PRÄVENTION DIE ZUKUNFT DER - Jacqueline Zimmermann Jan Berger
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VORWORT 3 INHALTSANGABE SUMMARY & KEY TAKE-AWAYS 5 PRÄAMBEL 8 PRÄVENTION – EINE ZUKUNFTSFÄHIGE DEFINITION 11 GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION 14 Der Staat als Gesundheitsdienstleister 15 Prävention: kommunal, greifbar, individuell 16 Anlaufstellen neu interpretiert 17 Exkurs 1: Smarte Communities 20 Gesundheitsdatens(ch)atz 23 TECHNOLOGISCHE MÖGLICHKEITEN 27 Die Zukunft ist schon da 28 DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION Ein Paradigmenwechsel für Big Pharma 29 Bessere Möglichkeiten brauchen bessere gesellschaftliche Debatten 30 Lebensverlängerung 31 KI-Diagnostik 34 Exkurs 2: Gegen Verschwendung 35 Der Mensch als digitaler Zwilling 36 Exkurs 3: Digital Twins die empowern 38 SYSTEMISCHE HÜRDEN UND BLOCKIERER 39 Daten- und Informationsschutz 40 Abbau von Gesundheitssilos 42 FAZIT 44 HANDLUNGSAPPELLE 46 EXPERTEN 48 METHODIK 56 ENDNOTEN 59 IMPRESSUM 62 2
Liebe Leserinnen und Leser, Doch wie werden wir in Zukunft leben? In den nächsten drei bis vier Jahrzehnten wird unsere die Welt verändert sich in einer Geschwin- Gesellschaft eine überwiegend alte sein – über VORWORT digkeit, die wir vor einigen Jahren noch nicht die Hälfte der Bevölkerung wird älter sein als für möglich gehalten haben. In den letzten 30 45 Jahre. Die durchschnittliche Lebenserwar- Jahren sehen wir ganz neuartige Entwicklun- tung wird an der 90-Jahre-Marke kratzen. Ist gen – von politischen Systemen bis hin zu den es da noch zeitgemäß, ein Gesundheitssystem Technologien, die unser Leben und Arbeiten zu perfektionieren, das in seinem Wesen auf grundlegend neugestalten. Unsere altbewährten die Bereitstellung medizinischer Versorgung im Systeme müssen sich in vielen Lebensbereichen Krankheitsfall für alle ausgelegt ist? Die Inno- den neuen Gegebenheiten anpassen. vativen unter den Krankenkassen haben diese Frage schon vor Jahren klar verneint und befas- Unser Gesundheitssystem wurde vor über 100 sen sich intensiv mit Veränderungen ihrer An- Jahren entwickelt und ist eine Erfolgsgeschich- gebote, die es ihren Versicherten ermöglichen, te, um die man uns in der Welt beneidet. Es ent- nicht nur ein langes, sondern vor allem ein lan- stand vor dem Hintergrund der Arbeits- und Le- ges und gesundes Leben zu führen. bensbedingungen des Industriezeitalters Ende des 19. Jahrhunderts. Der größte Teil der deut- Die vorliegende Studie „Die Zukunft der Prä- schen Bevölkerung war jung und die Lebenser- vention“ beleuchtet diese Veränderungen. wartung lag Jahrzehnte unter der heutigen. Wer Technologische Sprünge, angetrieben durch In- formationstechnologien und gigantische Fort- DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION damals für die Gesundheit der breiten Masse sorgen wollte, hat sich mit der Frage befasst, schritte z.B. in der Genetik, ermöglichen uns wie der Zugang zu medizinischer Versorgung heute schon eine viel bessere Diagnostik, Ein- für alle sozial gerecht gewährleistet werden dämmung und Vermeidung von Krankheiten, kann. Allen Veränderungen zum Trotz ist diese bevor sie auftreten und eine auf jeden einzel- Frage für die gesetzliche Krankenversicherung nen Menschen angepasste Gesundheitsplanung auch heute noch aktuell. und im Krankheitsfall auch Therapie. Doch beleuchtet diese Studie nicht nur die Möglich- keiten, die technologischer Fortschritt mit sich bringt, sondern auch die Frage, wie wir die- sen für alle nutzbar machen können. Diese He- rausforderung ist nicht durch Technologie zu bewältigen. Sie zu meistern heißt, das System Gesundheit mit all seinen Akteur:innen neu zu denken. Neue Gesetze und Regelwerke, neue Geschäftsmodelle sowie neue Formen von Bil- dung und Aufklärung zu entwickeln, die schon in der Kindheit eines Menschen ansetzen, um ihn ein ganzes Jahrhundert lang gesund zu er- halten. 3
Die Zukunftsforscher:innen von 2b AHEAD haben im vergangenen halben Jahr mögliche Zukünfte eines präventiven Gesundheitssys- VORWORT tems erforscht. Im Rahmen dieser Arbeit wur- den Tiefeninterviews mit über 20 Expert:innen aus Deutschland, Europa und Amerika geführt, die heute schon daran arbeiten, Angebote und Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Ge- sunderhaltung der Menschen in den Mittel- punkt stellen. Diese Studie erörtert Aspekte möglicher Zu- künfte und wirft Fragen auf, auf die wir als Gesellschaft im Dialog Antworten finden müs- sen. Für die AOK PLUS beinhaltet die Studie wichtige Ansätze, um für die Gesundheit ihrer Versicherten in den Dialog mit Politiker:innen, Unternehmen der Gesundheitswirtschaft, Ge- sundheitsakteur:innen und Nutzer:innen zu tre- ten und realisierbare Ansätze zu finden, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Wir hoffen, DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION dass die Studie einen Beitrag dazu leisten wird, unser Gesundheitssystem für ein deutliches Mehr an Gesunderhaltung zu öffnen. Ihre Jan Berger Dr. Stefan Knupfer Vorstand der AOK PLUS Jacqueline Zimmermann 4
SUMMARY & KEY TAKE-AWAYS Alltagsrelevante Gamification-Ansätze und in- telligentes ‚Nudging‘1 werden hier unterstützen Prävention als ganzheitliches Konzept und die Stärkung der Gesundheitskompetenz SUMMARY & KEY TAKE-AWAYS Damit Krankenkassen und die Akteure des Ge- vorantreiben. Ärzte können hier einen großen sundheitssystems den Menschen in Zukunft da- Beitrag bei Beratung und Begleitung von Prä- bei helfen können, ihren individuell maximalen ventionsmaßnahmen leisten, sofern Prävention Gesundheitszustand zu erreichen und beizu- eine stärkere Honorierung in der Gebührenord- behalten, muss Prävention als übergeordnetes nung für Kassenärzte findet. und alle Lebensbereiche betreffendes Konzept verstanden werden. Der Staat muss es sich zur Individualisierung dank Digitalisie- Aufgabe machen, alles Handeln an der Gesund- rung erhaltung der Bürger auszurichten. Das betrifft Die Verbreitung von Wearables, Gadgets und sowohl gesundheitsfördernde urbane Lebens- digitalen Gesundheitsanwendungen steigt in raumgestaltung, inklusive Gebäude- und Quar- Zukunft erheblich. Gesundheitsdaten wie Blut- tiersplanung, einen niedrigschwelligen Zugang druck, Herzfrequenz oder Temperatur können zu ÖPNV, als auch eine angemessene finanziel- so kontinuierlich getrackt und Probleme früh- le Ausstattung der Kommunen. Erst wenn dies zeitig erkannt werden. Maßnahmen zur Ge- als übergeordnetes Ziel erkannt wird, werden sunderhaltung werden zielgerichteter getroffen Maßnahmen effektiv umgesetzt und unterein- und die Lebensqualität der Menschen deutlich ander abgestimmt. Damit diese Umsetzung ge- verbessert. Ob zuhause, im Büro oder im Auto – dank moderner Sensorik ist der Gesundheits- DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION lingt, brauchen die Menschen einen objektiven Rechtsanspruch auf Prävention, damit sie auch zustand im digitalen Zwilling der Menschen in tatsächlich Unterstützung bekommen, bevor der allen Lebensräumen erfassbar. Schaden eintritt. Die anonymisierte Weitergabe der gewonnenen Daten könnte in Zukunft von Krankenkassen fi- Das Individuum im Mittelpunkt nanziell belohnt werden. Mit dem Einverständ- Auch wenn umfassende Prävention nicht los- nis der Menschen kann auch die Pharmafor- gelöst von der Gemeinschaft funktioniert, wird schung die gesammelten Informationen nutzen in Zukunft die Förderung der Gesundheitskom- und die Entwicklung maßgeschneiderter Thera- petenz des Individuums im Mittelpunkt stehen. pien ermöglichen. Das Geschäftsmodell „eine Eine großangelegte Aufklärung über die Sinn- Pille für alle“ hat ausgedient. ‚Pay for Perfor- haftigkeit von Prävention ist hier wesentlich, mance‘ wird der neue Standard. damit Menschen den konkreten Mehrwert einer gesünderen Handlungsweise verstehen können. 6
Ein besserer Datenschutz Je mehr Gesundheitsdaten vorhanden sind, des- to individueller und effektiver kann Problemen SUMMARY & KEY TAKE-AWAYS vorgebeugt werden. Hierfür wird sich jedoch die Datenschutzdebatte grundsätzlich wandeln müssen. Gerade in Deutschland gilt der strengs- te Datenschutz nach wie vor als der effektivste. Eine konstruktive Diskussion über die sinnvolle Nutzung von ohnehin gesammelten Daten und die Umwandlung in wertvolle Information wird so im Keim erstickt und den Menschen eine Aufklärung über den möglichen Mehrwert ver- wehrt. Zukünftig wird der Austausch von Da- ten zum Teil des Solidarprinzips. Während die Politik heute die Verwendung von Daten strikt vorschreibt oder verweigert, wird in Zukunft das Individuum selbst über die Nutzung der ei- genen Informationen entscheiden dürfen. Ein (langes) Leben ohne Krankheit? DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION Die Fortschritte der Anti-Seneszenz-Therapien und der Gentechnik werden bahnbrechende Ent- wicklungen mit sich bringen. Fast jede Krank- heit – Krebs, Herzerkrankungen, Demenz – hat als hervorstechenden Risikofaktor das Alter. Dank der rasanten Fortschritte von Anti-Senes- zenz-Therapien werden altersbedingte Krank- heiten in Zukunft frühzeitig vermieden. Modernisierung als Pflichtaufgabe Damit die gesamtgesellschaftliche Aufgabe Prä- vention gelingen kann, müssen Silos im Ge- sundheitswesen abgebaut werden. Akteure sind in Zukunft untereinander vernetzt. So wird auch die Evaluation erleichtert. Krankenkassen-über- greifende Zusammenarbeit ist hier unerlässlich. Dies setzt eine moderne und zeitgemäße digi- tale Ausstattung aller Akteure im Gesundheits- system voraus, um eine effiziente Kommunika- tion und Ressourcenverteilung zu ermöglichen. Die Modernisierung der Kommunikationstech- nologien wird hier zur Pflicht – auch von staat- licher Seite. 7
Präambel Das zugrundeliegende Solidarsystem stammt aus einer Zeit, in der nur die wenigsten Men- Seit nunmehr fast 140 Jahren ist das Hauptziel schen lange ihren Ruhestand genießen konnten PRÄAMBEL von (gesetzlichen) Krankenversicherern, Kran- und die Geburtenrate die Sterbefälle mehr als ke zu versorgen, gesundheitliche Beschwerden ausgleichen konnte. zu heilen und Menschen im arbeitsfähigen Al- ter bei Krankheit möglichst schnell wieder in Dieses System stößt heute – mit sinkenden Ge- die Betriebe zu bringen. burtenraten und einer immer älter werdenden Bevölkerung an seine Grenzen. Schon heu- Der Fokus liegt auf Kuration oder, zugespitzt te sind fast 50 Prozent der Bevölkerung älter formuliert, auf Wiederherstellung von Ar- als 45 Jahre.2 Während der erste Gesundheits- beitsfähigkeit, neben der finanziellen markt die klassische Gesundheitsversorgung Absicherung im Krankheits- umfasst, finanziert überwiegend durch gesetz- fall. liche oder private Krankenversicherer, ist es der zweite bzw. dritte Gesundheitsmarkt der ra- sant wächst. Der zweite Gesundheitsmarkt zählt alle überwiegend privat finanzierten Angebote, wie Fitnessstudio-Mitgliedschaften, Gadgets, Sportgeräte, Nahrungsergänzungsmittel oder frei verkäufliche Arzneimittel.3 Der sich der- zeit abgrenzende dritte Gesundheitsmarkt ist DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION nicht abschließend definiert, basiert aber haupt- sächlich auf dem Datenfluss, den die Akteu- re des Gesundheitswesens produzieren4. Auf diesen Märkten spielen staatliche Maßnahmen aber schon heute nur eine untergeordnete Rolle und verstärken so das Risiko einer Zweiklas- sengesellschaft zwischen denen, die sich oh- 240 MILLIARDEN nehin privat versorgen können und denen, die dazu nicht ausreichend Mittel haben. EURO Es ist unstrittig, dass Krankenversiche- Gesamtaufwendungen gesetzlicher Krankenversicherer rer auch in Zukunft die Bereitsteller von Heilung bleiben. Aber die aktuellen Ent- wicklungen erfordern darüber hinaus die Gewährleistung eines möglichst langen und gesunden Lebens. Moderne Medizin und Technologie liefern dazu das Handwerkszeug. 0,25 % werden für Prävention ausgegeben Für Krankenversicherer bedeutet das einen Paradigmenwechsel von Krank- heitsversorgung hin zu Prävention und Gesunderhaltung und damit auch von Kranken- zu Gesundheitsversicherungen. Der Weg dahin ist weit. Stand heute wer- den nur etwa 0,25 Prozent der Gesamtauf- wendungen gesetzlicher Krankenversiche- rer von rund 240 Milliarden €5 für Prävention bzw. Gesunderhaltung ausgegeben. Quelle: https://www.gkv-spitzenverband.de/service/zahlen_und_grafiken/gkv_kennzahlen/gkv_kennzahlen.jspde/ 9
Die gemeinsame Studie von AOK PLUS und 2b AHEAD widmet sich daher der Frage, wie die- ser Paradigmenwechsel gelingen kann und wel- PRÄAMBEL che Akteure dabei mitwirken wollen, soll(t)en und könn(t)en. Sie untersucht, welche techno- logischen Entwicklungen dabei zukünftig von Bedeutung sind und welche gesellschaftlichen Debatten das erfordert. Außerdem werden Hür- den adressiert, die in diesem Fall vor allem sys- temischer und politischer Natur sind. So viel vorab: Bei genauerem Hinsehen ent- puppt sich die Gewährleistung eines individuell möglichst langen und gesunden Lebens als ge- samtgesellschaftliche Aufgabe. Machen wir uns also nichts vor, eine Krankenversicherung und ein Zukunftsinstitut allein können diese Mam- mutaufgabe nicht schultern, aber sie können mögliche Zukünfte aufzeigen, Handlungsspiel- räume darstellen und vor allem einen öffentli- chen Diskurs anregen. Nichts Geringeres ist das DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION Ziel unserer gemeinsamen Studie. 10
PRÄVENTION - EINE ZUKUNFTSFÄHIGE DEFINITION
Prävention - „Als wir mit der Genomdatenbank an- eine zukunftsfähige Definition fingen, hatten wir große Erwartungen und waren dann überrascht, dass für die PRÄVENTION - EINE ZUKUNFTSFÄHIGE DEFINITION Gemäß Paragraf 20 Absatz 1 Präventionsgesetz meisten Menschen als Empfehlung doch wird zwischen primärer Prävention, als Ver- bleibt: Beweg dich mehr, rauch nicht, trink minderung oder Vermeidung von Krankheitsri- weniger und vermeide Stress.“ siken, und Gesundheitsförderung als Unterstüt- (übersetzt aus dem Englischen) Taavi Einaste zung der Versicherten beim selbstbestimmten, (Nortal) gesundheitsorientierten Handeln, unterschie- den. Konkreter werden gesetzliche Krankenver- … aber was für Person A gesunde Ernährung sicherer verpflichtet, Leistungen für individuell und ausreichende Bewegung ist, kann für Per- verhaltensbezogene Prävention sowie Präven- son B schädlich sein. Bei 83,1 Millionen Men- tion und Gesunderhaltung in den Lebenswelten schen in Deutschland sind das ca. 83,1 Mil- (beispielsweise Wohnen, Lernen, Freizeit, me- lionen unterschiedliche Definitionen eines dizinische Versorgung) und der betrieblichen individuell guten Gesundheitszustands.6 Gesundheitsförderung bereitzustellen. Theore- tisch ermöglicht das eine ganzheitliche, an den In Zukunft müssen gesetzliche Krankenversi- Belangen des Individuums ausgerichtete Leis- cherer daher Wege finden, eine Art ‚Gesund- tungserbringung und damit die von Yuval Noah heits-Bestandsaufnahme‘ durchzuführen, um Harari in ‚Homo Deus‘ postulierte Gewährleis- die Rolle des Unterstützenden überhaupt aus- DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION tung eines möglichst langen und gesunden Le- füllen zu können. Das Präventionsparadoxon bens. In den Tiefeninterviews der Studie hat ist hier eine besondere Herausforderung. Denn sich diese Definition allerdings als noch zu eng Menschen, die ohnehin zu den sogenannten gefasst erwiesen. ‚Selbstoptimierern‘ zählen, also solche, die nach kontinuierlicher Verbesserung ihrer indi- „Unser gesundheitsorientiertes Ver- viduellen Eigenschaften und Fähigkeiten stre- halten findet immer in einem Kontext ben, sei es durch Smartwatches, spezielle Di- statt. Verhalten und Verhältnis gehören äten oder körperliches Training,7 sind häufig grundsätzlich immer zusammen in der wesentlich empfänglicher für Präventionsange- Betrachtung. Unsere Schwachstelle ist, bote als Personen, die sich nicht so stark mit der dass wir eben häufig nur eindimensional eigenen Gesundheit beschäftigen. Gerade diese auf etwas gucken, ob auf Verhalten oder könnten aber von guten Angeboten rund um das Verhältnis.” Thema Gesunderhaltung profitieren. Thomas Flieger (BaobaB Healthcare) „[…] Prävention ist für mich stark mit Diese Studie sieht Prävention daher als die Ge- Bildung verbunden. Das heißt, dass ich samtheit aller Maßnahmen, die einer Gefähr- persönlich gebildet werde, um zu lernen dung oder Beeinträchtigung von Menschen wie man lebenswertig, langfristig und entgegenwirken und zu einer gesunden Lebens- nachhaltig lebt.“ weise beitragen. Auf der Ebene des Einzelnen Jürgen Keitel (Dassault Systémes) bedeutet das Unterstützung bei der Erreichung eines individuell guten Gesundheitszustandes Das erfordert großflächig angelegte, aber diffe- und dessen Erhalt oder gar dessen Verbesse- renzierte Aufklärung, denn die Generation der rung. Dazu muss zunächst verinnerlicht wer- heute 45- bis 50-Jährigen bedarf einer anderen den, dass es zwar ein paar universelle Faktoren Ansprache als die Generation Z oder Kinder gibt, die der Gesunderhaltung dienen, wie bei- und Jugendliche. Bei Privatunternehmen der spielsweise ‚gesunde Ernährung‘ oder ‚ausrei- Plattformökonomie ist individuelle Ansprache chend Bewegung‘… seit jeher selbstverständlich, aber gesetzliche Krankenversicherer und staatliche Institutionen hängen teilweise stark hinterher, was zum Teil 12
PRÄVENTION - EINE ZUKUNFTSFÄHIGE DEFINITION widersinniger Reglementierung geschuldet ist, tung vor allem die Daten aus dem zweiten und wie beispielsweise Paragraf 284 SGB V, der die dritten Gesundheitsmarkt eine Rolle. Entwicklung individualisierter Präventionsan- gebote de facto verbietet. Es ist beispielsweise gut möglich, dass eine Per- Vor allem für Kinder und Jugendliche gibt es in son in den letzten fünf Jahren einmal wegen ei- den Lebenswelten Kita und Schule zahlreiche ner Grippe in medizinischer Behandlung war, Programme, die zu gesundem Verhalten moti- aber privat zwei Sportvereinsmitgliedschaften vieren und damit positiv auf die Lebenswelten pflegt, täglich Rad fährt und Achtsamkeitsyoga der beteiligten Akteure wirken. Wie sich gerade praktiziert, um eine gesunde Work-Life-Balan- dieser Bereich in Zukunft entwickelt, ist wegen ce aufrechtzuerhalten – die letzteren Daten sind der Vielzahl an Involvierten und bevorstehen- für Prävention entscheidend, denn sie geben den Entwicklungen nur am Rande Bestandteil Einblicke in persönliche Einstellungen, Präfe- dieser Studie, sollte aber einen festen Platz in renzen und Verhaltensweisen. zukünftigen bundesweiten Bildungsstrategien einnehmen. Ein Überblick erfolgreicher Projek- Diese Daten laufen aktuell zu großen Teilen te im Hinblick auf das zunehmend gravierender bei Google und Co. auf, die mit immer indivi- werdende Problem des Übergewichts bei Kin- duelleren Angeboten in Sachen Prävention in DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION dern8 bietet der „Ideenwettbewerb Verhältnis- Zukunft mit gesetzlichen Krankenversicherern prävention“ der Gesellschaft für Versicherungs- konkurrieren könnten– trotz undurchsichtiger wissenschaft und -Gestaltung e.V. (GVG)9. Datenschutzvereinbarungen oder teilweise in- Weitere Best-Practice-Beispiele finden sich in transparenten Algorithmen. der „Grünen Liste Prävention“10 sowie der Pra- xisdatenbank „Gesundheitliche Chancengleich- Zu guter Prävention gehören neben individuel- heit“.11 ler Verhaltenssteuerung auch Maßnahmen, die ein Kollektiv von Menschen oder gar die ganze Unabhängig des Alters einer Person braucht es Gesellschaft betreffen. in Zukunft einen anderen Umgang mit gesund- heitsrelevanten Daten, denn auch die Nicht- Wir gehen hierzulande häufig davon aus, Selbstoptimierer besitzen im Regelfall ein dass z.B. saubere Luft oder Trinkwasser eine Smartphone, dass im Hintergrund zumindest Selbstverständlichkeit sind, dabei gibt es star- die Möglichkeit bietet, alle möglichen Daten ke regionale Unterschiede beispielsweise der zur körperlichen Befindlichkeit zu erfassen, von Feinstaubbelastung oder des Lärmpegels in Bewegung über Schlaf hin zu Menstruationszy- vielbefahrenen Gebieten oder Innenstädten, die klen und Ernährung. wiederum Einzelpersonen und Gruppen von Menschen unterschiedlich beeinflussen. Imp- „Das Problem ist nur, wenn wir es in der fungen dienen nicht nur zum Schutz Einzelner Medizin nicht hinkriegen, solche Daten in sondern auch Dritter. Die Bekämpfung des Kli- Prozesse aufzunehmen - ja, dann macht mawandels und seiner Folgen kommt nicht nur es eben Apple.“ dem Individuum zugute, sondern allen Men- Dr. Felix Nensa (Universitätsklinikum Essen) schen und ist auch aus Präventionssicht von enormer Bedeutung. Auch wenn Daten, die den ersten Gesundheits- markt betreffen, wie Krankheitsbefunde, Arzt- Kurzum: Prävention umfasst sowohl Verhal- konsultationen o.ä. immer noch bei Kranken- tens- als auch Verhältnisprävention und richtet kassen bzw. der Kassenärztlichen Vereinigung sich an Individuen sowie Kollektive von Men- liegen, spielen für Prävention und Gesunderhal- schen gleichermaßen. 13
GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION
GESELLSCHAFTLICH zustands der Bürger:innen definiert ist, wird SINNVOLLE PRÄVENTION schnell klar, dass Quartiers- und Gebäudepla- nung weitreichenden Einfluss auf Gelingen oder GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION Der Staat als Gesundheitsdienstleister Scheitern von Präventionsansätzen haben kön- nen. „Es gibt theoretisch die Möglichkeit eine Win-Win-Win-Situation herzustellen: Ver- Ein Betondschungel ohne Parks und Wiesen sicherer sind froh, wenn niemand Leistun- lädt nicht zur Bewegung ein. Wo es keinen Zu- gen einfordert, Individuen sind froh, wenn gang zu öffentlichem Nahverkehr gibt oder der sie keinen Schaden erleiden und der Staat Nahverkehr nicht zu Naherholungsgebieten wäre froh, wenn die Ausgaben sinken. Es führt, werden Individuen in ihren Möglichkei- ist daher völlig unbegreiflich, dass alle ten, sich um ihre Gesunderhaltung ausreichend drei Parteien das Gleiche wollen, aber zu kümmern eingeschränkt, vor allem solche, in der Realität niemand gute Anreize für die aufgrund ihres sozioökonomischen Status diesen Wandel schafft.“ kein eigenes Fahrzeug zur Verfügung haben. So (übersetzt aus dem Englischen) Moshe Tamir (Axell) wird Ungleichheit verschärft. Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufga- Ein weiterer Punkt, bei dem staatliche Maßnah- be kann nur gelingen, wenn der Staat sich ak- men direkten Einfluss auf Prävention haben, ist tiv als Akteur eines neuen Gesundheitswesens Luftströmungsanalyse bzw. -planung in öffent- lichen Gebäuden. Mit Hilfe von 3D-Simulatio- DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION wahrnimmt. In Zukunft müssen Prävention und Gesunderhaltung dafür zum Paradigma staatli- nen können digitale Zwillinge von Räumen, Ge- chen Handelns erhoben und ‚health-in-all-poli- bäuden und Plätzen erstellt werden. Luftströme cies‘-Ansätze weiter verstärkt werden. Staatli- und Tröpfchenbewegungen können so simuliert che Maßnahmen richten sich dann an der Frage und gesteuert werden. Das kann bei zukünfti- aus, ob sie der Gesunderhaltung der Bürger die- gen Pandemien oder der alljährlichen Grippe- nen. Das bezieht sich auch auf Belange, die auf welle die Ansteckungsgefahr erheblich reduzie- den ersten Blick nichts mit Prävention oder ren.12 Gesunderhaltung zu tun haben, wie beispiels- weise Städtebauplanung oder Bauverordnun- gen. Wenn Prävention aber als Gesamtheit an Maßnahmen zur Förderung des Gesundheits- 15
Hier können wissenschaftliche Erkenntnisse in eine Hilfe gibt. [...] Sie muss zwar, objektiv Zukunft einen echten gesellschaftlichen Mehr- gesehen, auch präventive Leistungen wert für Bauregulierungen oder Hygienekon- anbieten, aber in welchem Umfang, das ist GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION zepte im öffentlichen Raum und Nahverkehr gesetzlich nicht definiert.“ bieten. Auch Zertifikate sind denkbar, um einen Frederick Groeger-Roth (LPR Niedersachsen) Anreiz für die Anfangsinvestition zu schaffen. Vor allem staatliche Institutionen sind in Zu- Damit ‚Intervention bei Schaden‘ zu ‚Präventi- kunft daher gefordert, Präventionsgedanken in on vor Schaden‘ wird, braucht es in Zukunft ei- ihr Handeln zu integrieren und einzufordern. nen objektiven Rechtsanspruch auf Prävention. Dieser muss mit finanziellen Mitteln untermau- Prävention: individuell, greifbar, ert werden. Reicht die Finanzkraft einer Kom- kommunal mune nicht aus, sollten Gelder aus übergeord- neten Haushalten wie beispielsweise dem des Prävention ist auch in Zukunft zutiefst regional. Bundes bereitgestellt werden. Hier sind vor allem Kommunen in der Pflicht. Offensichtlich sind kommunale Gegebenhei- Nicht jede kommunale Präventionsmaßnahme ten hinsichtlich der finanziellen Ausstattung ist jedoch automatisch eine gute. Es ist ein of- jedoch höchst unterschiedlich. Eine Kommune fenes Geheimnis, dass ‚theoretisch gut gemeint‘ wie München hat andere Mittel zur Verfügung häufig in ‚praktisch schlecht ausgeführt‘ resul- als Gelsenkirchen.13 Das bedeutet nicht, dass es tiert. So geschehen beispielsweise auf der Berli- nicht sehr sinnvoll sein kann, sich trotzdem an DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION ner Friedrichstraße, wo 500 Meter Flaniermeile besonders erfolgreichen Konzepten finanzstär- inklusive zweispurigem Radweg eine gute Mil- kerer Kommunen zu orientieren, genauso wenig lion Euro kosten, wobei die Hälfte davon für wie es impliziert, dass gute Konzepte immer Evaluation und Kommunikation15 ausgegeben teuer sind. wurde, oder in Gelenau bei Kamenz (Sachsen) wo es seit 2010 einen eigenen Bahnübergang für „Gesundheitsförderung ist ja keine Radfahrer gibt, ohne dass jemals der dazugehö- Pflichtleistung einer Kommune, sondern rige Fahrradweg gebaut wurde.16 eine freiwillige Leistung, weshalb das schon mal leichter aus dem Blick gerät.“ Auch im Bereich des betrieblichen Gesund- Dr. Beate Großmann (BV Prävention) heitsmanagements wurde gute Prävention eher erschwert als erleichtert. Bisher konnten Unter- Bei klammen Kassen wird an dieser Stell- nehmen pro Mitarbeiter:in etwa 500 Euro für schraube zuerst gespart – Radweg? Zu teuer. Präventionsmaßnahmen ohne Zertifizierung Begrünung der Freifläche XY? Verschoben. steuerlich abrechnen. Seit 2019 gilt eine Zerti- fizierungspflicht für Maßnahmen, die als Be- Natürlich besteht für Individuen gemäß Pa- triebliches Gesundheitsmanagement (BGM) ragraf 14 Absatz 1 SGB VI immer die Mög- steuerlich geltend gemacht werden können. lichkeit, Leistungen zu beantragen, wenn ein Prinzipiell ist die Sorge um Qualitätssicherung Schaden entstanden ist, der subjektive Rechts- gut gemeint, erschwert aber gerade kleineren, anspruch auf Hilfe greift. Das gilt auch für den lokalen Anbietern die Zusammenarbeit, da eine Bereich der Jugendhilfe (s. Paragraf 27 SGB Zertifizierung für diese Betriebe oft finanziell VIII Hilfe zur Erziehung). Der Wortsinn von nicht tragbar ist. Das Gleiche gilt für innovative Prävention liegt aber auf ‚prä‘, was so viel be- Ansätze, die in der Praxis noch nicht großflä- deutet wie ‚vorher‘, ‚zeitlich früher liegend‘.14 chig erprobt und daher nicht im Leistungskata- log der Krankenkassen enthalten sind.17 „[...] Die finanzielle Verpflichtung der Kommune, Leistungen tatsächlich zu hin- Gute, nachhaltige und wirksame Präventions- terlegen, kommt immer erst dann, wenn ansätze müssen nicht immer groß oder bun- es einen individuellen Rechtsanspruch auf desweit angeboten werden. Gerade bei sehr be- 16
darfsbezogenen, kleinräumigen Ansätzen bietet lich ist, wird die Interaktion in Zukunft per- beispielsweise der Kooperationsverbund Ge- sönlicher, schneller und auf die Bedürfnisse sundheitliche Chancengleichheit einen Krite- des Versicherten abgestimmt. Den Erstkontakt GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION rienkatalog an, der für Praktiker:innen in allen übernehmen, zumindest für die Digitalaffinen, Lebenswelten einfach anwendbar ist und die Chatbots oder digitale Avatare (des sonst per- Qualitätsentwicklung in der soziallagenbezo- sönlichen Ansprechpartners), die auf Basis der genen Gesundheitsförderung sowie die ressort- über den Versicherten hinterlegten Daten, indi- übergreifende Zusammenarbeit fördert. viduelle und regionale Angebote und Informa- tionen bereitstellen. ‚Matching‘, ‚Collaborative In Zukunft sollten sich staatliche Maßnahmen Filtering‘ und ‚Profiling‘ sind hier die Stichwor- an Design-Thinking-Prinzipien orientieren, bei te. Damit ist im E-Commerce die Verknüpfung denen Ansätze aus der Perspektive der späteren unterschiedlicher Datenpunkte einer Person ge- Nutzer:innen gedacht und nach der Umsetzung meint, die für ein individuelles Angebot rele- auf ihre Nutzerfreundlichkeit hin untersucht vant sind. Jeder und jede kennt dies vermutlich werden, um sie gegebenenfalls adaptieren zu vom privaten Onlineshopping – aufgrund der können. Bestellhistorie und Eingaben in Suchmaschinen versuchen Händler möglichst passende Ange- Staatliche Maßnahmen an den Bedürfnissen der bote zu generieren, wobei nicht nur die eigenen Nutzenden auszurichten ist nur ein Schritt von Eingaben von Bedeutung sind, sondern auch vielen. Prävention und Gesunderhaltungsange- Suchanfragen von Nutzer:innen mit ähnlichen bote müssen ins Sichtfeld der Menschen gerückt Eigenschaften (Alter, Geschlecht etc.) in das Er- DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION werden, denn die meisten wissen nicht, welche gebnis einfließen. Möglichkeiten sie haben, was in ihrer Kommu- ne angeboten wird oder wozu die Schule ihrer Zu den institutionellen Zugehstrukturen zählen Kinder eigentlich verpflichtet wäre. auch Ärzt:innen, insbesondere wenn es um die Herstellung eines guten Gesundheitszustands Anlaufstellen neu interpretiert aus einem nicht optimalen Status quo oder mit medizinischer Historie geht. Ärzt:innen kom- „Wir versuchen ‘unsichtbare Services‘ men jedoch häufig ungewollt in ein moralisches aufzubauen, mit sehr niedrigschwelligen Dilemma, denn die Gebührenordnung nach der Angeboten. [...] Wenn wir jetzt an Prä- Ärzt:innen ihre Leistungen abrechnen, ist auf vention denken, sollten wir jedem Bürger Prävention schlicht nicht ausgelegt. die bestmögliche Betreuung bieten, damit die ‘gesündere Wahl zur leichteren Wahl‘ „Die Meisten sind Ärzte geworden, weil wird.“ sie einfach den Patienten helfen wollen. (übersetzt aus dem Englischen) Kalle Killar (BMAS Und sie kommen da teilweise in Wider- Estland) spruch, dass sie sagen müssen, okay ich kann jetzt entweder Geld verdienen. Oder Angebote sollten in Zukunft niedrigschwellig ich kann sogar noch Geld verlieren, indem und an den Lebenswelten des Individuums aus- ich den Patienten präventiv unterstütze.“ gerichtet sein. Das braucht verschiedene ‚Zu- Dr. Felix Nensa (Universitätsklinikum Essen) gehstrukturen‘, also Anlaufstellen, von denen jeder und jede weiß, wo sie zu finden sind. Zum Mit den digitalen Gesundheitsanwendungen einen institutionelle, beispielsweise bei Kran- (DiGAs) wurde bereits ein Schritt in die rich- kenkassen oder öffentlichen Ämtern: proaktiv, tige Richtung gemacht. Das DiGA-Fast-Track- immer erreichbar, vollständig digitalisiert und Verfahren beschleunigt außerdem den Pro- lokal – eine Art ‚unsichtbarer Diener‘. Während zess bis neue Methoden und Technologien in heute die Kommunikation zwischen Kranken- die Gebührenordnung aufgenommen werden versicherern und Versicherten bürokratisch, in noch weiter. Allerdings kann eine App, wenn Papierform, oft langwierig und/oder unpersön- sie einmal zugelassen ist, nicht ohne erneutes 17
Prüfungsverfahren erweitert werden. Das ist insofern verständlich, als das so sichergestellt werden kann, dass im Nachhinein keine inva- GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION siven oder unsichereren Methoden angewendet werden. Auf der anderen Seite hat das den ent- schiedenen Nachteil, dass weitere Funktionen nicht nachträglich in der gleichen App laufen können, also beispielsweise eine App zur Be- handlung von Migräne nicht auch noch eine Funktion gegen chronische Schmerzen auf- nehmen kann – zumindest nicht ohne ein neues Bewertungsverfahren. Aus Sicht der App-Be- treiber verschlechtert das die Chancen im App- Store erheblich, auf der ersten Seite gelistet zu werden, denn eine App, die eine Million Nutzer mit Migräne und/oder chronischen Schmerzen verwenden ist ‚besser‘ gelistet als eine App, die ‚nur‘ 500.000 Migräneleidende bedient. Außer- dem brauchen manche Nutzer:innen dann ver- schiedene Apps, was Komplexität und Zeitauf- wand erhöht und so potentiell die Attraktivität DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION der Nutzung schmälert. „Da sollte man vielleicht mal überlegen, dass man nicht ganz so viel Angst davor hat, auch mal neue Methoden, neue Technologien abrechenbar zu machen. Man kann das ja immer noch mit einem Verfallsdatum versehen und sagen, wie ich das jetzt auch gemacht habe, okay, wir probieren das jetzt einfach mal. Und je personalisierter die Medizin wird, desto schwieriger ist dann natürlich, das Ganze evidenzbasiert zu gestalten. Und dann muss man sich vielleicht mal andere Möglichkeiten überlegen.“ Dr. Felix Nensa (Universitätsklinikum Essen) In Zukunft könnten neue Anwendungen vorläu- fig zugelassen und anhand der Daten, die durch die Nutzung bei den Anwendern auflaufen, evaluiert werden. Erweist sich die Anwendung als sinnvoll, kann die Zulassung endgültig er- teilt oder im gegenteiligen Fall eben widerrufen werden. Um Ärzt:innen neben der Erstanlauf- stelle für Heilung auch zu Begleiter:innen von Prävention zu machen, bedarf es auch hier neu- er Anreize und ggf. Zusatzqualifikationen oder Schulungen. 18
„Sie gehen zum Arzt, der quartalsweise Gewerbeeinheiten im Erdgeschoss von Mehrfa- bei der Kassenärztlichen Vereinigung ab- milienhäusern, ungenutzte Bauernhöfe in länd- rechnet, sammelt über seine Punktwerte lichen Regionen, Gemeinschaftsgärten oder zur GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION sein Geld ein, rechnet die Leistungen je Zwischennutzung freigegebene Flächen bieten Versicherten einmal im Quartal ab. Aber vielfältige Möglichkeiten, kreativen Ideen der das Geld fließt der Krankheit nach. Das Bevölkerung vor Ort Raum zu geben, sich ak- ist die zentrale Stellschraube. Gib dem tiv einzubinden und die menschlichen Bedürf- Hausarzt eine Gesundheitslotsenrolle. Für nisse nach sozialem Austausch zu befriedigen. mich ist er Gesundheitsbegleiter.“ Die Aktivitäten können dabei von Kochkursen Thomas Flieger (BaobaB Healthcare) über Sportangebote oder Bildungsformate flexi- bel auf aktuelle Trends und lokale Gegebenhei- Digitalisierung kann auch hier eine Chance ten abgestimmt werden. sein. Apps wie ‚Voize‘, ein Sprachassistent spe- ziell entwickelt für Pflegeberufe oder Plattfor- Vor allem im städtischen Raum scheitern sol- men wie ‚Recare‘, die das Entlassmanagement che Konzepte daran, dass sie in Konkurrenz zu von Krankenhäusern digitalisieren, verkürzen den Renditeerwartungen von Investoren stehen. die Zeit, die für Dokumentation aufgewendet Dabei haben Bundesländer bzw. Gemeinden ei- werden muss, erheblich. Das schafft mehr Zeit gentlich nach Paragraf 1 Absatz 5 Baugesetz- für Menschlichkeit, Beratung und Aufklärung. buch (BauGB) die Pflicht, dafür zu sorgen, dass Bauleitplanung, die die Nutzung von Grundstü- cken regelt, einer nachhaltigen städtebaulichen DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION Aufgrund der Regionalität von Prävention brau- chen auch Kommunen selbst in Zukunft Zu- Entwicklung dient, die auch soziale Aspekte gehstrukturen. Da davon auszugehen ist, dass berücksichtigt, wobei in Absatz 6 explizit von das Filialnetz aufgrund der generellen Verrin- ‚gesunden‘ Wohn- und Arbeitsverhältnissen die gerung der Anzahl von Krankenkassen eher Rede ist.19 abnimmt,18 gehören dazu in Zukunft Anlauf- stellen direkt in den Quartieren. Leerstehende 19
Exkurs 1: Smarte Communities Anstatt diese Maßnahmen breit über die gan- ze Bevölkerung zu verteilen, kann ein gezielter Die Prävention der Zukunft ist ‚glokal‘, sie fin- Einsatz Ausbrüche verschiedenster virulenter GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION det in ‚smarten Communities‘ aber auch auf Krankheiten frühzeitig eindämmen. nationaler und internationaler Ebene statt. Ein gutes Beispiel dafür ist der ‚Infektionswetter- Das Prinzip der community-orientierten Prä- bericht‘ der im Rahmen der Corona-Pandemie vention, gestützt auf Gesundheitsmonitoring vom Harvard-Epidemiologen Michael Minas20 und Diagnostik, wird in Zukunft aber nicht nur vorgeschlagen wurde. Eine Sequenzierung der via App oder Gadgets in Quartiere und Stadt- Blutbestände in Blutbanken ermöglicht ein ge- bezirke integriert. Vielmehr werden physische naues Bild vergangener und gegenwärtiger Vi- Health-Spaces in den Lebensräumen entste- rusinfektionen und Antikörper in einer Popula- hen, die Menschen sowieso schon frequentie- tion. ren, wie Büros oder Co-Working-Places, Bahn- höfe, Shoppingzentren, Kiezzentren oder Parks. Werden diese Daten auf ähnliche Weise erhoben Denn die Welt ist nicht nur digital. wie Wetterdaten, werden Blutspendezentren oder Krankenhäuser zu „Wetterstationen“ oder ‚Gesundheits-Pods‘ ermöglichen eine Kombi- auch Virenstationen. Auf nationaler oder inter- nation aus alltäglicher Diagnostik, Video- oder nationaler Ebene ergibt sich so ein globaler In- Präsenzberatung und nehmen Menschen unbe- fektionswetterbericht, der auch auf Landkreise queme Wege zu Ärzt:innen oder Diagnosezen- tren ab. Schick ausgestattet und sich ins Ambi- DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION heruntergebrochen werden kann. Ähnlich wie heutzutage Wetterwarnungen ein Standard-Fea- ente der Umgebung einfügend, stellen sie einen ture jeder Wetter-App sind, können so epide- bequemen Andockpunkt dar, der mehr an einen miologische Warnungen Communities helfen, Apple-Store als eine Arztpraxis erinnert. Die in sich schnell an die gesundheitlichen Gegeben- solchen Pods erhobenen Daten ermöglichen den heiten anzupassen. Wo heute im Büro zwischen Auf bau von Gesundheitsökosystemen. Idealer- Tür und Angel bemerkt wird, dass viele Kolle- weise werden sie durch Kooperationen mehre- gen mit Grippe krankgeschrieben sind, können rer Kassen betrieben. Diese Gesundheits-Pods in Zukunft epidemiologische Wettervorhersa- sind der digitale Gesundheitslotse mit physi- gen helfen, Entscheidungshilfen für präventive scher Schnittstelle – einfach erreichbar, für Verhaltensanpassungen zu geben. jede:n zugänglich, individuelle Empfehlungen gebend. Auch wenn der Auf bau und die War- Schon heute ist deutlich, wie stark sich die tung solcher Pods eine signifikante Investition Hygienemaßnahmen während der Corona-Pan- mit sich bringt, ist der Mehrwert eines solchen demie auch auf Influenza-Viren ausgewirkt Systems langfristig spürbar. haben.21 20
Neben solchen Gesundheits-Pods können Zu- Solche Initiator:innen müssen aktiv dazu ge- kunftsquartiere auch mithilfe ihrer eigenen Be- schult werden, bei welcher Instanz es welche völkerung zur Prävention beitragen. Gesund- Mittel oder Informationen gibt. Ein positives GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION heitsbeauftragte (Jugendliche, Rentner:innen, Beispiel ist Papenburg mit dem Projekt „Kom- Schulgesundheitshelfer:innen etc.) können Da- munale Gesundheit“. Hier wurde aus jeder Le- ten in ihrer Community erheben, die es erlau- benswelt je ein:e Vertreter:in benannt, also ei- ben, quartiersspezifische Angebote zu entwi- ne:n für Vereine, eine:n aus der Lebenswelt ckeln und wirkungsvolle Gesundheitsanreize zu Schule, für Arbeit, aus dem Krankenhaus etc., finden. Kampagnen für gesündere Ernährung die dann nach eingehender Bedarfsermittlung oder zur Stressreduktion werden nicht mehr gemeinsam in Dialog treten und Vorschläge er- landesweit oder stadtweit platziert, sondern arbeiten. Das erfordert in Zukunft flächende- können so spezifisch auf Quartiere ausgerichtet ckenden Kompetenzauf bau in allen Lebenswel- werden. ten. Denn Programme funktionieren nur dann gut, wenn auch Eltern, Lehrer:innen, Erzie- Damit sich die Angebote an den Lebenswelten her:innen und Arbeitnehmer:innen wissen, dass der Menschen orientieren und Alltagsrelevanz sie überhaupt Ansprüche auf bestimmte Leis- entfalten, müssen Kommunen zunächst ermit- tungen haben und deren Sinnhaftigkeit begrei- teln, welche Bedarfe überhaupt bestehen. Das fen. braucht strukturierte Datenerhebung und Infor- mationsaustausch zwischen einzelnen Akteu- So kann ‚Projektitis‘ vermieden werden, die ren. sonst oft dazu führt, dass es viele zersplitterte DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION Einzelkassenleistungen gibt, aber kein zusam- „Eine Kommune kann sich ja zusammen- menhängendes Gesundheitskonzept. Dazu wäre setzen in einem Steuerungskreis und es auch hilfreich, zu überprüfen, ob der derzei- gucken, was zeigt unsere Gesundheits- tige „GKV-Leitfaden Prävention“ vom GKV- berichterstattung.“ Spitzenverband überhaupt noch zeitgemäß ist. Dr. Beate Großmann (BV Prävention) Mit der „Landesrahmenvereinbarung Gesund- heitsförderung und Prävention“ wurde eine Stellen niedergelassene Ärzt:innen beispiels- erste Weiche gestellt, um die Zusammenarbeit weise fest, dass es ein Problem mit Alkoholkon- der verschiedenen Akteure in den Lebenswel- sum oder Adipositas gibt, kann die Kommune ten zu fördern. Dennoch ist es aktuell so, dass entsprechende Maßnahmen planen. Bei der Eta- sich Programme unterschiedlicher Krankenkas- blierung solcher Maßnahmen zu Prävention und sen an ein bestimmtes Setting richten, was zu Gesunderhaltung ist es wichtig, dass es eine:n einem unkoordinierten Flickenteppich führen Initiator:in gibt. kann. So kann es passieren, dass eine Kranken- kasse in fünf Kindergärten einer Kommune ge- „Die Prozesse, die gut funktionieren, sunde Ernährung fördert, die nächste in zwei haben immer eine:n Multiplikator:in, also weiteren Kindern spielerisch Spaß an Bewe- Kümmerer. Im Großen ist es eine Greta, gung näherbringt und die dritte sich um Präven- die auf die Straße geht und für alle die tion von Essstörungen kümmert,22 anstatt dass Figur ist, aber im Kleinen fängt das auch es ein gemeinsames Konzept mehrerer Kran- schon so an.“ kenkassen gibt, das ein größeres Spektrum an Fabian Ross (DSPN) Präventionsleistungen anbietet. 21
„Das ist ein Punkt, den man im Präven- tionsgesetz noch ändern könnte, dass Krankenkassen auf kommunaler Ebene GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION oder in den Lebenswelten nicht einzeln agieren, sondern gemeinschaftlich. So, dass wir in Kitas zum Beispiel nicht zig unterschiedliche Programme haben, die die Akteure womöglich präventionsmüde machen.“ Dr. Beate Großmann (BV Prävention) Unter ‚Zugehstrukturen‘ kann auch zählen, dass Gesundheitskassen Kooperationen mit Pri- vatunternehmen eingehen. Beispielsweise mit Supermärkten vor Ort, die, wenn jemand nach längerer Zeit aus dem Krankenhaus oder einer Reha-Einrichtung wieder nach Hause kommt, dafür Sorge tragen, dass die Person zeitnah Le- bensmittel geliefert bekommt. Gerade fernab von größeren Städten, in denen es zahlreiche DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION Lieferangebote gibt, kann das eine große Er- leichterung sein. 22
Gesundheitsdatens(ch)atz Dabei lassen sich oft Zusammenhänge mit an- deren Handlungsfeldern finden und für eine ef- Präventionsmaßnahmen innerhalb einer Kom- fektive Präventionsstruktur miteinander ver- GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION mune fokussieren häufig die klassischen Prä- knüpfen. So kann ein achtsamer Umgang mit ventionsbereiche Bewegung, Ernährung oder der eigenen Gesundheit beispielsweise zu regel- Suchtprävention. Dass es sich im Sinne einer mäßigerer Bewegung und ausgewogenerer Er- ganzheitlichen Prävention lohnt, diese eindi- nährung führen, was wiederum nicht nur Herz- mensionalen Bereiche weiter zu denken, zeigt Kreislauf-Problemen, sondern auch psychischen das Präventionsfeld der psychischen Gesund- Krankheiten vorbeugt. Mit den rapiden Fort- heit. Erkrankungen in diesem komplexen Feld schritten im Bereich der Diagnostik lässt sich nehmen seit einigen Jahren konstant zu, wie der Prävention darüber hinaus auf eine andere Da- untenstehenden Grafik zu entnehmen ist.23 tengrundlage stützen. DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION Quelle: https://www.deutschepsychotherapeutenvereinigung.de/ 23
So leiden Stand heute rund 1,6 Millionen en wählen können, ob sie die Ergebnisse einer Menschen in Deutschland an Alzheimer-De- DNA-Analyse mitgeteilt bekommen möchten. menz, täglich kommen etwa 900 Neuer- Unabhängig von der individuellen Entscheidung GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION krankte hinzu 24. Eine Diagnose ist allerdings sollten sie immer gefragt werden, ob sie die Er- bis zu acht Jahre vor dem eigentlichen Aus- gebnisse anonymisiert für Forschungszwecke bruch der Krankheit möglich. Dazu reicht eine zur Verfügung stellen würden. Auch bei der einfache Blutprobe, die mithilfe eines Immuno- wachsenden Belastung durch mentale Gesund- Infrarot-Sensors untersucht wird.25 Vor allem heitsbeeinträchtigungen wie Depressionen, Angehörige können enorm von einer frühzeiti- können Genomsequenzierungen helfen, pass- gen Diagnose profitieren und auch manche Be- genauere Therapien zu entwickeln und damit troffene ziehen die frühe Gewissheit der Unwis- schlimmen Verläufen vorzubeugen.28 senheit vor. Auch andere teils schwere Krankheiten lassen Prinzipiell gilt, je mehr Gesundheitsdaten zu ei- sich mit moderner Technologie frühzeitig er- ner Person vorhanden sind, desto individuelle- kennen, beispielsweise mittels Genomanalyse. re Präventionsansätze sind möglich. Dazu zählt auch die Entschlüsselung des eigenen Mikrobi- „Die Diskussion um die Verwendung oms, denn um gesunde Ernährung auf die Ein- genetischer Daten versteckt sich hinter zelperson abzustimmen, ist es wichtig zu verste- ethischen Aspekten. [...] Die eigent- hen, welche Bakterien dem Darm fehlen, bzw. liche Diskussion dreht sich um fehlende welche Diät sich besonders für die individuelle verantwortungsorientierte Gesundheits- (Darm-)Gesundheit eignet. Auch hier sind Se- DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION kompetenz.“ quenzierungen für etwa 100 Euro möglich. Das Thomas Flieger (BaobaB Healthcare) ist weitaus günstiger, als Menschen mit Durch- fall oder Magenproblemen zu therapieren. In Auch wenn für den Großteil der Menschen das Zukunft sollte die Entschlüsselung des eigenen Ergebnis einer Genomanalyse bleibt: „Beweg Mikrobioms daher eine Standardleistung zur dich mehr, trink wenig Alkohol, rauch nicht und Bestimmung des individuellen Gesundheits- ernähre dich gesund.“ So könnte doch auf eini- zustandes sein. Das kann nicht nur akuten Be- ge wenige ein schwerwiegender Befund warten. schwerden vorbeugen, sondern sich auch als Obwohl eine Genomsequenzierung bereits heu- Prävention von weitaus schwereren Krankhei- te weniger als 100 Dollar kostet26 und ca. 6.000 ten erweisen. Aktuell forschen Wissenschaftler Krankheiten detektiert werden können, ist in zunehmend zu der Verbindung zwischen Darm Deutschland die Abrechnung über die Kran- und Gehirn. Es steht die Vermutung im Raum, kenkassen schlicht nicht möglich.27 Dabei reicht dass beispielsweise Parkinson bei manchen ‚im auch hier eine einfache Blut- oder Speichelpro- Darm beginnt‘. Die Krankheit wird ebenfalls be aus, um DNA zu gewinnen. durch fehlgefaltete Proteine verursacht, genau- er durch Alpha-Synuclein. Manche Darmbak- Fakt ist, dass eine Genomdatenbank mit freiwil- terien können ähnliche Fehlfaltungen produzie- liger Beteiligung einen Mehrwert für Präventi- ren, die die Kaskade fehlproduzierter Proteine on bietet. Denn so lassen sich die Empfehlungen im Gehirn verstärken.29 für ein Individuum auch mit persönlichen Ri- siken untermauern und tendenziell die Akzep- Ein weiterer Schlüssel zu individualisierter tanz der vorgeschlagenen Präventions- und Ge- Prävention verbirgt sich in den zahlreichen sunderhaltungsmaßnahmen erhöhen. mHealth-Daten, die über ständig besser wer- Allerdings nur dann, wenn die Daten eines Indi- dende Sensoren in Smartwatches oder -phones viduums mit denen von anderen ins Verhältnis und weiteren Home-Gadgets (z.B. smarte Toi- gesetzt werden können, denn zu 99 Prozent sind letten) die menschliche Gesundheit vermessen. die Gene einer Person identisch mit der von an- deren. Hier bedarf es einer neuen gesellschaft- lichen Debatte. In Zukunft sollten Individu- 24
„[…] in Deutschland suchen ja viele Leute duums orientieren. Statt nur Rabatte in Form immer nach dem Problem und nicht nach von Rückerstattung zu gewährleisten, könn- der Lösung. Und dann heißt es immer ten Krankenkassen basierend auf individuel- GESELLSCHAFTLICH SINNVOLLE PRÄVENTION schnell, naja, aber die Geräte sind nicht len Kundenprofilen persönliche Prämien bieten. geeicht und die Geräte haben eine grö- Die Kostenübernahme für den Musikstreaming- ßere Variabilität und so weiter. Wobei Dienst, der Zuschuss zum Lastenrad, ein Be- man natürlich dann sagen muss, naja, ich such in der Sauna oder beim Lieblingsitalie- habe vielleicht den einen Messwert im ner um die Ecke – ohne auch nur ein Formular Klinikum alle X Wochen. Der ist dann total ausfüllen zu müssen, niedrigschwellig und nah geeicht, oder ich habe einen Messwert – so kann eine Beziehung zum Mitglied über vom Patienten, den der vielleicht alle fünf seine Versicherungsnummer hinaus aufgebaut Minuten akquiriert hat, mit einer größe- werden und erst dann kann auch wirklich die ren Variabilität. Aber dadurch, dass sie Rede von Alltagsrelevanz sein. Prämien einzu- einfach unfassbar viel mehr Messpunkte bauen, die nicht direkt mit klassischen Präven- haben, ist am Ende die Genauigkeit viel tionsfaktoren wie Ernährung oder Bewegung größer bei dem Home Device.“ zusammenhängen, ist wichtig, um dem bereits Dr. Felix Nensa (Universitätsklinikum Essen) beschriebenen Präventionsparadoxon entgegen- zuwirken, also auch die Menschen zu erreichen, Schon heute bieten Krankenkassen mit Bonus- die mit den klassischen Maßnahmen eben nicht programmen die Möglichkeit, für das Teilen zu motivieren sind. DIE ZUKUNFT DER PRÄVENTION dieser Daten Rabatte oder Prämien zu bekom- men. So können Versicherte für die gängigen Denkbar ist außerdem, dass Menschen, die bei- Vorsorgeuntersuchungen wie Hautkrebsscree- spielsweise um ihre fehlende Disziplin wissen, nings oder eine professionelle Zahnreinigung, freiwillig eine Sanktion einbauen lassen, die aber auch für eine Mitgliedschaft im Sportver- zur Anwendung kommt, wenn die ausgemach- ein Bonuspunkte sammeln, die in Prämien oder ten Ziele verfehlt werden. Rückerstattungen umgewandelt werden kön- nen.30 31 In Zukunft werden sich solche Systeme Darüber hinaus sind individualisierte Boni die noch weiter an den Lebenswelten eines Indivi- Grundlage für Gamification-Ansätze. GAMIFIZIERUNG Wikipedia definiert ‚Gamification‘ als Übertragung von spieltypischen Vorgängen und Elementen in neue Um- gebungen und Zusammenhänge mit dem Ziel der Verhaltenssteuerung oder der Motivation.32 Gamifizierung macht das eigene Leben zum Spiel. Darunter fallen simple Beispiele wie ein Smiley auf dem Display der Zahn- bürste, der motiviert, tatsächlich zwei Minuten Zähne zu putzen, Apps für Kinder die spielend gesundheits- bezogene Sachverhalte näherbringen, oder Plattformen wie Runtastic. Besondere Bedeutung hat dabei der Community-Gedanke. Die eigenen Freunde, Bekannten oder Nachbarn in einer gemeinsamen Challenge an- feuern, die Fortschritte der anderen beobachten – das steigert die Akzeptanz, erhöht das Durchhaltevermögen und stärkt die Gemeinschaft. Die Kollegin bekommt einen Urlaubstag geschenkt, weil sie jeden Tag Treppen steigt statt Fahrstuhl zu fahren? Das kann andere Kollegen motivieren, es ihr gleich zu tun. Für Krankenkassen bieten solche Ansätze zukünftig ein riesiges Potential auch die Menschen zu erreichen, die sonst schwer zu erreichen sind. 25
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