Katholische Priester als Opfer des Nationalsozialismus - Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2020 in Greifswald Neue ...
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G R E I F S W A L D E R UNIVERSITÄTS- R E D E N Katholische Priester als Opfer des Nationalsozialismus Neue Folge Nr. 152 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus Greifswald 2020 am 27. Januar 2020 in Greifswald
Inhaltsverzeichnis Vorwort 4 Prof. Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann, Greifswald Vorträge Gewalt, Opfer, Erinnerung – Gottesmänner im Nationalsozialismus 5 Dr. Christoph Kösters, Bonn „Wenn man schon diese Pfaffengesichter und Verbrecher- 22 bande sieht …” – Katholische Priester in Pommern als Opfer des Nationalsozialismus Prof. Dr. Thomas K. Kuhn, Greifswald Impressum 39 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Vorwort Prof. Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann, em. Professor für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit, Universität Greifswald Als Ort, an dem Lehrer ausgebildet wer Die katholische Kirche in Pommern den, hat die Universität eine besondere sah sich als Diaspora, und auch in der Verantwortung dafür, dass die Funk Pom merschen Landesgeschichte galt tionsweise und das mörderische Wirken Katholizismus nicht als identitätsbil- des NS-Regimes bekannt und verstan dend. Das mag erklären, warum der den sind. Seit über zwanzig Jahren For schungsstand zum Schicksal der wird der Gedenktag für die Opfer des katholischen Priester in Pommern lan- Nationalsozialismus von Stadt und ge Zeit so unvollkommen war, obgleich Universität in Greifswald gemeinsam das Gedenken des Pfarrers Alfons Maria begangen, und noch nie wurde ein Vor Wachsmann schon bald nach Kriegsende tragsthema wiederholt: So vielgestaltig in Greifswald gepflegt worden ist. Sein ist die Liste der Gruppen, die der NS- Schicksal in einen weiteren Rahmen zu Gewaltherrschaft zum Opfer gefallen stellen, war die Aufgabe, die sich Thomas sind. In der historischen Forschung hat Kuhn in seinem Beitrag vorgenommen es sich inzwischen durchgesetzt, von hat. Möge das erweiterte Wissen uns bloßer Distanzierung über Verweigerung künftig beim Gedenken unterstützen. bis zu offener Gegnerschaft gegenüber Wenn der Nationalsozialismus ein dem Regime Abstufungen von Wider Regime war, das die Unmenschlichkeit ständigkeit wahrzunehmen. Wie Chris an sich zum Programm erhoben hatte toph Kösters andeutet, lässt sich aber und die Idee der Menschenrechte an sich aus der Tatsache der Verfolgung nicht rückgängig machen wollte, dann ist klar, immer ein vorausgegangener Wider dass ganz zwangsläufig die zu seinen stand ableiten. Feinden werden mussten, die, aus wel- cher Überzeugung auch immer, solche universellen Menschenrechte ernst ge- nommen haben. 4 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Gewalt, Opfer, Erinnerung – Gottesmänner im Nationalsozialismus1 Dr. Christoph Kösters, Kommission für Zeitgeschichte, Bonn „Immer wieder wird bei der Kirchlichen Zum einen lässt er erkennen, dass ins- Statistik nach Material über die Ver besondere die im Konzentrationslager in folgung der Kirche in Deutschland in den ternierten Geistlichen ihre Leidenszeit als Jahren 1933–1945 angefragt. Versuche geistig-religiöses Opfer deuteten. Zum zu einer nachträglichen statistischen anderen gewährt er einen Einblick in die Erhebung haben sich aber als undurch- nach 1945 einsetzende Erinnerungskultur führbar herausgestellt. Viele Geistliche, der katholischen Kirche. die in jenen Jahren inhaftiert waren, den- Im Folgenden soll die Geschichte katho- ken nicht gerne an jene Zeit zurück. Einer lischer Priester im Nationalsozialismus von ihnen fügte einem knappen Bericht aus den genannten drei Blickwinkeln seiner sechsjährigen Zeit in Konzentra beleuchtet werden: der politischen tionslagern die Worte an: ‚Nicht gerne Verfolgung (2.), der priesterlichen Iden schreiben wir von dieser Zeit, denn sie tität (3.) und der kirchlichen Memoria nach wurde Gott geschenkt und gehört darum 1945 (4.). Auf diese Weise soll zu einem Ihm, der uns mit Gnaden überhäufte.‘ Nur historischen Verstehen eines bis heute von einigen deutschen Diözesen besitzen umstrittenen Themas beigetragen wer- wir über einige Verfolgungsarten genaue den.4 Dazu gehört auch ein hinführender Erhebungen. Sie sind in Tabelle 1 zusam- Einblick in eine aus heutiger Sicht unter- mengestellt.“2 (Abb. 1) gegangene katholische Lebenswelt (1.). Bereits 1945 waren in zahlreichen deut Die Ausführungen bieten somit zugleich schen Bistümern die Geistlichen aufge einen Bezugsrahmen für die Geschichte fordert worden, zeitgenössische Do ku- katholischer Priester in Pommern als mente und Gedächtnisberichte zu Mate Opfer des Nationalsozialismus.5 rialsammlungen über „Verfolgung“ und „Widerstand“ der katholischen Kirche in 1. Konfessionsgebundene der NS-Zeit beizusteuern.3 Zehn Jahre Lebenskultur: „Widerstrebende später war ein Bild der politischen Ver Peripherie“ folgung allenfalls in ersten Umrissen erkennbar. Dies jedenfalls legt der ein- Wie viele Priester zwischen 1933 und gangs zitierte Befund nahe, der einem 1945 in den fast 12 000 katholischen Pfar knappen Bericht der Kölner Zentralstelle reien und Seelsorgebezirken, in Anstal für kirchliche Statistik aus dem Jahr 1955 ten oder im Schuldienst der insgesamt entnommen ist. 25 deutschen Diözesen tätig waren, lässt Allerdings enthält dieser Bericht zwei sich nicht mehr genau sagen. Seriöse weitere bemerkenswerte Hin weise: Zahlen gehen von mindestens 27 000 5 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Abb. 1: „Zur Verfolgung der Kirche in Deutschland” 1933–1945, Übersicht von 1955 Weltpriestern aus. An der Spitze jeder knüpft. Der Historiker David Blackburn Diözese stand ein Bischof, an der jeder hat sie treffend als „widerstrebende Pfarrei ein Pfarrer. Darüber hinaus gehör- Peripherie um das protestantische Kern ten mehr als 15 000 Männer und mindes- gebiet des Reiches“7 bezeichnet. Diese tens 90 000 Frauen einer der zahlreichen konfessionell und geschichtlich grundier- katholischen Ordensgemeinschaften an. ten Landschaften bestimmten den Klerus Sie waren vor allem in der Krankenpflege, in seinem Verhalten nach 1933 entschei- Sozialfürsorge und Schulbildung tätig. dend mit. „Widerstrebend“ wirkte diese Ergänzt wurde das seelsorgliche Netz Peripherie in mehrfachem Sinne: Der durch Vereine, Verbände und Organi größte Teil der katholisch eingefärbten sationen, in denen sich Laien „vor Ort“ Lebensräume im Westen, Süden und für die katholische Sache einsetzten.6 Osten des Deutschen Reiches war länd- Dieses Netz war in den traditionell ka- lich geprägt. Wo das Industriezeitalter tholischen Regionen besonders eng ge- die Landschaften in atemberaubendem 6 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Tempo verändert hatte und – wie an Minderheiten ein, zu denen eben auch Rhein und Ruhr, in Schlesien oder die Katholiken selbst gehörten.8 Sachsen – Großstädte entstanden wa- Das war keineswegs eine Petitesse. ren, bildeten Katholiken zumeist das Viel mehr ging es in der modernen einwandernde, oft sozial deklassierte Gesellschaft um entscheidende Fragen Arbeitskräftereservoir. Nicht zuletzt for- katholischer Lebensführung und reli mierte sich hier in einem „Kulturkampf“ giöser Sinnstiftung, insbesondere in die politische Interessenvertretung der Fragen der Erziehung und Bildung, Katholiken: Die Zentrumspartei trat in aber auch des Ritus und seiner öffent- der kulturprotestantisch bestimmten lichen Praxis, etwa der Prozessionen Bürgergesellschaft des kleindeutschen bzw. Wallfahrten. Bis in jede Pfarrei Nationalstaates für religiöse Freiheits- spannte sich unter Führung des Klerus und Sozialrechte der benachteiligten das seelsorgliche Netz samt seiner ka- 1 Überarbeiteter und mit Anmerkungen versehener Vortrag, gehalten im Rahmen der Veranstaltung der Uni- versität Greifswald anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2020. Für die Druckfassung wurde der Wortlaut weitgehend beibehalten. – Der Ausdruck „Gottesmänner” ist übernom- men von Michael Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt a. M. 2000, 830. 2 Franz Gruner (Hg.), Kirchliches Handbuch. Amtliches statistisches Jahrbuch der katholischen Kirche Deutschlands, Bd. 24: 1952–56, Köln 1956, 370. 3 Vgl. Ulrich von Hehl/Christoph Kösters/Petra Stenz-Maur/Elisabeth Zimmermann, Priester unter Hitlers Terror, Paderborn 41998, 69. 4 Zur Erforschung der christlichen Kirchen im Dritten Reich vgl. Christoph Kösters/Mark Edward Ruff (Hgg.), Katholische Kirche im Dritten Reich, Freiburg i. Br. 22018; Hans Günter Hockerts/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Distanz und Nähe zugleich? Die christlichen Kirchen im „Dritten Reich“, München 2017; Olaf Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014; Manfred Gailius/Armin Nolzen (Hg.), Zerstrittene „Volks- gemeinschaft”. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011. Als ältere, immer noch nützliche Gesamtdarstellung Heinz Hürten, Deutsche Katholiken 1918–1945, Paderborn 1992. 5 Vgl. dazu den Beitrag von Thomas Kuhn in diesem Heft. 6 Die Zusammenstellungen der Zahlen für die einzelnen Diözesen in Ulrich von Hehl/Christoph Kösters/Petra Stenz-Maur/Elisabeth Zimmermann, Priester unter Hitlers Terror, Paderborn 41998 121; Karl-Joseph Hummel/ Christoph Kösters (Hgg.), Zwangsarbeit und katholische Kirche 1939–1945. Geschichte und Erinnerung, Ent- schädigung und Versöhnung. Eine Dokumentation, Paderborn 2008, 134–136. Allgemein zur Geschichte der katholischen Pfarreien, des Klerus, der Orden und der katholischen Laienorganisationen, in: Erwin Gatz (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 8 Bände, Freiburg i. Br. 1991–2008. 7 David Blackburn, Fortschritt und Frömmigkeit. Liberalismus, Katholizismus und Staat im Kaiserreich, in: David Blackburn (Hg.), Landschaften der deutschen Geschichte. Aufsätze zum 19. und 20. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 217), Göttingen 2016, 15–40, hier 17; zu regionalen Ausprägungen des katholischen Lebens und seiner Identitäten vgl. die von Dietmar Schiersner verantwortete Tagungsdokumen- tation „Regionale Katholizismen im 19. und 20. Jahrhundert in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 38 (2019), 13–192. 8 Zur Zentrumspartei vgl. zuletzt Wilfried Loth, „Freiheit und Würde des Volkes“. Katholizismus und Demo- kratie in Deutschland, Frankfurt 2018; vgl. auch Manuel Borutta, „Kulturkampf“, in: Staatslexikon. Recht, Wirt- schaft, Gesellschaft, Bd. 3: Herrschaft – Migration, Freiburg i. Br. 82019, 1185–1189. 7 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
tholischen Schulen, Krankenhäuser, Reich.9 Sozialstationen, Fortbildungs- und Frei Diese konfessionell geprägten, kultur- zeitorganisationen. Diesem Geflecht räumlichen Vorerfahrungen katholischer kam in seiner Abgrenzung zu anderen Priester gilt es mitzubedenken, damit konfessionellen oder weltanschaulichen die nun vorzustellenden Beobachtungen Gruppierungen nicht nur religiöse und über ihr Konfliktverhalten nicht zu fal- soziale, sondern auch politische Relevanz schen Schlüssen führen. Die Angaben zu: Der unmittelbare Zusammenhang über „Maßnahmen“, mit denen Polizei, zwischen Konfession und Wahlverhalten Justiz, Verwaltungs behörden und NS- zugunsten der Zentrumspartei zeigte Organisationen aufgrund von „Ver sich selbst noch bei den schwierigen gehen“ gegen Priester vorgingen, sind Reichstagswahlen 1932/33. In den eben kein Maßstab für deren Wider „widerstrebenden Peripherien“ hatte standsverhalten.10 Warum dem so ist, die NSDAP einen erkennbar schwere- wird im Folgenden deutlicher werden. ren Stand als anderswo im Deutschen Abb. 2: Maßnahmen gegen katholische Priester 1933–1945 im Monatsdurchschnitt 8 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
2. NS-Religionspolitik: strafen, Schutz- und KZ-Haft. Soweit „Entkonfessionalisierung des datierbar bilden sie in ihrem zeitlichen öffentlichen Lebens“ Verlauf recht genau die Phasen national- sozialistischer Religionspolitik ab.12 1984 erschien unter dem Titel „Pries Die Tiefpunkte des Kurvenverlaufs ver- ter unter Hitlers Terror“11 eine Doku weisen auf Phasen einer relativen, weil mentation, die wissenschaftlich aufbe- taktisch bestimmten Annäherung an reitete, was 1955 der Zentralstelle für die katholische Kirche: Nach dem 1933 kirchliche Statistik noch als aussichts- abgeschlossenen Reichskonkordat, zu los gegolten hatte: eine biographische dem Hitler nicht einmal die Unterschrift und statistische Erhebung über die im beigetragen hatte, scheiterte 1936 Dritten Reich verfolgten katholischen auch der zweite Anlauf, Kirche und Geistlichen. Zu den insgesamt ca. 8 000 Katholiken in die Herrschaftspraxis des Personeneinträgen kamen bis zur vierten NS-Regimes und der Volksgemeinschaft Auflage 1998 mehr als 4 000 weitere zu integrieren. Der deshalb gewalt- neu hinzu. Insgesamt sind über 38 000 sam durchgeführte „Kampf gegen den Maßnahmen nachgewiesen, von der politischen Katholizismus“13 und für eine Schikane durch Parteiangehörige über „Entkonfessionalisierung des öffentli- Verhöre und Verwarnungen bis zu Geld chen Lebens“14 war nur um den Preis 9 Vgl. dazu im Karten zu Konfessionsverhältnissen und Wahlverhalten in: Karl-Joseph Hummel/Michael Kißener (Hgg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn 2009, Anhang; zu- letzt Jürgen W. Falter, Hitlers Parteigenossen. Die Mitglieder der NSDAP 1919–1945, Frankfurt a. M. 2020, 152–163 10 Eine komplexe Verschränkung von Vorstellungen katholischer Priester in Österreich und Deutschland mit dem Nationalsozialismus weist die Studie von Lucia Scherzberg auf; vgl. Lucia Scherzberg, Zwischen Partei und Kirche. Nationalsozialistische Priester in Österreich und Deutschland, Frankfurt a. M. 2020. Zu Selbstver- ständnis und Konfliktverhalten des katholischen Klerus im Nationalsozialismus vgl. außerdem Thomas Forstner, Priester in Zeiten des Umbruchs. Identität und Lebenswelt des katholischen Pfarrklerus in Oberbayern 1918 bis 1945, Göttingen 2014; Michael Hirschfeld/Maria Anna Zumholz (Hgg.), Oldenburgs Priester unter NS-Ter- ror 1932–1945. Herrschaftsalltag in Milieu und Diaspora. Festschrift für Joachim Kuropka zum 65. Geburtstag, Münster 2006. 11 Ulrich von Hehl (bearb.), Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung, im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und unter Mitwirkung der Diözesanarchive, Mainz 1984. Bis 1998 erschienen vier Auflagen; vgl. oben Anm. 3. 12 Eine Gesamtdarstellung der NS-Religionspolitik fehlt bis heute. Wesentliche kirchenpolitische Quellen bei Carsten Nicolaisen/Gertraud Grünzinger (Bearb.), Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches, Bd. 1–5, München 1971–2008; wegweisend Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn 22003. 13 Runderlass Görings vom 16.07.1935 über den politischen Katholizismus, in: Carsten Nicolaisen/Gertraud Grünzinger, Dokumente. Bd. 3: 1935–1937, Nr. 2, 5–9. 14 Rede Fricks am 07.07.1935 auf einer NSDAP-Parteiversammlung in Münster, in: Bernhard Stasiewski (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945. Bd. 2: 1934–1935, Mainz 1979, 335. 9 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
zahlreicher Auseinandersetzungen mit reichen Polizeiverordnungen tief in den dem Klerus und den Gläubigen zu haben. Seelsorge-Alltag der Pfarreien ein, ging Diese nahmen die Konflikte mit Staat und mit Schutzhaftstrafen gegen Laien wie Polizei als neuen „Kulturkampf“ wahr.15 Kleriker vor und beantragte bei den Daher schnellen die Zahlen 1934/35 und Sondergerichten die Einweisung in ein 1937 steil in die Höhe. Am Vorabend Kon zentrationslager. Über 2500 Frei des Krieges hatte sich dann das heitsstrafen wurden gegen katholi Regime durchgesetzt. Die katholischen sche Geistliche verhängt, 417 deutsche Organisationen und Konfessionsschulen Priester in ein Konzentrationslager waren von der Bildfläche der national- „überstellt“. Dabei zeigt der Verlauf der sozialistischen Volksgemeinschaft ver- KZ-Einweisungen, dass der nach innen schwunden. (Abb 2) gerichtete Terror während der Kriegsjahre Am ehesten scheint die Integration in die nicht ab-, sondern sogar noch zunahm. nationalsozialistische Kriegsgesellschaft Waren es 1939 monatlich umgerechnet nach 1939 gelungen zu sein.16 Aber zwei, sind es zwei Jahre später zehn auch hier verweist der hohe Ausschlag KZ-Strafen pro Monat; 1944 steigt diese der Kurve im Jahr 1941 darauf, dass Zahl gegen den abfallenden Trend der Spannungen phasenweise noch größer Strafmaßnahmen insgesamt noch einmal wurden. Hitler hatte nämlich das Feld der an und liegt mit gut fünf Einweisungen Religionspolitik inzwischen Goebbels, monatlich immer noch mehr als doppelt Himmler, Bormann u. a. überlassen. so hoch wie zu Kriegsbeginn. Diese nutzten die Kriegssituation stra- 1940 hatte die SS damit begonnen, die tegisch, um das katholische Christentum noch in Schutzhaft befindlichen Geist als weltanschaulichen Gegner vollstän- lichen der verschiedensten Natio nen dig zurückzudrängen. Nach 1939 wurden vor den Toren Münchens im Konzen reichsweit über 300 Klöster beschlag- trationslager Dachau zusammenzufüh- nahmt, entschädigungslos enteignet ren.19 Die religionspolitische Strategie und über 10 000 Ordensleute aus ihren des Regimes, den Klerus zu kriminalisie- Ordenshäusern vertrieben.17 ren und seine Seelsorge als „politisch“ zu Priester wie Laien bekamen in den diskreditieren, hatte seitdem auch einen Auseinandersetzungen vor allem die festen Ort: die drei gesonderten, völlig Auswir kungen einer in den gleichge- überfüllten Baracken der sogenannten schalteten Staats apparat eingeschmol Priesterblöcke 26, 28 und 30. Dabei zenen politischen NS-Bewegung zu trennte die Lagerführung entsprechend spüren. Seit 1934 hatte die SS unter der NS-Weltanschauung die fast 1800 der Führung Himmlers sukzessive die aus dem besetzten Polen deportierten Schaltstellen der politischen Polizei und Priester in den Blöcken 28 und 30 von den Kriminalpolizei übernommen. Gestützt nicht-polnischen Geistlichen im Block 26 u. a. auf das sogenannte „Heim tücke und der dort im Januar 1941 eingerich- gesetz“18 griff die Gestapo mit zahl- teten provisorischen Kapelle. Innerhalb 10 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
des Lagers besaßen die Geistlichen in- das Lager deportiert, etwa 4000 von ih- sofern einen Sonderstatus, als sie die nen dort von der SS erschossen. Die jüdi- einzige Häftlingsgruppe bildeten, die als schen Häftlinge Dachaus deportierte die Berufsgruppe gefangen gehalten wurde. SS in das Vernichtungslager Auschwitz, Bis zu seiner Befreiung Ende April nachdem Himmler am 5. Oktober 1942 1945 waren im Konzentrationslager angeordnet hatte, die in Deutschland Dachau insgesamt 2720 v. a. katholi liegenden Konzentrationslager „juden- sche (2579) und evangelische (109) frei“ zu machen. Der alltägliche Kampf Geistliche interniert, unter ihnen 447 um das Überleben ist auch von den KZ- deutsche und 94 österreichische.20 Die Priestern vielfach beschrieben worden: gewaltsame Inhaftierung von Priestern das Grauen des ständigen Hungers und aus ganz Europa in Dachau zählte der lebensbedrohlichen Krankheiten, des zu den Auswirkungen des national grenzenlosen Terrors und angstbesetz- sozialistischen Eroberungs- und Vernich ten „Bunker“-Arrestes, der rücksichts- tungskrieges: 1940/41 gelangten mit losen Zwangsarbeit und gnadenlosen Transporten aus Lódz, Posen, Kielce und Hinrichtungen. Über 1000 Priester über- Warschau etwa 25 000 Häftlinge nach lebten die erbarmungslose Lagerhaft in Dachau, ab Oktober 1941 wurden tau- Dachau nicht. sende sowjetische Kriegsgefangene in 15 Vgl. Christoph Kösters, „Kulturkampf” im Dritten Reich. Zur Deutung der Konflikte zwischen NS-Regime und katholischer Kirche im deutschen Episkopat, in: Thomas Brechenmacher/Harry Oelke (Hgg.), Die Kirche und die Verbrechen im nationalsozialistischen Staat, Göttingen 2011, 67–112. 16 Vgl. Karl-Joseph Hummel/Christoph Kösters (Hgg.), Kirchen im Krieg. Europa 1939–1945, Paderborn 2007; Thomas Brodie, German Catholicism at war, 1939–1945, Oxford 2018. Nach Abschluss des Manuskripts er- schien zu dem in diesem Zusammenhang höchst wirksamen religiösen Gewalt- und Friedenssemantiken And- reas Holzem/Antonia Leugers, Katholische Kriegsfriedensdiskurse 1914/18-1939/45. München zwischen kultu- rellem Pluralismus und „Hauptstadt der Bewegung”, Paderborn 2020. 17 Vgl. Annette Mertens, Himmlers Klostersturm. Der Angriff auf katholische Einrichtungen im Zweiten Welt- krieg und die Wiedergutmachung nach 1945, Paderborn 2006. 18 Das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat“ vom 20.12.1934 stellte jede Art von Kritik am NS-Regime unter Strafandrohung. 19 Vgl. Stanislav Zámečnik, Das war Dachau, Frankfurt a. M. 2007; Günter Kimmel, Das Konzentrationslager Dachau. Eine Studie zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in: Martin Broszat (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. 2: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, München 1979, 349–413. Zu den Zusammenhängen vgl. Nikolaus Wachsmann, KL. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bonn 2016. Zur Ge- schichte der evangelischen Geistlichkeit in den Konzentrationslagern vgl. Rebecca Scherf, Evangelische Kirche und Konzentrationslager (1933–1945), Göttingen 2019. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive Eike Lossin, Ka- tholische Geistliche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Frömmigkeit zwischen Anpassung, Befehl und Widerstand, Würzburg 2011. Vgl. auch Ursula Pruß, Die katholischen Geistliche im KZ Sachsenhausen, in: Priester im KZ Sachsenhausen. Der Gedenkstein für die inhaftierten katholischen Geistlichen, hg. v. Erzbischöf- lichen Ordinariat Berlin, Berlin 2007, 11–36. 20 Zahlenangaben und ihre Diskussion im Wikipedia-Artikel „Pfarrerblock“, https://de.wikipedia.org/wiki/Pfarrerblock#Gesamtzahl_und_Todesf%C3%A4lle (Stand: 2020-06-01). 11 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Leisner feierte seine erste und einzige Heilige Messe, die sogenannte Primiz, am 26. Dezember, dem Gedenktag des Heiligen und ersten christlichen Märty rers Stephanus. Er starb wenige Monate später an den Folgen der Haft, kurz nach- dem das Lager durch amerikanische Truppen befreit worden war. Von der „Priesterweihe im Häft lings kleid“22, wie man das Geschehen ge- nannt hat, ging offenbar eine tiefe sym- bolische und spirituelle Wirkung aus. Die alltägliche Erfahrung des Leidens und Sterbens im KZ und dessen Annahme als Kreuzesnachfolge Christi verdichtete sich hier zu einem tradierte Vorstellungen überholenden idealtypischen Vorbild Abb. 3: Andenken an die Primiz Karl Leisners priesterlicher Existenz, und zwar im Sinne im KZ Dachau am 26. Dezember 1944, einer radikalen Lebenshingabe für Gott gemalt von Bruder Raphael Tijhuis, OCarm und den Nächsten.23 (Abb. 3) „Opferer und Geopferter muss der Pries ter sein, wenn er ganz Christus darstel- 3. Konkurrierende Identitäten: len will“, hieß es sinngemäß auf einem Die Opfer der Gottesmänner der im Lager angefertigten Primizbilder. Diese Spiritualisierung von Verfolgung, Wie haben die „Gottesmänner“ – Priester Leid und gewaltsamem Tod erwies sich wie Bischöfe – diese Erfahrungen ge auch als anschlussfähig für eine Deutung, deutet, wie die existenzielle Frage nach die nach 1945 das erlebte Geschehen in dem Sinn von Krieg und Verfolgung be- die Erinnerung an die Märtyrer der frühen antwortet? Kirche einreihte. Das neue Ideal priester- In den Aufzeichnungen vieler katholischer licher Existenz wurde mit dem Vorbild des KZ-Priester ragt ein Ereignis besonders jungen Märtyrers verschmolzen, also der heraus: die Priesterweihe des sterbens- freien, stellvertretend erlittenen und mit kranken, jungen Diakons Karl Leisner aus Gott versöhnenden Selbsthingabe des der Diözese Münster am 17. Dezember Lebens um der Wahrheit des Glaubens 1944.21 Nicht nur die geheimen Wege, willen.24 Priesterweihe und die Feier des auf denen die Vorbereitungen getrof- Messopfers am Stephanustag wurden fen wurden, erinnerten die Beteiligten daher im Kreis der Überlebenden als be- rückblickend an die Katakombenzeit der sonders eindrückliches, gewaltloses und frühen Christenheit. Der jugendbewegte religiöses Bekenntnis gegen Verfolgung 12 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Abb. 4: Katholischer Kriegspfarrer beim Feldgottesdienst in der Ukraine, 1941 und Unterdrückung des NS-Regimes ver- Kirche nach 1939 erneut Gebäude und standen. Krankenhäuser zu Lazarettzwecken be- Die Bischöfe von Münster und München- reit. Hunderte Militärgeistliche dienten Freising, Clemens August von Galen als Divisions-, Lazarett- und Gefängnis und Michael von Faulhaber, wussten pfarrer in der Wehrmacht. Tausende von um die Vorgänge in Dachau, weil sie Priestern, Ordensmännern und Theo ihre Zustimmung zur Priesterweihe logiestudenten waren vereinbarungs- Leisners hatten geben müssen. Für sie gemäß zum Sanitätsdienst eingezogen. stand allerdings ein anderes Priester Bei den Antworten auf die Fragen nach bild im Vordergrund, welches mit der dem Sinn von Leiden und Sterben im Mitwirkung der Kirche am Krieg ver- Krieg bewegten sich alle in jahrhunderte bunden war.25 Denn wie schon im alten, christlich überlieferten Bahnen. Ersten Weltkrieg stellte die katholische Krieg war in solcher religiös bestimmten 21 Zu Leisner vgl. Christoph Kösters, Karl Leisner (1915–1945). Zeitgeschichtliche Annäherung an „Marty- rium” und „Widerstand” im 20. Jahrhundert, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 218 (2015), 47–78. Grundlegend Hans-Karl Seeger/Gabriele Latzel (Hgg.), Karl Leisner. Tagebücher und Briefe. Eine Lebens-Chronik, Bd. 1–5, Kevelaer 2014. 22 Vgl. Reimund Schnabel, Die Frommen in der Hölle. Geistliche in Dachau, Frankfurt a. M. 1966, 158. 23 Vgl. dazu auch die bemerkenswerten Beobachtungen zu im KZ Dachau entstandenen Überlegungen zum Laiendiakonat als Korrektiv zum Priesterberuf. Ulrich Helbach, Der Diakonat im 19. und 20. Jahrhundert bis zum Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Günter Riße/Ulrich Helbach/Hermann Josef Klein (Hgg.), Boten einer neuen Zeit. 50 Jahre Ständige Diakone im Erzbistum Köln, Paderborn 2018, 101–129, hier 110–114. 24 Vgl. dazu Hans Maier (Hg.), Martyrium im 20. Jahrhundert, Annweiler 2004. Eine kirchenoffizielle Zusammenstellung in: Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, 2. Bd., Paderborn 72019. 13 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Abb. 5: Übersicht über die Opfer der Katholischen Kirche im Zweiten Weltkrieg, 1953 14 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Sicht nicht allein ein säkulares, macht- Bolschewismus“ der Sowjetunion nahe- politisches Konfliktgeschehen, son- zu sakrale Züge.26 (Abb. 4) dern eine Art ultima ratio innerhalb der Das Sterben des miles christianus, des von Gottes Gerechtigkeit bestimmten mittelalterlichen Idealtypus des christli- Ordnung. Dass sich die verantwortliche chen Soldaten, war zwar nicht unmittel- staatliche Obrigkeit außerhalb dieser bar anschlussfähig an die altkirchliche Ordnung bewegen würde, war zwar nicht Märtyrertradition – ging es doch hier um ausgeschlossen. Wann es jedoch für den Lebenshingabe im soldatischen Kampf christlichen Soldaten galt, Gott mehr zu und nicht in leidertragender Verfolgung.27 gehorchen als den Menschen, war eine Gleichwohl rückte mancher Bischof das Gewissensfrage und keineswegs eindeu- Lebensopfer der an der Front für Volk und tig bestimmt. Vaterland gefallenen Priestersoldaten Die Hirtenbriefe der Bischöfe waren des- – am Ende waren es über 1500 – in die halb durchzogen von Aufrufen zu Treue, Nähe des Martyriums.28 Solche sinn- Gehorsam und Pflichterfüllung, zu christ- stiftende Deutung verlor allerdings desto licher Bewährung, Gebet und duldsamem mehr an Überzeugungskraft je deutlicher Ertragen des Leides. Die Opfer, die es zu Eigenart und Verbrechen des national bringen galt, waren allerdings in ein pat- sozialistischen Vernichtungskrieges zu- riotisch-nationales Denken eingebunden. tage traten. Jene, für die sich die erleb Dies verlieh dem Leiden und Sterben ten Kriegsgräuel gar zu existenziellen nach dem Sieg 1940 gegen den franzö- Sinn- und Glaubensfragen verdichteten, sischen Erbfeind zusätzlichen Sinn. Und blieben letztlich ohne eine kirchlich- es erhielt in der Aufforderung zum christ- religiöse Antwort.29 lichen „Kreuzzug“ gegen den „gottlosen 25 Vgl. Hans Jürgen Brandt (Hg.), Priester in Uniform. Seelsorger, Ordensleute und Theologen als Soldaten im Zweiten Weltkrieg, Augsburg 1994; Jürgen Brandt./Peter Häger (Hgg.), Biographisches Lexikon der katholischen Militärseelsorge Deutschlands 1848–1945, Paderborn 2002; Antonia Leugers, Jesuiten in Hitlers Wehrmacht. Kriegslegitimation und Kriegserfahrung, Paderborn 2009; Dagmar Pöpping, Passion und Vernichtung. Kriegspfar- rer an der Ostfront 1941–1945, Göttingen 2019; Dagmar Pöpping, Kriegspfarrer an der Ostfront. Evangelische und katholische Wehrmachtseelsorge im Vernichtungskrieg 1941–1945, Göttingen 2017; Lauren Faulkner Rossi, Wehrmacht Priests: Catholicism and the Nazi War of Annihilation, Cambridge 2015. 26 Dazu einschlägig Wilhelm Damberg, Kriegserfahrung und Kriegstheologie 1939–1945, in: Theologische Quartalsschrift 182 (2002), 321–341. 27 Zur Verklärung des Soldatentodes vgl. Dagmar Pöpping, Passion und Vernichtung. Kriegspfarrer an der Ost- front 1941–1945, Göttingen 2019, 108–126; Dagmar Pöpping, Kriegspfarrer an der Ostfront. Evangelische und katholische Wehrmachtseelsorge im Vernichtungskrieg 1941–1945, Göttingen 2017, 127–131. 28 Hinweise bei Karl-Joseph Hummel, Glaubenszeugnis und Erinnerung. Verlust und Wiederkehr. Zum Um- gang mit Märtyrern in Deutschland 1933–2000, in: Karl-Joseph Hummel/Christoph Kösters (Hgg.), Kirche, Krieg und Katholiken. Geschichte und Gedächtnis im 20. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2014, 114–147, hier 140. 29 Vgl. Karl-Theodor Schleicher/Heinrich Walle (Hgg.), Aus Feldpostbriefen junger Christen 1933–1945. Ein Beitrag zur Geschichte der Katholischen Jugend im Felde, Stuttgart 2005. 15 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
4. Kirchliches Gedächtnis: Kriegsverbrechen, begegnete kirchlichem Die Erinnerung der Opfer Widerspruch, der zwischen „Tätern“ und „Opfern“ unterschied. Eindeutig wurde Die Bilanz des Krieges war mehr als ver- jeder Versuch abgelehnt, die „Täter“ heerend: ca. 66 Millionen Kriegstote, kollektiv zur Rechenschaft ziehen zu wol- davon etwa die Hälfte Zivilisten; mindes len: Um der Gerechtigkeit willen müsse tens 5,7 Millionen ermordete Juden; jeder einzelne seiner schuldhaften Taten weitere 7,7 Millionen Opfer national entsprechend bestraft werden; nicht alle sozialistischer Massenverbrechen: so Deutschen seien als Nationalsozialisten wjetische Kriegsgefangene, Zwangs an deren Verbrechen beteiligt gewesen. arbeiter, Deportierte, KZ-Häftlinge, Sinti Im Übrigen habe jeder sein Gewissen zu und Roma, körperlich und geistig erforschen, seine Sünden zu bekennen Kranke.30 Die Bilder und Nachrichten und Buße zu tun.31 aus den befreiten Lagern gingen um die Schwieriger war der Umgang mit den Welt. Die zahllosen unschuldigen Opfer Opfern. Dass die katholische Kirche zu des Krieges klagten an und stellten die den Opfern nationalsozialistischer Ver Frage nach Schuld und Verantwortung. folgung zählte, war angesichts der vielen Der Vorwurf der Sieger, das deutsche Geistlichen, die inhaftiert gewesen und Volk insgesamt treffe die Schuld für die gar ihr Leben verloren hatten, weithin Abb. 6: Sühnewallfahrt anlässlich der Einweihung der Todesangst-Christi-Kapelle auf dem Gelände des ehemaligen KZ Dachau, 1960 16 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
unbestritten. (Abb 5) Ihre ablehnende auf den Sinn von Krieg und Leid schon Haltung gegenüber den Verbrechen während des Krieges patriotisch-natio- des NS-Regimes stand selbst für die nale Untiefen besessen hatten.32 Auf die Alliierten nicht in Frage. Allgemein er- Verständigung mit den Alliierten wirk- kannten die Bischöfe im apokalyptisch te es sich durchaus aus, inwieweit es wahrgenommenen Ende des Krieges wie die Bischöfe jeweils vermochten, auch ehedem Gottes Strafgericht über das die von den Siegermächten erbrach- gottlose Handeln der Menschen; des- ten Kriegsopfer zur Befreiung vom NS- halb sei das Leid als Sühne geduldig zu Regime in den Blick zu nehmen.33 Und tragen. In den Hirtenbriefen erzeugten nicht zuletzt vermochte die Erinnerung allerdings die vielen, vor allem „frem- an den verborgenen Einsatz für verfolg- den“ Opfer Ambivalenzen, und zwar an te Juden die allseits bedrückende Frage jenen Stellen, an denen die Antworten nach dem Schweigen der Kirche nicht wirklich zu beantworten.34 30 So die Zahlen der vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) herausgegebenen Dokumentation „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, zit. n. dem Artikel „Tote im Zweiten Weltkrieg“, https://de.wikipedia.org/wiki/Tote_des_Zweiten_Weltkrieges (Stand 2020-06-01). 31 Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 23. August 1945, in: Ludwig Volk (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe zur Lage der Kirche 1933–1945, Bd. VI: 1943–1945, Mainz 1985, Nr. 1030/IIb, 688–694, hier 689. Vgl. Mark Edward Ruff, Katholische Kirche und Entnazifizierung, in: Christoph Kösters/Mark Edward Ruff (Hgg.); Die katholische Kirche im Dritten Reich, 142–153. 32 Ulrich Helbach hat anhand der Vor- und Entstehungsgeschichte des Gemeinsamen Hirtenbriefs vom August 1945 gezeigt, dass die Bischöfe unmittelbar nach Kriegsende durchaus unterschiedlicher Auffassung über das Verhalten des deutschen Volks bzw. der Katholiken in der NS-Zeit und die Frage des – auch eigenen – schuldhaf- ten Versagens waren. Vgl. Ulrich Helbach, Das „gemeinsame“ Hirtenwort „zur Behebung der religiösen und sitt- lichen Kriegsschäden“ im Juni 1945. Desorientierung unter den westdeutschen Bischöfen, in: Historisches Jahr- buch 130 (2010), 323–348. Vor allem aus Kreisen katholischer Laien, zumal von dem Dichter Reinhold Schneider, kam die eindringliche Bitte, die Zeichen der Zeit auch für ein aufrichtiges, d. h. selbstkritisches Schuldbekenntnis zu nutzen. Vgl. Ulrich Helbach, „Ein Laie“, „der hofft, im besten Falle eine Stimme in der Kirche und in der Zeit zu sein“ – Reinhold Schneider und die deutsche Schuld: Sein Beitrag zum Hirtenbrief der deutschen Bischöfe in Fulda vom 23. August 1945, in: Karl-Heinz Braun (Hg.) Geschichte des Erzbistums Freiburg, Freiburg i. Br. (im Druck). 33 Vgl. dazu die Beobachtungen von Andreas Holzem, Transnationaler Katholizismus als Modus des Verste- hens? Die Bischöfe Joannes Baptista Sproll und Clemens August von Galen im Erstkontakt mit der französischen und britischen Militärregierung (April bis Oktober 1945), in: Andreas Henkelmann/Christoph Kösters/Rosel Oehmen-Vieregge/Mark Edward Ruff (Hgg.), Katholizismus transnational. Beiträge zur Zeitgeschichte und Ge- genwart in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten, Münster 2019, 185–210. 34 Vgl. Ulrich Helbach, „Es hätte unserer Kirche und unserem Volk mehr gedient, wenn wir weniger geschwie- gen hätten …“ Die Schuldfrage im Frühjahr 1945 im Lichte eines neuen Quellenfundes. Eingabe der west- deutschen Bischöfe an Papst Pius XII, in: Siegfried Schmidt (Hg.), Rheinisch, Kölnisch, Katholisch. Beiträge zur Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Geschichte des Buch- und Bibliothekswesens der Rheinlande, Köln 2008, 341–372. 17 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Umso stärker richtete sich der Blick auf Bedingungen als in der sozialistischen das stellvertretende Leiden und Sterben Diktatur der DDR.39 Es war kein Zufall, der jungen Märtyrer. Zwar erinnerte ihr dass der Anstoß zur schon erwähn- Zeugnis zusammen mit dem der KZ-Über ten Dokumentation „Priester unter lebenden schmerzlich daran, dass um Hitlers Terror“ 1963 von einer lebhaf- der Wahrheit und des Gewissens willen ten Debatte auf einem katholisch- ein anderes Verhalten möglich gewesen evangelischen Publizistentreffen in wäre. Die Märtyrer waren nach 1945 zu- Fulda ausging. Es sollten allerdings nächst alles andere als populär.35 Dies noch eineinhalb Jahrzehnte verge- wurde aber dadurch überdeckt, dass die hen, bis Quellenmaterial, statistisches Märtyrer an die Spitze von Verfolgung Instrumentarium und methodische der Kirche bzw. ihren Widerstand ge- Begriffe für die systematische biogra- rückt wurden. In der vom Münchener phische und statistische Erhebung zur Weihbischof Neuhäusler 1946 veröf- Verfügung standen. Die Kontroversen fentlichten Dokumentensammlung hieß über Verfolgung und Widerstand katho- es: „Und mit Märtyrerblut ist auf viele lischer Priester im Nationalsozialismus Blätter der Geschichte der katholischen waren damit keineswegs erledigt – im Kirche Deutschlands in diesen zwölf Gegenteil. Sie dauern bis heute an.40 Jahren geschrieben: ‚Der Widerstand In der Forschung ist gegenwärtig von reli- war auch kirchlicherseits da!‘“36 giös-kirchlichem grundiertem „Abstand“ Einen bemerkenswert anderen Akzent die Rede, aus dem sich aktives widerstän- setzte die katholische Friedensbewegung diges Handeln bis zur Beteiligung an poli- Pax Christi 37: Die 1947 in Aachen begon- tischen Widerstandszirkeln entwickeln nenen, sogenannten Sühnewallfahrten konnte – eine Distanz, die Nähe in Gestalt führten schon bald zu den entstehen- „antagonistischer Kooperationen“41 den Gedenkorten nationalsozialisti- 42 nicht ausschloss. Jüngst haben Olaf scher Verbrechen: nach Plötzensee, Blaschke und Thomas Großbölting so- nach Mauthausen oder 1960 – anläss- gar einen Perspektivwechsel vorge lich der Einweihung der Todesangst schlagen, der die Kirchen stärker als Christi-Kapelle – nach Dachau.38 Die an bisher als Religionsakteure der NS- einen katholischen Bußritus angelehnten Volksgemeinschaft fokussiert.43 Von Wallfahrten wurden von den einstigen der Verfolgung der katholischen Pries Gegnern in ihrer tiefen religiös-symbo- ter im Nationalsozialismus auf deren lischen Bedeutung als Bekenntnis zu Widerstand zu schließen, ist daher histo Schuld und Versöhnungsbereitschaft ver- risch nicht so zwingend, wie es für die standen und angenommen. (Abb. 6) Erlebnisgeneration der Kriegs- und Nach Die nächste Generation hingegen führte kriegsjahre bis weit in die 1960er Jahre die Schulddebatte unter geschichts- den Anschein hatte. politischen Vorzeichen – in der freiheit- Am 29. April 2020 hat sich die katholi lichen Bundesrepublik unter anderen sche Deutsche Bischofskonferenz in 18 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
einem „Wort zum Ende des Zweiten torischen Verstehens. Nur so entkom- Weltkriegs vor 75 Jahren“ mit Verhalten men wir der Versuchung, das damalige ihrer bischöflichen Amtsvorgänger wäh- Geschehen nicht nah genug an uns her- rend des Zweiten Weltkriegs in über- ankommen zu lassen.“45 Mit einem be- zeugend historisch-kritischer Weise merkenswerten Resultat: „Bei aller inne- auseinandergesetzt.44 „So schwer ver- ren Distanz zum Nationalsozialismus und ständlich, wenn nicht sogar falsch uns bisweilen sogar offener Gegnerschaft das Verhalten unserer Vorgänger im war die katholische Kirche in Deutsch Bischofsamt heute auch erscheint, es land Teil der Kriegsgesellschaft. Daran enthebt uns nicht der Mühen des his- änderten auch die zunehmende Repres 35 Darauf verweist Hummel, Glaubenszeugnis, 128. 36 Johannes Neuhäusler, Kreuz und Hakenkreuz. Der Kampf des Nationalsozialismus gegen die katholische Kirche und der kirchliche Widerstand, Zweiter Teil: Der Widerstand der katholischen Kirche gegen den National- sozialismus, München 1946, 26. 37 Vgl. Jens Oboth, Pax Christi Deutschland im Kalten Krieg 1945–1957. Gründung, Selbstverständnis und „Vergangenheitsbewältigung“, Paderborn 2017; Arkadiusz Stempin, Das Maximilian-Kolbe-Werk. Wegbereiter der deutsch-polnischen Aussöhnung 1960–1989, Paderborn 2006; Jean-Pierre Guérend (Hg.), Franz Stock. Weg- bereiter der Versöhnung, Tagebücher und Schriften, Freiburg i. Br. 2017; vgl. auch Christoph Kösters, Europäische Integration und Katholizismus in Deutschland (1945–1990), in: Karlies Abmeier/Petra Bahr (Hgg.), Katholizismus – eine politische Kraft, Sankt Augustin 2016, 45–66. 38 Vgl. Roland Götz, Christus die Mitte. Drei Bauwerke zum Eucharistischen Weltkongress 1960, in: Peter Pfister (Hg.), Für das Leben der Welt. Der Eucharistische Weltkongress 1960 in München, Regensburg 2010, 93–111, hier 106–111. 39 Vgl. Mark Edward Ruff, The battle fort he Catholic Past in Germany, 1945–1980, Cambridge 2017. Karl- Joseph Hummel, Die Schuldfrage, in: Christoph Kösters/Mark Edward Ruff (Hgg.), Die katholische Kirche, 154–170. 40 Einen eigenständigen Zweig innerhalb der Debatte bildet das von der katholischen Kirche verantwortete Martyrologium. Vgl. Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, hg. i. A. der Deut- schen Bischofskonferenz v. Hubert Moll, zwei Bde, Paderborn 7. Aufl. 2019. 41 So die Formulierung von Winfried Süß, Antagonistische Kooperationen. Katholische Kirche und national- sozialistisches Gesundheitswesen in den Kriegsjahren 1939–1945, in: Karl-Joseph Hummel/Christoph Kösters (Hgg.), Kirchen im Krieg, Paderborn u. a. 2007, 317–342. 42 Vgl. Hans Günter/Friedrich Wilhelm Graf (Hgg.) Distanz und Nähe zugleich? Die christlichen Kirchen im „Dritten Reich“, München 2017. 43 Nach Abschluss des Manuskripts erschien Olaf Blaschke/Thomas Großbölting (Hgg.), Was glaubten die Deutschen zwischen 1933 und 1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2020. 44 Zum Folgenden vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.) Deutsche Bischöfe im Weltkrieg. Wort zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren vom 29. April 2020, Bonn 2020. 45 Ebd., 16. 46 Ebd., 12. 47 Ebd., 15. 48 Ebd., 21. 49 Ebd. 19 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
sion gegen das Christentum, der Ver der Jahre ist der Umstand, dass für die nichtungskrieg sowie die seit der Wende Leiden und die Opfer der Anderen lan- des Kriegsgeschehens und mit dem ge Zeit jeder Blick fehlte – von offenen Bombenkrieg gegen Deutschland an- Worten ganz zu schweigen – besonders wachsenden Verluste der Deutschen we- beschämend“, heißt es im abschließen- nig.“46 Und weiter: „Indem die Bischöfe den Kapitel in der Erklärung.48 Aber: „Der dem Krieg kein eindeutiges ‚Nein‘ ent- Austausch und die Wege der Versöhnung gegenstellten, sondern die meisten von mit unseren Nachbarn, insbesondere mit ihnen den Willen zum Durchhalten stärk- Frankreich und Polen, haben uns gehol- ten, machten sie sich mitschuldig am fen, diese von Vermeidung, Verdrängung Krieg.“47 und eigenem Schmerz geprägten ver- Bei diesem Bekenntnis zur Mitschuld engten Sichtweisen hinter uns zu lassen. ihrer Vorgänger geht es nicht um ein […] Dabei haben wir erleben können, „Scherbengericht“, sondern im Gegen dass diese Begegnungen wesentlich teil um ein neues Glied in der Erinne auch zur Erneuerung der Kirche beige- rungskette der katholischen Kirche. tragen haben und beitragen.“49 Damit Christliche Memoria wird dabei nicht ist kaum weniger als eine neue Seite im als Selbstzweck, sondern als Dienst Kapitel christlich-kirchlicher Erinnerung am Frieden und an der Versöhnung der des Zweiten Weltkrieges aufgeschlagen Völker verstanden. „Mit dem Abstand worden. Es kann und wird nicht die letzte sein! 20 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Abbildungsverzeichnis Das Redaktionsteam dieser Broschüre an der Uni- versität Greifswald war bestrebt, zu den verwen- deten Abbildungsvorlagen die Urheberrechtsfragen zu klären. Nicht berücksichtigte Inhaber von Bild- rechten werden gebeten, sich an die Pressestelle der Universität Greifswald unter pressestelle@uni- greifswald.de zu wenden. Abbildung 1 Abbildung 4 „Zur Verfolgung der Kirche in Deutschland” 1933– Katholischer Kriegspfarrer beim Feldgottesdienst in 1945, Übersicht aus dem Kirchlichen Handbuch für der Ukraine, 1941; Archiv des Katholischen Militär- das katholische Deutschland von 1955. bischofs (AKMB) AR 191. Abbildung 2 Abbildung 5 Maßnahmen gegen katholische Priester 1933– Übersicht über die Opfer der katholischen Kirche im 1945 im Monatsdurchschnitt; Priester unter Hitlers Zweiten Weltkrieg, 1953; Kirchliches Handbuch für Terror I, 41998. das katholische Deutschland, Bd. XXIV: 1952–1956, Abbildung 3 Köln 1956. Andenken an die Primiz Karl Leisners im KZ Dachau Abbildung 6 am 26. Dezember 1944, gemalt von Bruder Raphael Sühnewallfahrt anlässlich der Einweihung der Wei- Tijhuis, OCarm. Mit Genehmigung des Internationa- he der Todesangst-Christi-Kapelle auf dem Gelände len Karl Leisners-Kreises; Bistumsarchiv Münster, des ehemaligen KZ Dachau, 1960, Fotograf: Rudolf Karl-Leisner-Archiv (Depositum). Pröhl. Mit Genehmigung von Margarete Pröhl und Schirin Pröhl-Schraml. 21 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
„Wenn man schon diese Pfaffengesichter und Verbrecherbande sieht …”1 – Katholische Priester in Pommern als Opfer des Nationalsozialismus Prof. Dr. Thomas K. Kuhn, Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Greifswald 1. Katholische Kirche in Pommern Formen konfessioneller Segregation sowie die Bildung exklusiver religiöser Die seit dem Preußischen Konkordat vom Milieus. Berichte der Gestapo, die im 14. Juni 1929 zu dem neu gegründeten „Sonderarchiv“ des Russischen Staat Bistum Berlin2 gehörende katholische lichen Militärarchivs in Moskau liegen, Kirche in Pommern kennzeichnete in der nennen Beispiele dafür, wie sich diese ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei konfessionelle Abgrenzung konkret im Merkmale: Zum einen war sie eine ver- Alltag der Katholiken auswirkte.6 Es gab schwindend kleine religiöse Minderheit. anscheinend „dauernde Reibereien“ Der Bevölkerungsanteil der auf dem zwischen katholischen und evangeli- Territorium des Bistums Berlin lebenden schen Siedlern. Die katholischen Siedler Katholiken betrug lediglich gut sieben vermieden es zum Beispiel, bei einem Prozent. Für Pommern wird ein Anteil evangelischen Händler einzukaufen. von knapp 3,5 Prozent genannt: Auf 1,9 Doch damit nicht genug: Als bei einem Millionen Einwohner kamen 60 000 evangelischen Siedler durch Blitzschlag Katholiken.3 Man lebte als Katholik Feuer ausgebrochen war, beteiligte also in der so genannten Diaspora, in sich anscheinend kein Katholik an den der „Zerstreuung“. Die dort tätigen Löscharbeiten.7 Geistlichen hatten überaus weite Wege Das zweite Merkmal der katholischen auf schlechten Straßen zurück zulegen. Kirche in Pommern ist die spezifische Oft nur mit dem Fahrrad unterwegs be- Zusammensetzung ihrer Gemeinden.8 suchten sie – so oft es ging – ihre weit Neben einer vor Ort oder verstreut leben verstreut lebenden Gemeindemitglieder den Minderheit deutscher Katholiken und konnten von der protestantischen stellten die überwiegend aus Polen stam Majorität geradezu als Exoten wahr- menden „Schnitter“ genannten Saison genommen werden. Für die Katholiken arbeiter, später die „Zwangsarbeiter“ galt es, diese spezielle Situation als die personelle Majorität dar.9 Katholizi Minderheit anzunehmen und zu leben. tät und Polonität standen deshalb in Das geschah auf vielfältige Weise: der öffentlichen Wahrnehmung in Neben der wissenschaftlichen Reflexion einem unmittelbaren Zusammenhang. über die Diaspora, wie sie beispiels- Für die Nationalsozialisten avancierten weise 1936 der damalige Greifswalder beide, Katholiken wie Polen, zu einer Pfarrer Alfons Maria Wachsmann (1896– permanenten Gefahr für das deutsche 1944)4 in einer seinerzeit viel beachte- „Volkstum“.10 Damit ist eine erste ten Publikation vorlegte5, finden sich Mo tivation für die Überwachung und 22 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
Verfolgung katholischer Geistlicher und ge“13 galt als „nunmehr wichtigste Gemeindemitglieder durch die Gestapo nachrichtendienstliche Aufgabe […] die benannt.11 Seit der kirchenpolitischen umfassende Beobachtung und Erfassung Wende von 193712 in Folge der päpst des Klerus“, die zuvor noch „vergleichs- lichen Enzyklika „Mit brennender Sor weise schwach ausgebaut“ gewesen 1 Aussage von Kommissar Karl Trettin vor dem Kriegsgericht in Halle; siehe dazu den Bericht von Propst Daniel Ernst, in: Richard Gohm (Hg.), Selig die um meinetwillen verfolgt werden. Carl Lampert – ein Opfer der Nazi-Willkür. 1894–1944, Innsbruck, Wien 2008, 71. – Ich danke Herrn Dr. Gotthard Klein, Diözesanarchiv Berlin, ganz herzlich für seine überaus hilfreiche Unterstützung. 2 Siehe dazu Michael Höhle, Die Gründung des Bistums Berlin 1930, Paderborn 1996. 3 Robert Thévoz/Hans Branig/Cécile Lowenthal-Hensel, Pommern 1934/35 im Spiegel von Gestapo-Lage berichten und Sachakten (Darstellung), Köln 1974, 148. 4 Zur Person siehe Franz Herberhold, A. M. Wachsmann. Ein Opfer des Faschismus. Leben und Tod des Greifswalder Pfarrers Alfons Maria Wachsmann, hingerichtet am 21. Febr. 1944, Leipzig 1964; sowie Ursula Pruß, Alfons Maria Wachsmann, in: Karl-Joseph Hummel/Christoph Strohm (Hgg.), Zeugen einer besseren Welt. Christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 42002, 209–224. 5 Alfons Maria Wachsmann, Zur Situation der Diaspora, Paderborn 1936. 6 Dr. Matthias Uhl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Moskau, danke ich ganz herzlich für die Bereitstellung der Akten. 7 Siehe dazu Bericht der Gestapo vom 12. August 1937, in: Sonderarchiv Moskau: 501/1/295 (1–10): Über katholische Siedler im Raum Stettin. 8 Martin Holz, Von einer „Schnitterpfarrei“ zur „bürgerlichen Pfarrei“. Flucht, Vertreibung und Neuanfang aus der Perspektive der katholischen Kirche in der Diaspora der SBZ/DDR am Beispiel der Insel Rügen 1943–1961, in: Josef Pilvousek (Hg.), Aufnahme – Integration – Beheimatung. Flüchtlinge, Vertriebene und die „Ankunfts- gesellschaft“, Berlin, Münster 2009, 143–168, hier: 146–150. 9 Siehe dazu Wolfgang Knauft, Schnitter, KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter. Vergessene Kapitel der Seelsorge im Bistum Berlin, Berlin 2001. Zu den Zwangsarbeitern aus Polen siehe Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart 2001, 44–56; ferner Czesław Łuczak, Polinische Arbeiter im nationalsozialistischen Deutschland während des Zweiten Weltkrieges. Entwicklung und Aufgaben der polnischen Forschung, in: Ulrich Herbert (Hg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938–1945, Essen 1991, 90–105. 10 Hans-Michael Körner, Katholische Kirche und Zwangsarbeiter 1939–1945, in: Historisches Jahrbuch 112 (1992), 128–142. 11 Zur Frühphase des nationalsozialistischen Regimes siehe Thévoz, Pommern (Darstellung); dies., Pommern 1934/35 im Spiegel von Gestapo-Lageberichten und Sachakten (Quellen), Köln 1974. 12 Die nationalsozialistische Kirchen- und Religionspolitik zielte nun darauf, „die politischen Kirchen und Sekten als Gegnerformen des nationalsozialistischen Staates und der nationalsozialistischen Weltanschauung aus Deutschland völlig zu verdrängen und gleichzeitig ihre Kampfstellung gegen Deutschland im Ausland zu brechen“. So ein „Arbeitsplan für das Gebiet II 113“ des SD; zitiert bei Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubens- krieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn, München, Wien, Zürich 2002, 335. 13 Siehe dazu Heinz-Albert Raem, Pius XI. und der Nationalsozialismus. Die Enzyklika „Mit brennender Sor- ge“ vom 14. März 1937, Paderborn 1979; ferner Helmut Moll, Die Enzyklika Pius‘ IX. „Mit brennender Sorge“ (14. März 1937) im Spiegel der Glaubenszeugen der NS-Zeit, in: Römische Quartalschrift für Christliche Alter- tumskunde und Kirchengeschichte 113 (2018), 131–150. 23 Greifswalder Universitätsreden Neue Folge Nr. 152
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