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penZeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 471–486

Konferenzberichte

Überforderung der Form – Erkundung einer neuen Fragestellung in der Theorie der Dich-
tung und in der interpretatorischen Praxis (Tagung des Instituts für Germanistik der Univer-
sität Leipzig, Abteilung Literaturwissenschaft, und des Department of German der University
of Chicago in Leipzig, 23.–24.10.2021)

Das ästhetische Phänomen, das die Organisatoren                     Präsenz-Absenz-Bewegung: eine im oppositären
Jan Urbich (Leipzig) und David E. Wellbery                          zweistrophigen Verlauf vollzogene Verschiebung
(Chicago) mit ihrem Symposium anvisierten,                          der temporalen Orientierung, bei der die zunächst
bezeichnen sie als ‚Überforderung der Form‘. Das                    antizipierte Zukunft in ihrer Vergegenwärtigung
spezifische Interesse liegt auf ästhetisch-poetischen               das vorangegangene Präsens ‚entgegenwärtigt‘ und
Formen literarischer Werke, die mit ihren explizit                  in die Erinnerung verweist.
formreflexiven Strukturmomenten in Grenzberei-                          Dirk Oschmann (Leipzig) (Innere Unend-
che eintreten. So beabsichtigen sie, über ihre eige-                lichkeit. Zur Paradoxie einer Denkfigur um 1800)
nen Darstellungsmöglichkeiten hinauszuweisen                        benannte neben der ‚Verzeitlichung der Form‘ und
und diese gerade dadurch zu reflektieren. Solche                    der ‚Krise des Ganzen‘ den ‚Sprengbegriff ‘ des
‚überforderten‘ Formen nutzen mittelbar ihre vor-                   Unendlichen, das in einem Paradigmenwechsel
handene, tradierte Gestalt zur Etablierung bereits                  als Steigerungsform des Beweglichen das defizitäre
in ihnen enthaltener, sich bisher aber nur defizitär                Endliche ersetzt und per se zu einer Heraus- oder
artikulierender Potentiale. Das Ziel ist, mittels                   Überforderung der Form führt, als dritten Faktor
der Beschreibung dieser verschieden ausgeprägten                    für die radikale, dynamisierte Formensprach-
Formbetonungen neue Einsichten in literaturge-                      lichkeit der Literatur 1750–1830. Anhand einer
schichtliche und -ästhetische Zusammenhänge zu                      Denkfigur vollzog er einen Argumentationszu-
ermöglichen. Zum zweitägigen Gespräch waren                         sammenhang für die konkrete Möglichkeit der
dazu Literaturwissenschaftler:innen aus Deutsch-                    Realisierung der daraus resultierenden Idee eines
land, der Schweiz und den USA in die Bibliotheca                    in sich beweglichen, unendlichen Kunstwerks
Albertina eingeladen. Gefördert wurde die Veran-                    bei Lichtenberg, Schiller, Schleiermacher und
staltung durch die Fritz-Thyssen-Stiftung.                          Wilhelm von Humboldt nach. Ein unendliches
    Die erste Explikation lieferte Helmut Hühn                      Individuelles könne gemäß den Autoren nach
(Jena) (Zeit und Form. Überlegungen im Ausgang                      divergenten Techniken der Kombinatorik durch
von Hölderlins Gedicht ‚Hälfte des Lebens‘ ), der                   formale Operationen qua Sprache erzeugt werden,
sich ausgehend vom spezifischen Verhältnis von                      was letztendlich vom paradoxen Bestreben zeuge,
Form und Geformten im singulären Kunstwerk,                         Unendlichkeit kontrollieren und ‚das Ganze‘ doch
Hölderlins Hälfte des Lebens, und mündend in die                    retten zu wollen.
psychoanalytische ‚Containing‘-Theorie Wilfred                          Goethes Drama Iphigenie auf Tauris sei, so
R. Bions poetischen Formzusammenhängen annä-                        David Wellberys These (Zur Formfrage in
herte. Dieses differenzierbare Verhältnis definierte                Goethes ‚Iphigenie auf Tauris‘ ), formale Erinne-
er als Beziehung von Container und contained,                       rungsarbeit, weil es sich im Sinne von Hegels
wobei es zur Formüberforderung kommen kann,                         Begriff der ‚Erinnerung‘ selbst als Tragödie mit
wenn das Gefäß einen Gehalt aufnimmt, den es                        entsprechenden normativen Strukturen erfasst,
selbst nicht tragen kann. Das ästhetisch erfahr-                    reflektiert und dadurch überschreitet. Ziel der
bare Leistungsvermögen der Form von Hälfte                          tragischen Formarbeit an der vom Subjektiven
des Lebens sei eine im Gedicht selbst enthaltene                    losgelösten Darstellung des menschlichen Geistes

© 2022 - http://doi.org/10.3726/92171_471 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen
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seien die Wertmaßstäbe Goethes, „der höchste            Dynamik unerwartete, d. h. der ursprünglichen
reinste Punkt des Wahren“ und eine „innere Art          formalen Absicht widersprechende poetische Ge-
der Verklärung“ (Goethe), und erreicht würden           bilde erzeuge – als im poetischen Verlauf freigege-
diese, wenn sich die Vergegenständlichung in            bener ‚Kontrollverlust‘ einer extrem beherrschten
einer bis zum Extrem durchkomponierten Form             und durchkomponierten Sprache.
als Sprache verwirkliche. Zwei normative Ord-              Stilistisch-seismografisches Gelände betrat
nungen lägen der tragischen Form der Iphigenie          Juliane Vogel (Konstanz) (Überforderte Syntax.
zugrunde: das mythisch artikulierte Gesetz der          Hofmannsthals Chandos-Brief ), die die Eloquenz
Blutverwandtschaft und die öffentlich ausformu-         des Chandos-Briefs Hofmannsthals im Verhältnis
lierte Ordnung der Götter.                              zu seinem Inhalt untersuchte und fragte, inwiefern
    Die formtheoretische Analyse Jan Urbichs            die zu beobachtende ‚übersteigerte‘ Hypotaxe der
(Schlussfiguren. Überforderung der inneren Form in      Zerstückelung der Sprache bis hin zum Sprach-
Goethes Gedicht ‚Dornburg‘) von Dornburg betonte        versagen Ausdruck zu verleihen vermag. Dies
die formensprachliche Strukturentscheidung der          münde in den performativen Selbstwiderspruch
logischen Partikeln ‚wenn/dann‘, durch die das          einer Zerfallsdynamik als eine über den Brief
Gedicht die Form einer konditionalen Aussage            hinausgehende Krise des Zusammenhangs. Der
erhält und seine Sprechhandlungen in der Form           Brief folge dem antiken Konzept des Periodenbaus,
der materialen Implikation als dreiteilig logisch       das er letztendlich dissoziiere, denn der sich im
gestaffelte Folgerungsbeziehung verbindet. Das          Textverlauf manifestierende Stil konstruiere kein
artikuliere sich als gesetzartige Folgerungsbezie-      einheitliches, sondern ein erschüttertes Gewebe.
hung, die das Präsens des Gedichts paradoxerweise       Die zwei Antipoden, ciceronianischer Idealstil
als Augenblickshaftigkeit und als wiederholbare,        und attischer Stil, entwickelten eine Dynamik, die
überzeitliche Gültigkeit einlöse. Ausgehend von         den Stil selbst auflöse, die Syntax dekomponiere,
Überlegungen zum Zusammenhang von Form                  desintegriere und ein ‚stilgeschichtliches Patt‘
und Allgemeinheit folgerte er, das Gedicht sei          hervorrufe.
die singuläre poetische Einsetzung der Form als            Den ersten Ta g ra hmend, ga lt Dieter
Ausdruck gesetzartiger Allgemeinheit und könne          Burdorfs (Leipzig) Abendvortrag einmal mehr
als Reflexion über den entscheidenden Anteil des        Friedrich Hölderlin. In Hölderlins Zackern. Leis-
Allgemeinen am Begriff der formensprachlichen           tung und Überforderung der Odenform entfaltete
Individualität moderner Dichtung begriffen              er anhand der asklepiadeischen und alkäischen
werden. Ein Beispiel für eine Formüberforderung         Odenform, die jeweils antikisierend und die deut-
durch poetische Form.                                   sche Sprache par excellence überfordernd seien, die
    Daniel Carr anza (Cambridge) (Litera-               Idee einer Poetik des Zackerns: Sie sei der ‚missing
turgeschichte als Formproblem: Stefan Georges           link‘ zwischen Hölderlin, verstanden als Beginn
Reim) beobachtete eine Konvergenz in den                der deutschen Moderne, und Celan, der daran
George-Rezeptionen Kommerells, Benjamins                anschließen wolle. Zackern, in der Bedeutung
und Adornos: Die Gedichte mit volksliedhaften           ‚umpflügen‘ oder ‚zum Acker gehen‘, verweise
Strukturen dechiffrierten eine ‚verweigerte‘ Li-        unmittelbar auf die Etymologie des Verses.
teraturgeschichte der nicht mehr realisierbaren            Die zweite Sektion eröffnete Jan Röhnert
Möglichkeit. Carranza fragte, inwiefern sich unter      (Braunschweig) („Aufforderung“. Aporien expres-
Fokussierung der Reimtechnik Georges die in die         sionistischer Form am Beispiel Wilhelm Klemms)
präsemantische Lauttextur eingeschriebene, ‚ver-        mit Ausführungen zu der an Klemm konstatierten
krustete‘ literarische Historizität entfalten lasse,    Aporie, dass jede vorhandene ‚wiederaufbereitete‘
denn diese Sedimente seien ‚klangarchäologisch‘         Form des von den Expressionisten bedienten
nachvollziehbar. Jenes Lektüreverfahren der             gattungskonformen Formspektrums zugleich die
‚phonische Archäologie‘ vollzog er am Gedicht Im        Aufforderung inkludiere, sich zu überschreiten.
windes-weben. Überforderung der Form wurde hier         Ausgehend von Rilke sei jenes Verfahren von Un-
im Sinne Adornos und Kommerells verstanden              terwerfung und Aufbegehren als Überforderung
als selbstreflexiver und darum selbstzerstöreri-        auf der Ebene der metapoetischen Bildsemantik
scher, gewaltsamer Formzwang, der durch diese           für Klemms Sonett Meine Zeit nachvollziehbar.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                             Peter Lang
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Klemms Gedicht sei Ausdruck des ubiquitären            das biblische Bilderverbot unfreiwillig drastisch
Gefühls der Überforderung und darum eine die           ausweise. Der These zufolge resultiere aus der
Form des Sonetts überstrapazierende Form. Die          Gattungsentscheidung das problematische Paradox
formale Neuerung sei eine vierzeilige, reimlose,       des ‚Bild des Bilderlosen‘, da abbildende Qualitä-
freirhythmische Strophe, die im Kontrast zum           ten und sinnliche Darstellungsstrategien genuine
‚kaleidoskopischen Zusammen- und Widerspiel‘           Elemente des zu der zu überwindenden Tonalität
der in den Worten repräsentierten Dinge stehe.         und Ästhetik gehörenden Musiktheaters seien. Die
Dieses einem seriellen Werkmuster prozessualer         Unrealisierbarkeit und damit die inhaltlich thema-
Textkonstruktionen folgende Strukturprinzip            tisierte Unvorstellbarkeit bzw. Undarstellbarkeit,
dirigiere die im einzelnen Text ausgedrückten          die sich in der empirischen Fragmentarizität kon-
Reflexionen, Bildfolgen und Motivketten, was           kretisierten, gründeten nun gerade auf dieser Form.
mit der Idee einer ‚nach innen fragmentarischen‘       Die Rezeptionsgeschichte entdecke in diesem nicht
Strophe gefasst werden könne.                          intendiert fragmentarischen Schluss der Oper
    Carsten Dutt (Heidelberg) („Morgue I.              einen Wert, d. h. das Gelingen der gescheiterten
Kleine Aster.“ Ikonizität und Selbstreflexion des      Formemphase eines Bilds im Bilderlosen. Das sei
Gedichts) charakterisierte mit der Idee der ‚iko-      die Tragik der Werkgeschichte.
nizitären Form‘ die Beziehung zwischen den                 Kritisch parallelisierte Peter Utz (Lausanne)
Elementen formal, die Kleine Aster als eine von        (Die „kleine Form“ des Feuilletons und ihre Überfor-
mimetischen Impulsen durchwaltete kumulative           derungen) die Entwicklung des Feuilletons, seine
Sukzessionsordnung strukturieren. Ikonizität           Begriffsgeschichte und den entlang des Form-Be-
als formbildendes und -betonendes Prinzip zeige        griffs entsponnenen Diskurs über die Gattung.
sich auf verschiedenen Ebenen: Auf der des ‚Wo-        Das als Rubrik und Textsorte doppelt kodierte,
rüber‘, denn die gegenständliche Referenz auf die      experimentelle und serielle Phänomen musste sich
Obduktion erfülle eine introversive Funktion als       stets an der normativen Dominanz des klassischen
reflexive Formbetonung. In Relation dazu kom-          Form-Begriffs messen und infolgedessen doppelt
me es aufgrund des ikonischen Verhältnisses von        ‚unter den Strich‘ verweisen lassen: ausgegrenzt
Rede und Vers, der an sich ikonisch sein kann,         von den politischen, wirtschaftlichen Diskursen
zu einer Inversion der Aufmerksamkeitsrichtung:        und von der ‚hohen‘ Literatur. Polemiken assozi-
Das Gedicht selbst rücke ins Bewusstsein, d. h.,       ierten basierend auf stereotypen Argumentationen
es komme zur Rückaneignung der poetischen              die Form des Feuilletons mit dem Weiblichen,
Form, indem diese preisgegeben werde. Entfaltet        Französischen und Jüdischen. Auch der von den
werde dies durch eine Erinnerungsrede, deren           Verteidigern hervorgebrachte, neu ausgerichtete
diegetische Struktur die dort eigentlich nicht vor-    Begriff der ‚kleinen Form‘ wurde in den 1930ern
gesehene Ich-Form in die Sektionsprotokollsätze        durch eine ideologische Instrumentalisierung
einschließe und ihm wiederum einen ikonizitären        ‚eingedeutscht‘ und überfordert, so dass Utz die
Sprachleib liefere. Ikonizität wird nicht durch eine   Notwendigkeit sah, einen neuen, mediengerechten
Seelensprache des Subjekts in der Erinnerung           Begriff vorzuschlagen, der die zur kreativen Über-
an das Geschehene geleistet, sondern durch die         forderung fähige Textsorte adäquat aufnehme: den
sprachlich-dingliche Präsenz des Gedichts selbst       des ‚Formats‘.
zur Darstellung gebracht, durch die ‚zerschnitte-          Zuletzt sprach Eva Geulen (Berlin) (Klassizität
nen‘ Verse, durch die entpersonalisierten, traum-      als Effekt überforderter Form bei Peter Szondi) über
haften Schmerzdiphthonge au und subkutanen             den Parallel- und Konkurrenzbegriff des Stils bei
Ekel-Interjektionen i(gi)tt.                           Szondi und fragte, wie dessen Überlegungen ins
    Den Fall einer nicht-intendierten Formüberfor-     Verhältnis mit der wissenschaftlichen Obsession
derung präsentierte Matthias Löwe (Jena) („Bild        mit seinem Stil gesetzt werden können, denn hier
des Bilderlosen“. Überforderung der Form in Arnold     zeige sich eine tragische Ironie. An der Schnittstelle
Schönbergs Oper „Moses und Aron“) mit Schönbergs       zwischen Zerfall und Entstehen einer Einheit
Fragment gebliebener Oper Moses und Aron, die          (Staiger) beschreibe Szondi eine ‚Übergangspe-
die transzendente Unvorstellbarkeit im Sinne eines     riode‘, mit der er einen Formwandel im Inneren
radikalen abstrakten Gottesbegriffs inszeniere und     des Werks nachweise. Mit der Übersetzung der

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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Form-Inhalt-Dialektik in ein thematisches Sub-          Formforschung der letzten Jahre anschließt, an-
jekt-Objekt-Verhältnis entwickele er eine ‚Theorie      dererseits mit dem Phänomen der überforderten
des Stilwandels‘. Dieser Widerspruch sei bereits im     Form wichtige neue Impulse für die allgemeine
Inneren der wiederum selbst thematischen Form           Formforschung sowie für die Spezialforschung zu
fundiert. Durch die Zweifachbesetzung der Inhalt/       den einzelnen Autoren setzt. Die Vorträge wer-
Stoff-Bezüge entständen von innen heraus neue           den, ergänzt um weitere Texte, als Sammelband
Formen, die Stoffschichten der Dramen bargen            publiziert.
selbst die problematisch gewordene alte Form als
Neue und sprengten damit die Form auf. Szondi                                                Luise Grabolle
proklamiert, dass es zwar einen Stilwandel ohne         Universität Leipzig
Stilbruch gegeben habe, folgert aber, dass es keinen    Philologische Fakultät
neuen Stil gebe. Dieses Obsoleszenz-Schicksal           Institut für Germanistik
teile die Form.                                         Geisteswissenschaftliches Zentrum
    Bei den Vorträgen handelte es sich um grund-        Beethovenstraße 15
legende, historische wie systematische Erkundun-        D–04107 Leipzig
gen eines weithin unbeforschten Terrains, aus           
einer Perspektive, die einerseits an die produktive

Schlesische Sprachreform, niederländische Netzwerke, pommerscher Petrarkismus. Sibyl-
la Schwarz (1621–1648) im Kontext (Internationale literaturwissenschaftliche Tagung an der
Universität Greifswald, 28.–30.10.2021)

In ihrem Grußwort im historischen Konferenz-            weiblichem Schreiben neu zu definieren und die
raum der Universität Greifswald betonte die Pro-        Möglichkeit bietet, den Kanon neu zu diskutieren.
rektorin der Universität Greifswald Konstanze           Die vier Problemkreise, die Birnstiels Ansicht nach
Mar x die Bedeutung des Werks der „schön                Gegenstand weiterführender Forschung sind,
Schreibenden, des frommen Kindes und der ge-            bildeten die grundlegende Struktur der Tagung.
lehrten Frau“, als welche Sibylla Schwarz in der        Diese beinhalten die vergleichende europäische
Rezeption wahrgenommen worden ist. Thomas               Perspektive, die differenzierte Auseinandersetzung
Stamm-Kuhlmann, Vorsitzender von Sibylla                mit der zeitgenössischen Opitz-Rezeption, weiter-
Schwarz e.V., hob im zweiten Grußwort die Wich-         führende Forschungsperspektiven und Fragen der
tigkeit hervor, Schwarz synchron und diachron in        Deutung durch genaue Textanalyse.
der europäischen Literaturgeschichtsschreibung             Das erste Panel I europäische Dimensionen
zu verorten. Auch betonte er die Besonderheit,          eröffnete Christian Schmitt (Oldenburg)
dass zum 400. Geburtstag der Dichterin drei             („Mehrer teils auß dem Niderlendischen verteutscht“.
Werkausgaben1 ihr Oeuvre greifbar, sichtbar und         Spielräume des Übersetzen bei Sibylla Schwarz) mit
gegenwartsbezogen machen und so die Erinne-             Überlegungen zur Rezeption und Übersetzungs-
rung an Schwarz wachgehalten und in aktuellen           tätigkeit von Sibylla Schwarz. Er hob sowohl
Forschungskontexten diskutiert werden könne.            ihren freien Umgang mit den niederländischen
   In seiner Einführung in das Tagungsthema             Vorlagen von Jacob Cats als auch die Grenzen
verwies der Veranstalter Klaus Birnstiel auf            ihrer Übersetzungstätigkeit hervor, die in einer
die erste Tagung zu Sibylla Schwarz 2013, die           Poetik des Überschreibens und Überschreitens
die Autorin erst in den literaturgeschichtlichen        kulminieren können. Die dichterische Eigenstän-
Rang gehoben habe, der ihr gebühre. Das er-             digkeit der Werke von Schwarz lässt sich u. a. in
neute Zusammenkommen von Forscher*innen                 der veränderten Anordnung finden, die den Text
geht dahingehend über die erste Tagung hinaus,          wie eine Collage zu einer neuen lyrischen Einheit
da es versucht, den Platz von Autorinnen und            zusammenfügt. So konstatierte Schmitt, dass

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                             Peter Lang
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Schwarz ein Gefühl für das Sprachmaterial und          ria, böse Lust. Martin Opitz, Sibylla Schwarz und
dessen figuratives Potenzial besitze.                  der ‚Antipetrarkismus‘ ) als Aufhänger für ihren
    Kai Bremer (Osnabrück) (Kanonbildung im            Vortrag, der beschrieb, wie eben diese Lyrikerin
Vergleich: Anna Roemers Fischer, Anna Maria van        in einen lyrischen Wettstreit im Sinne Petrarcas
Schurman und Sibylla Schwarz) konturierte in sei-      eintrat, in welchem die dichterischen Mittel
nem Vortrag die Rezeption der drei Autorinnen.         modifiziert und komplexer wurden und so eine
Die Differenz zwischen der Rezeption der beiden        Selbststilisierung als Dichterin ermöglichten.
Niederländerinnen zu Schwarz bestimmte den             Indem Bozzi die Rezeption von Gámbara durch
Vortrag. Bremer markierte signifikante Momente         Opitz konturierte, Opitz’ eigene Beschäftigung mit
der jeweiligen Rezeption, um so eine bessere Be-       Petrarca nachzeichnete und aufzeigte, wie Sibylla
urteilung der Rezeption von Schwarz zu ermögli-        Schwarz sich über Opitz mit Petrarca und dessen
chen. Die Kenntnis, die Schwarz vom Werk der           Werk auseinandersetzte, wie sie thematisch im
niederländischen Autorin Roemers Fischer haben         Liebesbegriff über Opitz hinausging und die Dich-
konnte, zeigt beispielhaft, dass es niederländische    tung als Reflexionsmedium ethischer Standpunkte
Dichterinnen mit einer guten zeitgenössischen          nutzte, zeigte Bozzi ein Beispiel für einen pluralen
Rezeption gab. Schwarz soll hierzu ins Verhältnis      Petrarkismus, der außer-petrarkische Traditionen
gesetzt werden. Die Suche nach einer alternativen      aufgreife und veränderte Liebessituationen betone.
Rezeption und der Frage nach Modellen, in denen        Bozzi beendete ihren Vortrag mit der Beobach-
die Zeitgenossen und gegenwärtige Forscher*innen       tung, dass der Antipetrarkismus nicht existent sei.
über die Autorinnen sprechen, bietet weiterführen-        Uwe Maximilian Korn (Heidelberg) (Poetik
de Forschungsperspektiven.                             der Tiefe oder Poetik der Oberfläche? Opitz-Epigo-
    Gudrun Bamberger (Leipzig) (Aus Europa             nalität als Zuschreibungskategorie der Aufklärungs-
nach Greifswald: Sibylla Schwarz in Auseinanderset-    epoche und der Germanistik am Beispiel Sibylla
zung mit Martin Opitz) setzte sich in ihrem Vortrag    Schwarz’ und des ‚Leipziger Dichterkreises‘) schloss
differenziert mit den Aufnahme-, Übersetzungs-         das zweite Panel mit Überlegungen zu kanonischen
und Adaptationsstrategien von Sibylla Schwarz in       und nicht-kanonischen Autoren. Er konturierte
Bezug auf Martin Opitz und die niederländische         Texte des Leipziger Dichterkreises, die Ähnlichkei-
Tradition (hier war erneut auf Jacob Cats zu ver-      ten zu den Texten Schwarz’ aufweisen, allerdings
weisen) auseinander. So eröffnete sie das zweite       in der Sekundärliteratur anders rezipiert wurden.
Panel II Opitz-Rezeption mit ihren aufschluss-         In seiner genauen Auseinandersetzung übertrug
reichen Überlegungen zu Schwarz’ doppelter             Korn Fragen nach der poetischen Freundschafts-
(Aneignungs-)Tendenz, die die Verbundenheit zur        codierung, der Opitz-Nachfolge oder nach der
europäischen Tradition kennzeichnet. Allerdings        Übersetzung aus dem Niederländischen aus der
verdeutlichte Bamberger auch den Veränderungs-         Sibylla-Schwarz-Forschung auf den Leipziger
willen, der Schwarz’ Oeuvre auszeichne. Anhand         Dichtungskreis. Korn benannte die Ähnlichkeiten,
mehrerer Beispiele illustrierte Bamberger die          die beide Text- und Autorengruppen in der Rezep-
divergenten Bezugnahmen von Schwarz auf das            tionsgeschichte aufweisen. Er betonte allerdings
Werk Opitz’ oder Cats’, die im Feld zwischen trans-    auch markante Unterschiede, da durch den Netz-
latio, imitatio und aemulatio das kreative Spiel der   werkcharakter der Leipziger Dichter die Poetik
Autorin kennzeichnen. Auch die im Vortragstitel        der Einfachheit betont werde und zeitgenössische
angesprochene Bewegungsdynamik der Literatur,          Paradigmen gewürdigt würden. Bei Schwarz han-
die aus der europäischen Tradition in die konkrete     dele es sich um eine Forschung der Tiefe, da dort
Örtlichkeit und wieder in die Welt zurückgedacht       eine dichte Verflechtung von Leben und Wirken
werden könne, illustrierte Bamberger an den Text-      bestehe und die Exzeptionalität und Modernität
beispielen und verwies somit auf eine Perspektiven     der Werke hervorgehoben werde. Jedoch erscheine
der Intertextualitätsforschung.                        der Verweis auf Opitz als unumgänglich für beide
    Einen Bericht über die Konjunktur weiblicher       Strategien. Abschließend hielt Korn fest, dass die
Autorschaft im 16. Jahrhundert aus italienischer       Texte ähnlichen Forschungsperspektiven unterlä-
Perspektive mit besonderem Fokus auf Veronica          gen, sich jedoch die Fragen an diese unterschieden
Gámbara wählte Paola Bozzi (Milano) (Cosa              und so Kritik an der Forschungsschablone geübt

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
476 | Konferenzberichte

werden könne. Die Frage nach dem Umgang der             weitergeschrieben wird – die Schlesische Dichter-
Literaturgeschichtsschreibung mit Autoren in            schule ist für die Produktion und Rezeption von
synchroner und diachroner Perspektive stand im          Schwarz von höchster Wichtigkeit. Aus diesen
Ausblick des Vortrags.                                  Überlegungen heraus plädierte Birnstiel dafür,
    Das dritte Panel III Forschungsperspektiven         Schwarz als Effekt von Netzwerken zu begreifen.
eröffnete Gudrun Weiland (Berlin) („Klugrede“           Auch sei die Rezeptionsbedeutung für die Litera-
und „Liefdes Kort-sprak“ – die Epigrammatik der         turwissenschaft grundlegend zu befragen. Dies
Sibylla Schwarz im Kontext) und lud die Teilneh-        stellte sich als ein vielversprechender Ansatz für
menden auf eine Reise durch Textverfahren und           die weitere Forschung dar.
Kontextualisierung ein. Der Blick wurde hierbei             Im abschließenden Vortrag des Panels illus­
auf die Kontexte des Texts im Druckerzeugnis,           trierte Samantha Philips (Kiel) („Was Sappho für
besonders in der (Werk-)Ausgabe des 17. Jahr-           ein Weib gewesen…“ – Die Bedeutung der Sappho-
hunderts, gelegt und nahm thematisch u. a. die          rezeption für die Lyrik von Sibylla Schwarz) Sibylla
Frage nach Reihenfolge und Nachbartexten in             Schwarz’ Sapphorezeption. Nach einer Einführung
den Fokus. Weiland diskutierte in ihrem Vortrag         in die Überlieferungslage der Werke Sapphos bis
anschaulich das Moment der Unvollständigkeit            in die Frühe Neuzeit hinein wurde anschaulich
der Werkaus-gabe des 17. Jahrhunderts und das           vorgeführt, dass Schwarz durch eine französische
Moment der Unordnung, beides befragt vor der            Übersetzung von Ovids Heroides Kenntnis von
Folie der Unterhaltsamkeit und der weiblichen           Sappho erhalten haben könnte. Auch über Martin
Autorschaft.                                            Opitz’ Erwähnung der Autorin im Buch von der
    Klaus Birnstiel (Greifswald) (Wer agiert im         Deutschen Poeterey und seiner Beschreibung forma-
Netzwerk der Sibylla Schwarz? Nachfragen neuerer        ler Besonderheiten, die sich in der Zuschreibung
literaturwissenschaftlicher Frühneuzeitforschung)       als Sapphische Strophe niederschlägt, hat Schwarz
ging in seinem Vortrag der Frage nach, welche           von dieser Autorin erfahren können. Aufbauend
zeitgemäße Antwort auf Sibylla Schwarz und die          auf diesen Feststellungen legte Philips dar, wo
Forschung ohne eine bloße Reproduktion von For-         (intertextuelle) Verweise auf Sappho zu finden
schungsdiskursen und Meinungen gegeben werden           seien. Allerdings hat Schwarz sich nur eines all-
könne. Er berief sich in seinem Vorschlag auf die       gemeinen Sapphobildes bedient und sich formal
Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und beschrieb,            von ihr distanziert. Die Frage nach Motiven, die
inwiefern diese Theorie für das 18. Jahrhundert         in der Frühen Neuzeit für spezifisch sapphisch
greift und treffend ist. Für das 17. Jahrhundert sei    gehalten worden sind, wurde von Philips u. a. mit
die Konstellationsanalyse dahingehend erschwert,        einem Verweis auf die dominante Selbstreflexion
dass materielle Zeugen fehlten. Birnstiel zog in        des Ichs über die eigene Gefühlslage und auf die
seiner Argumentation für eine ANT im 17. Jahr-          Bedeutung der Musikalität ihrer Werke beantwor-
hundert den Ansatz Bruno Latours heran, der diese       tet. Die abschließende Auseinandersetzung mit
mit unbekannten oder auch imaginären Akteuren           der Bezeichnung von Schwarz als „pommersche
rechnen lässt – auch das Netzwerk um Schwarz sei        Sappho“, die die junge Autorin in direkte Nähe
durch eine Vielzahl unbekannter Akteure gekenn-         zur griechischen Autorin stellt, wurde mit einem
zeichnet. Als zweiten Gedanken führte Birnstiel         Verweis auf die Würdigung Schwarz’ als heraus-
Aktanten, also nicht menschliche Akteure wie z. B.      ragende Dichterin geschlossen.
Bücher, das Klima oder Tiere an, von denen vor              Das vierte Panel IV Deutungsaspekte eröffnete
allem die Bücher als wichtiger Aktant im Netzwerk       Julia Sommer (Fribourg) („Wahrheit will gesaget
von Schwarz gelten dürfen, die sie dem familiären       sein“ – der Gegensatz von Schreiben und Schweigen
Netzwerk entnehmen konnte. Wie wichtig und              im Werk von Sibylla Schwarz) mit einer Unter-
fruchtbringend die Rezeption dieser Aktanten für        suchung des besagten Dualismus von Schreiben
das Werk von Schwarz war, war bereits ausführlich       und Schweigen und befragte diese Ergebnisse
zu Beginn der Tagung diskutiert worden. Als wei-        hinsichtlich ihrer Diskursfähigkeit. Das Spiel mit
teres Beispiel führte Birnstiel an, dass Schwarz aus    Gegensätzen, das die eigene Position als Autorin
den Zusammenhängen um Martin Opitz’ und die             betone, wurde anschaulich an der Dreiteilung des
Schlesischen Dichterschule stammte und in dieser        literarischen Korpus in Schreiben (hier sind u. a.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                             Peter Lang
Konferenzberichte | 477

die Fretow-Texte und Texte zur Poetik verortet),       bzw. Knotenpunkte, die sich aus den Vorträgen
einem Zwischenraum und dem Schweigen (hier             ergaben, ließen sich wie folgt zusammenfassen:
wurde insbesondere der Faunus untersucht),             Erstens die Verfasstheit und die Voraussetzungen
veranschaulicht. Die literarischen Untergruppen        des Texts, die nicht seine inhaltliche Dimension
wurden hinsichtlich der Ständekritik, des poeti-       beinhalte und eine Diskussion um den Gegensatz
schen Selbstbewusstseins und der Stellung der Frau     ‚konkretes Objekt‘ und Digitalisat gefördert habe.
in der Gesellschaft befragt. Es stellte sich heraus,   Der zweite Knotenpunkt stehe in der Tradition der
dass die Literatur sowohl für die Faunus-Figur         Rezeption, da die Beobachtung der Medialität der
im Text als auch von Schwarz als Instrument            Darstellungsweise der Autorin von Relevanz sei. Er
genutzt wird, um sich Gehör zu verschaffen. Die        solle die Frage beantworten, wie das jeweilige Bild
Literatur wird demnach als Lösung der Probleme         von Schwarz oder auch Martin Opitz zeitgenös-
gesehen, und das geschriebene Wort ist nicht nur       sisch erzeugt worden sei. Der dritte Knotenpunkt
der Wahrnehmung behilflich, sondern bietet auch        sei die fachgeschichtliche Perspektive, die, so der
die Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen.              Konsens, einer Revision bedürfe. Die Grenzüber-
    Lina Saar (Saarbrücken) („guhte Nacht du           schreitung und das Spiel kennzeichnen den vierten
liebster Ort“ – die Bedeutung der Nacht für die Au-    Knotenpunkt, der sich in einem Angebot zur
torschaftsinszenierung von Sibylla Schwarz) fokus-     Beschreibung des Werks niederschlage. So wurde
sierte in ihrem Vortrag die Nacht als literarisches    hier perspektivisch eine Forschung um Schreib-
Motiv und als Produktionszeitraum der Autorin.         weisen und Mehrdimensionalität angesprochen.
Einführend wurde an verschiedenen Texten von           In der sich anschließenden Diskussion wurde
Schwarz die Nacht als Dichtungsgegenstand he-          betont, dass es sich hierbei nicht ausschließlich
rausgearbeitet, die auch die Gute-Nacht-Formel         um spezifische Probleme der Schwarz-Forschung
der frühneuzeitlichen Abschiedslyrik beinhalte.        handle. Davon ausgehend wurde die Frage nach
Wie Nacht und Autorschaftsinszenierung einher-         einschlägigen Forschungskonzepten für Schwarz
gehen, demonstrierte Saar in der Beschäftigung         laut, die Mechanismen des Kanonisierungspro-
mit der frühneuzeitlichen Schreibsituation von         zesses beinhalteten. Die Ergebnisse dieser Tagung
Frauen, denn hier erfüllt die Nacht eine indirekte     sollen in einen Tagungsband festgehalten werden,
Legitimationsfunktion, da die Produkte durch           dessen Publikation für 2022 vorgesehen ist.
eben diese Tätigkeit bei Nacht als Nebentätigkeit
gekennzeichnet sind. Es ist also die doppelte Be-
deutung der Nacht, die das Schreiben und Arbei-        Anmerkung
ten von Sibylla Schwarz kennzeichnet. So bestätigt
das Bedienen der Nachtmotivik in den Werken            1   Sibylla Schwarz: Ich f liege Himmel an mit un-
von Schwarz die Position der Autorin und verweist          gezähmten Pferden. Werkauswahl. Hrsg. v. G.
auf ihr poetisches Wissen. Allerdings wird die             Weiland. Leipzig 2021; Sibylla Schwarz: Werke,
Produktivität bei Nacht auch zur Bedingung der             Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe. Bd. 1: Brie-
                                                           fe, Sonette, Lyrische Stücke, Kirchenlieder, Ode,
Legitimation als Autorin und oszilliert zwischen
                                                           Epigramme und Kurzgedichte, Fretowdichtung.
dem Dichtungsideal und dem Rollenbild der Frau             Hrsg. v. M. Gratz. Leipzig 2021; Sibylla Schwarz:
im 17. Jahrhundert.                                        Deutsche Poetische Gedichte. Hrsg. v. K. Birnstiel.
    Anna Axtner-Borsutzky (Bielefeld) (Perspek-            Hannover 2021.
tiven der Sibylla-Schwarz-Forschung und Anschlüsse                                                    Anne Hertel
für die Barock-Forschung im 21. Jahrhundert)           Universität Greifswald
schloss mit ihrem Resümee und Impuls das vierte        Institut für Deutsche Philologie
Panel und die Tagung. Ausgehend von der Frage          Rubenowstr. 3
nach der Richtung bediente sich Axtner-Borsutz-        D–17489 Greifswald
ky des Bilds vom Knoten, welcher die Tagung            
seit Beginn geprägt habe. Die vier Schlagworte

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
478 | Konferenzberichte

Das Schreiben in die Hand nehmen: Transphilologische Jahrestagung ‚Femmes de Lettres‘
im 17. und 18. Jahrhundert (Interdisziplinäre Tagung in Berlin, 7.–8.10.2021)

Nachdem die zweite ‚Femmes de Lettres‘-Jahres-          Assaulted and Pursued Chastity“, einer Episode
tagung pandemiebedingt mehrmals verschoben              aus Nature’s Pictures drawn by Fancy’s Pencil to
werden musste, konnte diese im Oktober 2021 an          the Life (1656), wende Cavendish das narrative
der Humboldt-Universität zu Berlin endlich statt-       Element des cross-dressing an; die geschlechtliche
finden. Im selben Zuge wurde das zwanzigjährige         Ambiguität der Protagonistin spiegele sich in der
Jubiläum der FONTE-Stiftung zur Förderung des           von Cavendish verwendeten Sprache, u. a. in den
geisteswissenschaftlichen Nachwuchses gefeiert,         Pronomina, wider.
die diese Jahrestagungen ins Leben gerufen hat             Cornelia Sieber (Mainz) (Wiederentdeckte
und fördert. Renate Kroll und Annina Klap-              Polyphonie – portugiesische Poetinnen des 16.–18.
pert (HU Berlin) leiteten die Veranstaltung ein,        Jahrhunderts) stellte das von ihr und Dr. Ângela
die sich dem Schreiben europäischer Autorinnen          Nunes geleitete Translationsprojekt „Portugiesi-
im 17. und 18. Jahrhundert widmete. Nicht nur           sche Autorinnen“ auf der Basis von Uma Antalogia
sollten, wie Annina Klappert als Organisatorin der      improvavél: A escritura das mulheres (séculos XVI a
Tagung herausstellte, diese Autorinnen neu oder         XVIII) (2013) vor. Die Fortführung des Projekts,
wiederentdeckt werden; zugleich sollte überlegt         welches im Wintersemester 2019/20 begann, um-
werden, wie das literaturwissenschaftliche und          fasst die Dichtungen illustrer Namen wie D. Joana
literaturgeschichtliche Schreiben selbst neu zu         da Gama und Soror Violante do Ceu.
konzipieren wäre. Bei den Referentinnen handelte           Isabelle Stauffer (Eichstätt-Ingolstadt) ([E]in
es sich um Literaturwissenschaftlerinnen aus der        künstliches und gelehrtes Frauenzimmer“: Barbara
Germanistik, Anglistik und Romanistik.                  Helena Kopsch als Lyrikerin und Übersetzerin)
    Im ersten Vortrag des Tages gewährte Mar-           stellte Kopsch (1656–nach 1705) als vielseitige
lene Dirschauer (HU Berlin) einen Einblick              Dichterin und Übersetzerin vor, die Mitglied im
in Artikulationen weiblichen Begehrens in der           Pegnesischen Blumenorden war – eine der weni-
englischen Lyrik des 17. Jahrhunderts am Bei-           gen Sprachgesellschaften, die Frauen aufnahmen.
spiel der Dichterin Lady Mary Wroth („More              Die im Umfeld des Ordens gebildeten weiblichen
passion in my heart doth move.“ Manifestationen         Netzwerke zeichnen sich, so Stauffer, im Werk
weiblichen Begehrens in der englischen Lyrik des        Kopschs ab: So schrieb sie etwa Nachrufe auf oder
17. Jahrhunderts). Dirschauer stellte die Frage, wie    Hochzeits- und Figurengedichte für ihre Ordens-
sich schriftstellerischer Ehrgeiz mit performativer     kolleginnen. Von den besprochenen Beispielen
Verschwiegenheit in Wroths Texten vereinbaren           lassen sich neue Anforderungen an ein Re-writing
lasse und wies diesbezüglich auf den Sonettzyklus       der weiblichen Literaturgeschichte ableiten wie
Pamphilia to Amphilantus in Manuscript and Print        eine Infragestellung der Gattungshierarchie, eine
als Experimentierfeld unterschiedlicher Traditi-        Neubewertung von Übersetzungen und ein stär-
onslinien hin. Ihr vorsichtiges Zusammenführen          keres Einbeziehen von Intermedialität.
petrarkistischer und religiöser Elemente habe es           Astrid Dröse (Tübingen) stellte den Teil-
der Dichterin erlaubt, erstmals in der englischen       nehmerinnen abschließend das Moderata Fon-
Literaturgeschichte weltliches Begehren aus einer       te-Forum für Frühe Neuzeit-Forschung vor.
weiblicher Perspektive zu schildern.                    Dieses leistet Arbeit in drei Teilbereichen: Gender
    Julia Hoydis (Graz) (Zwischen allen Welten:         Studies/Philologie, Netzwerk/Atelier sowie Pro-
Zum Werk und der Rezeption von Margaret Ca-             jektförderung. Nach der Präsentation folgte ein
vendish) zeigte Margaret Cavendish (1623–1673)          Netzwerkgespräch, in dem mögliche gemeinsame
als eine Autorin, die ihrer Zeit durch ihr expe-        Projekte der anwesenden Wissenschaftlerinnen
rimentelles Schreiben voraus war. Hoydis de-            diskutiert wurden. Berücksichtigt wurde dabei,
monstrierte dies anhand des Texts The Convent           wie die Autorinnen des 17. und 18. Jahrhunderts
of Pleasure (1668), der den utopischen Entwurf          in den Lehrkanon eingebunden werden können.
einer weiblichen Gesellschaft sowie Anspielun-             Der erste Tag der Veranstaltung endete mit
gen auf lesbische Beziehungen enthalte. In „On          einer Lesung ausgewählter Texte von Françoise

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                             Peter Lang
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de Grafigny, Louise Labé und Maria de Zayas,            literaturtheoretischem Wissen sowie durch das
organisiert vom Secession-Verlag.                       Verfassen ‚unweiblicher‘ Textsorten wie Appelle
    Der zweite Teil der Tagung begann mit einem         und Indignationes habe sie die moralische Auto-
Vortrag von Gudrun weiland (HU Berlin) (Die             rität hergestellt, die für das Schreiben einer Satire
Feder erfassen, die Stimme finden – Sibylla Schwarz’    notwendig sei. In ihrer textanalytischen Response
„Ein Gesang wieder den Neidt“) zur Rolle des Neids      zu diesem Vortrag hob Corinna Dziudzia (Go-
im Werk der Barocklyrikerin. In ihrer Analyse           tha) Zäunemanns Verwendung hybrider Formen
demonstrierte Weiland, wie sich verschiedene            in ihren satirischen Texten hervor, bspw. in Ein
Artikulationen des Neids, z. B. Künstler- oder          Sendschreiben, in dem die Autorin die satirische
Götterneid, durch das lyrische Werk der Autorin         Überzeichnung eines geizigen jungen Mannes in
ziehen. In einer scheinbar paradoxen Wendung            konventionelle Brieffloskeln einbette. Dziudzia
werde eben dieser Neid in Schwarz’ Dichtungen           verwies zudem auf Zäunemanns Begegnungen
zum Ausgangspunkt der (Wieder-)Herstellung              mit der Zensur und auf die potentielle strategische
einer weiblich markierten Stimme.                       Rolle hybrider Formen in Reaktion auf diese.
    Es folgten Zozan Karabulut und Christian                Angela Sanmann-Graf (Lausanne) (Überset-
Wiebe (Braunschweig) (Subversive Bescheidenheit.        zung als Instrument von Gesellschaftskritik: Die Gel-
Emanzipation in der deutschen Barocklyrik), die über    lert-Übersetzerin Marianne Wilhelmine de Stevens
Emanzipationsstrategien barocker Dichterinnen           [1734–?]) stellte die Übersetzerin Marianne Wil-
wie etwa Maria Catharina Stockfleth oder Susanna        helmine de Stevens vor, die sich in Sanmann-Grafs
Elisabeth Zeidler sprachen. Im 17. Jahrhundert          Forschung zu Übersetzerinnen des 18. Jahrhun-
mussten sich die Poetinnen innerhalb eines reprä-       derts einfügt und sich z. B. hinter den Fables &
sentativen Literatursystems bewegen, in dem für         Contes de Gellert (1777) verbirgt. Im Vergleich zu
Frauen lange Zeit kein Platz vorgesehen war. Die        anderen Übersetzungen dieser Verserzählungen
im Barock üblichen Gesten der Bescheidenheit und        wie etwa derjenigen von François-Vincent Tous-
die captatio benevolentiae setzten die Dichterinnen     saint werde deutlich, dass die Übersetzerin Ein-
allerdings auch subversiv ein, was sie als emanzi-      griffe in ihren Vorlagentext tätigte, die im Interesse
patorische Strategien lesen lasse.                      der Darstellung einer Gleichheit der Geschlechter
    Annina Klappert (HU Berlin) und Sophie              stattfanden. De Stevens habe eindeutiges Interesse
Liepold (Wien) (Emilie von Berlepsch: Emanzipa-         daran gehabt, ihren Fassungen eine emanzipatori-
torisches Schreiben in vielfältiger Form) arbeiteten    sche Stoßrichtung zu geben.
in ihrem Vortrag heraus, wie von Berlepsch ihr              Zuletzt sprach Elisabeth Stadlinger (Wien)
emanzipatorisches Anliegen in unterschiedlichen li-     anhand von Elisabetta Caminèr Turra und Maria
terarischen Formen zum Ausdruck bringe. Aufsehen        Fortuna über die polarisierten Facetten des weib-
erregte ihr progressiver Aufsatz zur Gleichberechti-    lichen italienischen Literaturbetriebs während
gung in der Ehe, doch auch in Gedichten, Briefen,       des aufklärerischen Epochenumbruchs (Elisabetta
einem Drama, politischen Essays und Reiseberichten      Caminèr Turra und Maria Fortuna: Der weibliche
zeige sich das Emanzipatorische deutlich. Sie sei als   Literaturbetrieb im Italien des 18. Jahrhunderts).
Schreibende, Reisende und Salonnière in maßgeb-         Diese spiegelten den weiblichen literaturhistori-
lichen kulturellen Kreisen ihrer Zeit um 1800 aktiv     schen Diskurs auf ganz unterschiedliche Weisen
und bekannt gewesen und habe diese mitgeprägt.          wider: Während Caminèr Turra bildungspolitische
    Vera Mütherig (Münster) („Kan ich die Nar-          Ansprüche hegte und teils öffentliche Kritik an
ren nicht durch sanfte Lieder rühren / Ey! so versuch   männlichen Autoren übte, griff Fortuna bukoli-
ichs jetzt durch beissende Satyren!“. Sidonia Hedwig    sche Ideen- und Ausdruckstopoi auf und verblieb
Zäunemann als Vorreiterin satirischer Schreibweise)     weitgehend unbekannt. Stadlinger zeigte die
belegte in ihrem Vortrag und ihrer Forschung,           Strategien auf, mithilfe derer sich die Literatinnen
dass Zäunemann in ihren Werken öffentlich die           einerseits in ihr literarisches Umfeld einfügten,
gängigen Differenzierungsmuster und Dichoto-            von dem sie andererseits aber auch provoziert und
mien zwischen ‚männlichem‘ und ‚weiblichem‘             marginalisiert wurden.
Schreiben angeprangert und somit dieselben                  Die Tagung zeigte die Vielzahl und Diversität
gesprengt habe. Durch die Demonstration von             nicht nur weiblicher Autorinnen in Europa auf,

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
480 | Konferenzberichte

sondern im gleichen Maße die der dargestellten              Im Anschluss an die Tagung wird der von An-
Forschungsfragen, die mit ihrem Blick auf ex-           nina Klappert herausgegebene Sammelband Text-
perimentelles und hybrides Schreiben, Transla-          figuren der Emanzipation. Europäische Autorinnen
torik und rhetorische Navigationsstrategien ein         des 17. und 18. Jahrhunderts wieder (und wieder)
hohes Maß an Aktualität besitzen. Ebenso gab            lesen erscheinen, der das Thema des emanzipato-
es während der Veranstaltung die Gelegenheit,           rischen Schreibens aufnimmt, indem er den Fokus
Forschungsdesiderate zu besprechen: Im Werk-            auf die Analyse der Textfiguren richtet.
stattgespräch wurde u. a. auf die Notwendigkeit
hingewiesen, Autorinnen nicht bloß dahingehend                                           Anja Rekeszus
zu erforschen, ob sie im Vergleich zu männlichen        King’s College London
Kollegen ‚subversiv‘ geschrieben hätten, sondern        Department of German
sie als eigenständige Kreative ernstzunehmen.           Virginia Woolf Building, 22 Kingsway
Ebenso kamen dekoloniale Arbeitsmethoden sowie          London WC2B 6NR
eine mögliche Erweiterung des Themenfeldes über         Vereinigtes Königreich
Europa hinaus zur Sprache.                              

Anna Louisa Karsch. Werke – Netzwerke – Öffentlichkeiten (Tagung in Halberstadt als
hybride Veranstaltung, 12.–14.8.2021)

Anna Louisa Karschs Geburtstag am 1. Dezember           in Karschs Werk aktiv hergestellt? Welche Rolle
1722 jährt sich 2022 zum 300. Mal. Zur Vorberei-        spielen verschiedene Publikationsformen, etwa in
tung des Jubiläumsjahrs organisierten Ute Pott          Einzeldrucken, Zeitschriften oder Werkausgaben?
(Halberstadt), Nacim Ghanbari (Siegen) und              Welche Aufschlüsse gibt eine Hinwendung zu
Annika Hildebrandt (Siegen) im Gleimhaus                praxeologischen Fragen und zur Materialität der
Halberstadt eine Konferenz zu der Autorin. Aus          Überlieferung? Welche Wechselbeziehungen beste-
neuesten Ansätzen und Erkenntnissen der Aufklä-         hen dabei zu mündlich konstituierten Formen von
rungsforschung heraus war die Tagung auf Karschs        Öffentlichkeit, in die Karsch als gefragte Kasual-
Werk und auf die Netzwerke und Öffentlichkeiten         dichterin am preußischen Hof eingebunden war?
gerichtet, in denen sie sich bewegte. Damit einher          Die erste Sektion (Werke) wurde durch Ulrike
ging die deutliche Abwendung von der bislang häu-       Leuschner (Darmstadt) (Die ‚deutsche Sappho‘
fig zu sehr auf die Zusammenhänge von Werk und          liest Homer) eröffnet. Sie präsentierte ein unedier-
Individualbiografie fokussierten Karsch-Forschung.      tes Manuskript von Anna Louisa Karsch, das in
    In der programmatischen Einführung der              der Abschrift von Wilhelm Körte Briefe über den
Veranstalterinnen wurde anknüpfend an aktuelle          Homer von der Frau Karschin betitelt wurde. Der
Forschungen zur kollaborativen Autorschaft vor-         Vortrag arbeitete Karschs epistolare Ilias-Lektüre
geschlagen, soziale Netzwerke und die historische       als originelle Position innerhalb der zeitgenössi-
Ausformung kommunikativer Akte ins Zentrum              schen Homer-Rezeption heraus.
der Untersuchungen zu stellen. Anschließend an              Nikolas Immer (Trier) (Dichterische Hul-
aktualisierende Lektüren von Habermas’ einschlä-        digungen? Anna Louisa Karschs Versepisteln über
giger Studie Strukturwandel und Öffentlichkeit          Emilia Galotti und Die Räuber) fokussierte seinen
wurde angeregt, die Herstellung literarischer           Vortrag auf Karschs Versepistel Ueber die Emilie
Öffentlichkeiten im 18. Jahrhundert neu zu              Galotti. Karsch hatte im April 1772 in Berlin
denken. So geben etwa die Reichweite der Kor-           eine der Aufführungen von Lessings Theater-
respondenzen und die medialen Signaturen der            stück gesehen. Die Versepistel verbindet das Lob
Zirkulation Aufschluss über Netzwerkstrukturen          der lebhaften Darstellung mit der Würdigung
des literarischen Lebens. Dadurch erschließen sich      des militärischen Ruhms Herzog Ferdinands
aktuelle Fragestellungen: Wie wird Öffentlichkeit       zu Braunschweig-Lüneburg, dessen Beifall zur

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                             Peter Lang
Konferenzberichte | 481

Emilia Galotti gleichzeitig den Verfasser und die      Raum‘ in einem Brief Karschs an Gleim. Die
Schauspielerin ehre. Darauf folgen Passagen der        Vortragende arbeitete heraus, wie sich die Absenz
‚Mimen-Ekphrasis‘, die auch die Herausforderung        von Raum und damit auch von Sinn als Katachrese
der Darstellung schauspielerischer ‚Wahrheit‘ auf      begreifen lässt, die in ihrem Entzug zugleich ins
der Bühne selbstreferentiell adressieren. Immer        ästhetisch Produktive gewendet wird. In der Dis-
arbeitete heraus, wie der tyrannische Herrscher des    kussion wurde u. a. angeregt, diesen Ansatz mit
Stücks im Abschluss der Epistel als Gegenfolie des     der Theoretisierung des Epistolaren als Schreibakt
Lobs von Herzog Ferdinands Herrschertugenden           zwischen Absenz und Präsenz zu verbinden.
fungiert.                                                  Die zweite, von Julia Gerlof (Berlin) geleitete
   In der ersten Lektüresitzung präsentierte           Lektüresitzung (Lyrische Rollenspiele bei Goethe
Maria Düfert (Hannover) (Belloisens Lebenslauf )       und Karsch) war als Angebot gestaltet, Goethes
die Kurz- und Langversion des autobiografischen        Rollenspiel im West-Östlichen Divan mit Karschs
Gedichts Belloisens Lebenslauf. In der Diskussion      Rollenspielen in ausgewählten Gedichten zu ver-
ergab sich insbesondere, dass die Unterschiede der     gleichen. Im Fokus der regen Diskussion stand
Selektion und Darstellung biografischer Elemente       insbesondere das Gedicht Eigenschaften der Sapho,
in beiden Versionen auf eine komplexe Arbeit am        in dem sich Karsch einerseits der Anforderung, in
Lebenslauf der Autorin schließen lassen. Die bei-      höfischer Gesellschaft Gedichte mit vorgegebenen
den Gedichtversionen zeigen, wie die Dichotomie        Reimen zu verfertigen, fügt. Andererseits subver-
von Authentizität und Literarizität in Karschs         tiert sie die an sie gestellten Rollenanforderungen
autobiografischen Selbstentwürfen auf komplexe         bereits in der ersten Zeile („Nicht immer will ich
Weise durchkreuzt wird.                                so, wie andre Leute wollen“).
   Der Abendvortrag der Herausgeberin der Sap­             Der Beitrag von Reimar F. Lacher (Hal-
phischen Lieder, Regina Nörtemann (Berlin) (Sap-       berstadt) (Anna Louisa Karsch im Porträt. Ein
pho-Rezeption bei Anna Louisa Karsch), präsentierte    ikonografischer Spezialfall ) ergänzte die erste
Karschs poetische Rollenspiele als authentische        Sektion kunsthistorisch. In einer genauen iko-
Fiktionen. In der lyrischen Verkleidung als Sappho     nografischen Verortung einiger der wichtigsten
finde Karsch eine Form für den Ausdruck ihrer          Karsch-Porträts machte Lacher das Spektrum der
Gefühle, so dass sich die ideale in der wirklichen     visuellen Zeugnisse ihrer öffentlichen Bekanntheit
Figur auflöse. Daher sei es bei Karschs berühmten      deutlich: Die Autorin erscheint etwa als Sappho in
Brief vom 1. Juli 1761 schließlich nachrangig, ob es   einem Profilbild in antikisierender Tradition, als
sich bei den Flecken auf dem Papier um Brunnen-        Modell in einem Modekupfer von Chodowiecki,
wasser oder Tränen handele – die evozierten Trä-       aber auch – wiederum in ihrer Sappho-Rolle – als
nen des Textes („du iezt niederFallende Trähne“)       erstes Dichterstandbild in Deutschland.
hätten ihre eigene Wirklichkeit.                           Die zweite Sektion konzentrierte sich auf
   In der Fortsetzung der ersten Sektion stellte       „Netzwerke“. Den Auftakt machte Maximilian
May Mergenthaler (Columbus, OH/Bonn)                   Bach (Freiburg) (Anna Louisa Karsch als panegyri-
(Licht als lyrisches Medium bei Anna Louisa Karsch)    sche Gelegenheitsdichterin in Berlin. Anlässe, Orte,
dar, inwiefern bei Karsch lyrische Aufstiegsbewe-      Netzwerke). Er arbeitete Karschs Position innerhalb
gungen von Lichtmetaphorik durchzogen sind. So         der zeitgenössischen Panegyrik-Tradition heraus.
beginnt die Buchfassung von Belloisens Lebenslauf      Jenseits des anachronistischen Blickes auf diese
mit „Tageslicht“ und „Morgenroth“. In der Dis-         Gattung als antiemanzipatorisch, der die frühere
kussion kristallisierte sich die Frage heraus, wo      Forschung beherrschte, situierte Bach Karschs
es sich bei diesen Lichtmetaphern um typische          Panegyrik innerhalb sozialer und medialer Prakti-
zeitgenössische Topik handele und wo sich deren        ken der Inszenierung fürstlicher Herrschaft. Bach
Karsch-spezifischer Gebrauch nachweisen lasse.         konzentrierte sich dabei auf die Art der Produktion,
   Inka Kording (Heilbronn) (Katachrestische           die ‚höfischen‘ Kontexte und den Adressat:innen-
Um-Schreibungen des horror/amor vacui in Lyrik         kreis ihrer Gelegenheitsdichtung. Karsch galt als
und Briefen von Anna Louisa Karsch) präsentierte       Meisterin der rasch extemporierten Gedichte und
eine zeichentheoretisch komplexe Lektüre der           wurde – im Gegensatz etwa zu Karl Wilhelm Ram-
topografischen Tropen von ‚Wüste‘ und ‚leerem          ler – als Naturtalent wahrgenommen. In Kontexten

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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höfischer Geselligkeit knüpfte Karsch durch ihre        Natur. Anna Louisa Karschs Auserlesene Gedichte
Panegyrik vielfache Kontakte insbesondere zu            [1764]) die Rolle editorischer Praktiken in der
(hoch)adeligen Frauen. In der Diskussion wurde          Ästhetik der Natürlichkeit um 1750 heraus. Das
darauf hingewiesen, dass gerade diese Praktiken der     Paradigma der Natürlichkeit hat eine editorische
Herstellung höfischer Öffentlichkeit bei Habermas’      Tätigkeit zur Folge, die als unnatürlich wahrge-
Konzept der literarischen Öffentlichkeit ergänzend      nommene Texte entsprechend verbessert. Das gilt
mitgedacht werden sollten. Zudem zeige sich, dass       auch für die Auserlesenen Gedichte: Das Ideal des
die Frage der Spontaneität von Karschs Dichtung         unverbildeten Dichtens, als dessen Verkörperung
nicht abschließend geklärt werden könne.                Anna Louisa Karsch gefeiert wurde, bedurfte
   Thomas Assinger (Anna Louisa Karsch in               offenbar der Bearbeitung von Herausgeberseite.
der Wiener Aufklärung) präsentierte die bislang         Dadurch ergaben sich bemerkenswerte Umwer-
unerforschte österreichische Karsch-Rezeption           tungen – so wird in Sulzers Vorrede der Versuch
um 1800. Wie eine Auflistung im Wiener Da-              deutlich, das traditionelle Gelegenheitsgedicht zu
menkalender für das Jahr 1803 zeigt, wurde Karsch       naturalisieren. Die editorische Naturalisierung hat
in Wien Anfang des 19. Jahrhunderts zu den              aber ihre Kehrseite in der Überformung – die or-
wichtigsten Frauen des 18. Jahrhunderts gezählt.        thografischen Eigenheiten von Karschs Schreiben
Im Vergleich mit der italienischen Schriftstellerin     etwa wurden korrigierend an die Norm angegli-
Maria Maddalena Morelli, die eine ähnliche Bio-         chen. Insgesamt handelt es sich bei den Auserlese-
grafie aufwies, wurde in diesem Umfeld Karschs          nen Gedichten um eine mehrfache Steuerung der
dichterische Qualität deutlich höher eingeschätzt.      Rezeption durch die Selektion der Texte und die
Anhand eines Empfehlungsbriefes der Autorin             biografische Inszenierung Karschs als Naturdich-
an Michael Denis machte Assinger deutlich, wie          terin. So verstanden ist die Editionstätigkeit als
Karsch brieflich ihr symbolisches Kapital subtil        homogenisierende Vermittlungstätigkeit zwischen
ausspielte und hierzu literarische wie rhetorische      der Ästhetik der Einfachheit, den Erwartungen
Konventionen strategisch einsetzte. Das stehe           adeliger und bürgerlicher Rezipient:innen und der
exemplarisch für Karschs Netzwerkpraxis: Die            Gelegenheitsdichtung der Autorin zu verstehen.
Bitte um Förderung ihres Protegés war gleichzeitig          Tobias Heinrich (Autorschaft und Zelebrität.
geschicktes Mittel zur Erweiterung ihres eigenen        Anna Louisa Karsch im literarischen Markt) nutzte
Bekanntheitsgrades bei wichtigen Intellektuellen        die methodischen Impulse der aktuellen Celebrity
und letztlich im Wiener Hochadel.                       Studies, um Karschs Position im zeitgenössischen
   Claudia Brandt (Schreibstrategien in Emp-            literarischen Feld zu bestimmen. Die Verwischung
fehlungsbriefen. Anna Louisa Karsch als Förderin        der Grenzen öffentlicher und privater Sphären und
Dritter) legte die Funktion von Empfehlungs-            die Ökonomisierung privater Beziehungen betra-
schreiben im 18. Jahrhundert, die wichtiger Teil        fen Karsch wesentlich. Das gilt zum Beispiel für
der Kulturtechnik des Netzwerkens waren, dar. Pa-       das Zusammenspiel von Autorinnenbiografie und
tronagepraxis und Freundschaftssemantik waren           literarischer Deutung im öffentlichen Bewusstsein.
dabei jeweils eng verknüpft. Brandt skizzierte den      Die Hervorhebung der Außerordentlichkeit von
üblichen formalisierten Aufbau von Empfehlungs-         Karschs lyrischer Improvisationsgabe in textuellen
schreiben, um davon ausgehend die Abweichungen          Zeugnissen zeigt, dass das größere Publikum auf
von Karschs Empfehlungsbriefen darzulegen, die          die Vermittlung solcher Elemente der Performanz
sich gerade durch eher regellose Strategien aus-        angewiesen war, die zur Individualität der als
zeichnen. Auch wenn es sich hierbei womöglich           Naturgenie stilisierten Autorin gezählt wurden.
um eine allgemeine zeittypische Auflockerung des        Zudem machte Heinrich deutlich, dass gerade
Briefstils handelte, konnte Brandt zeigen, dass die     die Rolle der Wertung und Vergleichung für den
Autorin ihre besondere Position als ‚Genie ohne         Ruhm im literarischen Feld die adäquate Aner-
Bildung‘ ausspielte und damit jeweils individuelle      kennung von Dichterinnen wie Karsch erschwerte,
Formen der Empfehlungsschreiben entwickelte.            weswegen ihre Einengung auf eine bestimmte
   In der dritten Sektion standen „Öffentlichkei-       Position nach ihrem Tod weiter zugespitzt wurde.
ten“ im Vordergrund. Im ersten Vortrag dieser Sek-          Corinna Dziudzia (Lange Schatten, alte Hüte.
tion arbeitete Erika Thomalla (Berlin) (Edierte         Anna Louisa Karsch als Poeta Laureata der dritten

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                             Peter Lang
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