Klartext sprechen Sexuelle Bildung als Aufgabe - DIE FACHZEITSCHRIFT DER HAUPTABTEILUNG SCHULE UND ERZIEHUNG - Bistum Münster
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DEZEMBER 2021 | NR. 195 DIE FACHZEITSCHRIFT DER HAUPTABTEILUNG SCHULE UND ERZIEHUNG Klartext sprechen Sexuelle Bildung als Aufgabe
Impressum und Impuls IMPRESSUM HERAUSGEBER Bischöfliches Generalvikariat Münster Hauptabteilung Schule und Erziehung 48135 Münster, Fon 0251 495-412 www.bistum-muenster.de/schule REDAKTION Dr. Stephan Chmielus (verantwortlich), Georg Garz KONZEPTION Dr. Heiko Overmeyer, Abteilung Religionspädagogik LAYOUT & SATZ kampanile | medienagentur, Münster www.kampanile.de DRUCK Druckerei Joh. Burlage, Münster | www.burlage.de REDAKTIONSSEKRETARIAT Bischöfliches Generalvikariat Münster, Hauptabteilung Schule und Erziehung Abteilung Religionspädagogik Kardinal-von-Galen-Ring 55, 48149 Münster Fon 0251 495-417, Fax 0251 495-7417 kluck@bistum-muenster.de TITELBILD UND FOTOS crocodile (Titel), kallejipp (5), Mr. Nico (6, 12), Patrick Lohmüller (21), madochab (26), axelbueckert (29), Eva Blanco Fotografia. (32) / alle photocase.de, itakdalee (36) / AdobeStock, Christine Kanz (38) ISSN: 2195-9447 Das verwendete Papier ist aus 100 % Altpapier hergestellt. 2
LIEBE KOLLEGINNEN UND KOLLEGEN! „Sprechen hilft“ lautete das Motto der ersten selbstbestimmten sexuellen Bildung zu leisten. Kampagne gegen sexuellen Kindesmissbrauch, Dazu passt die Fotoauswahl dieses Heftes; sie ist nachdem Missbrauchsfälle am Berliner Canisius- angeregt durch die Liebeslyrik des Hoheliedes Kolleg bekannt geworden waren. Das Ausmaß Salomos aus dem Ersten Testament. der Verbrechen, dargelegt in der sogenannten MHG-Studie, erschüttert die katholische Kirche Dass sexuelle Bildung als Stärkung von Identität bis heute und diskreditiert ihren Anspruch als die beste Prävention gegen sexualisierte Gewalt gesellschaftlich relevante Moralinstanz zutiefst. darstellt, erläutert der erste Beitrag unter der Ru- Vor allem im Bereich der Sexuallehre ist ihre brik BEISPIEL. Klartext sprechen kann heißen Un- Glaubwürdigkeit massiv in Frage gestellt. Im sicherheit zu teilen und Befangenheit zur Sprache Rahmen des Synodalen Weges sollen Ursachen zu bringen, wie aus Präventionsschulungen mit aufgearbeitet werden. Auch dieser Prozess er- Lehrerinnen und Lehrern berichtet wird. Dazu pas- fordert das offene und freie Gespräch. sen Hinweise aus der sexualpädagogischen Praxis. Die Fragen junger Menschen bringen vor allem Indem er die voraussetzungsvolle und nur deren Bedürfnis zum Ausdruck normal zu sein und scheinbar selbstverständliche Verwendung der dazu zu gehören. Eine Atmosphäre, in der sie sich Begriffe Natur und Geschlecht problematisiert, öffnen können, entsteht vermutlich nicht zufällig macht der Beitrag von Magnus Striet auf Be- in Projekten mit außerschulischen Partnern. Denn dingungen aufmerksam, unter denen normative diese können auf die üblichen unterrichtlichen Vorstellungen von Christinnen und Christen Routinen von Abfrage und Bewertung verzichten. nachvollziehbar in den gesellschaftlichen Diskurs Dennoch bleibt nicht nur der Religionsunterricht eingebracht werden können. Wie schwierig ein herausgefordert, beim Thema Sexualität Klartext entsprechendes Umdenken und eine Verände- zu sprechen. rung kirchlicher Rede über Sexualität ist, spiegeln die Einschätzungen von Markus Wonka über die Unter der Rubrik LESENSWERT finden Sie eine Diskussionen im Forum „Leben in gelingenden Besprechung der letzten Veröffentlichung des Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Part- verstorbenen Moraltheologen Eberhard Schocken- nerschaft“ des Synodalen Weges. Erfreulich ist der hoff. Es trägt den Titel „Die Kunst zu lieben“. Die Anlass für das Schreibgespräch zwischen Gabriele Lektüre sei denen ans Herz gelegt, die Menschen Otten und Bischof Dr. Felix Genn. Dem Religions- von heute einen Zugang zur „Grundmelodie“ unterricht wird zugetraut, einen Beitrag zu einer kirchlicher Sexualethik eröffnen wollen. Dr. William Middendorf Leiter der Hauptabteilung Dr. Stephan Chmielus Schule und Erziehung Verantwortlicher Redakteur 3
Inhalt und Editorial INHALT 6 SCHWERPUNKT 6 Naturrecht und 36 Sexualerziehung ist mehr Geschlechterverhältnisse als Aufklärungsunterricht Ein fundamentaltheologischer Beitrag Das sexualpädagogische Projekt Dr. Magnus Striet an der Friedensschule Dirk Oldenbürger 12 Sexualmoral und katholische Kirche Einschätzungen aus dem Forum IV 38 Youthwork NRW des Synodalen Weges Ein Angebot sexualpädagogischer Dr. Markus Wonka Projekttage Christine Kanz 17 Sexualethische Fragen im Religionsunterricht Ein Schreibgespräch mit Bischof Dr. Felix Genn und Gabriele Otten 41 SERVICE 41 Bemerkenswert Personalveränderungen 21 BEISPIEL Neu: Download-Medien in der Mediothek 21 Stärken und Schützen 42 Sehenswert Warum sexuelle Bildung und Prävention Neu in der Mediothek sexueller Gewalt zusammengehören Ann-Kathrin Kahle 51 Lesenswert Die Kunst zu lieben 26 „Wirksam nur unter Zuhilfenahme Unzensiert persönlicher Erfahrung …“ Papierklavier Beobachtungen rund um Schulungen zur Erzählen als Widerstand Prävention sexualisierter Gewalt Michael Sandkamp 29 Schüler und Schülerinnen in ihrer sexuellen Entwicklung unterstützen Erfahrungen einer Sexualpädagogin Pauline Schange 32 Das Thema Sexualität im katholischen Religionsunterricht Impulse und Desiderate einer Fortbildung Dr. Heiko Overmeyer 4
Die Sinnlichkeit ist an vielen Stellen bedroht durch Überfluss, und zwar nicht nur die sexuelle Sinnlichkeit, sondern auch die Kunst der anderen Sinne: des Auges durch die Überflut der Bilder, des Ohres durch den Überfluss der Geräusche, des Geschmacks durch den Überfluss des Essens und Trinkens. (…) Ohne eine Kultur der Sinne keine Sinnlichkeit! Ohne Sinnlichkeit kein Sinn! Foto: kallejipp / photocase.de Text: Fulbert Steffensky: Die 10 Gebote. Anweisungen für das Land der Freiheit, Stuttgart 2013, S. 73 5
NATURRECHT UND GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE EIN FUNDAMENTALTHEOLOGISCHER BEITRAG Von einer solchen Ökologie hat Joseph Ratzinger von Dr. Magnus Striet als Benedikt XVI. schon in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 Man könnte glauben, Joseph Ratzinger, der eme- gesprochen. ritierte Papst Benedikt XVI., sei auf seine alten Tage noch zu einem Anhänger der grünen politi- Der Begriff der Vergewaltigung ist in moder- schen Bewegung geworden. Es klingt jedenfalls nen Rechtssystemen klar definiert. Dabei beziehe nicht abwehrend, wenn jüngst von ihm zu lesen ich mich ausschließlich auf Systeme, die Frei- war, dass die „Ökologische Bewegung die Grenze heitsrechte abzusichern versuchen. Und diese der Machbarkeit entdeckt und erkannt“ habe Rechte sind als Selbstbestimmungsrechte inner- und „die ‚Natur‘ uns ein Maß“ vorgebe, „das wir halb der geltenden Rechtsordnung bestimmt. nicht ungestraft ignorieren“ könnten.1 Deshalb werden Vergewaltigungen und das heißt sexuelle Handlungen an einer Person, die gegen In der Tat bestreiten heute nur noch Prota- deren Willen geschehen, als Straftatbestand gonisten alternativer Fakten, dass es kein die gewertet. Angesichts der erheblichen traumati- Existenzgrundlage des Menschen bedrohendes sierenden Folgen solcher Gewaltakte kann dies Artensterben und einen menschengemachten nur begrüßt werden. Das lindert das Leid der Klimawandel gibt. Für theologische Zusammen- Betroffenen zwar nur begrenzt, aber mehr kann hänge interessant ist aber die nachfolgende eine Rechtsordnung nicht leisten. Irritierend ist, Äußerung Ratzingers. „Leider“, sei die „‚Ökologie dass der ehemalige Papst den Begriff „Vergewal- des Menschen‘ nicht immer konkret geworden“. tigung“ verwendet, obwohl er über intime Bezie- Auch der Mensch habe eine „‚Natur‘, die ihm hungen redet, die auf Gegenseitigkeit beruhen. vorgegeben“ sei und „deren Vergewaltigung und Es werde eine dem Menschen vorgegebene Na- Verneinung zur Selbstzerstörung“ führe. Dann turbestimmung „vergewaltigt“, wenn durch eine folgt dieser Satz: „Gerade darum geht es auch im entsprechende Gesetzgebung die bürgerliche Fall der Schöpfung des Menschen als Mann und Ehe als Rechtsform des Zusammenlebens von Frau, die im Postulat der ‚homosexuellen Ehe‘ ig- Frau und Mann in liberalen Gesellschaften nun noriert wird.“2 Diese Bemerkungen stammen aus auch für homosexuelle Paare geöffnet werde. Ob dem Jahr 2021. Allerdings ist die Rede von einer die Verwendung des Begriffs „Vergewaltigung“ „Ökologie des Menschen“ alles andere als neu. in dieser Diskussionslage besonders sensibel ist, 7
Schwerpunkt Der Naturbegriff, wie er theologisch gerne verwendet wird, ist kein beschreibender, sondern ein normativer Begriff. wäre eigens zu diskutieren. Homosexuelle Paare sondern Kultur auszuprägen. Deshalb gibt es für dürften sehr irritiert sein, falls sie solche Äuße- den Menschen auch nicht nur Evolution und bio- rungen aus dem kirchlichen Raum überhaupt logische Natur, sondern er verhält sich dazu. Mit noch wahrnehmen. Denn ein ehemaliger Papst dem ersten Erwachen des Bewusstseins hat der weiß um die sexualisierte Gewalt, die unzähligen Mensch begonnen, Natur zu kultivieren. Und er Minderjährigen, aber – was zunehmend bekannt hat auch sich selbst kultiviert. So ist zwar die Re- wird – auch erwachsenen Frauen und Männern produktion von Leben ein biologischer Vorgang, durch Kleriker angetan worden ist. aber: Diese Reproduktion kann gestaltet werden. Der Begriff der verantworteten Elternschaft zeigt Die Verwendung von Begriffen ist aufschluss- dies an. Oder aber auch, dass in modernen Ge- reich und verräterisch zugleich. Deshalb muss sellschaften das sexuelle Leben von Menschen man schon fast dankbar sein für solche Äußerun- nicht mehr begrenzt wird auf die bürgerliche gen. Denn sie legen offen, wie auf der Leitungs- oder auch religiös eingebettete Ehe. Diese Ent- ebene der römisch-katholischen Kirche – und in wicklungen sind nüchtern im geschichtlichen Milieus dieser Kirche – bis heute gedacht wird. Prozess der Kultivierung von Paarbeziehungen zu betrachten, seitdem der Mensch existiert. Natur und ihre kulturelle Gestaltung Deshalb wird man auch nicht unvermittelt theo- Die Verwendung des Ökologiebegriffs signalisiert logisch von einer Schöpfung von Mann und Frau jedenfalls überdeutlich, dass eine starke biologis- sprechen können. Dass Gott die Menschen als tische Schlagseite zu beobachten ist, wenn es um Mann und Frau geschaffen oder er die Ehe gestif- Fragen der Geschlechterordnung geht. Die Ver- tet habe, ist schlicht und einfach eine Interpreta- wendung des Naturbegriffs schwankt jedenfalls tion von Menschen. Und eine solche, theologisch stark. Ist damit eine biologische Natur gemeint? ambitionierte Interpretation zeigt sehr deutlich Oder aber eine Wesensnatur des Menschen? alle Indizien eines historischen Wandels. Dass Immer wieder ist gleichzeitig zu hören, dass es in heterosexuellen, vor Gott sakramental ge- es Kreise gebe, die einen radikalen Konstrukti- schlossenen Ehen um Liebesbeziehungen geht, vismus propagierten, wenn es um Fragen des war keineswegs immer so. Erst im 20. Jahr- Geschlechts ginge. Allerdings ist dies schlicht Un- hundert – im Umfeld und in Folge des Zweiten sinn. Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Vatikanischen Konzils – wurde diese Ausrichtung Mensch sich von anderen Lebewesen dadurch stark gemacht. Zuvor wurde die Ehe vor allem als unterscheidet, dass er in einem reflexiven Selbst- Vertragsverhältnis betrachtet. verhältnis zu sich steht. Nicht einfach zu existie- ren, sondern sich darin bestimmen zu können, Diese Beobachtungen machen deutlich, dass wie man existieren will, erfordert und erlaubt es der Naturbegriff, wie er theologisch gerne ver- dem Menschen zugleich, sich nicht einfach von wendet wird, kein beschreibender, sondern ein dem bestimmen zu lassen, was ihm begegnet, normativer Begriff ist. Wenn über die Natur des 8
Menschen gesprochen wird, schwingt die Ansage grunde. Als das „nicht gestellte Thier“ (Friedrich mit, wie der Mensch leben soll. Und dies gilt Nietzsche) kann der Mensch nicht anders, als selbstverständlich auch für den Begriff „Öko- sich einen Begriff vom Ganzen zu machen. Hier logie des Menschen“, der normativ vorgeben liegt der Ursprung von Religion, aber auch der will, wie der Mensch leben soll. Allerdings muss einer gegenüber Letztfragen agnostisch oder gar man deutlich sagen, dass hier ein klassischer dezidiert atheistisch bleibenden Selbstbeschrei- Fehlschluss vorliegt. Indem der Ökologiebegriff bung. Völlig unabhängig von der Frage, wie sich verwendet wird, wird assoziiert, dass es eine der Mensch zu der Frage „Was ist der Mensch?“ binäre biologische Natur des Menschen gibt, die verhält, muss er sich zu den Fragen verhalten aus sich selbst heraus eine normative Geltung „Wie will ich leben?“ und „Wie soll das soziale beanspruchen kann, und das anders zu leben Zusammenleben gestaltet sein?“. Diese Fragen dem Menschen nicht entspricht. Weil es das werden dem Menschen aufgenötigt, weil er nicht biologische Geschlecht von Mann und Frau gebe so existiert wie andere biologische Lebewesen, und Gott dies so geschaffen habe, könne und sondern in einer reflexiven Distanz zu sich steht, dürfe es auch nur die Ehe von Mann und Frau die ihm Freiheits- und damit auch Gestaltungs- geben. Das ist schon auf der rein biologischen räume eröffnet. Eine dem Menschen vorgegebe- Ebene nicht zu halten, bestimmt aber nicht auf ne Natur, eine Wesensbestimmung, die nicht er der Ebene ethischer Qualifikation. Dies wird selbst sich gegeben hätte, gibt es deshalb für den sehr schnell deutlich, wenn man die Perspektive Menschen nicht. Was für ihn seine Wesensbe- wechselt und danach fragt, wie Paarbeziehungen stimmung ist, ist das, was er sich selbst als eine in einer modernen, durch das philosophische solche gegeben hat. Um verstehen zu können, Freiheitsdenken orientierten Gesellschaft ethisch wie es zu dieser im historischen Vergleich neuen reflektiert werden. Weise menschlichen Selbstverstehens kommen konnte, muss indessen ein weiterer Punkt noch Paarbeziehungen im Licht philosophischen ausdrücklicher werden, der im Vorangegangenen Freiheitsdenkens bereits vorausgesetzt war. In den Rechtsordnungen liberaler Kulturen sind mehrere Einsichten wirksam. Zunächst sind Es kam im ausgehenden 18. Jahrhundert zu solche Kulturen nicht einfach religionsfeindlich. grundlegenden Veränderungen des Denkens, Allerdings gibt es in ihnen keinen gemeinsam weil neu darüber nachgedacht wurde, unter geteilten Gottesstandpunkt mehr. Ob überhaupt welchen Voraussetzungen Moralität überhaupt ein freier Gott existiert, der einen Willen bezogen möglich ist. Moralität, so die entscheidende Ein- auf den Menschen äußert, ist längst unklar ge- sicht, ist nur dann möglich, wenn ich aus eigener worden. Während Theologen wie Joseph Ratzin- Einsicht eine bestimmte Ethik für unbedingt ger meinen, die Existenz Gottes sei unumstößlich verpflichtend erachte. Das Recht auf freie Selbst- gewiss, reagieren säkulare Kulturen auf die Un- bestimmung wird zum entscheidenden Punkt. gewissheit Gottes. Was gelten soll, muss diskursiv Wenn überhaupt der belastete Naturbegriff noch ausgehandelt werden. Gleichzeitig greift die Ein- Verwendung finden soll, so hieße dies übersetzt: sicht, dass es historisch betrachtet einen perma- Sich selbst bestimmen zu dürfen, macht die Na- nenten kulturellen Wandel gibt, der auch die Ge- tur des Menschen aus. Es ist die sich selbst zuge- schlechterordnungen betrifft. In der Zeit als das sprochene Natur des Menschen, sich bestimmen Christentum entstand, waren diese noch strikt zu wollen, die sich so artikuliert. Es macht die patriarchalisch, und von empfundenen sexuellen Natur des Menschen aus, sich selbst als frei vor- Präferenzen, die sich auf das gesamte personale zufinden. Und sich als frei vorzufinden bedeutet Beziehungsempfinden auswirken, wusste man zugleich, sich nach selbst gewählten Maßstäben noch nichts. Das ändert sich erst mit dem aus- bestimmen zu wollen und dies auch zu müssen. gehenden 19. Jahrhundert. Menschen existieren Denn andernfalls wäre Freiheit nicht mehr Frei- nicht einfach. Sondern sie prägen Kultur aus. In heit. Und gleichzeitig weiß sich die menschliche der Kultur einer Zeit wird sichtbar, welche Vor- Freiheit als eine, die sich in ein Verhältnis setzen stellungen des sozialen Zusammenlebens, aber muss zu dem, was vergangene Generationen auch welche Selbstausdeutungen des Menschen bereits als Vorstellungen des sozialen Zusam- wirksam sind. Und diesen Selbstausdeutungen menlebens ausgeprägt haben und was bis heute liegt immer auch ein Ausgriff auf das Ganze zu- sozial wirksam ist. 9
Schwerpunkt Welche Begehrensstruktur oder auch sexuelle Präferenz jemand in sich vor- findet, wird in liberalen Kulturen zu einer nachrangigen Frage. Entscheidend ist, wie diese in Freiheit ausgelebt wird. Es gibt keinen absoluten Nullpunkt für den bestimmung auch die entscheidende Norm, was Menschen, bei dem er ansetzen könnte. Mit dem gelebt werden darf. Dies gilt dann auch für im histo- Auszug aus dem Paradies, um es in der Sprache rischen Prozess gewordene religiöse Konventionen. des biblischen Mythos zu sagen, begann eine Welt Selbstverständlich wird niemand bestreiten wollen, der Freiheit. Zuvor gab es nur Gott und die Tiere. dass die heterosexuelle Ehe in diesen Traditionen Nachdem der Mensch sich jedoch aufrichtete, eine eine privilegierte Rolle eingenommen hatte. Aber Welt der Freiheit und damit der Kultur entstand, warum sollten nicht andere, jenseits der Hetero- war auch klar, dass alle nachfolgenden Generatio- normativitätskonvention gelebte Geschlechterbe- nen sich auf diese Kultur würden beziehen müssen. ziehungen ebenfalls anerkannt werden? Und dies Denn bevor Menschen in begrenzter Weise zu nicht nur im staatlichen Bereich, wo das in liberalen Subjekten ihrer eigenen Biografie werden, werden Gesellschaften zunehmend der Fall ist, sondern sie subjektiviert. Das meint nicht weniger, als dass auch auf dem christlich-religiösen Feld? sie zu Menschen gemacht werden. Alle Menschen sind Kinder ihrer Zeit, weil sie zunächst hilflos auf Biblische Impulse und universelles Menschen- ihr soziales Umfeld angewiesen sind und deshalb rechtsethos auch zwangsläufig durch dieses geprägt werden. Den christlichen Glauben gibt es nicht, weil es In einer patriarchalen Kultur ist es nicht selbst- ihn nie gab. Was heute als christlicher Glaube verständlich, dass Frauen auf die Idee kommen, gilt, ist zum einen unübersehbar plural bis diver- Selbstbestimmungsrechte einzufordern. Während gent, und hat sich in jedem Fall aus komplexen in einer Kultur, in der Frauen sich selbstbewusst um historischen Prozessen herausgeschält. Es gibt ihre Mitgestaltungsrechte auf der gesellschaftlichen einen nachhaltigen Streit um das, was christlich und politischen Bühne kümmern, Institutionen mit ist, aber es gibt nicht den christlichen Glauben. historisch gewordenen, faktisch aber überkomme- Das war schon in der Antike so, und daran hat nen Geschlechterstereotypen fast schon notwendig sich bis heute nichts geändert. Aber dieses histo- unter Rechtfertigungsdruck geraten. Die katholische risch beobachtende Argument führt keineswegs Kirche gehört zu diesen Institutionen und dies hat ins Nirvana des Nicht-Wissens. Über den histo- weitreichende Folgen für „katholische“ Konfliktfel- rischen Jesus wissen wir wenig. Was wir wissen, der wie die Sexualmoral. wissen wir über die ersten bereits theologisch deutenden Quellen. Aber es gibt eine, sich durch Welche Begehrensstruktur oder auch sexuelle den Textcorpus des Neuen Testaments ziehende Präferenz jemand in sich vorfindet, wird in liberalen Auskunft, die an Klarheit nichts vermissen lässt. Kulturen zu einer nachrangigen Frage. Entschei- Dieser Jesus wollte eine möglichst umfassende dend ist, wie diese in Freiheit ausgelebt wird. Ist Gleichstellung in den sozialen Verhältnissen, und der andere Mensch Objekt meiner Bedürfnisstruk- vor allem forderte er im Namen des Gottes, der tur oder aber will ich ihn als Person und als diese aus der Sklaverei Ägyptens herausführte, eine Person achten? Macht eine Beziehung glücklich? besondere Sorgfaltspflicht für die Menschen Alles andere ist nachrangig. Entscheidend ist, ob ein, die am Rande der Gesellschaft standen und Menschen sich in Freiheit füreinander entscheiden. auch noch aus religiösen Gründen stigmatisiert Wenn es die „Natur“ des Menschen ausmacht, frei wurden. Der Jude Jesus kannte keine Berüh- zu sein, so liegt in der Möglichkeit freier Selbst- rungsängste. Und der konvertierte Paulus ertrug 10
keine Gedächtnismähler Jesu, in dem die sozialen fahrung wegstiehlt; und gleichzeitig reichert man Unterschiede verschwiegen wurden. Entweder den Gottesglauben mit einem Menschenrechts- sind alle im Glauben an den Auferweckten gleich ethos an, das auf immer größere Universalität oder aber dieser Glaube verliert seine Basis. ausgerichtet ist. In den katholischen Milieus der Gegenwart, in denen dieser Aufklärungsprozess Bezogen auf die bis heute den Katholizis- wirksam ist, ist die Regenbogenflagge deshalb mus bestimmenden Konflikte auf dem Feld der selbstverständlich. Sexualmoral, von Geschlechterverhältnissen und der Akzeptanz von Lebensgemeinschaften, die sich nicht am Heteronormativitätsschema orien- 1 https://www.die-tagespost.de/kultur/feuilleton/von-der- tieren, bedeutet das zweierlei. unverfuegbarkeit-und-wuerde-des-menschen-art-221688 (10.11.2021). Zunächst einmal darf kein Gott akzeptiert wer- 2 ebd. den, der die Freiheit des Menschen und damit das von ihm beanspruchte Recht auf freie Selbst- bestimmung nicht achtet. Entweder ist Freiheit das Höchste oder aber sie ist es nicht. Wenn sie es aber ist, so darf auch Gott nicht davon entlas- tet werden, diese zu achten. Und da ohnehin im- mer nur über den möglichen Gott nachgedacht wird, muss der erhoffte Gott einer sein, der ein gelingendes Beziehungsleben unbedingt achtet. Ja mehr noch, der sich daran erfreut. Und des- halb muss sich dieser Gott auch an einer Kultur erfreuen, die das Gelingen von Beziehungen un- abhängig von sexuellen Präferenzen wertschätzt. Dass sexuelle Handlungen an Minderjährigen immer sexuelle Gewalt darstellen, da es sich hier nicht um Gleichgestellte handelt, sollte keiner Erwähnung bedürfen. Theologisch gibt es kein Argument, das gegen die Liberalisierung der Ge- schlechterverhältnisse gewendet werden könnte. Weder der historische Jesus noch die biblischen Autoren hatten ein Wissen um unterschiedliche sexuelle Präferenzen. Es ging ihnen um die Kul- tivierung der Verbindungen zwischen Mann und Frau in patriarchalen Kulturen. Die in den sozialen Verhältnissen wirksamen Normen und Werte sollen gelingendes und ein möglichst glückliches Leben ermöglichen, und nicht verhindern. Aus theologischen Gründen sind die Rechte derer einzuklagen, denen diese Rechte nicht selbstverständlich zugestanden wer- den. Wer sich deshalb auf den Juden aus Naza- reth und biblische Traditionen des Gottglaubens meint berufen zu können, um theologisch gegen eine Liberalisierung der Geschlechterverhältnisse und Lebensformen zu agitieren, dürfte gewaltig unter Begründungsdruck geraten. Biblisches Dr. Magnus Striet Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Denken ist nichts anderes, als dass das Projekt Professor für Fundamentaltheologie Aufklärung auf Dauer gestellt wird. Deshalb korri- und philosophische Anthropologie giert man Gottesbilder, weil Gott sich aus der Er- magnus.striet@theol.uni-freiburg.de 11
Schwerpunkt 12
SEXUALMORAL UND KATHOLISCHE KIRCHE EINSCHÄTZUNGEN AUS DEM FORUM IV DES SYNODALEN WEGES von Dr. Markus Wonka denen Stillstand hat sicherlich auch zu jenem Vertrauensverlust beigetragen, den wir derzeit Mit dem Synodalen Weg hat sich die katho- beklagen. lische Kirche in Deutschland auf den Weg gemacht, um über verschiedene „heiße Eisen“ Erwartungen an das Synodalforum offen und frei zu sprechen. Auch die Fragen der Der Synodale Weg soll jetzt die Wende bringen. Sexualmoral wurden als Themenbereich identi- Hohe Erwartungen sind geweckt und nicht we- fiziert, als die Deutschen Bischöfe vor dem nige fürchten das Enttäuschungspotential, das Hintergrund der Missbrauchskrise auf ihrer damit einhergeht. Denn viele der Themen, die be- Vollversammlung in Lingen im März 2019 den sprochen werden, sind Angelegenheit der Welt- Synodalen Weg auf den Weg gebracht haben. kirche und können ortskirchlich nicht entschieden Seither wird über vieles in der katholischen werden. Die zentralen Aspekte der Sexualmoral Kirche öffentlich-institutionell diskutiert, was gehören dazu. Wird es reichen, am Ende „nur“ zuvor Thema unter den Gläubigen und oftmals darüber gesprochen zu haben? Anlass für vielfältige Kontroversen war. Auf lehramtlicher Ebene aber schienen die Themen, Die Dramatik reicht vielleicht noch tiefer. Mit die in den einzelnen Foren bearbeitet werden, Blick auf die Sexualmoral der katholischen Kirche nicht verhandelbar zu sein. Das Unverständ- scheinen die Befürchtungen vor einer möglichen nis vieler Katholikinnen und Katholiken über Enttäuschung sogar eine sehr binnenkirchliche diesen zunehmend als unerträglich empfun- Perspektive darzustellen. Denn hört man sich 13
Schwerpunkt Es ist Konsens, dass sich die kirchlich geltende Sexualmoral, humanwissenschaftliche und moraltheologische Erkenntnisse sowie das Moralempfinden einer Mehrheit der Gläubigen deutlich auseinanderentwickelt haben. unter Jugendlichen und jungen Menschen um, überrascht. Dennoch führte die Dokumentation wie sie über die aktuellen Reformanstrengungen dieses Befunds zur Frage, ob eine Norm, die kaum der katholischen Kirche denken, trifft man oft auf beachtet und befolgt wird, überhaupt benötigt Unkenntnis oder Desinteresse. Die innerkirch- wird. Oder anders formuliert: Wie könnte eine lich „heißen Eisen“ der Sexualmoral, die wir mit theologisch begründete Sexualethik aussehen, Leidenschaft diskutieren, erzeugen keine nen- die tatsächlich Lebensrelevanz entfalten kann, nenswerte außerkirchliche Resonanz (mehr). Hat vielleicht sogar über den binnenkirchlichen Raum Kirche in diesem Bereich jegliche ethische und hinaus? Mit dieser Frage befindet man sich mit- normative Relevanz eingebüßt? ten im Kern der Diskussionen im Forum „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Verschiedene Beobachtungen scheinen diese Sexualität und Partnerschaft“. Diagnose zu bestätigen. Dem Autonomiebe- wusstsein der heutigen Menschen entspricht im Zwischen Vertiefung und Weiterentwicklung Bereich der Sexualethik ein normativer Ansatz, Blickt man auf die inhaltlichen Kontroversen im der als Verhandlungsmoral bezeichnet wird: Forum, so ist beachtlich, dass die geschilderte Im Bereich der Sexualität ist alles praktizierbar Diagnose von allen Seiten uneingeschränkt geteilt und erlaubt, solange die beteiligten Partner den wird. Es ist Konsens, dass sich die kirchlich gel- Praktiken zustimmen. Dies ist der – zumindest öf- tende Sexualmoral, humanwissenschaftliche und fentlich dargestellte – regulatorische Mainstream moraltheologische Erkenntnisse sowie das Moral- unserer Zeit. Ob eine Verhandlungsmoral immer empfinden einer Mehrheit der Gläubigen deutlich dazu geeignet ist, den jeweils schwächeren auseinanderentwickelt haben. Doch könnte die Partner ausreichend zu schützen, ist dabei eine daraus resultierende Konsequenz, wie mit dieser andere Frage. Die ubiquitäre Verfügbarkeit und Diagnose umzugehen ist, unterschiedlicher nicht von einer Mehrzahl der Jugendlichen konsumier- sein. Die verschiedenen bereits veröffentlichten ten pornografischen Clips leisten diesbezüglich ihr Dokumente belegen das eindrücklich. Übriges. Auf der einen Seite gibt es die Überzeugung, Die Kluft zwischen lehramtlich formulierter Se- dass die nach wie vor lehramtlich gültige Sexual- xualmoral und der Lebenspraxis vieler Menschen moral mit Blick auf eine humane Gestaltung ist spätestens seit den weltweiten Befragungen einer partnerschaftlichen Sexualpraxis und einer im Vorfeld der Weltbischofssynoden 2015 und christlichen Lebensführung keiner Revision be- 2016 zum Thema Familie schwarz auf weiß be- darf. Demnach entspricht es dem Wesen der kannt. Auch in seinem Apostolischen Schreiben Liebe, dass die noch Mitte der 1990er Jahre im „Amoris Laetitia“ bekennt Papst Franziskus, Weltkatechismus ausformulierte lehramtliche dass Katholikinnen und Katholiken die kirchliche Position zurecht besteht, wonach jeder sexuelle Sexualmoral als nicht immer hilfreich betrachten. Akt grundsätzlich für die Zeugung von Nachkom- Offensichtlich richten sich nicht wenige Gläubige menschaft offen zu sein hat. Unter vorwiegend in ihren Intimbeziehungen nicht nach den lehr- naturrechtlichen und anthropologischen Be- amtlich geltenden Normen. So recht hat das gründungszusammenhängen ist ein Unterbinden vor wenigen Jahren in Deutschland niemanden dieser Offenheit nicht erlaubt. Die Offenheit 14
sexueller Begegnung für die Zeugung von Kindern mehr Frau) kann Sex haben, ohne schwanger zu bringt es mit sich, dass jeder sexuelle Akt in der werden. Auch Liebe und Sexualität stehen nicht Ehe stattzufinden hat. Die geltende Lehre bedarf mehr zwingend in einem notwendigen inneren also keiner Weiterentwicklung, sondern einer Ver- Zusammenhang. tiefung. Sie bedarf in unserer Zeit neuer Formen und intensivierter Anstrengungen im Bereich der Für eine christlich begründete Beziehungsethik Vermittlung. Demnach handelt es sich um kein Begreift man diese Veränderungen nicht als Zeit- Relevanz-, sondern ein Vermittlungsproblem. geist, an den sich die Kirche anbiedert, sondern Dagegen steht die Überzeugung derjenigen, als geistgewirktes Zeichen der Zeit, ergibt sich die die eine Weiterentwicklung der Lehre für drin- Herausforderung an Theologie und Kirche, diese gend geboten halten. Sie gehen davon aus, dass aufzugreifen und zu deuten. Der vom Forum der enge Sinn- und Verweiszusammenhang von Sexualmoral derzeit zur Beratung in der Synodal- Liebe, Sexualität und Fruchtbarkeit in seinen hu- versammlung vorgelegte Textentwurf1 versucht, manen Aspekten für die Gläubigen mehrheitlich sexualethische Richtlinien entlang einer Bezie- nachvollziehbar gewesen sein mag, als tatsächlich hungsethik zu entwerfen, die einerseits diesen noch jeder sexuelle Akt zu einer Schwangerschaft Veränderungen Rechnung trägt, andererseits dem führen konnte. Vermutlich hat diese Normie- christlichen Liebesanspruch gerecht wird, ohne rung sogar mitunter dazu beigetragen, vor allem erneut in eine reine Verbotsmoral abzugleiten. Frauen durch die institutionelle Verankerung der Sexualität in der Ehe vor männlicher Willkür Über das gesamte Meinungsspektrum hinweg zu schützen. Sie hatte jedoch auch eine fatale herrscht im Forum große Einigkeit, dass eine Be- Folge: Die Deklarierung von Verhaltensweisen ziehungsethik auf der Grundlage des christlichen als (schwer) sündhaft, die dieser Norm nicht ge- Menschenbilds Werten wie Treue, Dauerhaftig- recht werden – auch innerhalb der Ehe – führte keit, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit, Ausschließ- zu einer Verlagerung der Suche nach Orientie- lichkeit sowie Verantwortungsübernahme der rung in sexuellen Fragen hinein in die Beichte. Partner füreinander und für die gemeinsame Dass dadurch ausgerechnet das Sakrament der Elternschaft gerecht zu werden hat. Schon allein Versöhnung zum Instrument wurde, mit dem zöli- dieser Wertekanon widerspricht jeglichen Formen batär lebende Kleriker Einblick und Eingriff in das sexuell beliebigen Verhaltens. Partnerschaftliches Intimleben von Paaren erhielten, hat in nicht un- und sexuelles Verhalten, das von der Austausch- erheblichem Maße zum Zustand der derzeitigen barkeit der Partnerin oder des Partners ausgeht, Beichtsituation beigetragen. Manche Berichte von werden diesen Werten ebenso wenig gerecht wie älteren Paaren haben im Forum Anlass gegeben polyamouröse Lebensformen. zu fragen, ob die katholische Kirche sich nicht vor- erst in sexualnormativer Hinsicht ein Schweigen Der entscheidende und in aller Offenheit dis- auferlegen sollte angesichts derartiger grenzüber- kutierte Konflikt betrifft die ethische Relevanz schreitender pastoraler Begegnungen. der verschiedenen Dimensionen der Sexualität. Während die lehramtliche Position die eindeutige Gleichwohl wird im Forum auch unter den Hinordnung der Sexualität auf die Zeugung von Vertretern einer Weiterentwicklung einer kirch- Nachkommenschaft festlegt, betont der aktuelle lichen Sexualmoral offen und kontrovers darum Textentwurf eine Polyvalenz der Sexualität. gerungen, wie der theologisch begründete Sinn- Dies bedeutet, dass sich im sexuellen Erleben und Verweiszusammenhang von Liebe, Sexualität verschiedene Dimensionen des Menschseins und Fruchtbarkeit in einer ethischen Normierung gleichwertig Ausdruck verschaffen. Dazu gehört gefasst werden kann. Humanwissenschaftliche Er- die Fruchtbarkeit genauso wie das Lusterleben, kenntnisse sollen dabei ebenso Berücksichtigung der partnerschaftliche Beziehungsaspekt und die finden wie die Veränderungen im sexualmorali- Erfahrungen der eigenen persönlichen und se- schen Empfinden der Menschen. Diesen Wandel xuellen Identität. Alle diese Dimensionen werden beobachten wir in den westlichen Industrienatio- gleichermaßen als Teil von Gottes guter Schöp- nen seit den 1960er Jahren. Denn spätestens mit fung betrachtet. Je nach individueller Lebens- der Erfindung der Pille löste sich dieser genannte situation, partnerschaftlicher Beziehungsphase wechselseitige Verweiszusammenhang von Liebe, und sexueller Identität erfahren sie eine je andere Sexualität und Fruchtbarkeit auf. Mann (viel- Gewichtung und Ausprägung. Erst im Laufe einer 15
Schwerpunkt gesamten biografischen und partnerschaftli- Blickt man auf die Diskussion im Forum Sexual- chen Entwicklung kommen alle Dimensionen zur moral hinsichtlich der Partnerschaftsformen, die vollen Entfaltung. Ein junges Paar vor der Ehe vorrangig im Blick sind, ist festzustellen, dass un- erlebt und genießt einzelne Dimensionen in ihrer ter Antidiskriminierungsaspekten der Umgang mit Ausprägung anders als ein Paar in der Phase der gleichgeschlechtlich liebenden Paaren besonders Familiengründung oder ein Paar nach Ende der im Blick ist. Dies ist einigermaßen überraschend, Familienphase. nachdem bis vor wenigen Jahren geschieden-wie- derverheiratete Paarkonstellationen im Zentrum Legt man einer Sexualmoral einen derartigen der Diskussion standen. Auch hier scheinen sich beziehungsethischen Ansatz zugrunde, spielt die gesellschaftliche Veränderungen abzubilden, die Frage nach unterschiedlichen partnerschaftlichen im Forum und in der Synodalversammlung im Dis- Phasen, sexuellen Orientierungen und auch part- kurs sind. Wie wir am Ende als katholische Kirche nerschaftlichen Modellen wie eine Eheschließung die vielen Mehrdeutigkeiten und Unvereinbarkei- nicht mehr die primäre Rolle. Im Vordergrund der ten – auch und vor allem im Bereich sexualethi- ethischen Bewertung steht vielmehr der Grad der scher Fragestellungen – bewältigen, müssen die Realisierung dieser beziehungsethischen Werte und weiteren Beratungen zeigen. sexualmoralischen Dimensionen. Auch homosexuell liebende Paare werden unter diesen Rücksichten betrachtet. 1 https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/ Dokumente_Reden_Beitraege/6.1_SV-II-Synodalforum-IV- Der ethische Anspruch ergibt sich aus dem Fakt, Grundtext-Lesung1.pdf (04.11.2021). dass jede einzelne Dimension der Sexualität in sich ambivalent ist und der persönlichen und partner- schaftlichen Gestaltung bedarf. So kann die Lust eine gemeinsame freudvolle Erfahrung darstellen, sie kann das Gegenüber aber auch für die eigene Lust verzwecken und sie oder ihn dadurch ver- fehlen. Selbst der Aspekt der Fruchtbarkeit ist nicht automatisch Ausdruck einer liebenden Weitergabe von Leben, sondern er kann zum Beispiel auch dem Versuch der Rettung einer Paarbeziehung ent- springen. Dieser werteorientierte Ansatz, wie er derzeit der Synodalversammlung vorgelegt wurde, liefert mit Blick auf die Diskussion besonders mit Jugend- lichen und jungen Menschen vielfältige Impulse. Mit Blick auf Argumente, die unter Autonomie- aspekten einer Verhandlungsmoral zuträglich sind, kann ein werteorientierter beziehungsethi- scher Ansatz sein humanes und humanisierendes Potential verdeutlichen und dadurch Orientierung anbieten. Wie dieser Neuansatz in der Sexualethik am Ende in der Synodalversammlung aufgenom- men werden wird, bleibt abzuwarten. Denn trotz aller Forderungen nach einem Neuansatz bedeutet Weiterentwicklung auch die Beachtung des Aspekts Dr. Markus Wonka der Kontinuität – vor allem in einer Theologie, in Bischöflich Münstersches Offizialat Leiter der Abteilung Seelsorge und der das Traditionsargument für sich Beachtung Seelsorge-Personal beanspruchen darf. Dazu zählt auch, inwiefern der Berater im Forum IV des Synodalen Weges „Leben in gelingenden Be- besonderen Bedeutung der Ehe als herausgeho- ziehungen – Liebe leben in Sexualität bener sakramentaler Lebensform des Glaubens und Partnerschaft“ ausreichend Rechnung getragen werden kann. markus.wonka@bmo-vechta.de 16
SEXUALETHISCHE FRAGEN IM RELIGIONSUNTERRICHT EIN SCHREIBGESPRÄCH MIT BISCHOF DR. FELIX GENN UND GABRIELE OTTEN Der aktuelle Kernlehrplan (KLP) Katholische Re- unserer Schülerinnen und Schüler die praktische ligionslehre für das Gymnasium G9 (2019) greift Dimension des Glaubens zu thematisieren. Und das Thema der sexuellen Bildung wieder explizit zur Lebenswelt gehören Fragen der Liebe, der auf. Nachfragen zeigen, dass die Thematik in Sexualität und der Gestaltung von Beziehungen. vielen Kollegien für Verunsicherung sorgt. Aus diesem Anlass hat die Redaktion von KIRCHE KIRCHE UND SCHULE UND SCHULE die Fachleiterin und Fachberaterin Warum ist aus Sicht der Lehrplankommission Gabriele Otten, die zugleich Mitglied der Lehr- das Thema Sexualität und damit der Bereich der plankommission war, und unseren Bischof Dr. katholischen Sexualethik ein wichtiger Bereich für Felix Genn um ein Gespräch gebeten. Unsere den katholischen Religionsunterricht? ersten Fragen richteten sich an Gabriele Otten als Mitglied der Lehrplankommission. Auf ihre GABRIELE OTTEN Ausführungen und Fragen hin ergab sich ein Ge- Die verantwortungsvolle Gestaltung der eigenen dankenaustausch mit Bischof Dr. Felix Genn. Sexualität und der Beziehung zu anderen ist eine wichtige Aufgabe, die Jugendliche zu lernen KIRCHE UND SCHULE und zu bewältigen haben. Und dazu sollten wir Was sind die Gründe dafür, das Thema Sexualität mit unserem Fach einen Beitrag leisten. Die Be- und damit die katholische Sexualethik wieder fähigung zur Übernahme von Verantwortung für im Lehrplan zu verankern und was erhofft man sich, für andere und vor Gott und die Begleitung sich – gegebenenfalls auch aus anderen Unter- in diesem Prozess waren und sind unsere Anlie- richtsfächern heraus und aus der Perspektive der gen. Wichtig ist es bei diesen Themen, nicht mit „Lehrplanmacher“ – von diesem Themenbereich dem moralischen Zeigefinger daherzukommen, im Religionsunterricht? sondern den Fokus auf das Gelingen des eigenen Lebens und seiner vielfältigen Beziehungen zu GABRIELE OTTEN legen. Sehr früh wurde bei der Lehrplanarbeit (Gym- nasium Sek. I) die Bitte des Referats beziehungs- Viele Kolleginnen und Kollegen waren nicht weise der Lehrplankommission Biologie an uns sehr begeistert, als das Thema wieder aufgenom- herangetragen, das Thema „Sexualethik“ in den men wurde – auch vor dem Hintergrund, dass Lehrplänen Evangelische Religionslehre und Ka- die kirchliche Sexualmoral von vielen eher als tholische Religionslehre aufzunehmen, auch um lebensfeindlich denn als lebensfreundlich wahrge- den KLP Biologie zu „entschlacken“. nommen wird. Fragen nach der Enge kirchlicher Positionen und der Glaubwürdigkeit der Kirche Das allein sollte kein Grund sein, das Thema im Bereich der Sexualmoral wurden gestellt. Sexualethik in den Kernlehrplänen aufzugreifen. Religionsunterrichtende geraten dabei schnell in Bei der Überarbeitung beziehungsweise Neu- Loyalitätskonflikte mit der Amtskirche und haben fassung des Kernlehrplans für die Sekundarstufe Authentizitätsprobleme. I des Gymnasiums haben wir uns bemüht, die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu KIRCHE UND SCHULE berücksichtigen, theologische Inhalte lebens- Welches sind die Perspektiven, unter denen aus weltbezogen zu konkretisieren, – das heißt an reli- Ihrer Sicht diese Thematik im Lehrplan verankert giösen und ethischen Fragen aus der Lebenswelt ist? 17
Schwerpunkt GABRIELE OTTEN sondern als ein wichtiger Lebensbereich junger Stark gemacht werden der Gedanke der eigenen Menschen im Religionsunterricht besprochen Verantwortung und die Bedeutung des Gewis- werden kann und laut Lehrplan auch besprochen sens sowie der Unterscheidungsfähigkeit, was werden soll. Nur indem die Wirklichkeit angeschaut zum Gelingen des Lebens beiträgt und was nicht. und besprochen wird, ist eine kritische Unterschei- Bei deren Förderung soll auch „der Lehre der dung und eine Hilfe zur Entscheidung möglich. Hilfe Kirche eine Chance gegeben werden“, wie es die zur Entscheidung zu geben wäre aus meiner Sicht Schulabteilung des Bischöflichen Generalvikariats ein wichtiges Ziel für den Religionsunterricht. bei Gesprächen Referendarinnen und Referenda- ren mit auf den Weg gibt. Es gibt viele Bereiche, Deshalb ist es wichtig, den Ausgangspunkt richtig die es lohnt zu thematisieren – die Prägung des zu setzen. In der Vorstellung vieler Menschen, auch Menschen durch seine Sexualität, Leiblichkeit als von Jugendlichen, hat die Kirche zum Bereich der Teil des christlichen Menschenbildes, Sexualität sexuellen Bildung außer Verboten nichts zu sagen. als Sprache der Partnerschaft und Liebe, die Be- Das ist aber eine verkürzte Sicht. Deshalb denke ich, deutung von Treue und Verlässlichkeit, … dass es in erster Linie nicht darauf ankommt, einzel- ne Verhaltensweisen kasuistisch aufzuschlüsseln, Bevor ich eine Frage an Sie, Herr Bischof, rich- sondern eine „Grundmelodie“ zu benennen und te, möchte ich zunächst eine Erfahrung schildern den Jugendlichen mitzugeben. Sexualität ist in den und bin gespannt auf Ihre Einschätzungen dazu: Augen der Kirche eine Gabe und ein Wert. „Alles, Ich habe im letzten Jahr in einer Jahrgangs- was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist stufe 10 die Erfahrung gemacht, dass viele der verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird“ Fragestellungen rund um das Thema Sexualität heißt es in 1 Tim 4,4. für Schülerinnen und Schüler keine Fragen der Moral, sondern eher der Konvention sind. Und Weil es sich um einen sehr intimen Bereich ich habe selten so deutlich erlebt, dass eine Lern- handelt, der jeden einzelnen Menschen bis in das gruppe mehr oder weniger geschlossen angab, Innerste hinein prägt, braucht er auch Schutz. Die von kirchlicher Seite keine hilfreichen Positionen kirchlichen Normen im Blick auf die Sexualität sind oder Impulse zu erwarten. Im Unterricht habe Grenzziehungen, um zu ermöglichen, dass die Wür- ich dann Auszüge aus dem Vortrag von Eber- de jeder einzelnen Person gewahrt bleibt. hard Schockenhoff eingesetzt, den er 2019 auf der FrühjahrsVollversammlung der Deutschen Dabei ist mir ein weiterer Aspekt besonders Bischofskonferenz vor den deutschen Bischöfen wichtig, nämlich dass Sexualität und Liebe zusam- gehalten hat und der für viel Wirbel gesorgt hat, menhängen. Sexualität sollte Ausdruck von Treue, weil er auch Empfehlungen zur Reform der kirch- tiefer Hingabe an und Liebe zu einem anderen lichen Sexualmoral beinhaltete.2 Die Schülerin- Menschen sein. Weil sie mit großer Lust verbunden nen und Schüler fanden den Vortrag interessant, ist, besteht die Gefahr, dass sie ausschließlich der kritisierten aber, dass die deutschen Bischöfe Befriedigung seiner selbst und nicht der gemein- „auf solche Selbstverständlichkeiten“ hingewie- samen Freude mit dem anderen dient. Daraus erge- sen werden müssten. ben sich dann im Einzelnen Fragestellungen, die für junge Menschen durchaus heikel sind, ihnen aber Das heißt: Theoretisch ist das Thema gut be- zur Unterscheidung helfen können. Ich möchte die gründbar und lohnend, in der Praxis stellt es die Un- Religionslehrerinnen und Religionslehrer bitten, die terrichtenden vor erhebliche Herausforderungen. Lehre der Kirche ins Spiel zu bringen und in aller Vor diesem Hintergrund würde mich interessieren: Offenheit mit den Schülerinnen und Schülern über Was erwarten Sie als Bischof und damit Repräsen- deren Positionen und Gedanken, aber auch über tant der Kirche konkret von jungen Menschen bei die Grundbotschaft der kirchlichen Sexuallehre zu der „verantwortungsvollen Gestaltung der eigenen diskutieren. Sexualität“? Was würden Sie ihnen mit auf den Weg geben? GABRIELE OTTEN Für Unterrichtende ist das Thema auch aus einem BISCHOF DR. FELIX GENN anderen Grund sehr „sperrig“: Kolleginnen und Ich stimme Ihren Ausführungen zu, Frau Otten. Ich Kollegen nehmen dabei – und das kann ich gut bin froh, dass dieses Thema nicht umgangen wird, verstehen – eine Diskrepanz zwischen kirchlichen 18
Aussagen über Sexualität (und Homosexualität) als Dimensionen der Sexualität in den Blick nimmt und dem wahr, was im Rahmen des allgemeinen – und damit die unterschiedlichen Dimensionen Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule unter- Freude, liebevolle Begegnung, aber eben auch den stützt und angebahnt werden soll, nämlich eine Zeugungszweck; Liebe ist mehr als ein Konsumgut. Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Die Form, die die Enzyklika dazu groß macht, ist die Was sagen Sie Religionsunterrichtenden, die bei des ehrlichen Dialogs. Das ist die Herausforderung. solch heiklen Themen Loyalitäts- und Authentizi- tätsprobleme haben? GABRIELE OTTEN Ich stimme Ihnen zu, Herr Bischof Dr. Genn, dass BISCHOF DR. FELIX GENN die Vorstellung, dass „die Kirche in diesem Bereich Ich bin sehr dankbar für das, was unsere Religions- außer Verbote nichts zu sagen“ hat, eine verkürzte lehrerinnen und Religionslehrer leisten. Besonders Sicht ist, der es im Religionsunterricht entgegenzu- bei dieser Thematik bringt es sie zuweilen in eine treten gilt, indem die „Grundmelodie“ angespro- arge Spannung zwischen der Lebenswelt der Schü- chen wird, die kirchlicher Sexualethik zugrunde lerinnen und Schüler und dem, was sie als Vertrete- liegt. Ich kann mir vorstellen, dass viele Religions- rinnen und Vertreter der kirchlichen Lehre vermit- lehrerinnen und Religionslehrer einer ähnlichen teln. Deshalb ist es wichtig, dass sie wissen: Ich, der Auffassung sind. Bischof, freue mich, dass sie trotzdem diesen Dienst tun und bin dafür außerordentlich dankbar. Ich Sicherlich ist es auch so, dass viele Sichtweisen verstehe, dass es im Zusammenhang einiger kirch- und Fragestellungen (nicht nur) für junge Men- licher Moralvorstellungen im Einzelnen zu Loyali- schen heikel und lebensfremd sind beziehungs- tätsproblemen kommen kann. Hier ist es wichtig, weise erscheinen, aber eine Auseinandersetzung dass die Religionslehrerinnen und Religionslehrer mit anderen Perspektiven, die es zu würdigen gilt, sich mit aktueller moraltheologischer Literatur aus- einen Beitrag zur Entwicklung der eigenen Identität einandersetzen. Auf die kirchliche Lehre sollten sie und Verantwortung, auch im Bereich der eigenen das ignatianische Motiv, „die Meinung des anderen Sexualität, leisten kann. zu retten“, anwenden. Sie sollten versuchen, darin eine Spur zu sehen, den Willen Gottes in der Nach- Trotzdem bleibt die Herausforderung für folge Christi zu erkennen. Auch hier geht es mir um Religionsunterrichtende, dass die „Amtskirche“ das Ringen darum, der Schöpfungsgabe Sexualität durchaus einen großen Anteil daran hat, warum mit Respekt, Ehrfurcht und dankbarer Hingabe zu das grundsätzlich positive Grundanliegen nur mit begegnen. Dies als Grundaspekte der kirchlichen großen Schwierigkeiten vermittelbar ist. Sie verwei- Sexuallehre in die Diskussion mit Schülerinnen und sen auf das Schreiben „Amoris laetitia“, das mit viel Schülern einzubringen halte ich für wichtig. Zustimmung und auch Erleichterung aufgenommen Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang einen wurde. Aber die Bereitschaft von Schülerinnen und Hinweis: Die Fragen werden in der Moraltheologie Schülern, sich in Grundzügen mit einem solchen zum Teil einhellig, zum Teil aber auch kontrovers Schreiben auseinanderzusetzen, sinkt, wenn in diskutiert. Meines Erachtens findet die Theologie Rom Verbote ausgesprochen werden, indem zum des Leibes in Deutschland nur wenig Aufnahme, Beispiel – wie im März dieses Jahres – bekräftigt wäre aber sehr hilfreich, um eine personalistische wird, dass die Kirche nicht die Vollmacht habe, Ver- Sicht auf diese Thematik zu lenken. Im Übrigen bindungen von Personen gleichen Geschlechts zu verweise ich auch auf die Aussagen der Würzburger segnen. Die Thematisierung sexualethischer Fragen Synode und vor allem auf das Apostolische Schrei- wird im Religionsunterricht durch solche Verlaut- ben von Papst Franziskus „Amoris laetitia“, wo barungen schwieriger. Schülerinnen und Schüler meines Erachtens zum ersten Mal die gesamte ero- sind dann immer weniger bereit, differenziert auf tische Dimension der Sexualität von einem Reprä- verschiedene (andere) Themen der Sexualethik zu sentanten des kirchlichen Lehramts breit entfaltet schauen: Ihre Vorurteile werden immer größer und wird. Diese Enzyklika beschreibt aus meiner Sicht die ohnehin fast nicht vorhandenen Erwartungen einen Weg, um dem von mir gerade angeführten lohnender und tragfähiger kirchlicher Orientie- Motiv „die Meinung des anderen retten“ gerecht rungen und Impulse sinken noch weiter. Mir ist zu werden: Sie fordert eine Sexualerziehung, die klar, dass es auch andere Positionen in der Kirche nicht nur „Verhütung“ und „safer sex“ zum Inhalt und Theologie gibt und immer wieder auf die Be- hat, sondern die Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit deutung des Gewissens verwiesen wird – aber es 19
Schwerpunkt bauen sich schon Hürden auf. Und auch eine breite Menschen, auch von Religionslehrerinnen und Einarbeitung in diese Fragen und die Tatsache, dass Religionslehrern auch angesichts der Lebenssitua- es kontroverse Diskussionen gibt, entlasten Reli- tion der Menschen artikuliert werden. Das kann ein gionsunterrichtende hier nicht. Zumal ja die Glaub- guter Beitrag zur Weiterentwicklung der kirchlichen würdigkeitskrise, in der sich die Kirche befindet, die Lehre sein. Der Erfolg ist dabei nicht abzusehen, Schwierigkeiten noch verstärkt. aber ich setze auf eine gute Frucht aus der Kraft des Heiligen Geistes. Viele setzen große Hoffnungen auf die Ergeb- nisse des Synodalen Weges. Auch im Bereich der Sexualethik wird ein Reformbedarf thematisiert, 1 Der neue Kernlehrplan ist zu finden unter https://www. der sich aus der Umstrittenheit der kirchlichen Se- schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplan/204/g9_kr_ xuallehre und ihrer Diskrepanz zur Lebenswelt der klp_3403_2019_06_23.pdf (25.11.2021). Gläubigen ergibt. Ich beziehe mich auf die Vorlage 2 Vgl. https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_down- loads/presse_2019/2019-038d-FVV-Lingen-Studientag-Vor- zur Zweiten Synodalversammlung vom 30. Septem- trag-Prof.-Schockenhoff.pdf (25.11.2021). ber bis 2. Oktober 2021.3 3 https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/ Dokumente_Reden_Beitraege/6.1_SV-II-Synodalforum-IV- Gut gefällt mir beispielsweise die Betonung, dass Grundtext-Lesung1.pdf (25.11.2021). die verantwortungsvolle Gestaltung von Sexualität Ausdruck menschlicher Freiheit und wichtiger Teil der personalen Identität ist, dass zur Würde auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gehört, dass dem Grundauftrag der Kirche auch die Ach- tung der sexuellen Identität entspricht. „Aufgewertet“ werden in dieser Vorlage gleich- geschlechtliche Beziehungen. Wichtig finde ich unter anderem das Votum, dass homosexuelle Paare und Menschen, die nach dem Scheitern einer Ehe eine neue Partnerschaft eingehen, unter den Segen Gottes gestellt werden können. In beiden Situationen finden sich auch Religionsunterrichten- de wieder. Daher meine Frage: Wie schätzen Sie die „Erfolgsaussichten“ der in diesem Papier formulier- ten Voten ein? BISCHOF DR. FELIX GENN Ich kann die Erfolgsaussichten der Vorlage des Syn- odalforums IV nicht einschätzen, weil ich weiß, wie kontrovers dieser Text aufgenommen und diskutiert wird, und zwar nicht nur von Bischöfen, sondern auch von gläubigen Laien. Daher ist es notwendig, Bischof Dr. Felix Genn hier zu einem Text zu kommen, der gewissermaßen einwandfrei ist. Im Übrigen geht diese Vorlage da- von aus, dass wir das nur im Verbund mit der uni- versalen Kirche besprechen und zur Entscheidung Gabriele Otten führen können. Deshalb setzt dieses Papier voraus, Fachleiterin für Katholische Religions- dass wir als deutsche Kirche – sowohl Bischöfe als lehre am Zentrum für schulpraktische auch die übrigen Vertreterinnen und Vertreter der Lehrerausbildung Rheine Fachberaterin für Katholische Reli- Synodalversammlung zu einem Text finden, der gionslehre für die Bezirksregierung es wert ist, weitergeleitet zu werden, damit er auf Münster der Ebene der Weltkirche breit diskutiert wird. Dabei spielen wir eine wichtige Rolle, weil wir die Reaktionen und Anfragen zu diesem Artikel können Sie an Argumente anführen, die seit Jahren von vielen kus@bistum-muenster.de senden. 20
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