie Emil Molt und seits und zentralisierte Examen andererseits die Spenden der bis zu über 5.000 in- und die mögliche und wenn ermöglicht kostbare ausländischen Mitglieder des Vereins für ein Erziehungs- und Vertrauenssituation zwi- freies Schulwesen wäre die Schule finanziell schen Lehrer und Schüler aus der freien Ver- nicht lebensfähig gewesen. Auch im Deutsch- antwortung des Lehrers in regulierte Unter- land der 1920er und 1930er Jahre gab es richtsstunden einzudämmen. Nun wussten eben keine staatlichen Zuschüsse. Selbst in wir aus eigener Anschauung, dass innere Frei- den Aufbaujahren nach dem II. Weltkrieg heit vorgelebt werden kann und ein wichtiges waren es amerikanische Care-Pakete, die Kin- wie gewichtiges Vorbild ist. Staatliche Regu- der und Lehrer beim Überleben unterstützten. lationen, wie sie heute als ziemlich normal Im Vergleich dazu haben wir es heute sehr und unspektakulär erscheinen, wollten wir angenehm, anders als unsere Nachbarn in der nicht. Wir wollten den Erhalt der Freiheit im Schweiz, in England oder in Italien, die im Bildungswesen und einen Schutzwall um die Wesentlichen ohne staatliche Zuschüsse aus- Waldorfschulen; letzterer sozusagen eine kommen müssen. Deshalb ist immer wieder Lichterkette von Menschen, die sich erheben unsere Unterstützung gefragt. würden, wenn Bildung und Erziehung zu sehr eingeschränkt würden. Wie schleichend die 1976 richteten wir den Internationalen regulatorischen Prozesse vor sich gehen und Hilfsfonds ein, einen Fonds, in den die allge- wie unbemerkt das Freiheitsbedürfnis einem meinen und nicht zweckgebundenen Spen- scheinbar ehernen Gesetze weicht, ahnten den fließen und aus dem seither Kindergär- wir damals nicht. ten und Schulen sowie heilpädagogische Institute und Ausbildungsstätten finanziell Als wir 1975/76 mit dieser Arbeit begannen, gefördert werden können. Während es in den gab es in Deutschland 47 Waldorfschulen und 1980er Jahren noch relativ einfach war, all- weltweit insgesamt 126 (Stand August 1976). gemeine ›freie‹ Spenden zu bekommen, aus Zunächst kamen die Anfragen aus Westeu- denen die dringendsten Anfragen beantwor- ropa und den USA. Wir haben in den ersten tet werden können, ist es in den 2010ern Jahren vielen englischen Waldorfschulen ge- schon sehr viel schwieriger geworden. Wir holfen, genauso wie wir uns für den Gelände- beobachten eine Trendwende im Spenden- kauf der Highland Hall Waldorfschool in Los verhalten, wovon allerdings die großen Kata- Angeles (die letzte Rate des Kaufs musste fi- strophen ausgenommen sind. Immer mehr nanziert werden, sonst wäre alles verloren ge- Menschen möchten – unabhängig von der wesen) oder nach dem Brand für ein neues Höhe des Betrages – möglichst eng infor- Schulhaus der Pine Hill School in Wilton, New miert werden, manchmal auch kontrollieren, Hampshire eingesetzt haben. Schon damals was mit ›ihrem‹ Geld geschieht. Immer weni- waren wir in Deutschland aufgrund unserer ger wird einfach geschenkt, um den anderen Verfassung in der komfortablen Lage staatli- in die Position eines Freien zu heben, d. h. 18 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Freunde der Erziehungskunst auch eines Menschen, der Fehler machen rung und Renovierung ihrer Schulhäuser auf darf. Hinzukommt, dass die Höhe der Spen- unsere Zuwendungen und unsere Vermitt- denbeträge durchschnittlich niedriger wird lung weiterer Gelder angewiesen – und sind als noch in den 1980er und 1990er Jahren, es zum Teil noch heute. Denn alles, was sie obwohl die Menschen eigentlich über mehr selbst aufbringen können, muss in die Gehäl- Geld verfügen. Das Irrationale im Geldum- ter fließen, die ohnehin zu niedrig sind und gang kann gut daran abgelesen werden. Die ein ordentliches Leben nicht ermöglichen. Ausweitung unserer Arbeit konnte daher nur Die Freiheiten der ersten Jahre sind längst durch die Beteiligung von immer mehr Men- vergangen und die Regierungen dieser Staaten schen erfolgen. ersinnen zunehmend striktere Kontrollinstru- mente, so dass eine aufwendige politische Die Arbeit der Freunde der Erziehungskunst Aktivität notwendig ist, um wenigstens einen verläuft parallel zur Ausweitung und zum kleinen Freiheitsraum zu erhalten, in dem Wachstum der weltweiten Waldorfbewe- mal weniger mal mehr Waldorfpädagogik gung. Sie ist mit ihr – in entsprechenden praktiziert werden kann. Heute sind wir weit Wellen – gewachsen. Die eigentliche Aus- entfernt von den Traumstränden der Freiheit breitung der Waldorfschulbewegung begann im Bildungswesen, wie sie sich 1989/1990 für Mitte bis Ende der 1980er-Jahre. Nach 1989 kurze Zeit zeigten. entstand dann eine völlig neue Schulbewe- gung in Mittel- und Osteuropa, die uns bis Seit 1988 fördern die Freunde der Erzie- heute vor einige Herausforderungen stellt. hungskunst waldorfpädagogische Projekte Mit unglaublicher Geschwindigkeit wurden im Rahmen der Entwicklungszusammenar- die Ideen eines ›freien Schulwesens‹ ergriffen beit in Kooperation mit dem »Bundesminis- und Kindergärten und Schulen begründet. terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Bis heute können die Schulen in vielen mit- und Entwicklung« (BMZ). So konnten in den tel- und osteuropäischen Ländern ihre Zu- vergangenen Jahren Waldorfschulen und sammenarbeit genauso wenig finanzieren Einrichtungen der Heilpädagogik und Sozial- wie ihre Öffentlichkeitsarbeit. Das hängt z. B. therapie in Südafrika, Brasilien, Kolumbien, in Ungarn mit der jetzt regierenden Fidezs Ghana, Georgien, Indien, Kenia, Rumänien Partei zusammen und deren nationaler Aus- und Vietnam in Millionenhöhe gefördert richtung, die freie Schulen mit Argwohn be- werden. Unter anderem durch diese ausge- trachtet. Eigentlich von Anfang an bis heute sprochen hilfreiche Finanzierungsmöglich- unterstützen wir die Bünde der Waldorfschu- keit konnten die Gebäude vieler afrikanischer len in Rumänien, in Ungarn, Polen, in der Waldorfschulen errichtet werden. Ohne die Ukraine und ermöglichen ihnen ein Sekreta- Arbeit der Freunde der Erziehungskunst hät- riat, Reisen zu den Schulen und Öffentlich- ten viele Schulen in Afrika keine Gebäude. keitsarbeit, manchmal auch Ausbildung. Nur Natürlich handelt es sich besonders um die in Tschechien verfügen die Schulen über ge- Schulen für Kinder ärmerer Bevölkerungs- nügend Mittel, um ihre Zusammenarbeit schichten, die auch in den laufenden Kosten selbst zu finanzieren. Durch den sehr langsa- von uns unterstützt werden. Drei der vier men ökonomischen Wandel, der immer zu- großen Waldorfschulen der Mittelschicht in letzt bei den Lehrern oder Ärzten und den Südafrika brauchten solche Unterstützung staatlichen Angestellten ankommt, waren nicht. Diese Finanzierungsmöglichkeit hat viele der mittel- und osteuropäischen Wal- auch große Vorzüge für die heilpädagogische dorfschulen und -kindergärten für die Sanie- und sozialtherapeutische Bewegung. Die Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67 19
Freunde der Erziehungskunst Michaelsschule in Tiflis/Georgien konnte ge- nien und in der Gegend um Cordoba), sowie nauso erfolgreich gebaut werden, wie die so- nach Chile, Peru und Mexiko. Die Anfragen zialtherapeutische Einrichtung in Sighnaghi/ auf Unterstützung von Bauprojekten neh- Georgien oder die heilpädagogische Schule men eher zu als ab, denn Schule funktioniert in Simeria/Rumänien oder die sozialthera- eben (fast) nur in Häusern. Es wird aber peutische Tageseinrichtung in Medellin/Ko- immer schwieriger, dafür größere Summen lumbien oder das Camphillheim in Hue/Viet- zu finden, auch weil unsere Stiftungspartner nam. sich mehr und mehr aus der Schulbaufinan- zierung zurückziehen. Manchmal passen aber solche öffentlichen Gelder nicht zu Land oder Einrichtung – und Ein Meilenstein in der Entwicklung der Arbeit dann sind andere Unterstützungsleistungen der Freunde der Erziehungskunst war die Ein- der Freunde der Erziehungskunst notwendig. ladung der UNESCO, auf der Internationalen Wir haben während der vielen Jahre immer Konferenz für Erziehung 1994 in Genf, der wieder Finanzhilfen bei Bauprojekten gege- damals alle zwei Jahre stattfindenden Konfe- ben, teilweise und gerne in Kooperation mit renz der Erziehungsminister aller UNESCO anderen Hilfsorganisationen und Stiftungen. Mitgliedsstaaten. Dort stellten wir die Wal- Mit solcher Unterstützung konnte 2006 der dorfpädagogik einem internationalen Publi- Neubau der Waldorfschule Bangkok, Thai- kum vor. Wir erarbeiteten dafür eine Ausstel- land fertiggestellt, das Grundstück der Sloka lung »Waldorfpädagogik weltweit« und in Schule in Hyderabad kofinanziert werden, Zusammenarbeit mit Karl Lierl einen Katalog, wo inzwischen mehr als 600 Schüler ein- und der später in 17 Sprachen übersetzt und he- ausgehen, aber auch Bauhilfen für die drei rausgegeben worden ist. Ausstellung und Ka- weitere Schulen in Hyderabad genauso gege- talog wurden in der Schulbewegung als ben werden genauso wie für die Waldorf- UNESCO-Ausstellung bekannt, obwohl sie schule in Chengdu, China. Bei den letztge- natürlich Ausstellung und Katalog der nannten Projekten handelt es sich um Freunde der Erziehungskunst waren. Nach Pilotschulen, welche die Entwicklung der Abschluss der Genfer Tagung ging diese Aus- Waldorfpädagogik in China und Indien we- stellung unter Schirmherrschaft des damali- sentlich mitgeprägt haben. Geholfen werden gen Generaldirektors der UNESCO, Federico konnte z. B. auch beim Kindergartenumbau Mayor, auf Reise zunächst durch Deutsch- in Timisoara, Rumänien und bei der Erweite- land und einige Länder Europas (Schweiz, rung bzw. Sanierung der Waldorfschulen in Dänemark, Schweden, Finnland, England, Smolensk und Woronesh, Russland, Ust-Ka- Frankreich, Spanien und Portugal) und dann, menogorsk, Kasachstan, in Dnjepropetrwosk 1996, durch verschiedene asiatische Länder. und Krivoj Rog, Ukraine und in Tiflis, Sie trug sicher wesentlich dazu bei, dass die Georgien oder in Eriwan, Armenien. Mit Waldorfpädagogik in Korea, in Thailand und Schenkungen und Darlehen wurde die Pio- auf den Philippinen wie auch in Indien eine nierschule im Kibbuz Harduf, Israel unter- gewisse Bekanntheit erlangt hat. Erst nach stützt genauso wie viele weitere israelische dieser Ausstellung und den mit den Ausstel- Schulen in ihrer ersten Aufbauphase. Wäh- lungen verbundenen Veranstaltungen, die rend der Jahrzehnte sind hohe Summen nach zum Teil gemeinsam mit den Goethe-Institu- Lateinamerika geflossen, zunächst nach Bra- ten durchgeführt wurden, entstanden die silien, dann aber auch nach Argentinien ersten Waldorfschulen in diesen Ländern. Es (Schulen in Buenos Aires, Schulen in Patago- waren die Geburtszeiten für Waldorfpädago- 20 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
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