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penZeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 471–486 Konferenzberichte Überforderung der Form – Erkundung einer neuen Fragestellung in der Theorie der Dich- tung und in der interpretatorischen Praxis (Tagung des Instituts für Germanistik der Univer- sität Leipzig, Abteilung Literaturwissenschaft, und des Department of German der University of Chicago in Leipzig, 23.–24.10.2021) Das ästhetische Phänomen, das die Organisatoren Präsenz-Absenz-Bewegung: eine im oppositären Jan Urbich (Leipzig) und David E. Wellbery zweistrophigen Verlauf vollzogene Verschiebung (Chicago) mit ihrem Symposium anvisierten, der temporalen Orientierung, bei der die zunächst bezeichnen sie als ‚Überforderung der Form‘. Das antizipierte Zukunft in ihrer Vergegenwärtigung spezifische Interesse liegt auf ästhetisch-poetischen das vorangegangene Präsens ‚entgegenwärtigt‘ und Formen literarischer Werke, die mit ihren explizit in die Erinnerung verweist. formreflexiven Strukturmomenten in Grenzberei- Dirk Oschmann (Leipzig) (Innere Unend- che eintreten. So beabsichtigen sie, über ihre eige- lichkeit. Zur Paradoxie einer Denkfigur um 1800) nen Darstellungsmöglichkeiten hinauszuweisen benannte neben der ‚Verzeitlichung der Form‘ und und diese gerade dadurch zu reflektieren. Solche der ‚Krise des Ganzen‘ den ‚Sprengbegriff ‘ des ‚überforderten‘ Formen nutzen mittelbar ihre vor- Unendlichen, das in einem Paradigmenwechsel handene, tradierte Gestalt zur Etablierung bereits als Steigerungsform des Beweglichen das defizitäre in ihnen enthaltener, sich bisher aber nur defizitär Endliche ersetzt und per se zu einer Heraus- oder artikulierender Potentiale. Das Ziel ist, mittels Überforderung der Form führt, als dritten Faktor der Beschreibung dieser verschieden ausgeprägten für die radikale, dynamisierte Formensprach- Formbetonungen neue Einsichten in literaturge- lichkeit der Literatur 1750–1830. Anhand einer schichtliche und -ästhetische Zusammenhänge zu Denkfigur vollzog er einen Argumentationszu- ermöglichen. Zum zweitägigen Gespräch waren sammenhang für die konkrete Möglichkeit der dazu Literaturwissenschaftler:innen aus Deutsch- Realisierung der daraus resultierenden Idee eines land, der Schweiz und den USA in die Bibliotheca in sich beweglichen, unendlichen Kunstwerks Albertina eingeladen. Gefördert wurde die Veran- bei Lichtenberg, Schiller, Schleiermacher und staltung durch die Fritz-Thyssen-Stiftung. Wilhelm von Humboldt nach. Ein unendliches Die erste Explikation lieferte Helmut Hühn Individuelles könne gemäß den Autoren nach (Jena) (Zeit und Form. Überlegungen im Ausgang divergenten Techniken der Kombinatorik durch von Hölderlins Gedicht ‚Hälfte des Lebens‘ ), der formale Operationen qua Sprache erzeugt werden, sich ausgehend vom spezifischen Verhältnis von was letztendlich vom paradoxen Bestreben zeuge, Form und Geformten im singulären Kunstwerk, Unendlichkeit kontrollieren und ‚das Ganze‘ doch Hölderlins Hälfte des Lebens, und mündend in die retten zu wollen. psychoanalytische ‚Containing‘-Theorie Wilfred Goethes Drama Iphigenie auf Tauris sei, so R. Bions poetischen Formzusammenhängen annä- David Wellberys These (Zur Formfrage in herte. Dieses differenzierbare Verhältnis definierte Goethes ‚Iphigenie auf Tauris‘ ), formale Erinne- er als Beziehung von Container und contained, rungsarbeit, weil es sich im Sinne von Hegels wobei es zur Formüberforderung kommen kann, Begriff der ‚Erinnerung‘ selbst als Tragödie mit wenn das Gefäß einen Gehalt aufnimmt, den es entsprechenden normativen Strukturen erfasst, selbst nicht tragen kann. Das ästhetisch erfahr- reflektiert und dadurch überschreitet. Ziel der bare Leistungsvermögen der Form von Hälfte tragischen Formarbeit an der vom Subjektiven des Lebens sei eine im Gedicht selbst enthaltene losgelösten Darstellung des menschlichen Geistes © 2022 - http://doi.org/10.3726/92171_471 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
472 | Konferenzberichte seien die Wertmaßstäbe Goethes, „der höchste Dynamik unerwartete, d. h. der ursprünglichen reinste Punkt des Wahren“ und eine „innere Art formalen Absicht widersprechende poetische Ge- der Verklärung“ (Goethe), und erreicht würden bilde erzeuge – als im poetischen Verlauf freigege- diese, wenn sich die Vergegenständlichung in bener ‚Kontrollverlust‘ einer extrem beherrschten einer bis zum Extrem durchkomponierten Form und durchkomponierten Sprache. als Sprache verwirkliche. Zwei normative Ord- Stilistisch-seismografisches Gelände betrat nungen lägen der tragischen Form der Iphigenie Juliane Vogel (Konstanz) (Überforderte Syntax. zugrunde: das mythisch artikulierte Gesetz der Hofmannsthals Chandos-Brief ), die die Eloquenz Blutverwandtschaft und die öffentlich ausformu- des Chandos-Briefs Hofmannsthals im Verhältnis lierte Ordnung der Götter. zu seinem Inhalt untersuchte und fragte, inwiefern Die formtheoretische Analyse Jan Urbichs die zu beobachtende ‚übersteigerte‘ Hypotaxe der (Schlussfiguren. Überforderung der inneren Form in Zerstückelung der Sprache bis hin zum Sprach- Goethes Gedicht ‚Dornburg‘) von Dornburg betonte versagen Ausdruck zu verleihen vermag. Dies die formensprachliche Strukturentscheidung der münde in den performativen Selbstwiderspruch logischen Partikeln ‚wenn/dann‘, durch die das einer Zerfallsdynamik als eine über den Brief Gedicht die Form einer konditionalen Aussage hinausgehende Krise des Zusammenhangs. Der erhält und seine Sprechhandlungen in der Form Brief folge dem antiken Konzept des Periodenbaus, der materialen Implikation als dreiteilig logisch das er letztendlich dissoziiere, denn der sich im gestaffelte Folgerungsbeziehung verbindet. Das Textverlauf manifestierende Stil konstruiere kein artikuliere sich als gesetzartige Folgerungsbezie- einheitliches, sondern ein erschüttertes Gewebe. hung, die das Präsens des Gedichts paradoxerweise Die zwei Antipoden, ciceronianischer Idealstil als Augenblickshaftigkeit und als wiederholbare, und attischer Stil, entwickelten eine Dynamik, die überzeitliche Gültigkeit einlöse. Ausgehend von den Stil selbst auflöse, die Syntax dekomponiere, Überlegungen zum Zusammenhang von Form desintegriere und ein ‚stilgeschichtliches Patt‘ und Allgemeinheit folgerte er, das Gedicht sei hervorrufe. die singuläre poetische Einsetzung der Form als Den ersten Ta g ra hmend, ga lt Dieter Ausdruck gesetzartiger Allgemeinheit und könne Burdorfs (Leipzig) Abendvortrag einmal mehr als Reflexion über den entscheidenden Anteil des Friedrich Hölderlin. In Hölderlins Zackern. Leis- Allgemeinen am Begriff der formensprachlichen tung und Überforderung der Odenform entfaltete Individualität moderner Dichtung begriffen er anhand der asklepiadeischen und alkäischen werden. Ein Beispiel für eine Formüberforderung Odenform, die jeweils antikisierend und die deut- durch poetische Form. sche Sprache par excellence überfordernd seien, die Daniel Carr anza (Cambridge) (Litera- Idee einer Poetik des Zackerns: Sie sei der ‚missing turgeschichte als Formproblem: Stefan Georges link‘ zwischen Hölderlin, verstanden als Beginn Reim) beobachtete eine Konvergenz in den der deutschen Moderne, und Celan, der daran George-Rezeptionen Kommerells, Benjamins anschließen wolle. Zackern, in der Bedeutung und Adornos: Die Gedichte mit volksliedhaften ‚umpflügen‘ oder ‚zum Acker gehen‘, verweise Strukturen dechiffrierten eine ‚verweigerte‘ Li- unmittelbar auf die Etymologie des Verses. teraturgeschichte der nicht mehr realisierbaren Die zweite Sektion eröffnete Jan Röhnert Möglichkeit. Carranza fragte, inwiefern sich unter (Braunschweig) („Aufforderung“. Aporien expres- Fokussierung der Reimtechnik Georges die in die sionistischer Form am Beispiel Wilhelm Klemms) präsemantische Lauttextur eingeschriebene, ‚ver- mit Ausführungen zu der an Klemm konstatierten krustete‘ literarische Historizität entfalten lasse, Aporie, dass jede vorhandene ‚wiederaufbereitete‘ denn diese Sedimente seien ‚klangarchäologisch‘ Form des von den Expressionisten bedienten nachvollziehbar. Jenes Lektüreverfahren der gattungskonformen Formspektrums zugleich die ‚phonische Archäologie‘ vollzog er am Gedicht Im Aufforderung inkludiere, sich zu überschreiten. windes-weben. Überforderung der Form wurde hier Ausgehend von Rilke sei jenes Verfahren von Un- im Sinne Adornos und Kommerells verstanden terwerfung und Aufbegehren als Überforderung als selbstreflexiver und darum selbstzerstöreri- auf der Ebene der metapoetischen Bildsemantik scher, gewaltsamer Formzwang, der durch diese für Klemms Sonett Meine Zeit nachvollziehbar. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Konferenzberichte | 473 Klemms Gedicht sei Ausdruck des ubiquitären das biblische Bilderverbot unfreiwillig drastisch Gefühls der Überforderung und darum eine die ausweise. Der These zufolge resultiere aus der Form des Sonetts überstrapazierende Form. Die Gattungsentscheidung das problematische Paradox formale Neuerung sei eine vierzeilige, reimlose, des ‚Bild des Bilderlosen‘, da abbildende Qualitä- freirhythmische Strophe, die im Kontrast zum ten und sinnliche Darstellungsstrategien genuine ‚kaleidoskopischen Zusammen- und Widerspiel‘ Elemente des zu der zu überwindenden Tonalität der in den Worten repräsentierten Dinge stehe. und Ästhetik gehörenden Musiktheaters seien. Die Dieses einem seriellen Werkmuster prozessualer Unrealisierbarkeit und damit die inhaltlich thema- Textkonstruktionen folgende Strukturprinzip tisierte Unvorstellbarkeit bzw. Undarstellbarkeit, dirigiere die im einzelnen Text ausgedrückten die sich in der empirischen Fragmentarizität kon- Reflexionen, Bildfolgen und Motivketten, was kretisierten, gründeten nun gerade auf dieser Form. mit der Idee einer ‚nach innen fragmentarischen‘ Die Rezeptionsgeschichte entdecke in diesem nicht Strophe gefasst werden könne. intendiert fragmentarischen Schluss der Oper Carsten Dutt (Heidelberg) („Morgue I. einen Wert, d. h. das Gelingen der gescheiterten Kleine Aster.“ Ikonizität und Selbstreflexion des Formemphase eines Bilds im Bilderlosen. Das sei Gedichts) charakterisierte mit der Idee der ‚iko- die Tragik der Werkgeschichte. nizitären Form‘ die Beziehung zwischen den Kritisch parallelisierte Peter Utz (Lausanne) Elementen formal, die Kleine Aster als eine von (Die „kleine Form“ des Feuilletons und ihre Überfor- mimetischen Impulsen durchwaltete kumulative derungen) die Entwicklung des Feuilletons, seine Sukzessionsordnung strukturieren. Ikonizität Begriffsgeschichte und den entlang des Form-Be- als formbildendes und -betonendes Prinzip zeige griffs entsponnenen Diskurs über die Gattung. sich auf verschiedenen Ebenen: Auf der des ‚Wo- Das als Rubrik und Textsorte doppelt kodierte, rüber‘, denn die gegenständliche Referenz auf die experimentelle und serielle Phänomen musste sich Obduktion erfülle eine introversive Funktion als stets an der normativen Dominanz des klassischen reflexive Formbetonung. In Relation dazu kom- Form-Begriffs messen und infolgedessen doppelt me es aufgrund des ikonischen Verhältnisses von ‚unter den Strich‘ verweisen lassen: ausgegrenzt Rede und Vers, der an sich ikonisch sein kann, von den politischen, wirtschaftlichen Diskursen zu einer Inversion der Aufmerksamkeitsrichtung: und von der ‚hohen‘ Literatur. Polemiken assozi- Das Gedicht selbst rücke ins Bewusstsein, d. h., ierten basierend auf stereotypen Argumentationen es komme zur Rückaneignung der poetischen die Form des Feuilletons mit dem Weiblichen, Form, indem diese preisgegeben werde. Entfaltet Französischen und Jüdischen. Auch der von den werde dies durch eine Erinnerungsrede, deren Verteidigern hervorgebrachte, neu ausgerichtete diegetische Struktur die dort eigentlich nicht vor- Begriff der ‚kleinen Form‘ wurde in den 1930ern gesehene Ich-Form in die Sektionsprotokollsätze durch eine ideologische Instrumentalisierung einschließe und ihm wiederum einen ikonizitären ‚eingedeutscht‘ und überfordert, so dass Utz die Sprachleib liefere. Ikonizität wird nicht durch eine Notwendigkeit sah, einen neuen, mediengerechten Seelensprache des Subjekts in der Erinnerung Begriff vorzuschlagen, der die zur kreativen Über- an das Geschehene geleistet, sondern durch die forderung fähige Textsorte adäquat aufnehme: den sprachlich-dingliche Präsenz des Gedichts selbst des ‚Formats‘. zur Darstellung gebracht, durch die ‚zerschnitte- Zuletzt sprach Eva Geulen (Berlin) (Klassizität nen‘ Verse, durch die entpersonalisierten, traum- als Effekt überforderter Form bei Peter Szondi) über haften Schmerzdiphthonge au und subkutanen den Parallel- und Konkurrenzbegriff des Stils bei Ekel-Interjektionen i(gi)tt. Szondi und fragte, wie dessen Überlegungen ins Den Fall einer nicht-intendierten Formüberfor- Verhältnis mit der wissenschaftlichen Obsession derung präsentierte Matthias Löwe (Jena) („Bild mit seinem Stil gesetzt werden können, denn hier des Bilderlosen“. Überforderung der Form in Arnold zeige sich eine tragische Ironie. An der Schnittstelle Schönbergs Oper „Moses und Aron“) mit Schönbergs zwischen Zerfall und Entstehen einer Einheit Fragment gebliebener Oper Moses und Aron, die (Staiger) beschreibe Szondi eine ‚Übergangspe- die transzendente Unvorstellbarkeit im Sinne eines riode‘, mit der er einen Formwandel im Inneren radikalen abstrakten Gottesbegriffs inszeniere und des Werks nachweise. Mit der Übersetzung der Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
474 | Konferenzberichte Form-Inhalt-Dialektik in ein thematisches Sub- Formforschung der letzten Jahre anschließt, an- jekt-Objekt-Verhältnis entwickele er eine ‚Theorie dererseits mit dem Phänomen der überforderten des Stilwandels‘. Dieser Widerspruch sei bereits im Form wichtige neue Impulse für die allgemeine Inneren der wiederum selbst thematischen Form Formforschung sowie für die Spezialforschung zu fundiert. Durch die Zweifachbesetzung der Inhalt/ den einzelnen Autoren setzt. Die Vorträge wer- Stoff-Bezüge entständen von innen heraus neue den, ergänzt um weitere Texte, als Sammelband Formen, die Stoffschichten der Dramen bargen publiziert. selbst die problematisch gewordene alte Form als Neue und sprengten damit die Form auf. Szondi Luise Grabolle proklamiert, dass es zwar einen Stilwandel ohne Universität Leipzig Stilbruch gegeben habe, folgert aber, dass es keinen Philologische Fakultät neuen Stil gebe. Dieses Obsoleszenz-Schicksal Institut für Germanistik teile die Form. Geisteswissenschaftliches Zentrum Bei den Vorträgen handelte es sich um grund- Beethovenstraße 15 legende, historische wie systematische Erkundun- D–04107 Leipzig gen eines weithin unbeforschten Terrains, aus einer Perspektive, die einerseits an die produktive Schlesische Sprachreform, niederländische Netzwerke, pommerscher Petrarkismus. Sibyl- la Schwarz (1621–1648) im Kontext (Internationale literaturwissenschaftliche Tagung an der Universität Greifswald, 28.–30.10.2021) In ihrem Grußwort im historischen Konferenz- weiblichem Schreiben neu zu definieren und die raum der Universität Greifswald betonte die Pro- Möglichkeit bietet, den Kanon neu zu diskutieren. rektorin der Universität Greifswald Konstanze Die vier Problemkreise, die Birnstiels Ansicht nach Mar x die Bedeutung des Werks der „schön Gegenstand weiterführender Forschung sind, Schreibenden, des frommen Kindes und der ge- bildeten die grundlegende Struktur der Tagung. lehrten Frau“, als welche Sibylla Schwarz in der Diese beinhalten die vergleichende europäische Rezeption wahrgenommen worden ist. Thomas Perspektive, die differenzierte Auseinandersetzung Stamm-Kuhlmann, Vorsitzender von Sibylla mit der zeitgenössischen Opitz-Rezeption, weiter- Schwarz e.V., hob im zweiten Grußwort die Wich- führende Forschungsperspektiven und Fragen der tigkeit hervor, Schwarz synchron und diachron in Deutung durch genaue Textanalyse. der europäischen Literaturgeschichtsschreibung Das erste Panel I europäische Dimensionen zu verorten. Auch betonte er die Besonderheit, eröffnete Christian Schmitt (Oldenburg) dass zum 400. Geburtstag der Dichterin drei („Mehrer teils auß dem Niderlendischen verteutscht“. Werkausgaben1 ihr Oeuvre greifbar, sichtbar und Spielräume des Übersetzen bei Sibylla Schwarz) mit gegenwartsbezogen machen und so die Erinne- Überlegungen zur Rezeption und Übersetzungs- rung an Schwarz wachgehalten und in aktuellen tätigkeit von Sibylla Schwarz. Er hob sowohl Forschungskontexten diskutiert werden könne. ihren freien Umgang mit den niederländischen In seiner Einführung in das Tagungsthema Vorlagen von Jacob Cats als auch die Grenzen verwies der Veranstalter Klaus Birnstiel auf ihrer Übersetzungstätigkeit hervor, die in einer die erste Tagung zu Sibylla Schwarz 2013, die Poetik des Überschreibens und Überschreitens die Autorin erst in den literaturgeschichtlichen kulminieren können. Die dichterische Eigenstän- Rang gehoben habe, der ihr gebühre. Das er- digkeit der Werke von Schwarz lässt sich u. a. in neute Zusammenkommen von Forscher*innen der veränderten Anordnung finden, die den Text geht dahingehend über die erste Tagung hinaus, wie eine Collage zu einer neuen lyrischen Einheit da es versucht, den Platz von Autorinnen und zusammenfügt. So konstatierte Schmitt, dass Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Konferenzberichte | 475 Schwarz ein Gefühl für das Sprachmaterial und ria, böse Lust. Martin Opitz, Sibylla Schwarz und dessen figuratives Potenzial besitze. der ‚Antipetrarkismus‘ ) als Aufhänger für ihren Kai Bremer (Osnabrück) (Kanonbildung im Vortrag, der beschrieb, wie eben diese Lyrikerin Vergleich: Anna Roemers Fischer, Anna Maria van in einen lyrischen Wettstreit im Sinne Petrarcas Schurman und Sibylla Schwarz) konturierte in sei- eintrat, in welchem die dichterischen Mittel nem Vortrag die Rezeption der drei Autorinnen. modifiziert und komplexer wurden und so eine Die Differenz zwischen der Rezeption der beiden Selbststilisierung als Dichterin ermöglichten. Niederländerinnen zu Schwarz bestimmte den Indem Bozzi die Rezeption von Gámbara durch Vortrag. Bremer markierte signifikante Momente Opitz konturierte, Opitz’ eigene Beschäftigung mit der jeweiligen Rezeption, um so eine bessere Be- Petrarca nachzeichnete und aufzeigte, wie Sibylla urteilung der Rezeption von Schwarz zu ermögli- Schwarz sich über Opitz mit Petrarca und dessen chen. Die Kenntnis, die Schwarz vom Werk der Werk auseinandersetzte, wie sie thematisch im niederländischen Autorin Roemers Fischer haben Liebesbegriff über Opitz hinausging und die Dich- konnte, zeigt beispielhaft, dass es niederländische tung als Reflexionsmedium ethischer Standpunkte Dichterinnen mit einer guten zeitgenössischen nutzte, zeigte Bozzi ein Beispiel für einen pluralen Rezeption gab. Schwarz soll hierzu ins Verhältnis Petrarkismus, der außer-petrarkische Traditionen gesetzt werden. Die Suche nach einer alternativen aufgreife und veränderte Liebessituationen betone. Rezeption und der Frage nach Modellen, in denen Bozzi beendete ihren Vortrag mit der Beobach- die Zeitgenossen und gegenwärtige Forscher*innen tung, dass der Antipetrarkismus nicht existent sei. über die Autorinnen sprechen, bietet weiterführen- Uwe Maximilian Korn (Heidelberg) (Poetik de Forschungsperspektiven. der Tiefe oder Poetik der Oberfläche? Opitz-Epigo- Gudrun Bamberger (Leipzig) (Aus Europa nalität als Zuschreibungskategorie der Aufklärungs- nach Greifswald: Sibylla Schwarz in Auseinanderset- epoche und der Germanistik am Beispiel Sibylla zung mit Martin Opitz) setzte sich in ihrem Vortrag Schwarz’ und des ‚Leipziger Dichterkreises‘) schloss differenziert mit den Aufnahme-, Übersetzungs- das zweite Panel mit Überlegungen zu kanonischen und Adaptationsstrategien von Sibylla Schwarz in und nicht-kanonischen Autoren. Er konturierte Bezug auf Martin Opitz und die niederländische Texte des Leipziger Dichterkreises, die Ähnlichkei- Tradition (hier war erneut auf Jacob Cats zu ver- ten zu den Texten Schwarz’ aufweisen, allerdings weisen) auseinander. So eröffnete sie das zweite in der Sekundärliteratur anders rezipiert wurden. Panel II Opitz-Rezeption mit ihren aufschluss- In seiner genauen Auseinandersetzung übertrug reichen Überlegungen zu Schwarz’ doppelter Korn Fragen nach der poetischen Freundschafts- (Aneignungs-)Tendenz, die die Verbundenheit zur codierung, der Opitz-Nachfolge oder nach der europäischen Tradition kennzeichnet. Allerdings Übersetzung aus dem Niederländischen aus der verdeutlichte Bamberger auch den Veränderungs- Sibylla-Schwarz-Forschung auf den Leipziger willen, der Schwarz’ Oeuvre auszeichne. Anhand Dichtungskreis. Korn benannte die Ähnlichkeiten, mehrerer Beispiele illustrierte Bamberger die die beide Text- und Autorengruppen in der Rezep- divergenten Bezugnahmen von Schwarz auf das tionsgeschichte aufweisen. Er betonte allerdings Werk Opitz’ oder Cats’, die im Feld zwischen trans- auch markante Unterschiede, da durch den Netz- latio, imitatio und aemulatio das kreative Spiel der werkcharakter der Leipziger Dichter die Poetik Autorin kennzeichnen. Auch die im Vortragstitel der Einfachheit betont werde und zeitgenössische angesprochene Bewegungsdynamik der Literatur, Paradigmen gewürdigt würden. Bei Schwarz han- die aus der europäischen Tradition in die konkrete dele es sich um eine Forschung der Tiefe, da dort Örtlichkeit und wieder in die Welt zurückgedacht eine dichte Verflechtung von Leben und Wirken werden könne, illustrierte Bamberger an den Text- bestehe und die Exzeptionalität und Modernität beispielen und verwies somit auf eine Perspektiven der Werke hervorgehoben werde. Jedoch erscheine der Intertextualitätsforschung. der Verweis auf Opitz als unumgänglich für beide Einen Bericht über die Konjunktur weiblicher Strategien. Abschließend hielt Korn fest, dass die Autorschaft im 16. Jahrhundert aus italienischer Texte ähnlichen Forschungsperspektiven unterlä- Perspektive mit besonderem Fokus auf Veronica gen, sich jedoch die Fragen an diese unterschieden Gámbara wählte Paola Bozzi (Milano) (Cosa und so Kritik an der Forschungsschablone geübt Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
476 | Konferenzberichte werden könne. Die Frage nach dem Umgang der weitergeschrieben wird – die Schlesische Dichter- Literaturgeschichtsschreibung mit Autoren in schule ist für die Produktion und Rezeption von synchroner und diachroner Perspektive stand im Schwarz von höchster Wichtigkeit. Aus diesen Ausblick des Vortrags. Überlegungen heraus plädierte Birnstiel dafür, Das dritte Panel III Forschungsperspektiven Schwarz als Effekt von Netzwerken zu begreifen. eröffnete Gudrun Weiland (Berlin) („Klugrede“ Auch sei die Rezeptionsbedeutung für die Litera- und „Liefdes Kort-sprak“ – die Epigrammatik der turwissenschaft grundlegend zu befragen. Dies Sibylla Schwarz im Kontext) und lud die Teilneh- stellte sich als ein vielversprechender Ansatz für menden auf eine Reise durch Textverfahren und die weitere Forschung dar. Kontextualisierung ein. Der Blick wurde hierbei Im abschließenden Vortrag des Panels illus auf die Kontexte des Texts im Druckerzeugnis, trierte Samantha Philips (Kiel) („Was Sappho für besonders in der (Werk-)Ausgabe des 17. Jahr- ein Weib gewesen…“ – Die Bedeutung der Sappho- hunderts, gelegt und nahm thematisch u. a. die rezeption für die Lyrik von Sibylla Schwarz) Sibylla Frage nach Reihenfolge und Nachbartexten in Schwarz’ Sapphorezeption. Nach einer Einführung den Fokus. Weiland diskutierte in ihrem Vortrag in die Überlieferungslage der Werke Sapphos bis anschaulich das Moment der Unvollständigkeit in die Frühe Neuzeit hinein wurde anschaulich der Werkaus-gabe des 17. Jahrhunderts und das vorgeführt, dass Schwarz durch eine französische Moment der Unordnung, beides befragt vor der Übersetzung von Ovids Heroides Kenntnis von Folie der Unterhaltsamkeit und der weiblichen Sappho erhalten haben könnte. Auch über Martin Autorschaft. Opitz’ Erwähnung der Autorin im Buch von der Klaus Birnstiel (Greifswald) (Wer agiert im Deutschen Poeterey und seiner Beschreibung forma- Netzwerk der Sibylla Schwarz? Nachfragen neuerer ler Besonderheiten, die sich in der Zuschreibung literaturwissenschaftlicher Frühneuzeitforschung) als Sapphische Strophe niederschlägt, hat Schwarz ging in seinem Vortrag der Frage nach, welche von dieser Autorin erfahren können. Aufbauend zeitgemäße Antwort auf Sibylla Schwarz und die auf diesen Feststellungen legte Philips dar, wo Forschung ohne eine bloße Reproduktion von For- (intertextuelle) Verweise auf Sappho zu finden schungsdiskursen und Meinungen gegeben werden seien. Allerdings hat Schwarz sich nur eines all- könne. Er berief sich in seinem Vorschlag auf die gemeinen Sapphobildes bedient und sich formal Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und beschrieb, von ihr distanziert. Die Frage nach Motiven, die inwiefern diese Theorie für das 18. Jahrhundert in der Frühen Neuzeit für spezifisch sapphisch greift und treffend ist. Für das 17. Jahrhundert sei gehalten worden sind, wurde von Philips u. a. mit die Konstellationsanalyse dahingehend erschwert, einem Verweis auf die dominante Selbstreflexion dass materielle Zeugen fehlten. Birnstiel zog in des Ichs über die eigene Gefühlslage und auf die seiner Argumentation für eine ANT im 17. Jahr- Bedeutung der Musikalität ihrer Werke beantwor- hundert den Ansatz Bruno Latours heran, der diese tet. Die abschließende Auseinandersetzung mit mit unbekannten oder auch imaginären Akteuren der Bezeichnung von Schwarz als „pommersche rechnen lässt – auch das Netzwerk um Schwarz sei Sappho“, die die junge Autorin in direkte Nähe durch eine Vielzahl unbekannter Akteure gekenn- zur griechischen Autorin stellt, wurde mit einem zeichnet. Als zweiten Gedanken führte Birnstiel Verweis auf die Würdigung Schwarz’ als heraus- Aktanten, also nicht menschliche Akteure wie z. B. ragende Dichterin geschlossen. Bücher, das Klima oder Tiere an, von denen vor Das vierte Panel IV Deutungsaspekte eröffnete allem die Bücher als wichtiger Aktant im Netzwerk Julia Sommer (Fribourg) („Wahrheit will gesaget von Schwarz gelten dürfen, die sie dem familiären sein“ – der Gegensatz von Schreiben und Schweigen Netzwerk entnehmen konnte. Wie wichtig und im Werk von Sibylla Schwarz) mit einer Unter- fruchtbringend die Rezeption dieser Aktanten für suchung des besagten Dualismus von Schreiben das Werk von Schwarz war, war bereits ausführlich und Schweigen und befragte diese Ergebnisse zu Beginn der Tagung diskutiert worden. Als wei- hinsichtlich ihrer Diskursfähigkeit. Das Spiel mit teres Beispiel führte Birnstiel an, dass Schwarz aus Gegensätzen, das die eigene Position als Autorin den Zusammenhängen um Martin Opitz’ und die betone, wurde anschaulich an der Dreiteilung des Schlesischen Dichterschule stammte und in dieser literarischen Korpus in Schreiben (hier sind u. a. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Konferenzberichte | 477 die Fretow-Texte und Texte zur Poetik verortet), bzw. Knotenpunkte, die sich aus den Vorträgen einem Zwischenraum und dem Schweigen (hier ergaben, ließen sich wie folgt zusammenfassen: wurde insbesondere der Faunus untersucht), Erstens die Verfasstheit und die Voraussetzungen veranschaulicht. Die literarischen Untergruppen des Texts, die nicht seine inhaltliche Dimension wurden hinsichtlich der Ständekritik, des poeti- beinhalte und eine Diskussion um den Gegensatz schen Selbstbewusstseins und der Stellung der Frau ‚konkretes Objekt‘ und Digitalisat gefördert habe. in der Gesellschaft befragt. Es stellte sich heraus, Der zweite Knotenpunkt stehe in der Tradition der dass die Literatur sowohl für die Faunus-Figur Rezeption, da die Beobachtung der Medialität der im Text als auch von Schwarz als Instrument Darstellungsweise der Autorin von Relevanz sei. Er genutzt wird, um sich Gehör zu verschaffen. Die solle die Frage beantworten, wie das jeweilige Bild Literatur wird demnach als Lösung der Probleme von Schwarz oder auch Martin Opitz zeitgenös- gesehen, und das geschriebene Wort ist nicht nur sisch erzeugt worden sei. Der dritte Knotenpunkt der Wahrnehmung behilflich, sondern bietet auch sei die fachgeschichtliche Perspektive, die, so der die Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen. Konsens, einer Revision bedürfe. Die Grenzüber- Lina Saar (Saarbrücken) („guhte Nacht du schreitung und das Spiel kennzeichnen den vierten liebster Ort“ – die Bedeutung der Nacht für die Au- Knotenpunkt, der sich in einem Angebot zur torschaftsinszenierung von Sibylla Schwarz) fokus- Beschreibung des Werks niederschlage. So wurde sierte in ihrem Vortrag die Nacht als literarisches hier perspektivisch eine Forschung um Schreib- Motiv und als Produktionszeitraum der Autorin. weisen und Mehrdimensionalität angesprochen. Einführend wurde an verschiedenen Texten von In der sich anschließenden Diskussion wurde Schwarz die Nacht als Dichtungsgegenstand he- betont, dass es sich hierbei nicht ausschließlich rausgearbeitet, die auch die Gute-Nacht-Formel um spezifische Probleme der Schwarz-Forschung der frühneuzeitlichen Abschiedslyrik beinhalte. handle. Davon ausgehend wurde die Frage nach Wie Nacht und Autorschaftsinszenierung einher- einschlägigen Forschungskonzepten für Schwarz gehen, demonstrierte Saar in der Beschäftigung laut, die Mechanismen des Kanonisierungspro- mit der frühneuzeitlichen Schreibsituation von zesses beinhalteten. Die Ergebnisse dieser Tagung Frauen, denn hier erfüllt die Nacht eine indirekte sollen in einen Tagungsband festgehalten werden, Legitimationsfunktion, da die Produkte durch dessen Publikation für 2022 vorgesehen ist. eben diese Tätigkeit bei Nacht als Nebentätigkeit gekennzeichnet sind. Es ist also die doppelte Be- deutung der Nacht, die das Schreiben und Arbei- Anmerkung ten von Sibylla Schwarz kennzeichnet. So bestätigt das Bedienen der Nachtmotivik in den Werken 1 Sibylla Schwarz: Ich f liege Himmel an mit un- von Schwarz die Position der Autorin und verweist gezähmten Pferden. Werkauswahl. Hrsg. v. G. auf ihr poetisches Wissen. Allerdings wird die Weiland. Leipzig 2021; Sibylla Schwarz: Werke, Produktivität bei Nacht auch zur Bedingung der Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe. Bd. 1: Brie- fe, Sonette, Lyrische Stücke, Kirchenlieder, Ode, Legitimation als Autorin und oszilliert zwischen Epigramme und Kurzgedichte, Fretowdichtung. dem Dichtungsideal und dem Rollenbild der Frau Hrsg. v. M. Gratz. Leipzig 2021; Sibylla Schwarz: im 17. Jahrhundert. Deutsche Poetische Gedichte. Hrsg. v. K. Birnstiel. Anna Axtner-Borsutzky (Bielefeld) (Perspek- Hannover 2021. tiven der Sibylla-Schwarz-Forschung und Anschlüsse Anne Hertel für die Barock-Forschung im 21. Jahrhundert) Universität Greifswald schloss mit ihrem Resümee und Impuls das vierte Institut für Deutsche Philologie Panel und die Tagung. Ausgehend von der Frage Rubenowstr. 3 nach der Richtung bediente sich Axtner-Borsutz- D–17489 Greifswald ky des Bilds vom Knoten, welcher die Tagung seit Beginn geprägt habe. Die vier Schlagworte Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
478 | Konferenzberichte Das Schreiben in die Hand nehmen: Transphilologische Jahrestagung ‚Femmes de Lettres‘ im 17. und 18. Jahrhundert (Interdisziplinäre Tagung in Berlin, 7.–8.10.2021) Nachdem die zweite ‚Femmes de Lettres‘-Jahres- Assaulted and Pursued Chastity“, einer Episode tagung pandemiebedingt mehrmals verschoben aus Nature’s Pictures drawn by Fancy’s Pencil to werden musste, konnte diese im Oktober 2021 an the Life (1656), wende Cavendish das narrative der Humboldt-Universität zu Berlin endlich statt- Element des cross-dressing an; die geschlechtliche finden. Im selben Zuge wurde das zwanzigjährige Ambiguität der Protagonistin spiegele sich in der Jubiläum der FONTE-Stiftung zur Förderung des von Cavendish verwendeten Sprache, u. a. in den geisteswissenschaftlichen Nachwuchses gefeiert, Pronomina, wider. die diese Jahrestagungen ins Leben gerufen hat Cornelia Sieber (Mainz) (Wiederentdeckte und fördert. Renate Kroll und Annina Klap- Polyphonie – portugiesische Poetinnen des 16.–18. pert (HU Berlin) leiteten die Veranstaltung ein, Jahrhunderts) stellte das von ihr und Dr. Ângela die sich dem Schreiben europäischer Autorinnen Nunes geleitete Translationsprojekt „Portugiesi- im 17. und 18. Jahrhundert widmete. Nicht nur sche Autorinnen“ auf der Basis von Uma Antalogia sollten, wie Annina Klappert als Organisatorin der improvavél: A escritura das mulheres (séculos XVI a Tagung herausstellte, diese Autorinnen neu oder XVIII) (2013) vor. Die Fortführung des Projekts, wiederentdeckt werden; zugleich sollte überlegt welches im Wintersemester 2019/20 begann, um- werden, wie das literaturwissenschaftliche und fasst die Dichtungen illustrer Namen wie D. Joana literaturgeschichtliche Schreiben selbst neu zu da Gama und Soror Violante do Ceu. konzipieren wäre. Bei den Referentinnen handelte Isabelle Stauffer (Eichstätt-Ingolstadt) ([E]in es sich um Literaturwissenschaftlerinnen aus der künstliches und gelehrtes Frauenzimmer“: Barbara Germanistik, Anglistik und Romanistik. Helena Kopsch als Lyrikerin und Übersetzerin) Im ersten Vortrag des Tages gewährte Mar- stellte Kopsch (1656–nach 1705) als vielseitige lene Dirschauer (HU Berlin) einen Einblick Dichterin und Übersetzerin vor, die Mitglied im in Artikulationen weiblichen Begehrens in der Pegnesischen Blumenorden war – eine der weni- englischen Lyrik des 17. Jahrhunderts am Bei- gen Sprachgesellschaften, die Frauen aufnahmen. spiel der Dichterin Lady Mary Wroth („More Die im Umfeld des Ordens gebildeten weiblichen passion in my heart doth move.“ Manifestationen Netzwerke zeichnen sich, so Stauffer, im Werk weiblichen Begehrens in der englischen Lyrik des Kopschs ab: So schrieb sie etwa Nachrufe auf oder 17. Jahrhunderts). Dirschauer stellte die Frage, wie Hochzeits- und Figurengedichte für ihre Ordens- sich schriftstellerischer Ehrgeiz mit performativer kolleginnen. Von den besprochenen Beispielen Verschwiegenheit in Wroths Texten vereinbaren lassen sich neue Anforderungen an ein Re-writing lasse und wies diesbezüglich auf den Sonettzyklus der weiblichen Literaturgeschichte ableiten wie Pamphilia to Amphilantus in Manuscript and Print eine Infragestellung der Gattungshierarchie, eine als Experimentierfeld unterschiedlicher Traditi- Neubewertung von Übersetzungen und ein stär- onslinien hin. Ihr vorsichtiges Zusammenführen keres Einbeziehen von Intermedialität. petrarkistischer und religiöser Elemente habe es Astrid Dröse (Tübingen) stellte den Teil- der Dichterin erlaubt, erstmals in der englischen nehmerinnen abschließend das Moderata Fon- Literaturgeschichte weltliches Begehren aus einer te-Forum für Frühe Neuzeit-Forschung vor. weiblicher Perspektive zu schildern. Dieses leistet Arbeit in drei Teilbereichen: Gender Julia Hoydis (Graz) (Zwischen allen Welten: Studies/Philologie, Netzwerk/Atelier sowie Pro- Zum Werk und der Rezeption von Margaret Ca- jektförderung. Nach der Präsentation folgte ein vendish) zeigte Margaret Cavendish (1623–1673) Netzwerkgespräch, in dem mögliche gemeinsame als eine Autorin, die ihrer Zeit durch ihr expe- Projekte der anwesenden Wissenschaftlerinnen rimentelles Schreiben voraus war. Hoydis de- diskutiert wurden. Berücksichtigt wurde dabei, monstrierte dies anhand des Texts The Convent wie die Autorinnen des 17. und 18. Jahrhunderts of Pleasure (1668), der den utopischen Entwurf in den Lehrkanon eingebunden werden können. einer weiblichen Gesellschaft sowie Anspielun- Der erste Tag der Veranstaltung endete mit gen auf lesbische Beziehungen enthalte. In „On einer Lesung ausgewählter Texte von Françoise Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Konferenzberichte | 479 de Grafigny, Louise Labé und Maria de Zayas, literaturtheoretischem Wissen sowie durch das organisiert vom Secession-Verlag. Verfassen ‚unweiblicher‘ Textsorten wie Appelle Der zweite Teil der Tagung begann mit einem und Indignationes habe sie die moralische Auto- Vortrag von Gudrun weiland (HU Berlin) (Die rität hergestellt, die für das Schreiben einer Satire Feder erfassen, die Stimme finden – Sibylla Schwarz’ notwendig sei. In ihrer textanalytischen Response „Ein Gesang wieder den Neidt“) zur Rolle des Neids zu diesem Vortrag hob Corinna Dziudzia (Go- im Werk der Barocklyrikerin. In ihrer Analyse tha) Zäunemanns Verwendung hybrider Formen demonstrierte Weiland, wie sich verschiedene in ihren satirischen Texten hervor, bspw. in Ein Artikulationen des Neids, z. B. Künstler- oder Sendschreiben, in dem die Autorin die satirische Götterneid, durch das lyrische Werk der Autorin Überzeichnung eines geizigen jungen Mannes in ziehen. In einer scheinbar paradoxen Wendung konventionelle Brieffloskeln einbette. Dziudzia werde eben dieser Neid in Schwarz’ Dichtungen verwies zudem auf Zäunemanns Begegnungen zum Ausgangspunkt der (Wieder-)Herstellung mit der Zensur und auf die potentielle strategische einer weiblich markierten Stimme. Rolle hybrider Formen in Reaktion auf diese. Es folgten Zozan Karabulut und Christian Angela Sanmann-Graf (Lausanne) (Überset- Wiebe (Braunschweig) (Subversive Bescheidenheit. zung als Instrument von Gesellschaftskritik: Die Gel- Emanzipation in der deutschen Barocklyrik), die über lert-Übersetzerin Marianne Wilhelmine de Stevens Emanzipationsstrategien barocker Dichterinnen [1734–?]) stellte die Übersetzerin Marianne Wil- wie etwa Maria Catharina Stockfleth oder Susanna helmine de Stevens vor, die sich in Sanmann-Grafs Elisabeth Zeidler sprachen. Im 17. Jahrhundert Forschung zu Übersetzerinnen des 18. Jahrhun- mussten sich die Poetinnen innerhalb eines reprä- derts einfügt und sich z. B. hinter den Fables & sentativen Literatursystems bewegen, in dem für Contes de Gellert (1777) verbirgt. Im Vergleich zu Frauen lange Zeit kein Platz vorgesehen war. Die anderen Übersetzungen dieser Verserzählungen im Barock üblichen Gesten der Bescheidenheit und wie etwa derjenigen von François-Vincent Tous- die captatio benevolentiae setzten die Dichterinnen saint werde deutlich, dass die Übersetzerin Ein- allerdings auch subversiv ein, was sie als emanzi- griffe in ihren Vorlagentext tätigte, die im Interesse patorische Strategien lesen lasse. der Darstellung einer Gleichheit der Geschlechter Annina Klappert (HU Berlin) und Sophie stattfanden. De Stevens habe eindeutiges Interesse Liepold (Wien) (Emilie von Berlepsch: Emanzipa- daran gehabt, ihren Fassungen eine emanzipatori- torisches Schreiben in vielfältiger Form) arbeiteten sche Stoßrichtung zu geben. in ihrem Vortrag heraus, wie von Berlepsch ihr Zuletzt sprach Elisabeth Stadlinger (Wien) emanzipatorisches Anliegen in unterschiedlichen li- anhand von Elisabetta Caminèr Turra und Maria terarischen Formen zum Ausdruck bringe. Aufsehen Fortuna über die polarisierten Facetten des weib- erregte ihr progressiver Aufsatz zur Gleichberechti- lichen italienischen Literaturbetriebs während gung in der Ehe, doch auch in Gedichten, Briefen, des aufklärerischen Epochenumbruchs (Elisabetta einem Drama, politischen Essays und Reiseberichten Caminèr Turra und Maria Fortuna: Der weibliche zeige sich das Emanzipatorische deutlich. Sie sei als Literaturbetrieb im Italien des 18. Jahrhunderts). Schreibende, Reisende und Salonnière in maßgeb- Diese spiegelten den weiblichen literaturhistori- lichen kulturellen Kreisen ihrer Zeit um 1800 aktiv schen Diskurs auf ganz unterschiedliche Weisen und bekannt gewesen und habe diese mitgeprägt. wider: Während Caminèr Turra bildungspolitische Vera Mütherig (Münster) („Kan ich die Nar- Ansprüche hegte und teils öffentliche Kritik an ren nicht durch sanfte Lieder rühren / Ey! so versuch männlichen Autoren übte, griff Fortuna bukoli- ichs jetzt durch beissende Satyren!“. Sidonia Hedwig sche Ideen- und Ausdruckstopoi auf und verblieb Zäunemann als Vorreiterin satirischer Schreibweise) weitgehend unbekannt. Stadlinger zeigte die belegte in ihrem Vortrag und ihrer Forschung, Strategien auf, mithilfe derer sich die Literatinnen dass Zäunemann in ihren Werken öffentlich die einerseits in ihr literarisches Umfeld einfügten, gängigen Differenzierungsmuster und Dichoto- von dem sie andererseits aber auch provoziert und mien zwischen ‚männlichem‘ und ‚weiblichem‘ marginalisiert wurden. Schreiben angeprangert und somit dieselben Die Tagung zeigte die Vielzahl und Diversität gesprengt habe. Durch die Demonstration von nicht nur weiblicher Autorinnen in Europa auf, Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
480 | Konferenzberichte sondern im gleichen Maße die der dargestellten Im Anschluss an die Tagung wird der von An- Forschungsfragen, die mit ihrem Blick auf ex- nina Klappert herausgegebene Sammelband Text- perimentelles und hybrides Schreiben, Transla- figuren der Emanzipation. Europäische Autorinnen torik und rhetorische Navigationsstrategien ein des 17. und 18. Jahrhunderts wieder (und wieder) hohes Maß an Aktualität besitzen. Ebenso gab lesen erscheinen, der das Thema des emanzipato- es während der Veranstaltung die Gelegenheit, rischen Schreibens aufnimmt, indem er den Fokus Forschungsdesiderate zu besprechen: Im Werk- auf die Analyse der Textfiguren richtet. stattgespräch wurde u. a. auf die Notwendigkeit hingewiesen, Autorinnen nicht bloß dahingehend Anja Rekeszus zu erforschen, ob sie im Vergleich zu männlichen King’s College London Kollegen ‚subversiv‘ geschrieben hätten, sondern Department of German sie als eigenständige Kreative ernstzunehmen. Virginia Woolf Building, 22 Kingsway Ebenso kamen dekoloniale Arbeitsmethoden sowie London WC2B 6NR eine mögliche Erweiterung des Themenfeldes über Vereinigtes Königreich Europa hinaus zur Sprache. Anna Louisa Karsch. Werke – Netzwerke – Öffentlichkeiten (Tagung in Halberstadt als hybride Veranstaltung, 12.–14.8.2021) Anna Louisa Karschs Geburtstag am 1. Dezember in Karschs Werk aktiv hergestellt? Welche Rolle 1722 jährt sich 2022 zum 300. Mal. Zur Vorberei- spielen verschiedene Publikationsformen, etwa in tung des Jubiläumsjahrs organisierten Ute Pott Einzeldrucken, Zeitschriften oder Werkausgaben? (Halberstadt), Nacim Ghanbari (Siegen) und Welche Aufschlüsse gibt eine Hinwendung zu Annika Hildebrandt (Siegen) im Gleimhaus praxeologischen Fragen und zur Materialität der Halberstadt eine Konferenz zu der Autorin. Aus Überlieferung? Welche Wechselbeziehungen beste- neuesten Ansätzen und Erkenntnissen der Aufklä- hen dabei zu mündlich konstituierten Formen von rungsforschung heraus war die Tagung auf Karschs Öffentlichkeit, in die Karsch als gefragte Kasual- Werk und auf die Netzwerke und Öffentlichkeiten dichterin am preußischen Hof eingebunden war? gerichtet, in denen sie sich bewegte. Damit einher Die erste Sektion (Werke) wurde durch Ulrike ging die deutliche Abwendung von der bislang häu- Leuschner (Darmstadt) (Die ‚deutsche Sappho‘ fig zu sehr auf die Zusammenhänge von Werk und liest Homer) eröffnet. Sie präsentierte ein unedier- Individualbiografie fokussierten Karsch-Forschung. tes Manuskript von Anna Louisa Karsch, das in In der programmatischen Einführung der der Abschrift von Wilhelm Körte Briefe über den Veranstalterinnen wurde anknüpfend an aktuelle Homer von der Frau Karschin betitelt wurde. Der Forschungen zur kollaborativen Autorschaft vor- Vortrag arbeitete Karschs epistolare Ilias-Lektüre geschlagen, soziale Netzwerke und die historische als originelle Position innerhalb der zeitgenössi- Ausformung kommunikativer Akte ins Zentrum schen Homer-Rezeption heraus. der Untersuchungen zu stellen. Anschließend an Nikolas Immer (Trier) (Dichterische Hul- aktualisierende Lektüren von Habermas’ einschlä- digungen? Anna Louisa Karschs Versepisteln über giger Studie Strukturwandel und Öffentlichkeit Emilia Galotti und Die Räuber) fokussierte seinen wurde angeregt, die Herstellung literarischer Vortrag auf Karschs Versepistel Ueber die Emilie Öffentlichkeiten im 18. Jahrhundert neu zu Galotti. Karsch hatte im April 1772 in Berlin denken. So geben etwa die Reichweite der Kor- eine der Aufführungen von Lessings Theater- respondenzen und die medialen Signaturen der stück gesehen. Die Versepistel verbindet das Lob Zirkulation Aufschluss über Netzwerkstrukturen der lebhaften Darstellung mit der Würdigung des literarischen Lebens. Dadurch erschließen sich des militärischen Ruhms Herzog Ferdinands aktuelle Fragestellungen: Wie wird Öffentlichkeit zu Braunschweig-Lüneburg, dessen Beifall zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Konferenzberichte | 481 Emilia Galotti gleichzeitig den Verfasser und die Raum‘ in einem Brief Karschs an Gleim. Die Schauspielerin ehre. Darauf folgen Passagen der Vortragende arbeitete heraus, wie sich die Absenz ‚Mimen-Ekphrasis‘, die auch die Herausforderung von Raum und damit auch von Sinn als Katachrese der Darstellung schauspielerischer ‚Wahrheit‘ auf begreifen lässt, die in ihrem Entzug zugleich ins der Bühne selbstreferentiell adressieren. Immer ästhetisch Produktive gewendet wird. In der Dis- arbeitete heraus, wie der tyrannische Herrscher des kussion wurde u. a. angeregt, diesen Ansatz mit Stücks im Abschluss der Epistel als Gegenfolie des der Theoretisierung des Epistolaren als Schreibakt Lobs von Herzog Ferdinands Herrschertugenden zwischen Absenz und Präsenz zu verbinden. fungiert. Die zweite, von Julia Gerlof (Berlin) geleitete In der ersten Lektüresitzung präsentierte Lektüresitzung (Lyrische Rollenspiele bei Goethe Maria Düfert (Hannover) (Belloisens Lebenslauf ) und Karsch) war als Angebot gestaltet, Goethes die Kurz- und Langversion des autobiografischen Rollenspiel im West-Östlichen Divan mit Karschs Gedichts Belloisens Lebenslauf. In der Diskussion Rollenspielen in ausgewählten Gedichten zu ver- ergab sich insbesondere, dass die Unterschiede der gleichen. Im Fokus der regen Diskussion stand Selektion und Darstellung biografischer Elemente insbesondere das Gedicht Eigenschaften der Sapho, in beiden Versionen auf eine komplexe Arbeit am in dem sich Karsch einerseits der Anforderung, in Lebenslauf der Autorin schließen lassen. Die bei- höfischer Gesellschaft Gedichte mit vorgegebenen den Gedichtversionen zeigen, wie die Dichotomie Reimen zu verfertigen, fügt. Andererseits subver- von Authentizität und Literarizität in Karschs tiert sie die an sie gestellten Rollenanforderungen autobiografischen Selbstentwürfen auf komplexe bereits in der ersten Zeile („Nicht immer will ich Weise durchkreuzt wird. so, wie andre Leute wollen“). Der Abendvortrag der Herausgeberin der Sap Der Beitrag von Reimar F. Lacher (Hal- phischen Lieder, Regina Nörtemann (Berlin) (Sap- berstadt) (Anna Louisa Karsch im Porträt. Ein pho-Rezeption bei Anna Louisa Karsch), präsentierte ikonografischer Spezialfall ) ergänzte die erste Karschs poetische Rollenspiele als authentische Sektion kunsthistorisch. In einer genauen iko- Fiktionen. In der lyrischen Verkleidung als Sappho nografischen Verortung einiger der wichtigsten finde Karsch eine Form für den Ausdruck ihrer Karsch-Porträts machte Lacher das Spektrum der Gefühle, so dass sich die ideale in der wirklichen visuellen Zeugnisse ihrer öffentlichen Bekanntheit Figur auflöse. Daher sei es bei Karschs berühmten deutlich: Die Autorin erscheint etwa als Sappho in Brief vom 1. Juli 1761 schließlich nachrangig, ob es einem Profilbild in antikisierender Tradition, als sich bei den Flecken auf dem Papier um Brunnen- Modell in einem Modekupfer von Chodowiecki, wasser oder Tränen handele – die evozierten Trä- aber auch – wiederum in ihrer Sappho-Rolle – als nen des Textes („du iezt niederFallende Trähne“) erstes Dichterstandbild in Deutschland. hätten ihre eigene Wirklichkeit. Die zweite Sektion konzentrierte sich auf In der Fortsetzung der ersten Sektion stellte „Netzwerke“. Den Auftakt machte Maximilian May Mergenthaler (Columbus, OH/Bonn) Bach (Freiburg) (Anna Louisa Karsch als panegyri- (Licht als lyrisches Medium bei Anna Louisa Karsch) sche Gelegenheitsdichterin in Berlin. Anlässe, Orte, dar, inwiefern bei Karsch lyrische Aufstiegsbewe- Netzwerke). Er arbeitete Karschs Position innerhalb gungen von Lichtmetaphorik durchzogen sind. So der zeitgenössischen Panegyrik-Tradition heraus. beginnt die Buchfassung von Belloisens Lebenslauf Jenseits des anachronistischen Blickes auf diese mit „Tageslicht“ und „Morgenroth“. In der Dis- Gattung als antiemanzipatorisch, der die frühere kussion kristallisierte sich die Frage heraus, wo Forschung beherrschte, situierte Bach Karschs es sich bei diesen Lichtmetaphern um typische Panegyrik innerhalb sozialer und medialer Prakti- zeitgenössische Topik handele und wo sich deren ken der Inszenierung fürstlicher Herrschaft. Bach Karsch-spezifischer Gebrauch nachweisen lasse. konzentrierte sich dabei auf die Art der Produktion, Inka Kording (Heilbronn) (Katachrestische die ‚höfischen‘ Kontexte und den Adressat:innen- Um-Schreibungen des horror/amor vacui in Lyrik kreis ihrer Gelegenheitsdichtung. Karsch galt als und Briefen von Anna Louisa Karsch) präsentierte Meisterin der rasch extemporierten Gedichte und eine zeichentheoretisch komplexe Lektüre der wurde – im Gegensatz etwa zu Karl Wilhelm Ram- topografischen Tropen von ‚Wüste‘ und ‚leerem ler – als Naturtalent wahrgenommen. In Kontexten Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
482 | Konferenzberichte höfischer Geselligkeit knüpfte Karsch durch ihre Natur. Anna Louisa Karschs Auserlesene Gedichte Panegyrik vielfache Kontakte insbesondere zu [1764]) die Rolle editorischer Praktiken in der (hoch)adeligen Frauen. In der Diskussion wurde Ästhetik der Natürlichkeit um 1750 heraus. Das darauf hingewiesen, dass gerade diese Praktiken der Paradigma der Natürlichkeit hat eine editorische Herstellung höfischer Öffentlichkeit bei Habermas’ Tätigkeit zur Folge, die als unnatürlich wahrge- Konzept der literarischen Öffentlichkeit ergänzend nommene Texte entsprechend verbessert. Das gilt mitgedacht werden sollten. Zudem zeige sich, dass auch für die Auserlesenen Gedichte: Das Ideal des die Frage der Spontaneität von Karschs Dichtung unverbildeten Dichtens, als dessen Verkörperung nicht abschließend geklärt werden könne. Anna Louisa Karsch gefeiert wurde, bedurfte Thomas Assinger (Anna Louisa Karsch in offenbar der Bearbeitung von Herausgeberseite. der Wiener Aufklärung) präsentierte die bislang Dadurch ergaben sich bemerkenswerte Umwer- unerforschte österreichische Karsch-Rezeption tungen – so wird in Sulzers Vorrede der Versuch um 1800. Wie eine Auflistung im Wiener Da- deutlich, das traditionelle Gelegenheitsgedicht zu menkalender für das Jahr 1803 zeigt, wurde Karsch naturalisieren. Die editorische Naturalisierung hat in Wien Anfang des 19. Jahrhunderts zu den aber ihre Kehrseite in der Überformung – die or- wichtigsten Frauen des 18. Jahrhunderts gezählt. thografischen Eigenheiten von Karschs Schreiben Im Vergleich mit der italienischen Schriftstellerin etwa wurden korrigierend an die Norm angegli- Maria Maddalena Morelli, die eine ähnliche Bio- chen. Insgesamt handelt es sich bei den Auserlese- grafie aufwies, wurde in diesem Umfeld Karschs nen Gedichten um eine mehrfache Steuerung der dichterische Qualität deutlich höher eingeschätzt. Rezeption durch die Selektion der Texte und die Anhand eines Empfehlungsbriefes der Autorin biografische Inszenierung Karschs als Naturdich- an Michael Denis machte Assinger deutlich, wie terin. So verstanden ist die Editionstätigkeit als Karsch brieflich ihr symbolisches Kapital subtil homogenisierende Vermittlungstätigkeit zwischen ausspielte und hierzu literarische wie rhetorische der Ästhetik der Einfachheit, den Erwartungen Konventionen strategisch einsetzte. Das stehe adeliger und bürgerlicher Rezipient:innen und der exemplarisch für Karschs Netzwerkpraxis: Die Gelegenheitsdichtung der Autorin zu verstehen. Bitte um Förderung ihres Protegés war gleichzeitig Tobias Heinrich (Autorschaft und Zelebrität. geschicktes Mittel zur Erweiterung ihres eigenen Anna Louisa Karsch im literarischen Markt) nutzte Bekanntheitsgrades bei wichtigen Intellektuellen die methodischen Impulse der aktuellen Celebrity und letztlich im Wiener Hochadel. Studies, um Karschs Position im zeitgenössischen Claudia Brandt (Schreibstrategien in Emp- literarischen Feld zu bestimmen. Die Verwischung fehlungsbriefen. Anna Louisa Karsch als Förderin der Grenzen öffentlicher und privater Sphären und Dritter) legte die Funktion von Empfehlungs- die Ökonomisierung privater Beziehungen betra- schreiben im 18. Jahrhundert, die wichtiger Teil fen Karsch wesentlich. Das gilt zum Beispiel für der Kulturtechnik des Netzwerkens waren, dar. Pa- das Zusammenspiel von Autorinnenbiografie und tronagepraxis und Freundschaftssemantik waren literarischer Deutung im öffentlichen Bewusstsein. dabei jeweils eng verknüpft. Brandt skizzierte den Die Hervorhebung der Außerordentlichkeit von üblichen formalisierten Aufbau von Empfehlungs- Karschs lyrischer Improvisationsgabe in textuellen schreiben, um davon ausgehend die Abweichungen Zeugnissen zeigt, dass das größere Publikum auf von Karschs Empfehlungsbriefen darzulegen, die die Vermittlung solcher Elemente der Performanz sich gerade durch eher regellose Strategien aus- angewiesen war, die zur Individualität der als zeichnen. Auch wenn es sich hierbei womöglich Naturgenie stilisierten Autorin gezählt wurden. um eine allgemeine zeittypische Auflockerung des Zudem machte Heinrich deutlich, dass gerade Briefstils handelte, konnte Brandt zeigen, dass die die Rolle der Wertung und Vergleichung für den Autorin ihre besondere Position als ‚Genie ohne Ruhm im literarischen Feld die adäquate Aner- Bildung‘ ausspielte und damit jeweils individuelle kennung von Dichterinnen wie Karsch erschwerte, Formen der Empfehlungsschreiben entwickelte. weswegen ihre Einengung auf eine bestimmte In der dritten Sektion standen „Öffentlichkei- Position nach ihrem Tod weiter zugespitzt wurde. ten“ im Vordergrund. Im ersten Vortrag dieser Sek- Corinna Dziudzia (Lange Schatten, alte Hüte. tion arbeitete Erika Thomalla (Berlin) (Edierte Anna Louisa Karsch als Poeta Laureata der dritten Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
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