PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger

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PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
2b AHEAD Zukunftsstudie
DIE ZUKUNFT DER

                                            Juni 2021
PRÄVENTION
Jacqueline Zimmermann
Jan Berger
PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
VORWORT                                                                    3
INHALTSANGABE

                SUMMARY & KEY TAKE-AWAYS                                                   5
                PRÄAMBEL                                                                   8
                PRÄVENTION – EINE ZUKUNFTSFÄHIGE DEFINITION                                11
                GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION                                      14
                   Der Staat als Gesundheitsdienstleister                                  15

                   Prävention: kommunal, greifbar, individuell                             16

                   Anlaufstellen neu interpretiert                                         17

                   Exkurs 1: Smarte Communities                                            20

                   Gesundheitsdatens(ch)atz                                                23

                TECHNOLOGISCHE MÖGLICHKEITEN                                               27
                   Die Zukunft ist schon da                                                28

                                                                                                DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                   Ein Paradigmenwechsel für Big Pharma                                    29

                   Bessere Möglichkeiten brauchen bessere gesellschaftliche Debatten       30

                   Lebensverlängerung                                                      31

                   KI-Diagnostik                                                           34

                   Exkurs 2: Gegen Verschwendung                                           35

                   Der Mensch als digitaler Zwilling                                       36

                   Exkurs 3: Digital Twins die empowern                                    38

                SYSTEMISCHE HÜRDEN UND BLOCKIERER                                          39
                   Daten- und Informationsschutz                                           40

                   Abbau von Gesundheitssilos                                              42

                FAZIT                                                                      44
                HANDLUNGSAPPELLE                                                           46
                EXPERTEN                                                                   48
                METHODIK                                                                   56
                ENDNOTEN                                                                   59
                IMPRESSUM                                                                  62

                                                                                       2
PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
Liebe Leserinnen und Leser,                        Doch wie werden wir in Zukunft leben? In den
                                                             nächsten drei bis vier Jahrzehnten wird unsere
          die Welt verändert sich in einer Geschwin-         Gesellschaft eine überwiegend alte sein – über
VORWORT

          digkeit, die wir vor einigen Jahren noch nicht     die Hälfte der Bevölkerung wird älter sein als
          für möglich gehalten haben. In den letzten 30      45 Jahre. Die durchschnittliche Lebenserwar-
          Jahren sehen wir ganz neuartige Entwicklun-        tung wird an der 90-Jahre-Marke kratzen. Ist
          gen – von politischen Systemen bis hin zu den      es da noch zeitgemäß, ein Gesundheitssystem
          Technologien, die unser Leben und Arbeiten         zu perfektionieren, das in seinem Wesen auf
          grundlegend neugestalten. Unsere altbewährten      die Bereitstellung medizinischer Versorgung im
          Systeme müssen sich in vielen Lebensbereichen      Krankheitsfall für alle ausgelegt ist? Die Inno-
          den neuen Gegebenheiten anpassen.                  vativen unter den Krankenkassen haben diese
                                                             Frage schon vor Jahren klar verneint und befas-
          Unser Gesundheitssystem wurde vor über 100         sen sich intensiv mit Veränderungen ihrer An-
          Jahren entwickelt und ist eine Erfolgsgeschich-    gebote, die es ihren Versicherten ermöglichen,
          te, um die man uns in der Welt beneidet. Es ent-   nicht nur ein langes, sondern vor allem ein lan-
          stand vor dem Hintergrund der Arbeits- und Le-     ges und gesundes Leben zu führen.
          bensbedingungen des Industriezeitalters Ende
          des 19. Jahrhunderts. Der größte Teil der deut-    Die vorliegende Studie „Die Zukunft der Prä-
          schen Bevölkerung war jung und die Lebenser-       vention“ beleuchtet diese Veränderungen.
          wartung lag Jahrzehnte unter der heutigen. Wer     Technologische Sprünge, angetrieben durch In-
                                                             formationstechnologien und gigantische Fort-

                                                                                                                DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
          damals für die Gesundheit der breiten Masse
          sorgen wollte, hat sich mit der Frage befasst,     schritte z.B. in der Genetik, ermöglichen uns
          wie der Zugang zu medizinischer Versorgung         heute schon eine viel bessere Diagnostik, Ein-
          für alle sozial gerecht gewährleistet werden       dämmung und Vermeidung von Krankheiten,
          kann. Allen Veränderungen zum Trotz ist diese      bevor sie auftreten und eine auf jeden einzel-
          Frage für die gesetzliche Krankenversicherung      nen Menschen angepasste Gesundheitsplanung
          auch heute noch aktuell.                           und im Krankheitsfall auch Therapie. Doch
                                                             beleuchtet diese Studie nicht nur die Möglich-
                                                             keiten, die technologischer Fortschritt mit sich
                                                             bringt, sondern auch die Frage, wie wir die-
                                                             sen für alle nutzbar machen können. Diese He-
                                                             rausforderung ist nicht durch Technologie zu
                                                             bewältigen. Sie zu meistern heißt, das System
                                                             Gesundheit mit all seinen Akteur:innen neu zu
                                                             denken. Neue Gesetze und Regelwerke, neue
                                                             Geschäftsmodelle sowie neue Formen von Bil-
                                                             dung und Aufklärung zu entwickeln, die schon
                                                             in der Kindheit eines Menschen ansetzen, um
                                                             ihn ein ganzes Jahrhundert lang gesund zu er-
                                                             halten.

                                                                                                      3
PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
Die Zukunftsforscher:innen von 2b AHEAD
          haben im vergangenen halben Jahr mögliche
          Zukünfte eines präventiven Gesundheitssys-
VORWORT

          tems erforscht. Im Rahmen dieser Arbeit wur-
          den Tiefeninterviews mit über 20 Expert:innen
          aus Deutschland, Europa und Amerika geführt,
          die heute schon daran arbeiten, Angebote und
          Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Ge-
          sunderhaltung der Menschen in den Mittel-
          punkt stellen.

          Diese Studie erörtert Aspekte möglicher Zu-
          künfte und wirft Fragen auf, auf die wir als
          Gesellschaft im Dialog Antworten finden müs-
          sen. Für die AOK PLUS beinhaltet die Studie
          wichtige Ansätze, um für die Gesundheit ihrer
          Versicherten in den Dialog mit Politiker:innen,
          Unternehmen der Gesundheitswirtschaft, Ge-
          sundheitsakteur:innen und Nutzer:innen zu tre-
          ten und realisierbare Ansätze zu finden, um die
          Zukunft gemeinsam zu gestalten. Wir hoffen,

                                                                 DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
          dass die Studie einen Beitrag dazu leisten wird,
          unser Gesundheitssystem für ein deutliches
          Mehr an Gesunderhaltung zu öffnen.

          Ihre

                                Jan Berger

                                Dr. Stefan Knupfer
                                Vorstand der
                                AOK PLUS

                                Jacqueline
                                Zimmermann

                                                             4
PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
SUMMARY & KEY TAKE-AWAYS
PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
SUMMARY & KEY TAKE-AWAYS                          Alltagsrelevante Gamification-Ansätze und in-
                                                                             telligentes ‚Nudging‘1 werden hier unterstützen
                           Prävention als ganzheitliches Konzept             und die Stärkung der Gesundheitskompetenz
SUMMARY & KEY TAKE-AWAYS

                           Damit Krankenkassen und die Akteure des Ge-       vorantreiben. Ärzte können hier einen großen
                           sundheitssystems den Menschen in Zukunft da-      Beitrag bei Beratung und Begleitung von Prä-
                           bei helfen können, ihren individuell maximalen    ventionsmaßnahmen leisten, sofern Prävention
                           Gesundheitszustand zu erreichen und beizu-        eine stärkere Honorierung in der Gebührenord-
                           behalten, muss Prävention als übergeordnetes      nung für Kassenärzte findet.
                           und alle Lebensbereiche betreffendes Konzept
                           verstanden werden. Der Staat muss es sich zur     Individualisierung dank Digitalisie-
                           Aufgabe machen, alles Handeln an der Gesund-      rung
                           erhaltung der Bürger auszurichten. Das betrifft   Die Verbreitung von Wearables, Gadgets und
                           sowohl gesundheitsfördernde urbane Lebens-        digitalen Gesundheitsanwendungen steigt in
                           raumgestaltung, inklusive Gebäude- und Quar-      Zukunft erheblich. Gesundheitsdaten wie Blut-
                           tiersplanung, einen niedrigschwelligen Zugang     druck, Herzfrequenz oder Temperatur können
                           zu ÖPNV, als auch eine angemessene finanziel-     so kontinuierlich getrackt und Probleme früh-
                           le Ausstattung der Kommunen. Erst wenn dies       zeitig erkannt werden. Maßnahmen zur Ge-
                           als übergeordnetes Ziel erkannt wird, werden      sunderhaltung werden zielgerichteter getroffen
                           Maßnahmen effektiv umgesetzt und unterein-        und die Lebensqualität der Menschen deutlich
                           ander abgestimmt. Damit diese Umsetzung ge-       verbessert. Ob zuhause, im Büro oder im Auto
                                                                             – dank moderner Sensorik ist der Gesundheits-

                                                                                                                                DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                           lingt, brauchen die Menschen einen objektiven
                           Rechtsanspruch auf Prävention, damit sie auch     zustand im digitalen Zwilling der Menschen in
                           tatsächlich Unterstützung bekommen, bevor der     allen Lebensräumen erfassbar.
                           Schaden eintritt.                                 Die anonymisierte Weitergabe der gewonnenen
                                                                             Daten könnte in Zukunft von Krankenkassen fi-
                           Das Individuum im Mittelpunkt                     nanziell belohnt werden. Mit dem Einverständ-
                           Auch wenn umfassende Prävention nicht los-        nis der Menschen kann auch die Pharmafor-
                           gelöst von der Gemeinschaft funktioniert, wird    schung die gesammelten Informationen nutzen
                           in Zukunft die Förderung der Gesundheitskom-      und die Entwicklung maßgeschneiderter Thera-
                           petenz des Individuums im Mittelpunkt stehen.     pien ermöglichen. Das Geschäftsmodell „eine
                           Eine großangelegte Aufklärung über die Sinn-      Pille für alle“ hat ausgedient. ‚Pay for Perfor-
                           haftigkeit von Prävention ist hier wesentlich,    mance‘ wird der neue Standard.
                           damit Menschen den konkreten Mehrwert einer
                           gesünderen Handlungsweise verstehen können.

                                                                                                                      6
PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
Ein besserer Datenschutz
                           Je mehr Gesundheitsdaten vorhanden sind, des-
                           to individueller und effektiver kann Problemen
SUMMARY & KEY TAKE-AWAYS

                           vorgebeugt werden. Hierfür wird sich jedoch
                           die Datenschutzdebatte grundsätzlich wandeln
                           müssen. Gerade in Deutschland gilt der strengs-
                           te Datenschutz nach wie vor als der effektivste.
                           Eine konstruktive Diskussion über die sinnvolle
                           Nutzung von ohnehin gesammelten Daten und
                           die Umwandlung in wertvolle Information wird
                           so im Keim erstickt und den Menschen eine
                           Aufklärung über den möglichen Mehrwert ver-
                           wehrt. Zukünftig wird der Austausch von Da-
                           ten zum Teil des Solidarprinzips. Während die
                           Politik heute die Verwendung von Daten strikt
                           vorschreibt oder verweigert, wird in Zukunft
                           das Individuum selbst über die Nutzung der ei-
                           genen Informationen entscheiden dürfen.

                           Ein (langes) Leben ohne Krankheit?

                                                                                  DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                           Die Fortschritte der Anti-Seneszenz-Therapien
                           und der Gentechnik werden bahnbrechende Ent-
                           wicklungen mit sich bringen. Fast jede Krank-
                           heit – Krebs, Herzerkrankungen, Demenz – hat
                           als hervorstechenden Risikofaktor das Alter.
                           Dank der rasanten Fortschritte von Anti-Senes-
                           zenz-Therapien werden altersbedingte Krank-
                           heiten in Zukunft frühzeitig vermieden.

                           Modernisierung als Pflichtaufgabe
                           Damit die gesamtgesellschaftliche Aufgabe Prä-
                           vention gelingen kann, müssen Silos im Ge-
                           sundheitswesen abgebaut werden. Akteure sind
                           in Zukunft untereinander vernetzt. So wird auch
                           die Evaluation erleichtert. Krankenkassen-über-
                           greifende Zusammenarbeit ist hier unerlässlich.
                           Dies setzt eine moderne und zeitgemäße digi-
                           tale Ausstattung aller Akteure im Gesundheits-
                           system voraus, um eine effiziente Kommunika-
                           tion und Ressourcenverteilung zu ermöglichen.
                           Die Modernisierung der Kommunikationstech-
                           nologien wird hier zur Pflicht – auch von staat-
                           licher Seite.

                                                                              7
PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
PRÄAMBEL
PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
Präambel                                                              Das zugrundeliegende Solidarsystem stammt
                                                                                                           aus einer Zeit, in der nur die wenigsten Men-
                                     Seit nunmehr fast 140 Jahren ist das Hauptziel                        schen lange ihren Ruhestand genießen konnten
PRÄAMBEL

                                     von (gesetzlichen) Krankenversicherern, Kran-                         und die Geburtenrate die Sterbefälle mehr als
                                     ke zu versorgen, gesundheitliche Beschwerden                          ausgleichen konnte.
                                     zu heilen und Menschen im arbeitsfähigen Al-
                                     ter bei Krankheit möglichst schnell wieder in                         Dieses System stößt heute – mit sinkenden Ge-
                                     die Betriebe zu bringen.                                              burtenraten und einer immer älter werdenden
                                                                                                           Bevölkerung an seine Grenzen. Schon heu-
                                     Der Fokus liegt auf Kuration oder, zugespitzt                         te sind fast 50 Prozent der Bevölkerung älter
                                       formuliert, auf Wiederherstellung von Ar-                           als 45 Jahre.2 Während der erste Gesundheits-
                                               beitsfähigkeit, neben der finanziellen                      markt die klassische Gesundheitsversorgung
                                                      Absicherung im Krankheits-                           umfasst, finanziert überwiegend durch gesetz-
                                                           fall.                                           liche oder private Krankenversicherer, ist es
                                                                                                           der zweite bzw. dritte Gesundheitsmarkt der ra-
                                                                                                           sant wächst. Der zweite Gesundheitsmarkt zählt
                                                                                                           alle überwiegend privat finanzierten Angebote,
                                                                                                           wie Fitnessstudio-Mitgliedschaften, Gadgets,
                                                                                                           Sportgeräte, Nahrungsergänzungsmittel oder
                                                                                                           frei verkäufliche Arzneimittel.3 Der sich der-
                                                                                                           zeit abgrenzende dritte Gesundheitsmarkt ist

                                                                                                                                                               DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                                                                                           nicht abschließend definiert, basiert aber haupt-
                                                                                                           sächlich auf dem Datenfluss, den die Akteu-
                                                                                                           re des Gesundheitswesens produzieren4. Auf
                                                                                                           diesen Märkten spielen staatliche Maßnahmen
                                                                                                           aber schon heute nur eine untergeordnete Rolle
                                                                                                            und verstärken so das Risiko einer Zweiklas-
                                                                                                              sengesellschaft zwischen denen, die sich oh-

          240                                         MILLIARDEN
                                                                                                               nehin privat versorgen können und denen,
                                                                                                                die dazu nicht ausreichend Mittel haben.

                                                      EURO                                                      Es ist unstrittig, dass Krankenversiche-
      Gesamtaufwendungen gesetzlicher Krankenversicherer                                                        rer auch in Zukunft die Bereitsteller von
                                                                                                                 Heilung bleiben. Aber die aktuellen Ent-
                                                                                                                 wicklungen erfordern darüber hinaus
                                                                                                                 die Gewährleistung eines möglichst
                                                                                                                 langen und gesunden Lebens. Moderne
                                                                                                                  Medizin und Technologie liefern dazu
                                                                                                                  das Handwerkszeug.
                                                                                   0,25 % werden für
                                                                                   Prävention ausgegeben          Für Krankenversicherer bedeutet das
                                                                                                                  einen Paradigmenwechsel von Krank-
                                                                                                                 heitsversorgung hin zu Prävention und
                                                                                                                 Gesunderhaltung und damit auch von
                                                                                                                Kranken- zu Gesundheitsversicherungen.
                                                                                                               Der Weg dahin ist weit. Stand heute wer-
                                                                                                              den nur etwa 0,25 Prozent der Gesamtauf-
                                                                                                             wendungen gesetzlicher Krankenversiche-
                                                                                                            rer von rund 240 Milliarden €5 für Prävention
                                                                                                           bzw. Gesunderhaltung ausgegeben.

Quelle:

https://www.gkv-spitzenverband.de/service/zahlen_und_grafiken/gkv_kennzahlen/gkv_kennzahlen.jspde/

                                                                                                                                                     9
PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
Die gemeinsame Studie von AOK PLUS und 2b
           AHEAD widmet sich daher der Frage, wie die-
           ser Paradigmenwechsel gelingen kann und wel-
PRÄAMBEL

           che Akteure dabei mitwirken wollen, soll(t)en
           und könn(t)en. Sie untersucht, welche techno-
           logischen Entwicklungen dabei zukünftig von
           Bedeutung sind und welche gesellschaftlichen
           Debatten das erfordert. Außerdem werden Hür-
           den adressiert, die in diesem Fall vor allem sys-
           temischer und politischer Natur sind.

           So viel vorab: Bei genauerem Hinsehen ent-
           puppt sich die Gewährleistung eines individuell
           möglichst langen und gesunden Lebens als ge-
           samtgesellschaftliche Aufgabe. Machen wir uns
           also nichts vor, eine Krankenversicherung und
           ein Zukunftsinstitut allein können diese Mam-
           mutaufgabe nicht schultern, aber sie können
           mögliche Zukünfte aufzeigen, Handlungsspiel-
           räume darstellen und vor allem einen öffentli-
           chen Diskurs anregen. Nichts Geringeres ist das

                                                                    DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
           Ziel unserer gemeinsamen Studie.

                                                               10
PRÄVENTION -
EINE ZUKUNFTSFÄHIGE DEFINITION
Prävention -                                           „Als wir mit der Genomdatenbank an-
                                              eine zukunftsfähige Definition                         fingen, hatten wir große Erwartungen
                                                                                                     und waren dann überrascht, dass für die
PRÄVENTION - EINE ZUKUNFTSFÄHIGE DEFINITION

                                              Gemäß Paragraf 20 Absatz 1 Präventionsgesetz           meisten Menschen als Empfehlung doch
                                              wird zwischen primärer Prävention, als Ver-            bleibt: Beweg dich mehr, rauch nicht, trink
                                              minderung oder Vermeidung von Krankheitsri-            weniger und vermeide Stress.“
                                              siken, und Gesundheitsförderung als Unterstüt-                (übersetzt aus dem Englischen) Taavi Einaste

                                              zung der Versicherten beim selbstbestimmten,                                                      (Nortal)

                                              gesundheitsorientierten Handeln, unterschie-
                                              den. Konkreter werden gesetzliche Krankenver-        … aber was für Person A gesunde Ernährung
                                              sicherer verpflichtet, Leistungen für individuell    und ausreichende Bewegung ist, kann für Per-
                                              verhaltensbezogene Prävention sowie Präven-          son B schädlich sein. Bei 83,1 Millionen Men-
                                              tion und Gesunderhaltung in den Lebenswelten         schen in Deutschland sind das ca. 83,1 Mil-
                                              (beispielsweise Wohnen, Lernen, Freizeit, me-        lionen unterschiedliche Definitionen eines
                                              dizinische Versorgung) und der betrieblichen         individuell guten Gesundheitszustands.6
                                              Gesundheitsförderung bereitzustellen. Theore-
                                              tisch ermöglicht das eine ganzheitliche, an den      In Zukunft müssen gesetzliche Krankenversi-
                                              Belangen des Individuums ausgerichtete Leis-         cherer daher Wege finden, eine Art ‚Gesund-
                                              tungserbringung und damit die von Yuval Noah         heits-Bestandsaufnahme‘ durchzuführen, um
                                              Harari in ‚Homo Deus‘ postulierte Gewährleis-        die Rolle des Unterstützenden überhaupt aus-

                                                                                                                                                           DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                              tung eines möglichst langen und gesunden Le-         füllen zu können. Das Präventionsparadoxon
                                              bens. In den Tiefeninterviews der Studie hat         ist hier eine besondere Herausforderung. Denn
                                              sich diese Definition allerdings als noch zu eng     Menschen, die ohnehin zu den sogenannten
                                              gefasst erwiesen.                                    ‚Selbstoptimierern‘ zählen, also solche, die
                                                                                                   nach kontinuierlicher Verbesserung ihrer indi-
                                                „Unser gesundheitsorientiertes Ver-                viduellen Eigenschaften und Fähigkeiten stre-
                                                halten findet immer in einem Kontext               ben, sei es durch Smartwatches, spezielle Di-
                                                statt. Verhalten und Verhältnis gehören            äten oder körperliches Training,7 sind häufig
                                                grundsätzlich immer zusammen in der                wesentlich empfänglicher für Präventionsange-
                                                Betrachtung. Unsere Schwachstelle ist,             bote als Personen, die sich nicht so stark mit der
                                                dass wir eben häufig nur eindimensional            eigenen Gesundheit beschäftigen. Gerade diese
                                                auf etwas gucken, ob auf Verhalten oder            könnten aber von guten Angeboten rund um das
                                                Verhältnis.”                                       Thema Gesunderhaltung profitieren.
                                                              Thomas Flieger (BaobaB Healthcare)
                                                                                                     „[…] Prävention ist für mich stark mit
                                              Diese Studie sieht Prävention daher als die Ge-        Bildung verbunden. Das heißt, dass ich
                                              samtheit aller Maßnahmen, die einer Gefähr-            persönlich gebildet werde, um zu lernen
                                              dung oder Beeinträchtigung von Menschen                wie man lebenswertig, langfristig und
                                              entgegenwirken und zu einer gesunden Lebens-           nachhaltig lebt.“
                                              weise beitragen. Auf der Ebene des Einzelnen                           Jürgen Keitel (Dassault Systémes)

                                              bedeutet das Unterstützung bei der Erreichung
                                              eines individuell guten Gesundheitszustandes         Das erfordert großflächig angelegte, aber diffe-
                                              und dessen Erhalt oder gar dessen Verbesse-          renzierte Aufklärung, denn die Generation der
                                              rung. Dazu muss zunächst verinnerlicht wer-          heute 45- bis 50-Jährigen bedarf einer anderen
                                              den, dass es zwar ein paar universelle Faktoren      Ansprache als die Generation Z oder Kinder
                                              gibt, die der Gesunderhaltung dienen, wie bei-       und Jugendliche. Bei Privatunternehmen der
                                              spielsweise ‚gesunde Ernährung‘ oder ‚ausrei-        Plattformökonomie ist individuelle Ansprache
                                              chend Bewegung‘…                                     seit jeher selbstverständlich, aber gesetzliche
                                                                                                   Krankenversicherer und staatliche Institutionen
                                                                                                   hängen teilweise stark hinterher, was zum Teil

                                                                                                                                               12
PRÄVENTION - EINE ZUKUNFTSFÄHIGE DEFINITION

                                              widersinniger Reglementierung geschuldet ist,           tung vor allem die Daten aus dem zweiten und
                                              wie beispielsweise Paragraf 284 SGB V, der die          dritten Gesundheitsmarkt eine Rolle.
                                              Entwicklung individualisierter Präventionsan-
                                              gebote de facto verbietet.                              Es ist beispielsweise gut möglich, dass eine Per-
                                              Vor allem für Kinder und Jugendliche gibt es in         son in den letzten fünf Jahren einmal wegen ei-
                                              den Lebenswelten Kita und Schule zahlreiche             ner Grippe in medizinischer Behandlung war,
                                              Programme, die zu gesundem Verhalten moti-              aber privat zwei Sportvereinsmitgliedschaften
                                              vieren und damit positiv auf die Lebenswelten           pflegt, täglich Rad fährt und Achtsamkeitsyoga
                                              der beteiligten Akteure wirken. Wie sich gerade         praktiziert, um eine gesunde Work-Life-Balan-
                                              dieser Bereich in Zukunft entwickelt, ist wegen         ce aufrechtzuerhalten – die letzteren Daten sind
                                              der Vielzahl an Involvierten und bevorstehen-           für Prävention entscheidend, denn sie geben
                                              den Entwicklungen nur am Rande Bestandteil              Einblicke in persönliche Einstellungen, Präfe-
                                              dieser Studie, sollte aber einen festen Platz in        renzen und Verhaltensweisen.
                                              zukünftigen bundesweiten Bildungsstrategien
                                              einnehmen. Ein Überblick erfolgreicher Projek-          Diese Daten laufen aktuell zu großen Teilen
                                              te im Hinblick auf das zunehmend gravierender           bei Google und Co. auf, die mit immer indivi-
                                              werdende Problem des Übergewichts bei Kin-              duelleren Angeboten in Sachen Prävention in

                                                                                                                                                          DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                              dern8 bietet der „Ideenwettbewerb Verhältnis-           Zukunft mit gesetzlichen Krankenversicherern
                                              prävention“ der Gesellschaft für Versicherungs-         konkurrieren könnten– trotz undurchsichtiger
                                              wissenschaft und -Gestaltung e.V. (GVG)9.               Datenschutzvereinbarungen oder teilweise in-
                                              Weitere Best-Practice-Beispiele finden sich in          transparenten Algorithmen.
                                              der „Grünen Liste Prävention“10 sowie der Pra-
                                              xisdatenbank „Gesundheitliche Chancengleich-            Zu guter Prävention gehören neben individuel-
                                              heit“.11                                                ler Verhaltenssteuerung auch Maßnahmen, die
                                                                                                      ein Kollektiv von Menschen oder gar die ganze
                                              Unabhängig des Alters einer Person braucht es           Gesellschaft betreffen.
                                              in Zukunft einen anderen Umgang mit gesund-
                                              heitsrelevanten Daten, denn auch die Nicht-             Wir gehen hierzulande häufig davon aus,
                                              Selbstoptimierer besitzen im Regelfall ein              dass z.B. saubere Luft oder Trinkwasser eine
                                              Smartphone, dass im Hintergrund zumindest               Selbstverständlichkeit sind, dabei gibt es star-
                                              die Möglichkeit bietet, alle möglichen Daten            ke regionale Unterschiede beispielsweise der
                                              zur körperlichen Befindlichkeit zu erfassen, von        Feinstaubbelastung oder des Lärmpegels in
                                              Bewegung über Schlaf hin zu Menstruationszy-            vielbefahrenen Gebieten oder Innenstädten, die
                                              klen und Ernährung.                                     wiederum Einzelpersonen und Gruppen von
                                                                                                      Menschen unterschiedlich beeinflussen. Imp-
                                                „Das Problem ist nur, wenn wir es in der              fungen dienen nicht nur zum Schutz Einzelner
                                                Medizin nicht hinkriegen, solche Daten in             sondern auch Dritter. Die Bekämpfung des Kli-
                                                Prozesse aufzunehmen - ja, dann macht                 mawandels und seiner Folgen kommt nicht nur
                                                es eben Apple.“                                       dem Individuum zugute, sondern allen Men-
                                                       Dr. Felix Nensa (Universitätsklinikum Essen)   schen und ist auch aus Präventionssicht von
                                                                                                      enormer Bedeutung.
                                              Auch wenn Daten, die den ersten Gesundheits-
                                              markt betreffen, wie Krankheitsbefunde, Arzt-           Kurzum: Prävention umfasst sowohl Verhal-
                                              konsultationen o.ä. immer noch bei Kranken-             tens- als auch Verhältnisprävention und richtet
                                              kassen bzw. der Kassenärztlichen Vereinigung            sich an Individuen sowie Kollektive von Men-
                                              liegen, spielen für Prävention und Gesunderhal-         schen gleichermaßen.

                                                                                                                                               13
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE
        PRÄVENTION
GESELLSCHAFTLICH                                       zustands der Bürger:innen definiert ist, wird
                                        SINNVOLLE PRÄVENTION                                   schnell klar, dass Quartiers- und Gebäudepla-
                                                                                               nung weitreichenden Einfluss auf Gelingen oder
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                        Der Staat als Gesundheitsdienstleister                 Scheitern von Präventionsansätzen haben kön-
                                                                                               nen.
                                          „Es gibt theoretisch die Möglichkeit eine
                                          Win-Win-Win-Situation herzustellen: Ver-             Ein Betondschungel ohne Parks und Wiesen
                                          sicherer sind froh, wenn niemand Leistun-            lädt nicht zur Bewegung ein. Wo es keinen Zu-
                                          gen einfordert, Individuen sind froh, wenn           gang zu öffentlichem Nahverkehr gibt oder der
                                          sie keinen Schaden erleiden und der Staat            Nahverkehr nicht zu Naherholungsgebieten
                                          wäre froh, wenn die Ausgaben sinken. Es              führt, werden Individuen in ihren Möglichkei-
                                          ist daher völlig unbegreiflich, dass alle            ten, sich um ihre Gesunderhaltung ausreichend
                                          drei Parteien das Gleiche wollen, aber               zu kümmern eingeschränkt, vor allem solche,
                                          in der Realität niemand gute Anreize für             die aufgrund ihres sozioökonomischen Status
                                          diesen Wandel schafft.“                              kein eigenes Fahrzeug zur Verfügung haben. So
                                          (übersetzt aus dem Englischen) Moshe Tamir (Axell)   wird Ungleichheit verschärft.

                                        Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufga-          Ein weiterer Punkt, bei dem staatliche Maßnah-
                                        be kann nur gelingen, wenn der Staat sich ak-          men direkten Einfluss auf Prävention haben, ist
                                        tiv als Akteur eines neuen Gesundheitswesens           Luftströmungsanalyse bzw. -planung in öffent-
                                                                                               lichen Gebäuden. Mit Hilfe von 3D-Simulatio-

                                                                                                                                                 DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                        wahrnimmt. In Zukunft müssen Prävention und
                                        Gesunderhaltung dafür zum Paradigma staatli-           nen können digitale Zwillinge von Räumen, Ge-
                                        chen Handelns erhoben und ‚health-in-all-poli-         bäuden und Plätzen erstellt werden. Luftströme
                                        cies‘-Ansätze weiter verstärkt werden. Staatli-        und Tröpfchenbewegungen können so simuliert
                                        che Maßnahmen richten sich dann an der Frage           und gesteuert werden. Das kann bei zukünfti-
                                        aus, ob sie der Gesunderhaltung der Bürger die-        gen Pandemien oder der alljährlichen Grippe-
                                        nen. Das bezieht sich auch auf Belange, die auf        welle die Ansteckungsgefahr erheblich reduzie-
                                        den ersten Blick nichts mit Prävention oder            ren.12
                                        Gesunderhaltung zu tun haben, wie beispiels-
                                        weise Städtebauplanung oder Bauverordnun-
                                        gen. Wenn Prävention aber als Gesamtheit an
                                        Maßnahmen zur Förderung des Gesundheits-

                                                                                                                                      15
Hier können wissenschaftliche Erkenntnisse in          eine Hilfe gibt. [...] Sie muss zwar, objektiv
                                        Zukunft einen echten gesellschaftlichen Mehr-          gesehen, auch präventive Leistungen
                                        wert für Bauregulierungen oder Hygienekon-             anbieten, aber in welchem Umfang, das ist
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                        zepte im öffentlichen Raum und Nahverkehr              gesetzlich nicht definiert.“
                                        bieten. Auch Zertifikate sind denkbar, um einen              Frederick Groeger-Roth (LPR Niedersachsen)
                                        Anreiz für die Anfangsinvestition zu schaffen.
                                        Vor allem staatliche Institutionen sind in Zu-       Damit ‚Intervention bei Schaden‘ zu ‚Präventi-
                                        kunft daher gefordert, Präventionsgedanken in        on vor Schaden‘ wird, braucht es in Zukunft ei-
                                        ihr Handeln zu integrieren und einzufordern.         nen objektiven Rechtsanspruch auf Prävention.
                                                                                             Dieser muss mit finanziellen Mitteln untermau-
                                        Prävention:        individuell,       greifbar,      ert werden. Reicht die Finanzkraft einer Kom-
                                        kommunal                                             mune nicht aus, sollten Gelder aus übergeord-
                                                                                             neten Haushalten wie beispielsweise dem des
                                        Prävention ist auch in Zukunft zutiefst regional.    Bundes bereitgestellt werden.
                                        Hier sind vor allem Kommunen in der Pflicht.
                                        Offensichtlich sind kommunale Gegebenhei-            Nicht jede kommunale Präventionsmaßnahme
                                        ten hinsichtlich der finanziellen Ausstattung        ist jedoch automatisch eine gute. Es ist ein of-
                                        jedoch höchst unterschiedlich. Eine Kommune          fenes Geheimnis, dass ‚theoretisch gut gemeint‘
                                        wie München hat andere Mittel zur Verfügung          häufig in ‚praktisch schlecht ausgeführt‘ resul-
                                        als Gelsenkirchen.13 Das bedeutet nicht, dass es     tiert. So geschehen beispielsweise auf der Berli-
                                        nicht sehr sinnvoll sein kann, sich trotzdem an

                                                                                                                                                  DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                                                                             ner Friedrichstraße, wo 500 Meter Flaniermeile
                                        besonders erfolgreichen Konzepten finanzstär-        inklusive zweispurigem Radweg eine gute Mil-
                                        kerer Kommunen zu orientieren, genauso wenig         lion Euro kosten, wobei die Hälfte davon für
                                        wie es impliziert, dass gute Konzepte immer          Evaluation und Kommunikation15 ausgegeben
                                        teuer sind.                                          wurde, oder in Gelenau bei Kamenz (Sachsen)
                                                                                             wo es seit 2010 einen eigenen Bahnübergang für
                                          „Gesundheitsförderung ist ja keine                 Radfahrer gibt, ohne dass jemals der dazugehö-
                                          Pflichtleistung einer Kommune, sondern             rige Fahrradweg gebaut wurde.16
                                          eine freiwillige Leistung, weshalb das
                                          schon mal leichter aus dem Blick gerät.“           Auch im Bereich des betrieblichen Gesund-
                                                        Dr. Beate Großmann (BV Prävention)   heitsmanagements wurde gute Prävention eher
                                                                                             erschwert als erleichtert. Bisher konnten Unter-
                                        Bei klammen Kassen wird an dieser Stell-             nehmen pro Mitarbeiter:in etwa 500 Euro für
                                        schraube zuerst gespart – Radweg? Zu teuer.          Präventionsmaßnahmen ohne Zertifizierung
                                        Begrünung der Freifläche XY? Verschoben.             steuerlich abrechnen. Seit 2019 gilt eine Zerti-
                                                                                             fizierungspflicht für Maßnahmen, die als Be-
                                        Natürlich besteht für Individuen gemäß Pa-           triebliches Gesundheitsmanagement (BGM)
                                        ragraf 14 Absatz 1 SGB VI immer die Mög-             steuerlich geltend gemacht werden können.
                                        lichkeit, Leistungen zu beantragen, wenn ein         Prinzipiell ist die Sorge um Qualitätssicherung
                                        Schaden entstanden ist, der subjektive Rechts-       gut gemeint, erschwert aber gerade kleineren,
                                        anspruch auf Hilfe greift. Das gilt auch für den     lokalen Anbietern die Zusammenarbeit, da eine
                                        Bereich der Jugendhilfe (s. Paragraf 27 SGB          Zertifizierung für diese Betriebe oft finanziell
                                        VIII Hilfe zur Erziehung). Der Wortsinn von          nicht tragbar ist. Das Gleiche gilt für innovative
                                        Prävention liegt aber auf ‚prä‘, was so viel be-     Ansätze, die in der Praxis noch nicht großflä-
                                        deutet wie ‚vorher‘, ‚zeitlich früher liegend‘.14    chig erprobt und daher nicht im Leistungskata-
                                                                                             log der Krankenkassen enthalten sind.17
                                          „[...] Die finanzielle Verpflichtung der
                                          Kommune, Leistungen tatsächlich zu hin-            Gute, nachhaltige und wirksame Präventions-
                                          terlegen, kommt immer erst dann, wenn              ansätze müssen nicht immer groß oder bun-
                                          es einen individuellen Rechtsanspruch auf          desweit angeboten werden. Gerade bei sehr be-

                                                                                                                                       16
darfsbezogenen, kleinräumigen Ansätzen bietet          lich ist, wird die Interaktion in Zukunft per-
                                        beispielsweise der Kooperationsverbund Ge-             sönlicher, schneller und auf die Bedürfnisse
                                        sundheitliche Chancengleichheit einen Krite-           des Versicherten abgestimmt. Den Erstkontakt
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                        rienkatalog an, der für Praktiker:innen in allen       übernehmen, zumindest für die Digitalaffinen,
                                        Lebenswelten einfach anwendbar ist und die             Chatbots oder digitale Avatare (des sonst per-
                                        Qualitätsentwicklung in der soziallagenbezo-           sönlichen Ansprechpartners), die auf Basis der
                                        genen Gesundheitsförderung sowie die ressort-          über den Versicherten hinterlegten Daten, indi-
                                        übergreifende Zusammenarbeit fördert.                  viduelle und regionale Angebote und Informa-
                                                                                               tionen bereitstellen. ‚Matching‘, ‚Collaborative
                                        In Zukunft sollten sich staatliche Maßnahmen           Filtering‘ und ‚Profiling‘ sind hier die Stichwor-
                                        an Design-Thinking-Prinzipien orientieren, bei         te. Damit ist im E-Commerce die Verknüpfung
                                        denen Ansätze aus der Perspektive der späteren         unterschiedlicher Datenpunkte einer Person ge-
                                        Nutzer:innen gedacht und nach der Umsetzung            meint, die für ein individuelles Angebot rele-
                                        auf ihre Nutzerfreundlichkeit hin untersucht           vant sind. Jeder und jede kennt dies vermutlich
                                        werden, um sie gegebenenfalls adaptieren zu            vom privaten Onlineshopping – aufgrund der
                                        können.                                                Bestellhistorie und Eingaben in Suchmaschinen
                                                                                               versuchen Händler möglichst passende Ange-
                                        Staatliche Maßnahmen an den Bedürfnissen der           bote zu generieren, wobei nicht nur die eigenen
                                        Nutzenden auszurichten ist nur ein Schritt von         Eingaben von Bedeutung sind, sondern auch
                                        vielen. Prävention und Gesunderhaltungsange-           Suchanfragen von Nutzer:innen mit ähnlichen
                                        bote müssen ins Sichtfeld der Menschen gerückt         Eigenschaften (Alter, Geschlecht etc.) in das Er-

                                                                                                                                                       DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                        werden, denn die meisten wissen nicht, welche          gebnis einfließen.
                                        Möglichkeiten sie haben, was in ihrer Kommu-
                                        ne angeboten wird oder wozu die Schule ihrer           Zu den institutionellen Zugehstrukturen zählen
                                        Kinder eigentlich verpflichtet wäre.                   auch Ärzt:innen, insbesondere wenn es um die
                                                                                               Herstellung eines guten Gesundheitszustands
                                        Anlaufstellen neu interpretiert                        aus einem nicht optimalen Status quo oder mit
                                                                                               medizinischer Historie geht. Ärzt:innen kom-
                                          „Wir versuchen ‘unsichtbare Services‘                men jedoch häufig ungewollt in ein moralisches
                                          aufzubauen, mit sehr niedrigschwelligen              Dilemma, denn die Gebührenordnung nach der
                                          Angeboten. [...] Wenn wir jetzt an Prä-              Ärzt:innen ihre Leistungen abrechnen, ist auf
                                          vention denken, sollten wir jedem Bürger             Prävention schlicht nicht ausgelegt.
                                          die bestmögliche Betreuung bieten, damit
                                          die ‘gesündere Wahl zur leichteren Wahl‘               „Die Meisten sind Ärzte geworden, weil
                                          wird.“                                                 sie einfach den Patienten helfen wollen.
                                           (übersetzt aus dem Englischen) Kalle Killar (BMAS     Und sie kommen da teilweise in Wider-
                                                                                   Estland)      spruch, dass sie sagen müssen, okay ich
                                                                                                 kann jetzt entweder Geld verdienen. Oder
                                        Angebote sollten in Zukunft niedrigschwellig             ich kann sogar noch Geld verlieren, indem
                                        und an den Lebenswelten des Individuums aus-             ich den Patienten präventiv unterstütze.“
                                        gerichtet sein. Das braucht verschiedene ‚Zu-                   Dr. Felix Nensa (Universitätsklinikum Essen)
                                        gehstrukturen‘, also Anlaufstellen, von denen
                                        jeder und jede weiß, wo sie zu finden sind. Zum        Mit den digitalen Gesundheitsanwendungen
                                        einen institutionelle, beispielsweise bei Kran-        (DiGAs) wurde bereits ein Schritt in die rich-
                                        kenkassen oder öffentlichen Ämtern: proaktiv,          tige Richtung gemacht. Das DiGA-Fast-Track-
                                        immer erreichbar, vollständig digitalisiert und        Verfahren beschleunigt außerdem den Pro-
                                        lokal – eine Art ‚unsichtbarer Diener‘. Während        zess bis neue Methoden und Technologien in
                                        heute die Kommunikation zwischen Kranken-              die Gebührenordnung aufgenommen werden
                                        versicherern und Versicherten bürokratisch, in         noch weiter. Allerdings kann eine App, wenn
                                        Papierform, oft langwierig und/oder unpersön-          sie einmal zugelassen ist, nicht ohne erneutes

                                                                                                                                           17
Prüfungsverfahren erweitert werden. Das ist
                                        insofern verständlich, als das so sichergestellt
                                        werden kann, dass im Nachhinein keine inva-
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                        siven oder unsichereren Methoden angewendet
                                        werden. Auf der anderen Seite hat das den ent-
                                        schiedenen Nachteil, dass weitere Funktionen
                                        nicht nachträglich in der gleichen App laufen
                                        können, also beispielsweise eine App zur Be-
                                        handlung von Migräne nicht auch noch eine
                                        Funktion gegen chronische Schmerzen auf-
                                        nehmen kann – zumindest nicht ohne ein neues
                                        Bewertungsverfahren. Aus Sicht der App-Be-
                                        treiber verschlechtert das die Chancen im App-
                                        Store erheblich, auf der ersten Seite gelistet zu
                                        werden, denn eine App, die eine Million Nutzer
                                        mit Migräne und/oder chronischen Schmerzen
                                        verwenden ist ‚besser‘ gelistet als eine App, die
                                        ‚nur‘ 500.000 Migräneleidende bedient. Außer-
                                        dem brauchen manche Nutzer:innen dann ver-
                                        schiedene Apps, was Komplexität und Zeitauf-
                                        wand erhöht und so potentiell die Attraktivität

                                                                                                     DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                        der Nutzung schmälert.

                                          „Da sollte man vielleicht mal überlegen,
                                          dass man nicht ganz so viel Angst davor
                                          hat, auch mal neue Methoden, neue
                                          Technologien abrechenbar zu machen.
                                          Man kann das ja immer noch mit einem
                                          Verfallsdatum versehen und sagen, wie
                                          ich das jetzt auch gemacht habe, okay,
                                          wir probieren das jetzt einfach mal. Und
                                          je personalisierter die Medizin wird, desto
                                          schwieriger ist dann natürlich, das Ganze
                                          evidenzbasiert zu gestalten. Und dann
                                          muss man sich vielleicht mal andere
                                          Möglichkeiten überlegen.“
                                                 Dr. Felix Nensa (Universitätsklinikum Essen)

                                        In Zukunft könnten neue Anwendungen vorläu-
                                        fig zugelassen und anhand der Daten, die durch
                                        die Nutzung bei den Anwendern auflaufen,
                                        evaluiert werden. Erweist sich die Anwendung
                                        als sinnvoll, kann die Zulassung endgültig er-
                                        teilt oder im gegenteiligen Fall eben widerrufen
                                        werden. Um Ärzt:innen neben der Erstanlauf-
                                        stelle für Heilung auch zu Begleiter:innen von
                                        Prävention zu machen, bedarf es auch hier neu-
                                        er Anreize und ggf. Zusatzqualifikationen oder
                                        Schulungen.

                                                                                                18
„Sie gehen zum Arzt, der quartalsweise            Gewerbeeinheiten im Erdgeschoss von Mehrfa-
                                          bei der Kassenärztlichen Vereinigung ab-          milienhäusern, ungenutzte Bauernhöfe in länd-
                                          rechnet, sammelt über seine Punktwerte            lichen Regionen, Gemeinschaftsgärten oder zur
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                          sein Geld ein, rechnet die Leistungen je          Zwischennutzung freigegebene Flächen bieten
                                          Versicherten einmal im Quartal ab. Aber           vielfältige Möglichkeiten, kreativen Ideen der
                                          das Geld fließt der Krankheit nach. Das           Bevölkerung vor Ort Raum zu geben, sich ak-
                                          ist die zentrale Stellschraube. Gib dem           tiv einzubinden und die menschlichen Bedürf-
                                          Hausarzt eine Gesundheitslotsenrolle. Für         nisse nach sozialem Austausch zu befriedigen.
                                          mich ist er Gesundheitsbegleiter.“                Die Aktivitäten können dabei von Kochkursen
                                                       Thomas Flieger (BaobaB Healthcare)   über Sportangebote oder Bildungsformate flexi-
                                                                                            bel auf aktuelle Trends und lokale Gegebenhei-
                                        Digitalisierung kann auch hier eine Chance          ten abgestimmt werden.
                                        sein. Apps wie ‚Voize‘, ein Sprachassistent spe-
                                        ziell entwickelt für Pflegeberufe oder Plattfor-    Vor allem im städtischen Raum scheitern sol-
                                        men wie ‚Recare‘, die das Entlassmanagement         che Konzepte daran, dass sie in Konkurrenz zu
                                        von Krankenhäusern digitalisieren, verkürzen        den Renditeerwartungen von Investoren stehen.
                                        die Zeit, die für Dokumentation aufgewendet         Dabei haben Bundesländer bzw. Gemeinden ei-
                                        werden muss, erheblich. Das schafft mehr Zeit       gentlich nach Paragraf 1 Absatz 5 Baugesetz-
                                        für Menschlichkeit, Beratung und Aufklärung.        buch (BauGB) die Pflicht, dafür zu sorgen, dass
                                                                                            Bauleitplanung, die die Nutzung von Grundstü-
                                                                                            cken regelt, einer nachhaltigen städtebaulichen

                                                                                                                                              DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                        Aufgrund der Regionalität von Prävention brau-
                                        chen auch Kommunen selbst in Zukunft Zu-            Entwicklung dient, die auch soziale Aspekte
                                        gehstrukturen. Da davon auszugehen ist, dass        berücksichtigt, wobei in Absatz 6 explizit von
                                        das Filialnetz aufgrund der generellen Verrin-      ‚gesunden‘ Wohn- und Arbeitsverhältnissen die
                                        gerung der Anzahl von Krankenkassen eher            Rede ist.19
                                        abnimmt,18 gehören dazu in Zukunft Anlauf-
                                        stellen direkt in den Quartieren. Leerstehende

                                                                                                                                   19
Exkurs 1: Smarte Communities                        Anstatt diese Maßnahmen breit über die gan-
                                                                                            ze Bevölkerung zu verteilen, kann ein gezielter
                                        Die Prävention der Zukunft ist ‚glokal‘, sie fin-   Einsatz Ausbrüche verschiedenster virulenter
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                        det in ‚smarten Communities‘ aber auch auf          Krankheiten frühzeitig eindämmen.
                                        nationaler und internationaler Ebene statt. Ein
                                        gutes Beispiel dafür ist der ‚Infektionswetter-     Das Prinzip der community-orientierten Prä-
                                        bericht‘ der im Rahmen der Corona-Pandemie          vention, gestützt auf Gesundheitsmonitoring
                                        vom Harvard-Epidemiologen Michael Minas20           und Diagnostik, wird in Zukunft aber nicht nur
                                        vorgeschlagen wurde. Eine Sequenzierung der         via App oder Gadgets in Quartiere und Stadt-
                                        Blutbestände in Blutbanken ermöglicht ein ge-       bezirke integriert. Vielmehr werden physische
                                        naues Bild vergangener und gegenwärtiger Vi-        Health-Spaces in den Lebensräumen entste-
                                        rusinfektionen und Antikörper in einer Popula-      hen, die Menschen sowieso schon frequentie-
                                        tion.                                               ren, wie Büros oder Co-Working-Places, Bahn-
                                                                                            höfe, Shoppingzentren, Kiezzentren oder Parks.
                                        Werden diese Daten auf ähnliche Weise erhoben       Denn die Welt ist nicht nur digital.
                                        wie Wetterdaten, werden Blutspendezentren
                                        oder Krankenhäuser zu „Wetterstationen“ oder        ‚Gesundheits-Pods‘ ermöglichen eine Kombi-
                                        auch Virenstationen. Auf nationaler oder inter-     nation aus alltäglicher Diagnostik, Video- oder
                                        nationaler Ebene ergibt sich so ein globaler In-    Präsenzberatung und nehmen Menschen unbe-
                                        fektionswetterbericht, der auch auf Landkreise      queme Wege zu Ärzt:innen oder Diagnosezen-
                                                                                            tren ab. Schick ausgestattet und sich ins Ambi-

                                                                                                                                               DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                        heruntergebrochen werden kann. Ähnlich wie
                                        heutzutage Wetterwarnungen ein Standard-Fea-        ente der Umgebung einfügend, stellen sie einen
                                        ture jeder Wetter-App sind, können so epide-        bequemen Andockpunkt dar, der mehr an einen
                                        miologische Warnungen Communities helfen,           Apple-Store als eine Arztpraxis erinnert. Die in
                                        sich schnell an die gesundheitlichen Gegeben-       solchen Pods erhobenen Daten ermöglichen den
                                        heiten anzupassen. Wo heute im Büro zwischen        Auf bau von Gesundheitsökosystemen. Idealer-
                                        Tür und Angel bemerkt wird, dass viele Kolle-       weise werden sie durch Kooperationen mehre-
                                        gen mit Grippe krankgeschrieben sind, können        rer Kassen betrieben. Diese Gesundheits-Pods
                                        in Zukunft epidemiologische Wettervorhersa-         sind der digitale Gesundheitslotse mit physi-
                                        gen helfen, Entscheidungshilfen für präventive      scher Schnittstelle – einfach erreichbar, für
                                        Verhaltensanpassungen zu geben.                     jede:n zugänglich, individuelle Empfehlungen
                                                                                            gebend. Auch wenn der Auf bau und die War-
                                        Schon heute ist deutlich, wie stark sich die        tung solcher Pods eine signifikante Investition
                                        Hygienemaßnahmen während der Corona-Pan-            mit sich bringt, ist der Mehrwert eines solchen
                                        demie auch auf Influenza-Viren ausgewirkt           Systems langfristig spürbar.
                                        haben.21

                                                                                                                                    20
Neben solchen Gesundheits-Pods können Zu-           Solche Initiator:innen müssen aktiv dazu ge-
                                        kunftsquartiere auch mithilfe ihrer eigenen Be-     schult werden, bei welcher Instanz es welche
                                        völkerung zur Prävention beitragen. Gesund-         Mittel oder Informationen gibt. Ein positives
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                        heitsbeauftragte (Jugendliche, Rentner:innen,       Beispiel ist Papenburg mit dem Projekt „Kom-
                                        Schulgesundheitshelfer:innen etc.) können Da-       munale Gesundheit“. Hier wurde aus jeder Le-
                                        ten in ihrer Community erheben, die es erlau-       benswelt je ein:e Vertreter:in benannt, also ei-
                                        ben, quartiersspezifische Angebote zu entwi-        ne:n für Vereine, eine:n aus der Lebenswelt
                                        ckeln und wirkungsvolle Gesundheitsanreize zu       Schule, für Arbeit, aus dem Krankenhaus etc.,
                                        finden. Kampagnen für gesündere Ernährung           die dann nach eingehender Bedarfsermittlung
                                        oder zur Stressreduktion werden nicht mehr          gemeinsam in Dialog treten und Vorschläge er-
                                        landesweit oder stadtweit platziert, sondern        arbeiten. Das erfordert in Zukunft flächende-
                                        können so spezifisch auf Quartiere ausgerichtet     ckenden Kompetenzauf bau in allen Lebenswel-
                                        werden.                                             ten. Denn Programme funktionieren nur dann
                                                                                            gut, wenn auch Eltern, Lehrer:innen, Erzie-
                                        Damit sich die Angebote an den Lebenswelten         her:innen und Arbeitnehmer:innen wissen, dass
                                        der Menschen orientieren und Alltagsrelevanz        sie überhaupt Ansprüche auf bestimmte Leis-
                                        entfalten, müssen Kommunen zunächst ermit-          tungen haben und deren Sinnhaftigkeit begrei-
                                        teln, welche Bedarfe überhaupt bestehen. Das        fen.
                                        braucht strukturierte Datenerhebung und Infor-
                                        mationsaustausch zwischen einzelnen Akteu-          So kann ‚Projektitis‘ vermieden werden, die
                                        ren.                                                sonst oft dazu führt, dass es viele zersplitterte

                                                                                                                                                DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                                                                            Einzelkassenleistungen gibt, aber kein zusam-
                                          „Eine Kommune kann sich ja zusammen-              menhängendes Gesundheitskonzept. Dazu wäre
                                          setzen in einem Steuerungskreis und               es auch hilfreich, zu überprüfen, ob der derzei-
                                          gucken, was zeigt unsere Gesundheits-             tige „GKV-Leitfaden Prävention“ vom GKV-
                                          berichterstattung.“                               Spitzenverband überhaupt noch zeitgemäß ist.
                                                       Dr. Beate Großmann (BV Prävention)   Mit der „Landesrahmenvereinbarung Gesund-
                                                                                            heitsförderung und Prävention“ wurde eine
                                        Stellen niedergelassene Ärzt:innen beispiels-       erste Weiche gestellt, um die Zusammenarbeit
                                        weise fest, dass es ein Problem mit Alkoholkon-     der verschiedenen Akteure in den Lebenswel-
                                        sum oder Adipositas gibt, kann die Kommune          ten zu fördern. Dennoch ist es aktuell so, dass
                                        entsprechende Maßnahmen planen. Bei der Eta-        sich Programme unterschiedlicher Krankenkas-
                                        blierung solcher Maßnahmen zu Prävention und        sen an ein bestimmtes Setting richten, was zu
                                        Gesunderhaltung ist es wichtig, dass es eine:n      einem unkoordinierten Flickenteppich führen
                                        Initiator:in gibt.                                  kann. So kann es passieren, dass eine Kranken-
                                                                                            kasse in fünf Kindergärten einer Kommune ge-
                                          „Die Prozesse, die gut funktionieren,             sunde Ernährung fördert, die nächste in zwei
                                          haben immer eine:n Multiplikator:in, also         weiteren Kindern spielerisch Spaß an Bewe-
                                          Kümmerer. Im Großen ist es eine Greta,            gung näherbringt und die dritte sich um Präven-
                                          die auf die Straße geht und für alle die          tion von Essstörungen kümmert,22 anstatt dass
                                          Figur ist, aber im Kleinen fängt das auch         es ein gemeinsames Konzept mehrerer Kran-
                                          schon so an.“                                     kenkassen gibt, das ein größeres Spektrum an
                                                                      Fabian Ross (DSPN)    Präventionsleistungen anbietet.

                                                                                                                                     21
„Das ist ein Punkt, den man im Präven-
                                          tionsgesetz noch ändern könnte, dass
                                          Krankenkassen auf kommunaler Ebene
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                          oder in den Lebenswelten nicht einzeln
                                          agieren, sondern gemeinschaftlich. So,
                                          dass wir in Kitas zum Beispiel nicht zig
                                          unterschiedliche Programme haben, die
                                          die Akteure womöglich präventionsmüde
                                          machen.“
                                                       Dr. Beate Großmann (BV Prävention)

                                        Unter ‚Zugehstrukturen‘ kann auch zählen,
                                        dass Gesundheitskassen Kooperationen mit Pri-
                                        vatunternehmen eingehen. Beispielsweise mit
                                        Supermärkten vor Ort, die, wenn jemand nach
                                        längerer Zeit aus dem Krankenhaus oder einer
                                        Reha-Einrichtung wieder nach Hause kommt,
                                        dafür Sorge tragen, dass die Person zeitnah Le-
                                        bensmittel geliefert bekommt. Gerade fernab
                                        von größeren Städten, in denen es zahlreiche

                                                                                            DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                        Lieferangebote gibt, kann das eine große Er-
                                        leichterung sein.

                                                                                 22
Gesundheitsdatens(ch)atz                                 Dabei lassen sich oft Zusammenhänge mit an-
                                                                                                 deren Handlungsfeldern finden und für eine ef-
                                        Präventionsmaßnahmen innerhalb einer Kom-                fektive Präventionsstruktur miteinander ver-
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                        mune fokussieren häufig die klassischen Prä-             knüpfen. So kann ein achtsamer Umgang mit
                                        ventionsbereiche Bewegung, Ernährung oder                der eigenen Gesundheit beispielsweise zu regel-
                                        Suchtprävention. Dass es sich im Sinne einer             mäßigerer Bewegung und ausgewogenerer Er-
                                        ganzheitlichen Prävention lohnt, diese eindi-            nährung führen, was wiederum nicht nur Herz-
                                        mensionalen Bereiche weiter zu denken, zeigt             Kreislauf-Problemen, sondern auch psychischen
                                        das Präventionsfeld der psychischen Gesund-              Krankheiten vorbeugt. Mit den rapiden Fort-
                                        heit. Erkrankungen in diesem komplexen Feld              schritten im Bereich der Diagnostik lässt sich
                                        nehmen seit einigen Jahren konstant zu, wie der          Prävention darüber hinaus auf eine andere Da-
                                        untenstehenden Grafik zu entnehmen ist.23                tengrundlage stützen.

                                                                                                                                                   DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION

                                                                 Quelle: https://www.deutschepsychotherapeutenvereinigung.de/

                                                                                                                                        23
So leiden Stand heute rund 1,6 Millionen            en wählen können, ob sie die Ergebnisse einer
                                        Menschen in Deutschland an Alzheimer-De-            DNA-Analyse mitgeteilt bekommen möchten.
                                        menz, täglich kommen etwa 900 Neuer-                Unabhängig von der individuellen Entscheidung
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                        krankte hinzu 24. Eine Diagnose ist allerdings      sollten sie immer gefragt werden, ob sie die Er-
                                        bis zu acht Jahre vor dem eigentlichen Aus-         gebnisse anonymisiert für Forschungszwecke
                                        bruch der Krankheit möglich. Dazu reicht eine       zur Verfügung stellen würden. Auch bei der
                                        einfache Blutprobe, die mithilfe eines Immuno-      wachsenden Belastung durch mentale Gesund-
                                        Infrarot-Sensors untersucht wird.25 Vor allem       heitsbeeinträchtigungen wie Depressionen,
                                        Angehörige können enorm von einer frühzeiti-        können Genomsequenzierungen helfen, pass-
                                        gen Diagnose profitieren und auch manche Be-        genauere Therapien zu entwickeln und damit
                                        troffene ziehen die frühe Gewissheit der Unwis-     schlimmen Verläufen vorzubeugen.28
                                        senheit vor.
                                        Auch andere teils schwere Krankheiten lassen        Prinzipiell gilt, je mehr Gesundheitsdaten zu ei-
                                        sich mit moderner Technologie frühzeitig er-        ner Person vorhanden sind, desto individuelle-
                                        kennen, beispielsweise mittels Genomanalyse.        re Präventionsansätze sind möglich. Dazu zählt
                                                                                            auch die Entschlüsselung des eigenen Mikrobi-
                                          „Die Diskussion um die Verwendung                 oms, denn um gesunde Ernährung auf die Ein-
                                          genetischer Daten versteckt sich hinter           zelperson abzustimmen, ist es wichtig zu verste-
                                          ethischen Aspekten. [...] Die eigent-             hen, welche Bakterien dem Darm fehlen, bzw.
                                          liche Diskussion dreht sich um fehlende           welche Diät sich besonders für die individuelle
                                          verantwortungsorientierte Gesundheits-            (Darm-)Gesundheit eignet. Auch hier sind Se-

                                                                                                                                                DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                          kompetenz.“                                       quenzierungen für etwa 100 Euro möglich. Das
                                                       Thomas Flieger (BaobaB Healthcare)   ist weitaus günstiger, als Menschen mit Durch-
                                                                                            fall oder Magenproblemen zu therapieren. In
                                        Auch wenn für den Großteil der Menschen das         Zukunft sollte die Entschlüsselung des eigenen
                                        Ergebnis einer Genomanalyse bleibt: „Beweg          Mikrobioms daher eine Standardleistung zur
                                        dich mehr, trink wenig Alkohol, rauch nicht und     Bestimmung des individuellen Gesundheits-
                                        ernähre dich gesund.“ So könnte doch auf eini-      zustandes sein. Das kann nicht nur akuten Be-
                                        ge wenige ein schwerwiegender Befund warten.        schwerden vorbeugen, sondern sich auch als
                                        Obwohl eine Genomsequenzierung bereits heu-         Prävention von weitaus schwereren Krankhei-
                                        te weniger als 100 Dollar kostet26 und ca. 6.000    ten erweisen. Aktuell forschen Wissenschaftler
                                        Krankheiten detektiert werden können, ist in        zunehmend zu der Verbindung zwischen Darm
                                        Deutschland die Abrechnung über die Kran-           und Gehirn. Es steht die Vermutung im Raum,
                                        kenkassen schlicht nicht möglich.27 Dabei reicht    dass beispielsweise Parkinson bei manchen ‚im
                                        auch hier eine einfache Blut- oder Speichelpro-     Darm beginnt‘. Die Krankheit wird ebenfalls
                                        be aus, um DNA zu gewinnen.                         durch fehlgefaltete Proteine verursacht, genau-
                                                                                            er durch Alpha-Synuclein. Manche Darmbak-
                                        Fakt ist, dass eine Genomdatenbank mit freiwil-     terien können ähnliche Fehlfaltungen produzie-
                                        liger Beteiligung einen Mehrwert für Präventi-      ren, die die Kaskade fehlproduzierter Proteine
                                        on bietet. Denn so lassen sich die Empfehlungen     im Gehirn verstärken.29
                                        für ein Individuum auch mit persönlichen Ri-
                                        siken untermauern und tendenziell die Akzep-        Ein weiterer Schlüssel zu individualisierter
                                        tanz der vorgeschlagenen Präventions- und Ge-       Prävention verbirgt sich in den zahlreichen
                                        sunderhaltungsmaßnahmen erhöhen.                    mHealth-Daten, die über ständig besser wer-
                                        Allerdings nur dann, wenn die Daten eines Indi-     dende Sensoren in Smartwatches oder -phones
                                        viduums mit denen von anderen ins Verhältnis        und weiteren Home-Gadgets (z.B. smarte Toi-
                                        gesetzt werden können, denn zu 99 Prozent sind      letten) die menschliche Gesundheit vermessen.
                                        die Gene einer Person identisch mit der von an-
                                        deren. Hier bedarf es einer neuen gesellschaft-
                                        lichen Debatte. In Zukunft sollten Individu-

                                                                                                                                     24
„[…] in Deutschland suchen ja viele Leute                  duums orientieren. Statt nur Rabatte in Form
                                          immer nach dem Problem und nicht nach                      von Rückerstattung zu gewährleisten, könn-
                                          der Lösung. Und dann heißt es immer                        ten Krankenkassen basierend auf individuel-
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION

                                          schnell, naja, aber die Geräte sind nicht                  len Kundenprofilen persönliche Prämien bieten.
                                          geeicht und die Geräte haben eine grö-                     Die Kostenübernahme für den Musikstreaming-
                                          ßere Variabilität und so weiter. Wobei                     Dienst, der Zuschuss zum Lastenrad, ein Be-
                                          man natürlich dann sagen muss, naja, ich                   such in der Sauna oder beim Lieblingsitalie-
                                          habe vielleicht den einen Messwert im                      ner um die Ecke – ohne auch nur ein Formular
                                          Klinikum alle X Wochen. Der ist dann total                 ausfüllen zu müssen, niedrigschwellig und nah
                                          geeicht, oder ich habe einen Messwert                      – so kann eine Beziehung zum Mitglied über
                                          vom Patienten, den der vielleicht alle fünf                seine Versicherungsnummer hinaus aufgebaut
                                          Minuten akquiriert hat, mit einer größe-                   werden und erst dann kann auch wirklich die
                                          ren Variabilität. Aber dadurch, dass sie                   Rede von Alltagsrelevanz sein. Prämien einzu-
                                          einfach unfassbar viel mehr Messpunkte                     bauen, die nicht direkt mit klassischen Präven-
                                          haben, ist am Ende die Genauigkeit viel                    tionsfaktoren wie Ernährung oder Bewegung
                                          größer bei dem Home Device.“                               zusammenhängen, ist wichtig, um dem bereits
                                                 Dr. Felix Nensa (Universitätsklinikum Essen)        beschriebenen Präventionsparadoxon entgegen-
                                                                                                     zuwirken, also auch die Menschen zu erreichen,
                                        Schon heute bieten Krankenkassen mit Bonus-                  die mit den klassischen Maßnahmen eben nicht
                                        programmen die Möglichkeit, für das Teilen                   zu motivieren sind.

                                                                                                                                                            DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION
                                        dieser Daten Rabatte oder Prämien zu bekom-
                                        men. So können Versicherte für die gängigen                  Denkbar ist außerdem, dass Menschen, die bei-
                                        Vorsorgeuntersuchungen wie Hautkrebsscree-                   spielsweise um ihre fehlende Disziplin wissen,
                                        nings oder eine professionelle Zahnreinigung,                freiwillig eine Sanktion einbauen lassen, die
                                        aber auch für eine Mitgliedschaft im Sportver-               zur Anwendung kommt, wenn die ausgemach-
                                        ein Bonuspunkte sammeln, die in Prämien oder                 ten Ziele verfehlt werden.
                                        Rückerstattungen umgewandelt werden kön-
                                        nen.30 31 In Zukunft werden sich solche Systeme              Darüber hinaus sind individualisierte Boni die
                                        noch weiter an den Lebenswelten eines Indivi-                Grundlage für Gamification-Ansätze.

                                           GAMIFIZIERUNG
                                           Wikipedia definiert ‚Gamification‘ als Übertragung von spieltypischen Vorgängen und Elementen in neue Um-
                                           gebungen und Zusammenhänge mit dem Ziel der Verhaltenssteuerung oder der Motivation.32 Gamifizierung
                                           macht das eigene Leben zum Spiel. Darunter fallen simple Beispiele wie ein Smiley auf dem Display der Zahn-
                                           bürste, der motiviert, tatsächlich zwei Minuten Zähne zu putzen, Apps für Kinder die spielend gesundheits-
                                           bezogene Sachverhalte näherbringen, oder Plattformen wie Runtastic. Besondere Bedeutung hat dabei der
                                           Community-Gedanke. Die eigenen Freunde, Bekannten oder Nachbarn in einer gemeinsamen Challenge an-
                                           feuern, die Fortschritte der anderen beobachten – das steigert die Akzeptanz, erhöht das Durchhaltevermögen
                                           und stärkt die Gemeinschaft. Die Kollegin bekommt einen Urlaubstag geschenkt, weil sie jeden Tag Treppen
                                           steigt statt Fahrstuhl zu fahren? Das kann andere Kollegen motivieren, es ihr gleich zu tun. Für Krankenkassen
                                           bieten solche Ansätze zukünftig ein riesiges Potential auch die Menschen zu erreichen, die sonst schwer zu
                                           erreichen sind.

                                                                                                                                                    25
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