Rundbrief - Michaeli 2019, Nr. 67 - Pädagogische Sektion am Goetheanum

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Rundbrief - Michaeli 2019, Nr. 67 - Pädagogische Sektion am Goetheanum
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                Pädagogische Sektion
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                am Goetheanum
v e r s i o n
E n g l i s h

                                  Rundbrief

                         M i c h a e l i 2 0 1 9 , N r. 6 7
Rundbrief - Michaeli 2019, Nr. 67 - Pädagogische Sektion am Goetheanum
Impressum

Der Rundbrief der Pädagogischen Sektion
Herausgeber:      Pädagogische Sektion am Goetheanum
                  Postfach, CH 4143 Dornach 1
                  Telefon: 0041 61 706 43 15
                  Telefon: 0041 61 706 43 73
                  Telefax: 0041 61 706 44 74
                  E-Mail: paed.sektion@goetheanum.ch
                  Homepage: www.goetheanum-paedagogik.ch
Redaktion:        Florian Osswald, Dorothee Prange, Claus-Peter Röh
Lektorat:         Angela Wesser
Titelbild:        Waldorf 100 Festival Berlin, Tempodrom, Japanische Trommelgruppe aus
                  Kyoto lädt zum Mitmachen ein, Photo Charlotte Fischer

Spenden und Beiträge zu Gunsten des Rundbriefes
Richtsatz pro Jahr CHF 30 / EUR 30
Innerhalb         Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft
der Schweiz       Goetheanum, CH-4143 Dornach
                  Raiffeisenbank Dornach
                  Konto-Nr.: 10060.71
                  Clearing Nr.: 80939
                  Postscheckkonto: 40-9606-4
                  Vermerk: 1060

Internationale    Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft
Überweisungen     Postfach, CH-4143 Dornach
USD-Konto         IBAN: CH48 8093 9000 0010 0604 9
                  Raiffeisenbank Dornach, CH–4143 Dornach
                  BIC: RAIFCH22
                  Vermerk: 1060

Euro              Anthroposophische Gesellschaft Dornach
Überweisungen     GLS Gemeinschaftsbank Bochum
                  IBAN: DE 53 4306 0967 0000 9881 00
                  BIC: GENODEM1GLS
                  Vermerk: 1060

Aus Deutschland   Freunde der Erziehungskunst e.V.
                  Postbank Stuttgart
                  IBAN: DE91 6001 0070 0039 8007 04
                  SWIFT / BIC: PBNKDEFFXXX
                  Vermerk: Pädagogische Sektion, Rundbrief

                                                     Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis
3       Zu dieser Ausgabe                                            Dorothee Prange

5       Rückblick auf die Tagung zum Ersten Lehrerkurs in Dornach    Colleen O‘Connors

7       Klassenbesprechung                                           Christof Wiechert

11      Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum             Claus-Peter Röh

16      Freunde der Erziehungskunst                                  Nana Göbel

25      Internationale Assoziation für Frühe Kindheit                Philipp Reubke

29      Neues aus Berlin vom Treffen der Internationalen Konferenz   Trevor Mepham

31      Agenda

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67                                                     1
Rückblick auf die Tagung zum Ersten Lehrerkurs in Dornach

Goetheanum im Sommer
Bandana Basu, Teilnehmerin der Waldorf 100 Jubiläumskonferenz ‘Erster Lehrerkurs’

2                                                               Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Einleitung

Einleitung
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Im letzten Rundbrief hiess es noch: Das Jahr       Geburtstag wünscht man dem Geburtstags-
mit allen Veranstaltungen und Festlichkeiten       kind alles Gute für das neue Lebensjahr oder
zu Waldorf 100 ist in vollem Gange! Jetzt          Lebensjahrzehnt.
schreiben wir schon: Das Waldorf 100 Jahr
2019 neigt sich schon fast dem Ende zu.            Was wünschen wir uns für die Waldorfschul-
                                                   bewegung? Was haben wir in den vergange-
Im November 2014 entstanden im Rahmen              nen 100 Jahren gelernt? Was können wir ver-
des Treffens der Internationalen Konferenz in      bessern? Wo ruft etwas nach Veränderung?
Israel die ersten Ideen und die Vorbereitun-       Wo liegen unsere Stärken und Schwächen?
gen der grossen Tagungen (Welterzieherta-
gung, (Klassen)lehrertagung, Oberstufenta-         Im Rahmen der Tagung zum 1. Lehrerkurs am
gung, Tagung zum Ersten Lehrerkurs) began-         Goetheanum haben wir gesehen und erlebt,
nen. Auch richtete sich der Blick auf die          dass die drei Kurse, die Rudolf Steiner den
vertiefende Arbeit der Menschenkunde und           ersten 12 Lehrern als Vorbereitung für den
der Kinderbetrachtung. Das Projekt ‘Bees &         Schulbeginn gab, gute Grundlage geben, aus
Trees’ entstand im Hinblick auf die Umset-         der heraus die genannten Fragen bearbeitet
zung in jeder Altersstufe – vom Kindergarten       werden können. Was nicht alles darin verbor-
bis zur Oberstufe. Die Internationale Konfe-       gen ist. Mit Freude und Enthusiasmus wurde
renz gestaltete einen Ort, an dem die vielen       in den 9 Tagen am Goetheanum daran stu-
Initiativen dargestellt werden konnten. Wal-       diert und damit gearbeitet. Der Artikel einer
dorf 100 entstand. Heute können wir ver-           Teilnehmerin, Colleen O’Connors gibt aus-
schiedene Publikationen anbieten (siehe            führlich Bericht.
www.waldorfbuch.de), die z.T. bereits in eng-
lischer Sprache erhältlich sind.                   Eine weitere vertiefende Arbeit in den Jahren
                                                   war neben der Menschenkunde die Kinder-
Die Feierlichkeiten an der Uhlandshöhe in          betrachtung. In vielen Schulen wurde neu
Stuttgart und das Fest im Tempodrom am             begonnen, damit zu arbeiten. Auf Nachfrage
19.9. in Berlin bildeten den Abschluss. Es         einer Kollegin entstand so der Beitrag von
waren grosse Feste mit vielen wunderbaren          Christof Wiechert zur Klassenbetrachtung.
Darbietungen kleiner und grosser Schüler,
Ansprachen, Musik, Farbigkeit, Freude und          Des Weiteren stellen wir in dieser Ausgabe
Begegnungen.                                       drei Institutionen vor mit ihren Aufgaben
                                                   und Tätigkeitsfeldern: IASWECE, Die Freunde
Und was kommt jetzt?                               der Erziehungskunst und die Pädagogische
                                                   Sektion.
Gleich zu Beginn der Vorbereitungen auf den
100. Geburtstag tauchte immer wieder die           Die Internationale Konferenz, die wir im
Frage auf, was feiern wir eigentlich? Ist es ein   Rundbrief Nr. 66 vorgestellt und von den
Fest für die zurückliegenden 100 Jahre? Ein        Aufgabenfeldern berichtet haben, tagte zu-
Fest der Freude und Dankbarkeit? An einem          letzt in Berlin. Darüber erfahren Sie mehr in

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67                                                         3
Einleitung

dem Artikel von Trevor Mepham, der als Ko-                    Bitte schicken!!!!!!
ordinator für diesen Kreis tätig ist.
                                                  Es ist viel geschehen im letzten Jahr. Neben
Wir beschäftigten uns neben anderem noch-         den vielen schönen Erlebnissen sind wie be-
mals mit der Charta und dem 10-Punkte Ar-         schrieben Fragen für die Weiterarbeit und –
beitspapier zu Fragen der Digitalisierung. Hier   entwicklung der Bildungsaufgabe entstan-
nun die englische Übersetzung der Charta, die     den. Gehen wir mutig und freudig in die Zu-
im vergangenen Rundbrief noch fehlte.             kunft der nächsten 100 Jahre Waldorfpäda-
                                                  gogik!
Im November arbeitet eine Gruppe am Goe-
theanum an einem Medienlehrplan. Bitte            Viel Freude beim Lesen und mit und an Ihren
schickt uns den Medienlehrplan Eures Landes       Schülerinnen und Schülern!
bzw. Eurer Schule zu, soweit dieser eben bis
jetzt erarbeitet ist. Das wird uns eine grosse    Ihre Pädagogische Sektion
Hilfe sein.

4                                                            Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Rückblick auf die Tagung zum Ersten Lehrerkurs in Dornach

Waldorf 100 Jubiläumskonferenz – ‘Der erste Lehrerkurs’

Colleen O'Connors, Lehrerin an der High Mowing School, USA

Die Tagung ist vorbei, und die meisten Teilneh-   zu lassen: Allgemeine Menschenkunde, Me-
mer sind mit Autos, Zügen und Flugzeugen          thodisch-Didaktisches und die Seminarbespre-
nach Hause zurückgekehrt oder an ihre Ur-         chungen wurden wieder in der ursprünglichen
laubsziele weiter gezogen. Die menschliche        chronologischen Einheit präsentiert. Diese In-
spirituelle Aktivität, das menschliche Gefühls-   tention hat auch zu einer neuen, eher klobigen
leben und die menschlichen Taten schwingen        Druckausgabe aller vierzehn Tage geführt, die
noch immer in den Hallen des Goetheanum           einen großen Anhang mit zusätzlichem Studi-
und werden von dort aus in die Welt (und          enmaterial und Faksimiles enthält. Im Moment
nicht nur in die Waldorfwelt) hinausstrahlen,     ist dieses Werk nur auf Deutsch verfügbar, aber
noch lange nachdem die Sommersonne über           die englische Übersetzung ist in Arbeit und für
den Zenit durch die feurige Gestalt Michaels      eine spanische Übersetzung werden finanzielle
herabgestiegen ist. Was im Frühjahr wieder er-    Mittel gesucht.
wacht, hängt von jedem Einzelnen von uns ab.
                                                  Die Arbeitsgruppen, locker nach Sprachen ge-
350 Teilnehmer aus rund 40 Nationen brach-        gliedert (Deutsch, Englisch, Spanisch), dien-
ten ihre Sprachen, Kulturen, Gaben und Fra-       ten dazu, den Inhalt der zuletzt gehaltenen
gen mit nach Dornach. Von den Kindergärt-         Vorlesung sehr frei und interaktiv zu "verar-
nerinnen bis hin zum Lobbyisten des Euro-         beiten". Wir hatten mehr als 90 Minuten Zeit
pean Council für Waldorfpädagogik strömte         dazu, und aus den vier Gruppenleitertreffen
jeden Morgen um 8.45 Uhr eine ausgewählte,        wurde deutlich, dass jede der elf Gruppen
lebendige und bemühte Gruppe von Men-             diese Aufgabe auf unterschiedliche Weise an-
schen in den Grundsteinsaal, um Musik             gegangen ist. Als einer der drei Leiter unserer
und/oder Eurythmie zu erleben, um unseren         Gruppe bestand unsere Herausforderung
Tag zu beginnen. Es folgten der Morgenvor-        darin, nachdem wir gerade den Vortrag des
trag, eine Kaffeepause, die Arbeitsgruppen        Tages (oder des halben Tages) "erhalten" hat-
und das Plenum. Nach einem köstlichen Mit-        ten, das Gefäß ganz spontan so zu gestalten,
tagessen vom Speisehaus und einer herrlich        dass es dem Inhalt des Vortrags und der
langen Mittagspause (2 Stunden und 15 Mi-         Gruppe am besten dient. Mit einer lebendigen
nuten) wurde am Nachmittag an fünf der            Mischung aus künstlerischen Aktivitäten (Wir
neun Tage der Ablauf noch einmal wieder-          hatten einen Eurythmisten in der Gruppe –
holt. Die “Brasilianer" belebten den Beginn       danke, Mona!), Partner- und Kleingruppenge-
der Nachmittagssitzungen, indem sie uns ver-      sprächen, Spaziergängen, stillen, nachdenkli-
schiedene Gesänge lehrten. Einschließlich des     chen Momenten und kräftigen Gruppendis-
ersten und des letzten Tages waren vier Tage      kussionen wuchsen wir sukzessive zusammen,
Halbtage, die Ruhe, etwas Sightseeing und         in der Arbeit, das Verstehen des Menschen er-
viel Networking ermöglichten.                     weitern zu wollen.

Jeder Dozent hatte die Aufgabe, einen Tag des     In der ersten Hälfte des Plenums wurden zwei
ersten Lehrerkurses aufs Neue lebendig werden     Gruppen vorselektiert, um etwas aus ihren

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67                                                             5
Rückblick auf die Tagung zum Ersten Lehrerkurs in Dornach

Arbeitsgruppen zu "präsentieren". Auch diese          richtige und engagierte Pädagogen getrof-
Präsentationen sind im Laufe der neun Tage            fen zu haben; Lehrer voller Liebe und kreati-
"gewachsen" und wurden zu einem wichtigen             ver Energien; Lehrer, die sich um die Kinder
Bestandteil der kollegialen Verdauungs- und           in ihrer Obhut und um die Welt, die wir alle
Integrationsprozesse. Die zweite Hälfte des           teilen, sorgen. Ich habe oft die Frage gehört:
Plenums gab Raum für individuelle Beiträge            "Was ist Waldorf?" Diese Tagung war Waldorf
und Fragen, oft sanft geleitet von einer Im-          vom Feinsten – eine Bewegung im wahrsten
pulsidee oder Anfrage durch Claus-Peter Röh           Sinne des Wortes, die sich selbst und die Auf-
oder Florian Osswald.                                 gaben, wie die der kontinuierlichen Pflege
                                                      der Sinne, des gesunden Menschenverstands
Diese "freie" Konferenz war ein Experiment            und des Bewusstseins erfordern, zunehmend
für uns alle, und die Pädagogische Sektion            bewusst gemacht hat. Und das nicht nur in
und die Tagungsgestalter bewiesen den                 den Ausdrucksformen, sondern auch mit Un-
dringend benötigten Mut unserer Zeit, um              terstützung unserer gemeinsamen menschli-
Raum für den kollegialen Austausch im                 chen Erfahrung.
Rahmen der Tagung zu schaffen. Ganz im
Sinne von Steiners Beispiel von 1919 haben            Wenn wir weiterhin Waldorf 100 feiern, soll-
wir nicht nur zugehört. Wir arbeiteten,               ten wir Ehrfurcht, Dankbarkeit und unsere
sprachen, bewegten, schafften und ver-                gemeinsame und individuelle Verantwortung
suchten, in die gegebenen Hinweise einzu-             – die "Fähigkeit darauf zu antworten" – zur
dringen. Mit einem Finger am Puls der Zeit            Pflege der Lehrer, dem Aufwachsen der Kin-
näherten wir uns der Frage: "Was verlangen            der sowie der Unterstützung der Eltern und
die nächsten hundert Jahre Waldorfpäda-               der Heilung der Welt, in der wir Waldorf 200
gogik von uns?"                                       feiern wollen, empfinden.

Ich fühle mich gesegnet, an dieser Tagung             Ich danke euch allen.
teilgenommen zu haben und so viele auf-

6                                                                Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Klassenbesprechung

Beratungen zum Befinden einer Klassengemeinschaft
oder die sogenannte Klassenbesprechung

Christof Wiechert

Einführung:                                       Wir berühren hier die Frage des richtigen
In der Schulbewegung weltweit erwacht das         Verhältnisses von Fach- und Klassenlehrern.
Bewusstsein für die Bedeutung der Schüler-        Es ist ein Feld, das der Aufarbeitung harrt. Es
oder Kinderbetrachtung oder Kinderbespre-         soll bei anderer Gelegenheit angesprochen
chung. Es ist das von Rudolf Steiner initiierte   werden.
Instrument der pädagogischen Selbsthilfe
durch die Beratung im Lehrerkreis. An einer       Regulär sollte eine Klassenbesprechung oder
wachsenden Anzahl von Schulen werden die          -betrachtung bei der Übergabe an einen an-
Kinder- oder Schülerbesprechungen durch-          deren Klassenlehrer oder beim Übergang in
geführt, wodurch mehr und mehr die Schu-          die Oberstufe stattfinden.
len in die Lage versetzt werden, die pädago-
gischen Herausforderungen selber zu lösen         Das Bild
und es weniger nötig erscheint diese 'auszu-      Bei der Kinderbetrachtung bemühen wir uns
lagern'.                                          im ersten Schritt des Vorgehens, das Kind
                                                  oder den Schüler als Bild seiner selbst zu er-
In diesem Umfeld wird vermehrt die Frage          fassen. Ist das geschehen, wird versucht die-
nach der Klassenbesprechung gestellt. Gäbe        ses Bild zu verstehen aus den Kräften die es
es für die Klassenbesprechung auch ein For-       geschaffen hat. Ist das zustande gebracht,
mat wie für die Kinderbetrachtung?                wird darum gerungen die helfenden Mass-
                                                  nahmen in der Pädagogik selbst zu finden.
Es gibt sie. Allein sie ist vollkommen anderer    Es sind die bekannten drei Schritte.
Natur als die Kinder- oder Schülerbetrach-
tung.                                             In einer Klassenbesprechung oder -betrach-
                                                  tung ist der Weg ein anderer.
Eine Klassenbesprechung wird in der Regel
einberufen, wenn es Schwierigkeiten bei den       Um eine Klassengemeinschaft zu verstehen,
Fachlehrern gibt im Umgang mit einer be-          muss eine andere Ebene gefunden werden.
stimmten Klasse. Die Fachlehrer tun sich          Das ist leicht verständlich, denn die Gestalt
dann mit dem Klassenlehrer zusammen und           einer Klassengemeinschaft erfasst man nicht
erörtern ihre Fragen und Probleme.                durch die Betrachtung der einzelnen Schüler.
                                                  Jetzt muss zu einer anderen Ebene, einer
Sozial gerät ein solches Unterfangen leicht       Meta-Ebene gewechselt werden.
unter die Räder, da man entweder die Schü-
ler bespricht, die einem Schwierigkeiten be-      Diese neue Ebene kann gefunden werden,
reiten, oder man gerät an den Klassenlehrer       indem die Merkmale der Klassengemein-
und sieht in ihm (oder ihr) die Ursache – aus-    schaft sichtbar gemacht werden. Diese Merk-
gesprochen oder nicht – der vorliegenden          male sind einfach auffindbar. Es sind äussere
Schwierigkeiten.                                  Merkmale. Werden diese in ihrer Vielfalt zu-

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67                                                         7
Klassenbesprechung

sammen gesehen, entsteht ein Bild der Klas-      sem Zusammenhang auch auf die Durchmi-
sengemeinschaft tatsächlich auf einer ande-      schung der Geburtssternzeichen schauen.)
ren Ebene.
                                                 3. Wie ist das Verhältnis junger oder
Der Vorgang ist zunächst das Sammeln dieser          älterer Schüler innerhalb der Klasse?
Merkmale und sie anschliessend im Zusam-         Sind hauptsächlich Kinder in der Klasse, die
menhang und -klang zu betrachten. Man            das mittlere Alter für die Klasse haben oder
braucht sich nicht daran zu stören, dass viele   sind viele junge Kinder dabei, oder ältere?
der Merkmale sehr offenbare und einfache         Kinder, die fast zu jung sind, geben der Klasse
sind, nur werden sie selten im Zusammen-         eine bestimmte Farbe die anders ist als wenn
hang betrachtet.                                 eine Mehrheit der Schüler eher älter ist.

Es ist nicht immer nötig alle Merkmale auf-      4. Wie ist die Reihenfolge der Kinder in
zuspüren; manchmal spürt man schon nach              der Familie?
wenigen Versuchen, wie ein Bild der Klasse       Hat man eine Klasse vor sich mit Kindern aus
entsteht, ohne dass die individuellen Kinder     lauter Einzelkinderhaushalten oder hat man es
oder Schüler dafür 'herhalten' müssen.           mit Kindern zu tun, die aus einer Familie kom-
                                                 men, in der mehrere Kinder in einem Haushalt
Die Merkmale die die Gestalt einer               leben? Früher hatte man noch Schüler in der
Klassengemeinschaft bestimmen sind               Klasse aus Familen mit fünf oder mehr Kin-
die folgenden:                                   dern. Solche Kinder aus relativ grossen Fami-
                                                 lien bringen eine besondere soziale Fähigkeit
1. Wie ist das zahlenmässige Verhältnis          in die Klassengemeinschaft. Kinder aus Ein-
    Jungen – Mädchen?                            kindfamilien haben diesbezüglich einen ande-
Jeder weiss aus Erfahrung, eine ausgespro-       ren Weg vor sich und sind mehr angewiesen
chene Jungenklasse hat einen anderen Duk-        auf eine funktionierende Klassengemeinschaft.
tus als eine Mädchenklasse. Mädchen verhal-
ten sich in einer von Jungen dominierten         5. Ist eine einseitige Verteilung der
Klasse ganz anders als in einer Mädchen-             Temperamente wahrnehmbar?
klasse. So auch die Jungen. Ist ein ungefähres   Hat eine Klassengemeischaft eine gewisse
Gleichgewicht vorhanden, sind Jungen oder        Grösse, so ab zwanzig Schüler, wird es eher
Mädchen in ihrem Verhältnis zu einander          selten sein, dass ein bestimmtes Tempera-
eher neutral.                                    ment in der Klasse vorherrscht. Es kann aber
                                                 geschehen, dass ein Temperament vor-
2. Wie verhalten sich die Geburtsdaten           herrscht indem es den Takt des Geschehens
    zueinander?                                  vorgibt. Ist eine echte Gruppe Sanguiniker in
Hat man in den Geburtsdaten eine mehr oder       einer Klasse, wird die ganze Klasse das spü-
weniger gleichmässige Verteilung oder sind       ren. Ist eine solide Gruppe Phlegmatiker in
viel Wintergeburtstage oder Frühlingsge-         einer Klasse anwesend, wird der Lehrer oder
burtstage in einer Klasse? Oder hat man ein      die Lehrerin das ebenfalls schnell spüren.
Problem mit den Geburtstagfeiern, weil so
viele im Sommer, d.h. in den Ferien Geburts-     6. Talente und Begabungen, wie sind sie
tag haben? Eine Winterklasse aber ist eine           verteilt?
andere als eine Herbstklasse. (Bei älteren       Es ist ein grosses Thema. So ab der vierten,
Klassen, d.h. der Oberstufe kann man in die-     fünften Klasse beginnen die individuellen Ta-

8                                                           Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Klassenbesprechung

lente und Begabungen hervorzutreten. Das           nung zu tragen und eine sozialfähige Indivi-
können Begabungen intellektueller Art sein,        dualisierung der Schüler bewerkstelligen.
wie z.B. viele gute Rechner in einer Klasse
oder gibt es starke musikalische Begabungen?       9. Was entzündet Interesse in der
Oder sind ausgesprochene Sportler unter den            Klassengemeinschaft?
Schülern oder Kinder mit einer starken Phan-       Sind die Schüler älter, so ab der sechsten
tasie, gute Maler? Kurz, die Individualisierung    Klasse, kann wahrgenommen werden, welche
der Begabungen und deren Hervortreten än-          Unterrichtsgegenstände Begeisterung we-
dert die Klassengemeinschaft.                      cken. Wir haben Klassen gesehen, die die
                                                   nordische Mythologie langweilig fanden, bei
7. Die Eltern und die Elternhäuser                 den Griechen aber an der Vorderkante ihrer
In dem Zusammenhang der unter 6. genannt           Stühle sassen. Andere fanden erst die Römer
ist, spielen die Eltern eine bedeutende Rolle.     irgendwie spannend. Und wenn sich ab der
Die Frage wie Talente und Begabungen mit           sechsten Klasse die Naturwissenschaften
der Erblichkeit zusammenhängen und wie             melden, wie wirkt das?
sich das im Laufe der Zeit individualisiert, ist
ein in der Erziehungskunst noch wenig er-          Oder ist die Klassengemeinschaft vor allem
forschtes Gebiet. Die Gesetze der Erblichkeit      interessiert an allem Sprachlichen?
unter einem geisteswissenschaftlichen Ge-
sichtspunkt werden von Steiner in deren            Natürlich spielt hier die Interaktion mit dem
Grundrissen schon 1910/11 dargestellt in           Lehrer, der Lehrerin eine starke Rolle, aber
Vorträgen in Nürnberg, Düsseldorf, München         dennoch sind diese 'Entzündungen am Stoff'
und Basel. (Erkenntnis und Unsterblichkeit,        durchaus wahrnehmbar.
GA 69b, Dornach 2013)
                                                   In diesem Zusammenhang sollen auch die
Das ist der eine Gesichtspunkt. Ein anderer ist    Leistungen der Klasse in allen Lerngegen-
das kulturelle Umfeld, in dem die Elternhäu-       ständen betrachtet werden.
ser beheimatet sind. Ja sogar das Gepräge
der Umgebung spielt eine Rolle. Ist sie eher       10. Die Biographie der Klasse
städtisch oder ländlich? Steht die Schule in       Es ist klar, dass eine einheitliche Klassenfüh-
einer Grossstadt in der Nähe einer Universi-       rung sich anders auf eine Klassengemein-
tät oder ist die Umgebung eher industriell         schaft auswirkt, als wenn die Klasse bis zur 7.
geprägt? Alle diese Faktoren spielen hinein in     drei verschiendene Klassenlehrer gehabt hat.
das Leben der Kinder und Schüler und somit
ebenfalls in die Klassengemeinschaft.              11. Der Klassenlehrer/In
                                                   Das Ganze rundet sich in der Betrachtung,
8. Das Vorhergehende zusammenfassend,              wenn man auch auf den/die Klassenlehrer/In
    hat die Klassengemeinschaft ein eher           schaut. War die Situation eine solche, dass die
    intellektuelles, künstlerisches oder           Fähigkeiten der Schüler sich haben entfalten
    soziales Gepräge?                              können, hatte der Klassenlehrer die richtigen
Diese Begriffe solten nicht zu eng gefasst wer-    Anlagen, sich mit der Klasse zu verbinden?
den. Trotzdem kann dieses empfunden werden.        Hatte er/sie sein Temperament so weit im
                                                   Griff, dass alle Schüler sich in der Atmosphäre
Nun ist es ja die Aufgabe der Erziehungs-          im Klassenzimmer zu Hause haben fühlen
kunst allen diesen Gesichtspunkten Rech-           können? War der/die Lehrer/In für die Schüler

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67                                                          9
Klassenbesprechung

da und frei von nicht pädagogisch dienlichen      Die Mädchen sind eigentlich immer in der
Eigenarten? Und vor allem, konnte ein Klima       Defensive. Die Begabungen sind sehr ge-
des Lernen-Wollens geschaffen werden?             streut, kommen aber wenig zum Vorschein,
                                                  da es eine Art Diktat einiger Jungen gibt, die
12. Das Ergebnis                                  meinen, dass etwas Leisten nicht 'cool' sei.
Sind diese Parameter ins Auge gefasst wor-        Einige Schüler fühlen sich in diesem Zusam-
den, kann eine geistig-seelische Gestalt der      menhang nicht wohl. Es wird nötig sein, die
Klassengemeinschaft entwickelt und erfasst        Anführer dieses rohen Umgangstones so in
werden.                                           den Unterricht durch gezielte Aufgaben ein-
                                                  zubeziehen und immer zurückkehrende Be-
Wie sieht eine solche Gestalt aus?                fragung ihrer Leistungen, dass der Ton sich
                                                  dadurch ändert. Viele Schüler hoffen auf
Es kann zum Beispiel ein Ergebnis geben, das      eine anderen Unterrichtsstil.
so aussieht: Die Klasse X hat einen sangui-
nisch-sportlichen Grundton, weniger innerlich,    Oder: Diese Klasse XY hat einen ausgespro-
wenig künstlerisch, aber offen und lernbegie-     chen schöngeistigen Tenor. Viele blonde,
rig. In der Klasse sind einige ausgesprochen      helle Schüler, gesittete Umgangsformen und
helle Köpfe anwesend, die zum Teil auch den       grosse Talente für Zeichnen, Malen und Spra-
Ton angeben darüber wie die anderen sich ver-     che sind vorhanden. Es gibt ein schönes
halten sollen. Die Mädchen – in der Minderheit    Gleichgewicht zwischen Jungen und Mäd-
– haben auch diese etwas burschikose sportli-     chen. Die Leistungen der Klasse sind über-
che Art im Umgang miteinander und mit den         durchschnittlich, trotz des Vorherrschens
Jungen. Für Feinheiten in der Literatur oder in   eines etwas gemächlichen Tons. Alle Lehrer
der bildenden Kunst sind sie nicht so zu haben,   kommen gerne in diese Klasse, was zur Folge
sehr aber für Musikalisches.                      hat, dass mit Komplimenten an dieser Klasse
                                                  sparsam umgegangen werden muss, um
Die Aufgabe wird sein mit dieser Klasse auch      nicht Eitelkeiten hervorzurufen. Viel Licht ist
die mehr innerlichen Qualitäten, zum Bei-         in dieser Klasse, ein Klassenspiel soll auch für
spiel im Geschichtsunterricht zu entwickeln.      ein wenig Feuer sorgen.

Oder so: Die Klasse Y hat einen ausgespro-        Mögen diese Anregungen ein Bild geben, wie
chen rohen Charakter. Einige Jungen, nicht        man sich neben der individuellen Betrach-
die begabtesten, diktieren den Umgangston         tung von Schülern dem Wesen einer Klassen-
und viele Schüler sind darüber unglücklich.       gemeinschaft nähern kann.

10                                                            Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum

Aufgaben der Pädagogischen Sektion
Claus-Peter Röh

Einleitung                                           sche Gesellschaft auf der Weihnachtstagung
Mit den Waldorf-100-Veranstaltungen welt-            1923/24 neu begründet. In ihrem Zentrum
weit ist auch die Arbeit der Pädagogischen           stand die Freie Hochschule für Geisteswissen-
Sektion am Goetheanum 100-jährig gewor-              schaft, deren Sektionen sich in ihren For-
den. Aus der Kernaufgabe, den pädagogischen          schungsansätzen auf die verschiedenen Le-
Impuls Rudolf Steiners zu pflegen und weiter-        bensfelder ausrichteten: Während für andere
zuentwickeln, ergeben sich die verschiedenen         Lebensbereiche Sektionsleiter berufen wur-
Arbeitsgebiete dieser Sektion. Sie spannen           den, übernahm Rudolf Steiner in der Pädago-
sich von der forschenden, inhaltlichen Arbeit        gik selber die Leitung. Der Grund dafür lag in
in Kolloquien, Schulkonferenzen und Arbeits-         der bereits vier Jahre zuvor vollzogenen Grün-
tagungen bis zur koordinierenden Zusammen-           dung der ersten Waldorfschule in Stuttgart.
arbeit mit den Assoziationen, Verbänden,             Dort hatte sich der Direktor der Waldorf-As-
Hochschulen und Ausbildungsstätten der in-           toria Zigarettenfabrik Emil Molt mit der An-
ternationalen Schulbewegung. In der Polarität        throposophie verbunden und in den Nach-
zwischen innerlich vertiefender Arbeit und           kriegsunruhen Rudolf Steiner gebeten, zu den
nach aussen gehender Wirkung in das Zeitge-          Arbeitern zu sprechen. Dessen Zukunftsent-
schehen hinein liegt eine Urgeste der Wal-           wurf, jedem Kind in einer 'Einheitsschule' eine
dorfpädagogik: Einerseits gewinnt sie ihre           grundständige Menschen-Bildung zu ermögli-
Massstäbe der konkreten täglichen Erziehung          chen, führte zur Frage, ob er bereit wäre, eine
ganz aus dem Wesen des sich entwickelnden            solche Schule zu begründen und zu leiten.
jungen Menschen. Zugleich stellt sie sich in         Nach seiner Zusage und intensiven Vorberei-
dieser Konkretheit immer wieder neu in das           tungen hielt Steiner im September 1919 drei
öffentliche, gegenwärtige Leben hinein. Im           grundlegende pädagogische Kurse für die neu
Zusammenspiel beider Richtungen gewinnt              gewonnenen Lehrkräfte:
die Waldorfpädagogik ihre Fähigkeit, sich mit
dem Lauf der Zeit weiter zu entwickeln: Die          • Allgemeine Menschenkunde als Grund-
Schüler selber tragen ihre Prägungen der je-           lage der Pädagogik1
weiligen Gegenwart in die Unterrichte hinein.
Zugleich erleben und befragen Erzieher, Leh-         • Methodisch-Didaktisches – Erziehungs-
rer und Eltern ihr Verhältnis zum Kultur- und          kunst II2
Zeitgeschehen miteinander.
                                                     • Erziehungskunst, Seminarbesprechungen
Kurzer Abriss der Geschichte der                       und Lehrplanvorträge3
Pädagogischen Sektion
Ein Jahr nach dem Brand des ersten Goethea-          Anschliessend eröffnete die erste „Freie Wal-
num wurde die Allgemeine Anthroposophi-              dorfschule“ mit 252 Schülern, wovon 191 aus

1   R. Steiner, Allgemeine Menschenkunde, Gesamtausgabe 293
2   R. Steiner, Methodisch-Didaktisches, GA 294
3   R. Steiner, Erziehungskunst – Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, GA 295

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67                                                           11
Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum

der Waldorf-Astoria kamen. Was es bedeu-               Hochschule … sie sind ein fortlaufendes Se-
tete, ein für jene Zeit revolutionäres neues           minar. … wer in dieser Weise, indem er lehrt,
Schulprinzip nicht nur als Ideal, sondern in           indem er erzieht, zu gleicher Zeit auf der
der täglichen Arbeit mit den Schülern und              einen Seite tiefste psychologische Einsicht in
dem Kollegium zu verwirklichen, ist heute              die unmittelbare Praxis aus der Handhabung
vielleicht nur noch in der Situation einer             des Unterrichts … für sich herausholt aus
Schul-Neugründung oder eines Berufsein-                der Praxis des Unterrichtens, der wird fort-
stiegs zu erahnen: Unendlich viele mutige              während Neues finden. Neues für sich,
Schritte ins zuvor Unbekannte waren zu                 Neues für das ganze Lehrerkollegium mit
gehen und aus der Wahrnehmung der jungen               dem alle die Erfahrungen, alle die Erkennt-
Menschen und der Unterrichtssituationen zu             nisse … in den Konferenzen ausgetauscht
verarbeiten.                                           werden sollen.“6

Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der              Das hier beschriebene Urbild der Weiterent-
Waldorfschulbewegung und einer Tagung                  wicklung an der eigenen pädagogischen Tä-
der Pädagogischen Sektion zum „1. Lehrer-              tigkeit führt zu einem ersten Arbeitsfeld der
kurs“ im Juli 2019 wurde eine neubearbei-              Pädagogischen Sektion. Wo es von Kollegien
tete, synoptische Sonderausgabe jener drei             gewünscht wird, finden Schulbesuche mit
oben genannten Kurse erarbeitet und veröf-             gemeinsamer Konferenzarbeit statt. Die
fentlicht4.                                            wichtigsten, heute gewünschten Themen
                                                       sind dabei:
Konferenz als lebendige Hochschule:
„Fortwährend Neues finden“                             – Arbeit an einer erneuerten Gemein-
Die Kolleginnen und Kollegen jener ersten                schaftsbildung im Kollegium: Wie werden
Gründungszeit beschrieben, mit welchem In-               neue Schritte der Zusammenarbeit mög-
teresse Rudolf Steiner die Unterrichte be-               lich und welche Bedeutung erhält die
suchte und wie er sie selbst immer neu zu                Selbstverwaltung?
einem solchen Interesse an den jungen Men-
schen anregte. In der Neu-Bearbeitung und              – Vertiefende Arbeit an der Menschen-
Herausgabe der Konferenzen5 durch Christof               kunde: Wie gewinnen die menschen-
Wiechert und Andrea Leubin spiegelt sich die             kundlichen Urbilder und Gedanken päda-
Lebendigkeit jener Zeit der pädagogischen                gogische Wirksamkeit?
Neuentwicklung: Das im Unterricht Erlebte
wurde zusammengetragen und so verarbei-                – Die Wahrnehmungsfähigkeit im pädago-
tet, dass sich aus den Schilderungen wieder              gischen Alltag: Wie begegnen wir heute
neue Erkenntnisse und Ansätze entwickelten.              der Individualität des jungen Menschen?
So schloss sich das in Studien und in Schrit-
ten des Forschens Gewonnene mit der un-                – Konkretes Üben an den Schritten der Kin-
mittelbaren Erfahrung zusammen. In dem                   derbesprechung: Wie entsteht Raum für
Sinne waren für Steiner die Lehrerkonferen-              das Wesentliche in der Erkenntnisgemein-
zen „eigentlich die fortlaufende lebendige               schaft? (siehe nachfolgendes Kapitel)

4    R. Steiner, Allgemeine Menschenkunde, Methodisch-Didaktisches – Seminar, Studienausgabe, 2019
5    R. Steiner, Konferenzen mit den Lehrern der freien Waldorfschule 1919 – 1924, Neuherausgabe 2019
6    Ebenda

12                                                                  Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum

– Fragen nach dem Wesen der Erziehungs-            Schulung und Selbsterziehung aus freiem
  kunst: Wie wird der Unterricht in seiner         Willen zu den Grundlagen des einzelnen Wal-
  Methode künstlerisch?                            dorfpädagogen und zu den Kernaufgaben der
                                                   Pädagogischen Sektion. Auf diesem Hinter-
– Fragen nach dem Umgang mit Medien,               grund wurden Artikel, Texte und Spruchgut
  einem Lehrplan für Medienpädagogik               für Lehrer und Schüler in Buchform zusam-
                                                   mengstellt. Unter dem Titel „Zur meditativen
Neben den Schulbesuchen werden zur weite-          Vertiefung des Lehrer- und Erzieher-Berufs“
ren Bearbeitung der genannten Themen Ar-           ist es über die Pädagogische Sektion erhält-
beitstreffen, Kolloquien und Tagungen am           lich.
Goetheanum von der Pädagogischen Sektion
organisiert.                                       Forschungsansätze
                                                   Aus dem bisher Geschilderten ergeben sich
Das sind im Moment die regelmässigen Ar-           für die Pädagogische Sektion unterschiedli-
beitstagungen zur Meditativen Praxis, zu           che Forschungsansätze, deren gemeinsame
menschenkundlichen Themen der Erzie-               Grundlage die eigene menschliche Weiter-
hungskunst und die Förderlehrertagung, die         entwicklung ist:
im Oktober 2019 gemeinsam mit der Medizi-
nischen Sektion zum Thema "Lernen fördern          Sprachentwicklung
als Zusammenspiel seelischer und leiblicher        Wie können die der Sprache innewohnenden
Kräfte“ veranstaltet wird.                         Entwicklungskräfte stärker in das Lernen ein-
                                                   bezogen werden? Wie findet der junge
An Trinitatis findet die jährliche Religions-      Mensch heute zu seiner individuellen sprach-
lehrertagung statt, sowie alle zwei Jahre die      lichen Ausdrucksfähigkeit? Die Arbeit findet
vertiefende Ausbildungswoche.                      in einer Tagung (28. Februar – 1. März 2020)
                                                   ihren Ausdruck.
Alle 4 Jahre findet die Welt-Lehrer- und Er-
ziehertagung statt, die von der Internationa-      Menschenkunde und Freie Hochschule
len Konferenz der waldorfpädagogischen Be-         für Geisteswissenschaft
wegung verantwortet wird. Nach Ostern              Mit der Begründung der Allgemeinen Anthro-
2022 findet die 11. dieser Tagungen statt. Die     posophischen Gesellschaft auf der Weih-
thematische Ausrichtung ist im Entstehen.          nachtstagung 1923 stellte Rudolf Steiner die
                                                   Freie Hochschule für Geisteswissenschaft in
Zur Vertiefung                                     das Zentrum der durch Anthroposophie erwei-
Wesentliche Merkmale der Waldorfpädagogik          terten Forschungen. Aufgabe der Pädagogi-
leiten sich aus der Tatsache ab, dass im leben-    schen Sektion wurde es, die zuvor entworfene
digen Prozess des Unterrichtens immer der          und 1919 begründete Erziehungskunst zu er-
Mensch dem Menschen gegenübersteht.                forschen und weiterzuentwickeln. Mehr und
Indem der ganze Mensch im Lehrer auf den           mehr taucht die Frage nach dem Zusammen-
ganzen jungen Menschen wirkt, spielen in-          hang zwischen dem Weg der Freien Hoch-
nere Haltungen des Interesses, der Gedanken-       schule und der allgemeinen Menschenkunde
richtung, der Entschiedenheit, der Empathie        auf: Wie ist es möglich, vertiefende Aspekte
oder der Zeitgenossenschaft eine entschei-         der Menschenkunde aus dem Blickwinkel der
dende Rolle für das Gelingen der Erziehung.        Freien Hochschule für Geisteswissenschaft zu
In diesem Sinne gehört die Frage der inneren       gewinnen?

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67                                                         13
Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum

Herausforderungen der Waldorfpädagogik               Der „Rundbrief der Pädagogischen Sektion“ ,
heute – Befragung von Traditionen                    das Mitteilungsorgan der Sektion, das an alle
Ein Blick in das Zeitgeschehen macht deutlich,       Schulen und viele Privatadressen postalisch
dass gerade die Entwicklung des kleineren            und/oder elektronisch verschickt wird, gibt
Kindes heute intensive Beachtung braucht.            einen Eindruck aktueller Themen, die uns in
Hier stellt sich die Aufgabe für die Pädagogi-       der Sektion beschäftigen.
sche Sektion das erste Lebensjahrsiebt stärker
in den Blick zu nehmen. Die Zusammenarbeit           Kooperationspartner in der
mit der internationalen Kindergarten-Bewe-           internationalen Schulbewegung
gung wird an dieser Stelle wichtig.                  Um die genannten pädagogischen Ziele zu
                                                     verwirklichen, gehört es zu den zentralen
Mittelstufe                                          Aufgaben der Pädagogischen Sektion, die
Eine weitere Forschungsarbeit betrifft die           Zusammenarbeit mit den Organisationen
Pädagogik der Mittelstufe. In den Begegnun-          und Verbänden, welche die Anliegen und die
gen mit den Kollegien in der Schulbewegung           Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik
zeigte sich das Bedürfnis, die Methodik der          vertreten, zu fördern und auszubauen. Das
Mittelstufenklassen in den Blick zu nehmen.          geschieht mit den Bünden und Assoziatio-
Aus der Arbeit einer Initiativgruppe zu die-         nen der verschiedenen Länder auf der gan-
sem Forschungsgebiet wird ein Themenheft             zen Welt, sowie mit den Freunden der Erzie-
entstehen.                                           hungskunst in Berlin, der internationalen
                                                     Kindergartenvereinigung, der Internationa-
Ausbildung zum Waldorflehrer                         len Assoziation in östlichen Ländern und
Die Zukunft der Waldorfpädagogik entschei-           dem European Council. Im Buch von Nana
det sich am Unterricht im Klassenzimmer –            Göbel „Die Waldorfschule und ihre Men-
so deutete ein inzwischen verstorbener Kol-          schen weltweit“7 findet sich die Zusammen-
lege auf eine der grössten Herausforderun-           arbeit im Spiegel der Geschichte der Schul-
gen der Waldorfschul-Bewegung. Damit ist             bewegung wieder.
ein grosses Forschungsgebiet im Blickpunkt:
die Ausbildung zukünftiger Waldorfpädago-            Leitend beteiligt ist die Pädagogische Sektion
gen. Wie kann heute in verschiedenen Ge-             an der Internationalen Konferenz der Wal-
genden der Welt die Ausbildung gestaltet             dorfpädagogischen Bewegung (Haager Kreis)
sein, um auf der Grundlage der Anthroposo-           als Verantwortungsforum für die gemein-
phie Pädagogen auszubilden, die dann mit             same Wahrnehmung der Schulbewegung in
gutem Fachwissen, freudig und mit Interesse          den Ländern/Erdteilen.
an jedem einzelnen jungen Menschen in den
Schulen (Kindergärten gehören dazu) arbei-           Zur Organisation der Pädagogischen Sektion
ten.                                                 In Bezug auf die Organisation der Pädagogi-
                                                     schen Sektion liegt der Dreh- und Angelpunkt
Weitere Fragen und Anliegen gibt es viele, je-       in ihrem Büro im Goetheanum. Hier laufen die
doch sind die o.g. Gebiete diejenigen, die           Fäden zusammen, werden Termine geprüft
momentan im Fokus stehen.                            und vergeben und die Webseite aktualisiert,

7    Nana Göbel, Die Waldorfschule und ihre Menschen, Geschichte und Geschichten, 1919 – 2019, Edition
     Waldorf 2019

14                                                               Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Aufgaben der Pädagogischen Sektion am Goetheanum

um laufende Aktivitäten wie Tagungen und           verschiedenen Ländern, vor allem durch Bei-
Veranstaltungen sichtbar werden zu lassen.         träge aus Deutschland über den Bund der
                                                   Freien Waldorfschulen und der Schweiz über
Im Auftrag der Internationalen Konferenz           die Arbeitsgemeinschaft sowie durch Stif-
wurde die Webseite www.waldorf-resources.org       tungsgelder für bestimmte Projekte und
eingerichtet, dieser Plattform, die Forschungs-    durch die Bereitstellung der Räumlichkeiten
ansätze und -ergebnisse der Waldorfschulbe-        im Goetheanum. Alle Mittel, die die Sekti-
wegung in deutscher, englischer, spanischer        onsleiter ausserhalb des Goetheanum durch
und chinesischer Sprache den Kolleginnen und       Besuche an Schulen oder Mitwirkung an Ta-
Kollegen zur Verfügung stellt.                     gungen u.a. erwirtschaften, fliessen in Gänze
                                                   der Sektion zu.
Finanziell getragen wird die Arbeit der Päda-
gogischen Sektion durch freie Spenden aus

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67                                                         15
Freunde der Erziehungskunst

Freunde der Erziehungskunst
Nana Göbel

2019 wird die Waldorfbewegung einhundert        der Vrije School in Den Haag gründete er den
Jahre lang Erziehung und Unterricht in          nachmaligen »Haager Kreis« bzw. die »Inter-
Deutschland geprägt haben. Fast genauso         nationale Konferenz der Waldorfschulen«.
lange und vor allem durchgehend ist die         Vorgespräche hatten bereits 1969 in Stutt-
Waldorfpädagogik Teil des schweizerischen       gart während der 50-Jahrfeier stattgefun-
Bildungswesens, wie auch des Bildungswe-        den; zu Pfingsten 1970 wurde für die erste
sens in Holland und in England – allerdings     Sitzung nach Den Haag eingeladen. Diesem
auf sehr unterschiedliche Art. In diesen fast   Sitzungsort verdankt die Internationale Kon-
einhundert Jahren hat die Waldorfbewegung       ferenz ihren Kurz-Namen. Gemeinsam mit
im Kindergarten- und im Schulbereich man-       Dr. Manfred Leist gründete Ernst Weißert
che inhaltliche und methodische Elemente        zweitens die »Freunde der Waldorfpädago-
zur staatlichen Schule beigetragen, so dass     gik«, um ein gegenseitiges Unterstützungsin-
diese heute selbstverständlicher Bestandteil    strument und eine Organisation für den
aller öffentlichen Schulen in Deutschland       rechtlichen Schutz der Schulen zu schaffen.
sind.                                           Während er in den Aufbau des Haager Krei-
                                                ses sehr viel Aufmerksamkeit investierte,
1969 wurde in einem großen Festakt das 50-      hatte er keine Zeit für die Freunde der Wal-
jährige Bestehen der Freien Waldorfschule       dorfpädagogik. Doch er gewann viele ehe-
auf der Uhlandshöhe in Stuttgart gefeiert.      malige Schüler gerade der Waldorfschule auf
Eingeladen waren neben den Kollegen aus         der Uhlandshöhe als Mitglieder und mit
den deutschen Waldorfschulen viele Vertre-      Günther Ziegenbein und Armin Scholter
ter der Waldorfschulbewegungen in den be-       auch Vorstandsmitglieder. Viertes Vorstands-
nachbarten Ländern. Ernst Weißert, Nachfol-     mitglied wurde der Justitiar des Bundes der
ger von Dr. Erich Schwebsch in der Leitung      Freien Waldorfschulen Dr. Manfred Leist. Und
des Bundes der Freien Waldorfschulen und        die Mitglieder bekamen die Zeitschrift »Er-
Nestor der Waldorfschulbewegung nach dem        ziehungskunst«, deren Redakteure Leist und
II. Weltkrieg in Deutschland, hatte – wie so    Weißert waren, als Morgengabe. Darauf be-
oft – das rechte Gespür für den Augenblick.     schränkte sich die Aktivität.
Inzwischen waren die entwicklungsstörenden
jahrzehntelangen Differenzen in der Anthro-     Anfang der 1970er Jahre regten sich – als
posophischen Gesellschaft beigelegt – und so    Nachwehen der sog. 1967/68er Ereignisse –
war die Zusammenarbeit mit den holländi-        sogar in den Waldorfschulen Bestrebungen,
schen und englischen Kollegen wieder un-        um mehr Schülerbeteiligung und Schüler-
aufgeregt möglich. Dieser Augenblick sollte     mitwirkung einzurichten. Zaghafte, höflich
nicht verpasst werden.                          vorgetragene Demokratiebestrebungen, die
                                                durchaus gehört wurden. Wir begannen, ge-
Zwei Initiativen knüpfte Ernst Weißert an       fördert von Stefan Leber an unserer Pforz-
diesen Entwicklungsmoment der Schulbewe-        heimer Waldorfschule und von Ernst Weißert
gung an. Gemeinsam mit Wim Kuiper von           im Bund der Freien Waldorfschulen, 1973 mit

16                                                         Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Freunde der Erziehungskunst

baden-württembergischen, dann mit deut-         sophischen Bewegung. Die »Freunde der Er-
schen Schülertagungen und organisierten         ziehungskunst Rudolf Steiners« sind also
1975 die erste internationale Waldorfschü-      ganz aus den Entwicklungen der deutschen
ler-Tagung in Den Haag. Thema dieser Ta-        Waldorfschulbewegung hervorgegangen –
gung, an der etwas mehr als fünfhundert         von Lehrer- wie von Schülerseite. Und sie
Schüler und Ehemalige teilnahmen, war sehr      teilten sich am Anfang ein Büro mit dem
intensiv der Weltschulvereinsgedanke Rudolf     Bund der Freien Waldorfschulen, als dieser
Steiners, mit dem wir uns schon in der Vor-     noch im ersten Stock des Burschenschafts-
bereitung ausführlich beschäftigt hatten.       hauses zwischen der Waldorfschule auf der
Wie kann diese wunderbare Pädagogik nicht       Uhlandshöhe und dem Mensahaus der Chris-
nur einer (Bildungs-)Elite zur Verfügung ste-   tengemeinschaft residierte. So blieb es auch
hen, sondern möglichst vielen Menschen un-      für die nächsten zehn, fünfzehn Jahre. Die
terschiedlicher Herkünfte und unterschiedli-    Arbeit geschah immer in engster Vernetzung
cher ökonomischer Bedingungen? Wir fanden:      mit der deutschen Waldorfschulbewegung.
die Weltschulvereinsidee muss praktisch wer-
den. Wir waren ein kleiner Trupp aus der Vor-   Von Anfang an ging es uns um die Zukunfts-
bereitung der Haager Schülertagung: An-         fähigkeit der Menschheit. Die Motive waren
dreas Büttner, Christa Geraets, Jean-Claude     nicht klein. Überhaupt nicht. Die Menschheit
Lin, Andreas Maurer, Paul Vink und ich.         braucht – davon waren und sind wir über-
                                                zeugt – um ihre Zukunftsfähigkeit zu erhal-
Im Frühjahr 1976 besuchten wir Ernst Wei-       ten, eine Erziehung, die aus dem rechten Ver-
ßert und trugen ihm unsere Motive vor. Wir      hältnis zwischen physischer und geistiger
sprachen mit großem Enthusiasmus über den       Welt schöpft. Sie braucht eine Erziehung, in
Weltschulverein, über Freiheit im Bildungs-     der jeder Beteiligte, Eltern, Kinder und Lehrer,
wesen und baten um seine Zustimmung und         sich als Bürger dieser beiden Welten sehen
seine Unterstützung für eine entsprechende      darf. Mit der Waldorfschule, so unsere Hypo-
Initiative. Das Ergebnis war sein Angebot,      these, wird eine gesunde Entwicklung des
dass wir statt etwas Neues zu gründen lieber    Menschen veranlagt. Und dieser gesunden
den Verein »Freunde der Waldorfpädagogik«       Entwicklung bedürfen alle Menschen. Des-
übernehmen könnten, für den er keine Zeit       halb wollten wir von Anfang an Kindergärten
habe, was dann auch sehr schnell geschah.       und Schulen finanziell unterstützen, um
Andreas Büttner und ich wurden in den Vor-      möglichst vielen Kindern und Jugendlichen
stand gewählt, Andreas Büttner übernahm         den Genuss dieser Pädagogik zu ermöglichen.
die Geschäftsführung und Dr. Manfred Leist      Es geht uns bis heute nicht darum, eine klas-
passte gewissermaßen auf, dass wir keinen       sische Entwicklungshilfe-Organisation zu
Unsinn anstellten. Zu dieser Zeit hatte der     sein, denn wir konzentrieren uns nicht auf ty-
Verein ein Spendenvolumen von etwa 10.000       pische Entwicklungsländer und typische Ent-
DM im Jahr.                                     wicklungsaufgaben. Es ging uns von Anfang
                                                an darum, die Waldorfpädagogik zugänglich
Kurz danach nannten wir den Verein in           zu machen – gerade auch für Kinder, die
»Freunde der Erziehungskunst Rudolf Stei-       nicht aus zahlungskräftigen Elternhäusern
ners« um und wir kamen Ernst Weißert sehr       stammen. Es ging uns um eine Schule, in der
entgegen, indem wir den Namen Weltschul-        Kinder aus verschiedenen Schichten gemein-
verein nicht benutzten. Denn an ihm klebte      sam unterrichtet werden. Nur auf diesem
viel unerfreuliche Geschichte der anthropo-     Wege, so dachten wir, kann eine Gesellschaft

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67                                                       17
Freunde der Erziehungskunst

wachsen, die nicht aus schichtgebundenen         che Subventionen für den Schulbetrieb zu
Wesen ohne gegenseitiges Verständnis be-         bekommen. Die erste Waldorfschule in Stutt-
steht, sondern in der durch die Freundschaft     gart hingegen musste ohne solche Subven-
aus der Kindheit später Gräben überwunden        tionen auskommen und konnte bis zu ihrer
werden können. Hinzu kam ein zweites star-       Schließung 1938 nur dadurch existieren, dass
kes Motiv: die Freiheit im Bildungswesen.        viele Freunde und Förderer sie regelmäßig mit
Schon in den 1970er Jahren gab es heftige        Spenden kofinanzierten. Ohne herausragende
Bestrebungen durch Früheinschulung einer-        freigebige Persönlichkeiten wie Emil Molt und
seits und zentralisierte Examen andererseits     die Spenden der bis zu über 5.000 in- und
die mögliche und wenn ermöglicht kostbare        ausländischen Mitglieder des Vereins für ein
Erziehungs- und Vertrauenssituation zwi-         freies Schulwesen wäre die Schule finanziell
schen Lehrer und Schüler aus der freien Ver-     nicht lebensfähig gewesen. Auch im Deutsch-
antwortung des Lehrers in regulierte Unter-      land der 1920er und 1930er Jahre gab es
richtsstunden einzudämmen. Nun wussten           eben keine staatlichen Zuschüsse. Selbst in
wir aus eigener Anschauung, dass innere Frei-    den Aufbaujahren nach dem II. Weltkrieg
heit vorgelebt werden kann und ein wichtiges     waren es amerikanische Care-Pakete, die Kin-
wie gewichtiges Vorbild ist. Staatliche Regu-    der und Lehrer beim Überleben unterstützten.
lationen, wie sie heute als ziemlich normal      Im Vergleich dazu haben wir es heute sehr
und unspektakulär erscheinen, wollten wir        angenehm, anders als unsere Nachbarn in der
nicht. Wir wollten den Erhalt der Freiheit im    Schweiz, in England oder in Italien, die im
Bildungswesen und einen Schutzwall um die        Wesentlichen ohne staatliche Zuschüsse aus-
Waldorfschulen; letzterer sozusagen eine         kommen müssen. Deshalb ist immer wieder
Lichterkette von Menschen, die sich erheben      unsere Unterstützung gefragt.
würden, wenn Bildung und Erziehung zu sehr
eingeschränkt würden. Wie schleichend die        1976 richteten wir den Internationalen
regulatorischen Prozesse vor sich gehen und      Hilfsfonds ein, einen Fonds, in den die allge-
wie unbemerkt das Freiheitsbedürfnis einem       meinen und nicht zweckgebundenen Spen-
scheinbar ehernen Gesetze weicht, ahnten         den fließen und aus dem seither Kindergär-
wir damals nicht.                                ten und Schulen sowie heilpädagogische
                                                 Institute und Ausbildungsstätten finanziell
Als wir 1975/76 mit dieser Arbeit begannen,      gefördert werden können. Während es in den
gab es in Deutschland 47 Waldorfschulen und      1980er Jahren noch relativ einfach war, all-
weltweit insgesamt 126 (Stand August 1976).      gemeine ›freie‹ Spenden zu bekommen, aus
Zunächst kamen die Anfragen aus Westeu-          denen die dringendsten Anfragen beantwor-
ropa und den USA. Wir haben in den ersten        tet werden können, ist es in den 2010ern
Jahren vielen englischen Waldorfschulen ge-      schon sehr viel schwieriger geworden. Wir
holfen, genauso wie wir uns für den Gelände-     beobachten eine Trendwende im Spenden-
kauf der Highland Hall Waldorfschool in Los      verhalten, wovon allerdings die großen Kata-
Angeles (die letzte Rate des Kaufs musste fi-    strophen ausgenommen sind. Immer mehr
nanziert werden, sonst wäre alles verloren ge-   Menschen möchten – unabhängig von der
wesen) oder nach dem Brand für ein neues         Höhe des Betrages – möglichst eng infor-
Schulhaus der Pine Hill School in Wilton, New    miert werden, manchmal auch kontrollieren,
Hampshire eingesetzt haben. Schon damals         was mit ›ihrem‹ Geld geschieht. Immer weni-
waren wir in Deutschland aufgrund unserer        ger wird einfach geschenkt, um den anderen
Verfassung in der komfortablen Lage staatli-     in die Position eines Freien zu heben, d. h.

18                                                          Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
Freunde der Erziehungskunst

auch eines Menschen, der Fehler machen            rung und Renovierung ihrer Schulhäuser auf
darf. Hinzukommt, dass die Höhe der Spen-         unsere Zuwendungen und unsere Vermitt-
denbeträge durchschnittlich niedriger wird        lung weiterer Gelder angewiesen – und sind
als noch in den 1980er und 1990er Jahren,         es zum Teil noch heute. Denn alles, was sie
obwohl die Menschen eigentlich über mehr          selbst aufbringen können, muss in die Gehäl-
Geld verfügen. Das Irrationale im Geldum-         ter fließen, die ohnehin zu niedrig sind und
gang kann gut daran abgelesen werden. Die         ein ordentliches Leben nicht ermöglichen.
Ausweitung unserer Arbeit konnte daher nur        Die Freiheiten der ersten Jahre sind längst
durch die Beteiligung von immer mehr Men-         vergangen und die Regierungen dieser Staaten
schen erfolgen.                                   ersinnen zunehmend striktere Kontrollinstru-
                                                  mente, so dass eine aufwendige politische
Die Arbeit der Freunde der Erziehungskunst        Aktivität notwendig ist, um wenigstens einen
verläuft parallel zur Ausweitung und zum          kleinen Freiheitsraum zu erhalten, in dem
Wachstum der weltweiten Waldorfbewe-              mal weniger mal mehr Waldorfpädagogik
gung. Sie ist mit ihr – in entsprechenden         praktiziert werden kann. Heute sind wir weit
Wellen – gewachsen. Die eigentliche Aus-          entfernt von den Traumstränden der Freiheit
breitung der Waldorfschulbewegung begann          im Bildungswesen, wie sie sich 1989/1990 für
Mitte bis Ende der 1980er-Jahre. Nach 1989        kurze Zeit zeigten.
entstand dann eine völlig neue Schulbewe-
gung in Mittel- und Osteuropa, die uns bis        Seit 1988 fördern die Freunde der Erzie-
heute vor einige Herausforderungen stellt.        hungskunst waldorfpädagogische Projekte
Mit unglaublicher Geschwindigkeit wurden          im Rahmen der Entwicklungszusammenar-
die Ideen eines ›freien Schulwesens‹ ergriffen    beit in Kooperation mit dem »Bundesminis-
und Kindergärten und Schulen begründet.           terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Bis heute können die Schulen in vielen mit-       und Entwicklung« (BMZ). So konnten in den
tel- und osteuropäischen Ländern ihre Zu-         vergangenen Jahren Waldorfschulen und
sammenarbeit genauso wenig finanzieren            Einrichtungen der Heilpädagogik und Sozial-
wie ihre Öffentlichkeitsarbeit. Das hängt z. B.   therapie in Südafrika, Brasilien, Kolumbien,
in Ungarn mit der jetzt regierenden Fidezs        Ghana, Georgien, Indien, Kenia, Rumänien
Partei zusammen und deren nationaler Aus-         und Vietnam in Millionenhöhe gefördert
richtung, die freie Schulen mit Argwohn be-       werden. Unter anderem durch diese ausge-
trachtet. Eigentlich von Anfang an bis heute      sprochen hilfreiche Finanzierungsmöglich-
unterstützen wir die Bünde der Waldorfschu-       keit konnten die Gebäude vieler afrikanischer
len in Rumänien, in Ungarn, Polen, in der         Waldorfschulen errichtet werden. Ohne die
Ukraine und ermöglichen ihnen ein Sekreta-        Arbeit der Freunde der Erziehungskunst hät-
riat, Reisen zu den Schulen und Öffentlich-       ten viele Schulen in Afrika keine Gebäude.
keitsarbeit, manchmal auch Ausbildung. Nur        Natürlich handelt es sich besonders um die
in Tschechien verfügen die Schulen über ge-       Schulen für Kinder ärmerer Bevölkerungs-
nügend Mittel, um ihre Zusammenarbeit             schichten, die auch in den laufenden Kosten
selbst zu finanzieren. Durch den sehr langsa-     von uns unterstützt werden. Drei der vier
men ökonomischen Wandel, der immer zu-            großen Waldorfschulen der Mittelschicht in
letzt bei den Lehrern oder Ärzten und den         Südafrika brauchten solche Unterstützung
staatlichen Angestellten ankommt, waren           nicht. Diese Finanzierungsmöglichkeit hat
viele der mittel- und osteuropäischen Wal-        auch große Vorzüge für die heilpädagogische
dorfschulen und -kindergärten für die Sanie-      und sozialtherapeutische Bewegung. Die

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67                                                        19
Freunde der Erziehungskunst

Michaelsschule in Tiflis/Georgien konnte ge-    nien und in der Gegend um Cordoba), sowie
nauso erfolgreich gebaut werden, wie die so-    nach Chile, Peru und Mexiko. Die Anfragen
zialtherapeutische Einrichtung in Sighnaghi/    auf Unterstützung von Bauprojekten neh-
Georgien oder die heilpädagogische Schule       men eher zu als ab, denn Schule funktioniert
in Simeria/Rumänien oder die sozialthera-       eben (fast) nur in Häusern. Es wird aber
peutische Tageseinrichtung in Medellin/Ko-      immer schwieriger, dafür größere Summen
lumbien oder das Camphillheim in Hue/Viet-      zu finden, auch weil unsere Stiftungspartner
nam.                                            sich mehr und mehr aus der Schulbaufinan-
                                                zierung zurückziehen.
Manchmal passen aber solche öffentlichen
Gelder nicht zu Land oder Einrichtung – und     Ein Meilenstein in der Entwicklung der Arbeit
dann sind andere Unterstützungsleistungen       der Freunde der Erziehungskunst war die Ein-
der Freunde der Erziehungskunst notwendig.      ladung der UNESCO, auf der Internationalen
Wir haben während der vielen Jahre immer        Konferenz für Erziehung 1994 in Genf, der
wieder Finanzhilfen bei Bauprojekten gege-      damals alle zwei Jahre stattfindenden Konfe-
ben, teilweise und gerne in Kooperation mit     renz der Erziehungsminister aller UNESCO
anderen Hilfsorganisationen und Stiftungen.     Mitgliedsstaaten. Dort stellten wir die Wal-
Mit solcher Unterstützung konnte 2006 der       dorfpädagogik einem internationalen Publi-
Neubau der Waldorfschule Bangkok, Thai-         kum vor. Wir erarbeiteten dafür eine Ausstel-
land fertiggestellt, das Grundstück der Sloka   lung »Waldorfpädagogik weltweit« und in
Schule in Hyderabad kofinanziert werden,        Zusammenarbeit mit Karl Lierl einen Katalog,
wo inzwischen mehr als 600 Schüler ein- und     der später in 17 Sprachen übersetzt und he-
ausgehen, aber auch Bauhilfen für die drei      rausgegeben worden ist. Ausstellung und Ka-
weitere Schulen in Hyderabad genauso gege-      talog wurden in der Schulbewegung als
ben werden genauso wie für die Waldorf-         UNESCO-Ausstellung bekannt, obwohl sie
schule in Chengdu, China. Bei den letztge-      natürlich Ausstellung und Katalog der
nannten Projekten handelt es sich um            Freunde der Erziehungskunst waren. Nach
Pilotschulen, welche die Entwicklung der        Abschluss der Genfer Tagung ging diese Aus-
Waldorfpädagogik in China und Indien we-        stellung unter Schirmherrschaft des damali-
sentlich mitgeprägt haben. Geholfen werden      gen Generaldirektors der UNESCO, Federico
konnte z. B. auch beim Kindergartenumbau        Mayor, auf Reise zunächst durch Deutsch-
in Timisoara, Rumänien und bei der Erweite-     land und einige Länder Europas (Schweiz,
rung bzw. Sanierung der Waldorfschulen in       Dänemark, Schweden, Finnland, England,
Smolensk und Woronesh, Russland, Ust-Ka-        Frankreich, Spanien und Portugal) und dann,
menogorsk, Kasachstan, in Dnjepropetrwosk       1996, durch verschiedene asiatische Länder.
und Krivoj Rog, Ukraine und in Tiflis,          Sie trug sicher wesentlich dazu bei, dass die
Georgien oder in Eriwan, Armenien. Mit          Waldorfpädagogik in Korea, in Thailand und
Schenkungen und Darlehen wurde die Pio-         auf den Philippinen wie auch in Indien eine
nierschule im Kibbuz Harduf, Israel unter-      gewisse Bekanntheit erlangt hat. Erst nach
stützt genauso wie viele weitere israelische    dieser Ausstellung und den mit den Ausstel-
Schulen in ihrer ersten Aufbauphase. Wäh-       lungen verbundenen Veranstaltungen, die
rend der Jahrzehnte sind hohe Summen nach       zum Teil gemeinsam mit den Goethe-Institu-
Lateinamerika geflossen, zunächst nach Bra-     ten durchgeführt wurden, entstanden die
silien, dann aber auch nach Argentinien         ersten Waldorfschulen in diesen Ländern. Es
(Schulen in Buenos Aires, Schulen in Patago-    waren die Geburtszeiten für Waldorfpädago-

20                                                         Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 67
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