Sonderdruck - Zeitschrift für Germanistik Neue Folge - Germanistisches Seminar
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Zeitschrift für Germanistik Neue Folge XXX – 1/2020 Herausgeberkollegium Ulrike Vedder (Geschäftsführende Herausgeberin, Berlin) Alexander Košenina (Hannover) Mark-Georg Dehrmann (Berlin) Claudia Stockinger (Berlin) Gastherausgeberin Christiane Holm (Halle) Sonderdruck PETER LANG Internationaler Verlag der Wissenschaften Bern · Berlin · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien
pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 184–200 Konferenzberichte Johann Michael Moscheroschs Textwelten (Interdisziplinäre und internationale Tagung in Willstätt v. 3.–5.4.2019) Die Tagung wurde anlässlich des 350. Todestags Sinngebung zu erkennen, durch die der Schreib- des frühneuzeitlichen Dichters und Gelehrten kalender in die Nähe der Tagebuchliteratur rücke. Johann Michael Moscherosch (1601–1669) von Ein Dokument der Moscherosch-Rezeption aus Sylvia Brockstieger und Dirk Werle (Heidel- der Zeit des Ersten Weltkrieges war Gegenstand berg) in Kooperation mit der Gemeinde Willstätt des Vortrags von M artin Frank (Marbach) zum (Heimatstadt Moscheroschs), der Arbeitsstelle für Auftakt der zweiten Sektion „Kultur und Trans- literarische Museen, Archive und Gedenkstätten fer“. Er las Edmund Kreuschs 1915 publizierte in Baden-Württemberg (DLA Marbach) und der Erzählung Moscherosch und Grimmelshausen im Grimmelshausen-Gesellschaft veranstaltet. Schützengraben vor dem Hintergrund der politi- Nach einer Einführung durch die Veranstalter schen Ausrichtung der Zeitschrift März und stellte referierte M artin Ruch (Willstätt) in der ersten Überlegungen zur Autorintention an. Sektion „Autor und Netzwerk“ über die Spuren Elsa K ammerer (Lille) identifizierte die bisher Moscheroschs in den Rechnungsbüchern der unbekannte Vorlage der Méditation sur la vie de Gemeinde Willstätt. Diese seien als Quellen für Jesus Christ (1646) als Robert Arnauld d’Andillys das alltägliche Leben in Willstätt zur Zeit des Poeme sur la vie de Jesus Christ (1645). Mit der Dreißigjährigen Krieges ergiebig. Änderung des Titels habe Moscherosch entspre- Mit dem verlegerischen Netzwerk Moscheroschs chend der Lehren des Straßburger Kirchenpräsiden- befasste sich Holger Thomas Gräf (Marburg). Er ten Johann Schmidt darauf aufmerksam gemacht, zeigte Verbindungen zwischen Moscherosch und dass sich diese Schrift zur Anwendung in der dem Frankfurter Kupferstecher Johann Philipp privaten Meditation eigne. Im Gegensatz zur Vor- Thelott auf, der Moscherosch in seinem Rech- lage habe Moscherosch zudem in diversen Passagen nungsbuch für die Jahre 1665–1671 als Kunden dezidiert katholische Begriffe geändert oder getilgt. nennt. Denkbar sei, dass es sich bei Thelott um Den Abschluss des ersten Konferenztags bil- den bisher unbekannten Stecher des Titelkupfers dete ein öffentlicher Abendvortrag von Wilhelm der Ausgabe der Gesichte Philanders von Sittewalt K ü hl m a n n (Heidelberg), in dem es um die aus dem Jahre 1666 handele. ambivalente und vielschichtige Bedeutung der Sylvia Brockstieger (Heidelberg) zeigte an- Alamode-Kritik in den Gesichten Philanders von hand von Moscheroschs Schreibkalender literatur- Sittewalt ging. wissenschaftliche Fragestellungen auf, die sich bei M aximilian Bergengruen (Karlsruhe) befasste der Auseinandersetzung mit dieser Gattung stellen, sich in seinem Vortrag in der dritten Sektion „Sa- etwa zum Verhältnis von dokumentierendem und tire und Roman“ mit den Höllendarstellungen in erzählendem Schreiben sowie nach dem Ausdruck La Genestes Übersetzung von Quevedos Sueños, eines Autor-Bewusstseins. Einzelne Einträge Mo- Moscheroschs Hoff-Schule und der Continuatio scheroschs erschienen zwar oft beliebig, in den des Simplicissmus Teutsch. Die Tyrannenthematik zahlreichen Tilgungen und Verbesserungen werde aus Moscheroschs Vorlage sei angereichert und jedoch ein Bewusstsein für die Archivierbarkeit in ihrer Komplexität gesteigert worden. Auch des Geschriebenen erkennbar. Man könne nicht vor dem Hintergrund der in anderen Vorträgen von einer durchgängigen Selbstinszenierung spre- betonten Komplexität und Selbstreflexivität des chen, es seien aber Versuche von Ordnungs- und Moscherosch’schen Œuvre erscheint die Folgerung © 2020 The author(s) - http://doi.org/10.3726/92165_184 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Konferenzberichte | 185 Bergengruens plausibel, dies gehöre zu einer um- Die explizite und implizite Gattungsreflexion, fassenden Hofkritik, die jeden Teilnehmer des die in den fortlaufenden Überarbeitungen der Ge- Hoflebens als Teil eines gottvergessenen politischen sichte stattfindet, führte Nora R amtke (Bochum) Systems versteht, was auch den Sprecher Philander exemplarisch an vier Episoden vor, in denen sich mit einschließt. Philander in Gerichtsverhandlungen für sein Mit der Selbstrechtfertigung des Moralsati- Schreiben verantworten muss. Die einzelnen Ge- rikers Moscherosch im Gesicht Reformation be- richtsverfahren variieren dabei in der Zusammen- fasste sich der Vortrag von Peter H esselmann setzung des Gerichts, im Anklagegegenstand und (Münster). In der Reformation verteidigt Philander im Urteil – am Ende des vierten Verfahrens stehe zwar die bereits verfassten Satiren und besteht jedoch der Freispruch Philanders und damit der auf den artikulierten moralischen Ansprüchen, Freispruch seiner Satiren. verspricht aber auch, keine weiteren Satiren mehr M isia Sophia Doms (Baden b. Wien) zeigte zu schreiben. Philander gelange damit zu der Er- in der vierten Sektion „Literatur und Wissen“ kenntnis, dass Gesellschaftskritik zwar notwendig mögliche Ordnungsprinzipien des Wörterbuchs sei, sich jedoch am gesellschaftlichen Wandel Technologie Allemande & Françoise auf. In Abgren- orientieren müsse; eine Rückbesinnung auf die zung von Walter Ernst Schäfers Urteil, es handle Vergangenheit stelle keine Alternative zu Reformen sich um eine mehr oder weniger unsystematische in der Gegenwart dar. Auf listung von Wörtern und Wortgruppen, Rosmarie Zeller (Basel) stellte einige Beobach- stellte Doms in dem Text zwei miteinander kon- tungen zu den Paratexten der Gesichte Philanders von kurrierende Ordnungssysteme fest. So sei zum Sittewalt an. Das Verfassen einer Vorrede zu jedem einen eine Anordnung vom Geistig-Erhabenen der Gesichte stelle eine Auffälligkeit dar, zumal sie zum Materiell-Niedrigen im ersten Abschnitt des nicht zur Einzelveröffentlichung bestimmt waren. Wörterbuchs erkennbar, die in den Abschnitten Außerdem seien die Vorreden durch ihre Heteroge- 2–7 umgekehrt werde. Zum anderen könnten die nität gekennzeichnet: So fänden sich ebenso solche, Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall (Gen. die die Gattung der Satire verteidigen, wie Vorreden, 1–3) als narrativer Hintergrund für das gesamte die um das Wohlwollen des Lesers werben oder aber Wörterbuch verstanden werden. Doms machte den Leser beschimpfen. Bezüglich der ab 1650 vor- plausibel, dass es sich bei dem Wörterbuch um ein handenen Titelkupfer für jedes der Gesichte lasse sich Sprachlehrbuch gehandelt haben könnte. feststellen, dass deren Verhältnis zum Text häufig Mit der Insomnis Cura Parentum (1643) befasste erst durch die Lektüre erkennbar werde. sich der Vortrag von Simon Zeisberg (Berlin). In Mit dem Verhältnis von ‚Guter Policey‘ und der diesem Text, der sich in einem zweifachen Ad- menippeischen Satire bei Moscherosch befasste ressatenbezug sowohl an Moscheroschs Kinder sich Philip Ajouri (Stuttgart). Im ersten Teil der als auch an die Öffentlichkeit richtet, inszeniere Gesichte dienten der gesellschaftliche Stand und die sich Moscherosch durch eine Rhetorik des Kunst- ‚Gute Policey‘ als Ordnungskriterien, gleichzeitig losen als Practicus, dessen Wort durch seine liege der Satire bei Moscherosch aber eine Ord- Welterfahrung Gewicht gewinne. Eine ähnliche nung zugrunde, die nicht ständisch begründet sei. Strategie lasse sich in Schupps Freund in der Not Als Grund hierfür wurde die Krise der Ständege- beobachten. Dieses Schreibprinzip werde dann sellschaft durch den Dreißigjährigen Krieg ge- von Grimmelshausen in seinem Ewigwährenden nannt, mit der sich auch neue Wege für die Satire Kalender parodiert, die Unordnung werde hier zu eröffneten. Dementsprechend sei der Gegenstand Unterhaltungszwecken eingesetzt. Gleichzeitig der Alamode-Kritik nicht ein Überschreiten der stelle die Insomnis Cura Parentum Genealogie Ständegrenzen, sondern ein ständeübergreifend diskursiv her. ‚undeutsches‘ Verhalten, das durch die Abführung Der Bibliothekskatalog Moscheroschs war finanzieller Mittel ins Ausland dem ‚gemeinen Gegenstand des Vortrags von Dirk Werle (Hei- Nutz‘ in Deutschland schade. Damit seien Mo- delberg). Moscheroschs Bibliothek sei laut diesem scheroschs Satiren ein Normrelativismus und Dokument bemerkenswert gut ausgestattet gewe- eine Komplexität zu eigen, die die Tradition der sen, wobei jedoch berücksichtigt werden müsse, Menippea überstiegen. dass der Katalog keinen Einblick in den Wandel Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
186 | Konferenzberichte der Bibliothek gewährt. Bereits zum aktuellen geringen Qualität der französischen Übersetzung Zeitpunkt der erst beginnenden Erschließung von La Geneste, auf der die Gesichte Philanders von ließen punktuelle Beobachtungen aus dem Be- Sittewalt beruhen, müsse vor diesem Hintergrund stand der Bibliothek ziehen. So verzeichne der überdacht werden. Katalog z. B. Texte, die sich mit der Erfindung H ans -Joachim Jakob (Siegen) befasste sich des Buchdrucks befassen, wie er im Soldatenleben mit der Rezeption Moscheroschs in den Schul- thematisiert wird. programmen des 19. Jahrhunderts. Die geringe Jörg R iecke (Heidelberg) näherte sich der Aufmerksamkeit, die Moscherosch zwischen 1820 Verwendung von Geheimsprachen und Rotwelsch und 1914 in den Schulprogrammen und ihren bei Moscherosch aus sprachwissenschaftlicher Abhandlungen zukam, sei repräsentativ für das Perspektive an. Das Glossar rotwelscher Wörter wenig ausgeprägte Interesse an der Literatur des 17. im Soldatenleben lasse sich zu großen Teilen auf Jahrhunderts. Dennoch lasse sich in den (literatur-) den Liber Vagatorum (zuerst 1510) zurückführen, pädagogischen Periodika eine frühe Moscherosch- Moscherosch folge der Überarbeitung Martin Forschung erkennen, die zwar zum Teil unter den Luthers. Festzustellen sei auch, dass Moscherosch Vorzeichen nationalistischer Bewegungen stehe, das Rotwelsche nicht gut genug beherrscht hat, um aber auch philologische Abhandlungen biete. einige Fehler zu vermeiden. Aufgrund der Wort- In der Abschlussdiskussion wurde festgestellt, bildungen lasse sich von einem nahezu sprachwis- dass sich die thematische Vielfalt von Moscheroschs senschaftlichen Interesse Moscheroschs sprechen. Œuvre in den Tagungsbeiträgen widerspiegele, und Der Vortrag von D ieter Br euer (Aachen) dass es gelungen sei, an die vorhandene Forschung befasste sich zu Beginn der fünften Sektion „Re- anzuknüpfen und diese zu ergänzen. Gleichzeitig zeption“ mit den Pseudo-Moscheroschiana, die wurde wiederholt auf das Desiderat einer Mosche- zwischen 1646 und 1648 von dem Frankfurter rosch-Gesamtedition hingewiesen. Zusätzlich Verleger Johann Theobald Schönwetter publiziert zum Tagungsprogramm wurde eine gemeinsame worden. Diese insgesamt achtbändige Ausgabe ver- Besichtigung der Dauerausstellung Johann Michael sammle neben Moscheroschs Gesichten auch Mo- Moscherosch: Aus Willstätt nach Europa unter der ralsatiren, die nicht von Moscherosch stammen, Leitung von Thomas Schmidt unternommen. sowie in fünf Bänden unterhaltsame Erzählungen, Insgesamt bot die Tagung eine Vielzahl neuer Historien und aktuelle politische Informationen. Erkenntnisse, etwa bezüglich der Prätexte Mosche- Dabei würden Stoffe für das 17. Jahrhundert aktu- roschs, seinem Netzwerk oder der Selbstreflexivität alisiert, die zum Teil seit dem Mittelalter bekannt seiner Satiren. Eine Publikation der Beiträge wird sind. Literaturwissenschaftlich relevant seien die in den Beiheften zu Simpliciana erfolgen. Pseudo-Moscheroschiana vor allem deswegen, weil sie zur stofflichen Fundgrube für jüngere Autoren Sofia Derer wurden, darunter Grimmelshausen. Universität Heidelberg E ric Achermann (Münster) führte anhand Neuphilologische Fakultät einer Detailanalyse einiger Textstellen vor, dass die Germanistisches Seminar angemessene Übersetzung von Quevedos Sueños Hauptstraße 207–209 aus dem Spanischen in das Französische überaus D–69117 Heidelberg anspruchsvoll ist. Die gängige Kritik an der Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Konferenzberichte | 187 „Die deutsche Freiheit erdolcht!“. Tagung zu Leben, Werk und Tod August von Kotzebues anlässlich seiner Ermordung vor 200 Jahren (Interdisziplinäre Tagung in Mannheim v. 21.–23.3.2019) Zur 200. Wiederkehr von Kotzebues Todestag lu- Der Musikwissenschaftler A x el S chröter den die Organisatoren Julia Bohnengel (Heidel- (Bremen) ging auf Kotzebues spannungsvolles berg) und Thomas Wortmann (Mannheim), u. a. Verhältnis zur Musik ein, indem er einerseits die in Kooperation mit dem Mannheimer Altertums- erhaltene Theatermusik zu Kotzebues Dramen verein, Germanisten und Komparatisten, Histori- analysierte (wobei im Fall des Mannheimer Natio- ker und Musikwissenschaftler sowie Experten aus naltheaters der Großteil der Bühnenmusik verloren Museen zu einer interdisziplinären Tagung nach ist) und andererseits aufzeigte, wie der Dramatiker Mannheim ein. Ziel war es, sowohl das Attentat selbst durch Anweisungen und Vorgaben versuch- und dessen Folgen als auch das schriftstellerische te, stets den Primat seines Textes gegenüber der Werk Kotzebues neu in den Blick zu nehmen. Musik zu wahren. In ihrer Einführung in die Tagung wiesen Die Komparatistin Julia Bohnengel (Heidel- B ohnengel und Wortmann auf die national- berg) nahm mit Kotzebues Laientheaterstücken historische Bedeutung des Kotzebue-Attentates ein Genre in den Blick, für das sich die Forschung hin. Denn als der Student Karl Ludwig Sand bisher wenig interessiert hat, obwohl es fast die am 23. März 1819 den Schriftsteller August von Hälfte seines dramatischen Gesamtœuvres be- Kotzebue in dessen Mannheimer Wohnhaus stimmt. Bohnengel verortete zum einen die Ent- erstach, setzte er nicht nur dem Leben des meist- stehungsumstände von Kotzebues Laienstücken in gespielten Dramatikers der Goethezeit ein jähes der literarischen Fehde mit Goethe von 1801/02 Ende. Die Ermordung zog mit den Karlsbader und spürte zum anderen seinen französischen Beschlüssen auch tiefgreifende gesellschaftliche Vorbildern (insbes. Louis Carrogis de Carmon- Konsequenzen nach sich. Von nun an wurde telle) nach. die Freiheiten der Universitäten beschnitten, die Thomas Wortmann (Mannheim) setzte sich Burschenschaften verboten und die ‚Demagogen- mit Kotzebues Südseedrama La Peyrouse ausein- verfolgung‘ begann. ander. Der Literaturwissenschaftler interpretierte Die erste Sektion der Tagung trug den Titel das Drama im Hinblick auf den darin verhandel- „Kotzebues Theater. Der Dramatiker im eu- ten kolonialen Diskurs, den Kotzebue insofern ropäischen Kontext“ und wurde von der Literatur- durchkreuzt, als er durch die Gleichsetzung der wissenschaftlerin I rmtr aud H nilica (Hagen/ französischen und polynesischen ‚Gattinnen‘ des Trier) eröffnet, die in ihrem Vortrag herausarbei- Protagonisten Zuschreibungen und Wertungen tete, wie Kotzebues Abolitionsdrama Die Neger- des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ kollabieren lässt. sklaven auf die Mitleidsästhetik des bürgerlichen Die folgende Diskussion kreiste um die Frage, Trauerspiels rekurriert, um mittels einer daran inwiefern die ‚exotischen‘ Texte Kotzebues, zu geschulten Affektpoetik – und weniger durch denen z. B. auch die Negersklaven zählen, im Hin- eine Fakten gesättigte Darstellung – die Sklaven- blick auf eine Textproduktion, die auf Effekte von haltung zu problematisieren. Serialität setzt, zu verstehen sind: Der Liebesplot, Unter dem provokanten Titel Alles nur geklaut? der zahlreiche Kotzebue-Stücke organisiert, wird widmete sich Johannes Birgfeld (Saarbrücken) hier wiederholt, aber eben auch entscheidend durch Kotzebues oftmals negativ ausgelegter Praxis, po- ein nicht-europäisches Setting und die damit ver- puläre Prätexte für die Bühne zu modifizieren. Am bundenen Verschiebungen variiert. Beispiel von Kotzebues Auseinandersetzung mit Kotzebues Adaptionsstrategien standen auch im den Texten des dänisch-norwegischen Dramatikers Zentrum des Vortrags der Literaturwissenschaft- Ludvig Holberg zeigte der Literaturwissenschaftler lerin A nke Detken (Göttingen), der sich mit den die Strategien auf, mittels derer Kotzebue seine Deutschen Kleinstädtern, dem wohl bekanntesten Prätexte adaptierte und zog eine Linie zum Theater Text August von Kotzebues, beschäftigte. Detken der Gegenwart. las das Drama vor der Folie seines französischen Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
188 | Konferenzberichte Prätextes, Louis-Benoît Picards La petite ville, um fragten nach den Kontexten des Attentats und die Unterschiede in der Schilderung der Provinz den Folgen der Ermordung. Den ersten Vortrag bei Kotzebue und Picard herauszuarbeiten, die hielt die Historikerin Sarah Pister (Mannheim), in der anschließenden Diskussion auch darauf die in intensiver Auseinandersetzung mit stadt- zurückgeführt wurden, dass der Status von Paris historischen Quellen rekonstruierte, an welchen in der zeitgenössischen deutschen Kultur keine Ort Kotzebue 1818 übersiedelte bzw. mit welcher Entsprechung findet. Eine szenische Lesung der Stadtgesellschaft der Dramatiker, der an seinen Le- Deutschen Kleinstädter im Werkhaus des Mann- bensorten stets die Öffentlichkeit gesucht und sich heimer Nationaltheaters beschloss diesen ersten am kulturellen Leben beteiligt hatte, in Mannheim Konferenztag. konfrontiert war. Am nächsten Tag nahm die zweite Sektion der Sylvia Schraut (München), ebenfalls Histori- Konferenz „Kotzebues Vielfalt“ dessen schriftstel- kerin, arbeitete in ihrem Beitrag auf, wie Kotzebue lerisches Engagement jenseits der Bühne in den durch seine Texte zum Feindbild der liberalen Fokus. Eröffnet wurde sie durch den Literaturwis- Bewegung avancierte. Der populäre Dramatiker, senschaftler M ax Graff (Heidelberg) mit einem durch seine Arbeit als russischer Generalkonsul als Beitrag zu Kotzebues frühen Verserzählungen, die Spion verschrien, wurde zur Projektionsfläche, auf bisher von der Forschung noch nicht untersucht die sich ein Feindbild werfen ließ, das schließlich worden sind. Graff konnte dabei u. a. frühneu sogar den Mord zu legitimieren versprach und nach zeitliche Quellen Kotzebues, aber auch den Einfluss dem Attentat dafür sorgte, dass nicht das Opfer be- Wielands identifizieren, zeigte jedoch zugleich die dauert, sondern der Täter gefeiert wurde. Intensiv Konventionalität der ersten schriftstellerischen diskutiert wurde im Anschluss an diesen Vortrag, Versuche Kotzebues auf. inwiefern Sands Attentat als ein terroristischer Akt Im folgenden Vortrag diskutierte A lexander verstanden werden kann. Schraut selbst ließ daran Košenina (Hannover), ebenfalls Literaturwissen- keinen Zweifel. schaftler, wie Kotzebue in seinem Almanach der Der Bedeutung der Studentenbewegung im Chroniken (1803) auf die Gespenstermode der Kontext der Kotzebue-Ermordung widmete sich Romantik antwortete, und zog Linien zu anderen, Wilhelm K reutz (Mannheim). In einer akribi- heute kanonisierten Autoren wie etwa Heinrich schen Auseinandersetzung mit dem Quellenma- von Kleist, um damit ein weiteres Desiderat der terial zeichnete der Geschichtswissenschaftler die Forschung zu benennen, das in der Folge kon Ideologien der radikalen Burschenschaften nach, trovers diskutiert wurde: Zu untersuchen wäre, denen Karl Ludwig Sand in seinem Anschlag auf inwiefern Autoren wie Schiller und Kleist in den Dramatiker in Mannheim zu folgen versuchte. ihren Texten auf narrative Strategien und Stoffe Den Tag beschloss der Literaturwissenschaftler zurückgreifen, derer sich auch der populäre Kot- Pierre M attern (Offenburg), der Kotzebue als zebue bedient, um Gemeinsamkeiten und Unter- einen streitbaren und streitlustigen Autor präsen- schiede der jeweiligen Erzählungen zu bestimmen. tierte. Mattern besprach die Feindschaften, die Für den Reiseschriftsteller August von Kotze- Kotzebue Zeit seines Lebens pflegte und die den bue interessierte sich der Literaturwissenschaftler Dramatiker nicht nur zu einem berühmten, son- A lbert Meier (Kiel) im letzten Vortrag der zwei- dern auch zu einem berüchtigten Autor machten. ten Sektion. Meier setzte sich mit der Faktur von Der letzte Konferenztag, der die Sektion des Kotzebues Reiseberichten über Italien auseinander, Vortags vorführte und hierbei insbesondere Carl deren Fragmentarität er problematisierte, um die Ludwig Sand in den Fokus rückte, wurde von Reiseschilderungen insgesamt als epigonal zu be- Liselotte Homering (Mannheim) eröffnet. Als werten. Die anschließende Diskussion kreiste um Leiterin der theater- und literaturgeschichtlichen die Frage, inwiefern Kotzebues Reisedichtung Sammlungen der Mannheimer Reiss-Engelhorn eher als modern gelten kann, gerade weil sie kein Museen erschloss sie auf Basis des Archivmaterials ‚geschlossenes‘ Bild mehr entwirft, sondern epi- in einem ersten Schritt dem Devotionalienkult sodenhaft, vielleicht gar ‚journalistisch‘ erzählt. um Karl Ludwig Sand, um in einem zweiten die Die dritte und größte Sektion der Tagung politisch höchst unterschiedlichen Ansätze zu dis- kreiste um „Kotzebues Tod“ – ihre Beiträge kutieren, mit denen die Stadt Mannheim in den Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Konferenzberichte | 189 letzten 200 Jahren das Gedenken an das Attentat die Unterhaltung zentral, sie erfüllen ein ‚Format‘ gestaltete und den Mord semantisierte. und haben als künstlerische Artefakte keines. Und Die Literaturwissenschaftlerin Sandr a Beck selbst wenn man Kotzebue noch den Willen zuge- (Mannheim) widmete sich Kotzebue und Sand als steht, gesellschaftskritisch wirken zu wollen, dann Protagonisten (populärer) Fallgeschichten und zeigte scheitere er daran grandios mit seinen Stücken, auf, inwiefern die in diesen Textsammlungen erfol- weil er sich dem Publikumsgeschmack anbiedere. gende Pathologisierung des Täters immer auch eine Die Mannheimer Konferenz hat diesen kultur- politische Frage ist. Eine politische Frage ist ebenfalls, kritischen Blick auf den populären Schriftsteller wie Beck zeigte, die Behandlung Kotzebues in germa- August von Kotzebue grundlegend in Frage ge- nistischen Literaturgeschichten, die in den meisten stellt. Pauschalverurteilungen wie aus Erenz’ Feder Fällen nicht den Autor, sondern das Opfer Kotzebue erscheinen vor diesem Hintergrund problematisch. besprechen und damit eine Wertung vornehmen, die Die Vorträge und die intensiven Diskussionen bis heute die germanistische Rezeption beeinflusst. der Konferenz belegten, dass es sich lohnt, den Hermann Wiegand (Mannheim/Heidelberg), populärsten Autor der Goethezeit einer Neupers Vorsitzender des Mannheimer Altertumsvereins, pektivierung zu unterziehen. Der Blick auf die beschloss die Konferenz mit seinem Vortrag, in Stücke, die die Deutschen schauten, während ihrer dem er in einer materialreichen Studie die wechsel- Klassiker schrieben, ist von Bedeutung – auch weil vollen Wege aufzeigte, in denen sowohl Kotzebue diese klassischen Texte vor der Folie derjenigen als auch Sand ihren Weg in die belletristische gelesen werden müssen, die zur Entstehungszeit Literatur des 20. Jahrhunderts gefunden haben. populär waren und als Orientierungspunkte Auch hier, so Wiegands Befund, ist Sand eindeutig dienten, ob im positiven oder im negativen Sinne. die populärere Figur. Auch deshalb werden die Ergebnisse der Ta- Um zu einem Fazit zu kommen: Vor gut 35 gung in einem Sammelband dokumentiert, der im Jahren hat der Kulturjournalist Benedikt Erenz Wehrhahn Verlag in Hannover erscheinen wird, August von Kotzebue als Erfinder des Fernsehens der bereits zahlreiche Theatertexte Kotzebues in bezeichnet: „Am 23. November 1788 wurde in Neuausgaben publiziert und damit wieder einer einem kleinen Theater der estländischen Haupt- Leserschaft zugänglich gemacht hat. stadt Reval das Fernsehen geboren. Auf dem Spiel- plan stand die Uraufführung von Menschenhaß und Reue […]. Mit Kotzebues Stücken entstand je- Anmerkung ner Unterhaltungsstil, […] der in seinem heillosen, virtuosen Eklektizismus aus Spannung, Rührung, 1 Benedikt Erenz: Dallas 1788. In: Die Zeit v. 13.12.1985. moralisierendem Räsonnement, billigen Effekten und teuren Garderoben alles zu ‚Fernsehen‘ ver- Katja Holweck wurstet, was an gesellschaftlichem Konfliktstoff im Raum liegt […].“1 Erenz’ Kommentar ist von Universität Mannheim Interesse, weil er die Vorbehalte, die gemeinhin Seminar für Deutsche Philologie in der Germanistik über Kotzebues verbreitet D–68131 Mannheim sind, präzise zusammenfasst: Die Stücke setzen „Ach, die Wahrheit“. Theodor Fontane und das Erbe der Aufklärung. Symposium zum 200. Geburtstag des Dichters (Symposium in Leipzig v. 12.–13.4.2019) „Ach, die Wahrheit“. Das Motto aus Fontanes Symposium stellten, regte im 200. Geburtsjahr Graf Petöfy, unter das die Organisatoren M at- Fontanes dazu an, dessen vielfältige Zugriffe thias Grüne und Jana K ittelmann das in der auf den Begriff, die Ideen und die Epoche der Bibliotheca Albertina in Leipzig stattfindende Aufklärung in den Blick zu nehmen. Im Zentrum Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
190 | Konferenzberichte Konferenzberichte | 190 der Einführung M atthi as G rüne s (Leipzig, Fontane zu verweigern. Auch der mit Freiheit asso- Wuppertal) stand die Erkenntnis, dass die seit dem ziierte Fortschrittsglauben wird in Quitt zumindest frühen 19. Jahrhundert oft gestellte Frage nach ambivalent bewertet. Kritisch betrachtet erscheint dem Erbe der Aufklärung gerade in der zentralen der Begriff Fontane als bloße „Phrase“ (Von Schaffenszeit Fontanes an Aktualität gewinnt. In Zwanzig bis Dreißig). Ihm wird eine Geschichts- einer Zeit wiederholter Infragestellung der im Ka- auffassung vorgezogen, die das Fortschreiten der nonisierungsprozess befindlichen aufklärerischen Zeit selbst in den Mittelpunkt rückt. So bedeutet Werte lässt sich bei Fontane eine hohe Diversität Geschichte zu schreiben, „mit der Zeit zu gehen“, in den Auffassungen von Aufklärung, Normen statt die Zeit voranzutreiben. und Wissen belegen. Eindrücklich skizzierten Die zweite Sektion leitete Dirk Oschmann die Beiträge, wie sich diese Auseinandersetzung (Leipzig) (Freiheit bei Fontane) ein: Er kontras- sowohl literarisch als auch biographisch und in den tierte zunächst die durch aufklärerische Diskurse verschiedensten Gattungen niederschlägt. aufgeladene und um 1800 mit Pathos behauptete Hubertus Fischer (Hannover) („...und spielt Idee der Freiheit mit einem „depotenzierten“, „re- sich trotzdem auf Aufklärung und Liberalismus aus“ lativierten“ und in gewisser Weise pragmatisierten – Philosophisch-Politisches bei Fontane) widmete Begriff von Freiheit bei Fontane. Der Versuch, sich im Eröffnungsvortrag der ersten Sektion der diesen „Pragmatismus der Freiheit“ vor dem Beobachtung, dass die Begriffe „Aufklärung“, Hintergrund einer im politischen Vormärz reali- „Liberalismus“ und „Judenherrschaft“ häufig Fon- sierten Freiheit in den Romanen zu lesen, wurde tanes politische Äußerungen prägen. Das schwan- paradigmatisch an Stine, Quitt und Der Stechlin kende Verhältnis des Dichters gegenüber liberalen dokumentiert. Dort führt die lebenspraktische Parteien, vor allem gegenüber dem Nationallibe- Konfrontation mit der erlebten politischen Freiheit ralismus, wurde als Wurzel seiner Aufklärungs- quasi zwangsläufig zu einer Relativierung des emo- skepsis angesehen. Mit seinem Austritt aus der tionalen und gesellschaftskritischen Ideals. Nach Fortschrittspartei und den einsetzenden Beziehun- Oschmann versteht Fontane unter Freiheit mehr gen zu Mitgliedern der Kreuzzeitungspartei (etwa die innerliche Befreiung als z. B. den sozialen Aus- Leopold von Ledebur) – Fontanes „konservative stieg, die Auswanderung nach Amerika oder den Phase“ – korrelierte eine zunehmende Ablehnung wirtschaftlichen Liberalismus. Freiheit in diesem des neuen politischen Aufklärungsideals. Fontane Sinn sei immer als Wahlfreiheit im Rahmen einer setzte es mit dem „säkularen Staatsbürgerbegriff“ spezifischen lokal-sozialen Realität anzusehen. gleich und identifizierte es als Grundsatz des von L eonhard H errmann (Leipzig) („‚Freiheit‘, ihm abgelehnten Sozialismus. Fontanes konkrete wiederholte Botho“ – Das Trauerspiel des Bürgertums Stellung zu politischen Ideen der Auf klärung bei Lessing und Fontane) ging auf die Rezeption wurde von Fischer an dessen Ablehnung exempli- des von Lessing etablierten bürgerlichen Trauer- fiziert, einen Prolog zur Jubiläumsaufführung von spiels bei Fontane ein. Die für die deutsche Bühne Nathan der Weise anlässlich des 100. Todestages reformatorischen Grundsätze, die Lessing in der Lessings zu verfassen. Fontanes distanzierte Hal- Hamburgischen Dramaturgie entwarf, zielen auf tung gegenüber der Aufklärung erscheint dabei als eine Überführung der aufklärerischen Anthro- ein Unbehagen, sich dem ideologischen Zwang des pologie ins Trauerspiel: Mitleidsästhetik, Liebe Liberalismus sowie verbindlichen Freiheits- und für den Gegenstand und Identifikation stellen Toleranzideen zu unterwerfen. Grundgedanken dar, die die Geschichte des Dra- Bei der Suche nach Spuren des Fortschritts- mas zu einer „bürgerlichen“ – im Sinne einer begriffs in den späten Romanen Fontanes sah sich individuellen, privaten – Angelegenheit machen. Christian H elmreich (Halle) („Comme philo- An Effi Briest und Irrungen, Wirrungen wurden sophe“? Fortschrittsgedanke und Fortschrittsskepsis Parallelen zu Lessings Dramentheorie belegt. Eine in Fontanes späten Romanen) mit ernüchternden zentrale These war, dass die Handlung nicht von Ergebnissen konfrontiert. Dem Begriff selbst, einer politischen oder gesellschaftlichen Kontexten, historiographisch-philosophischen Neuschöpfung sondern von individuellen Emotionen und Nei- der Spätaufklärung, die zu einem „Leitbegriff des gungen getragen werde, die ihrerseits mit sozialen 19. Jahrhunderts“ (Koselleck) wurde, scheint sich Normen kollidieren. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Konferenzberichte | 191 Im Abendvortrag präsentierte Roland Berbig A nett Lütteken (Bern) („Und möchten wir (Berlin) (Fontane – Aufklärer, Verklärer, Erklärer?) von der entkirchlichten Zeit/ Auch nicht das Gute den Vorschlag, Fontanes literarisches Leben durch missen...“ – Glaubensdinge des 18. und 19. Jahr- die drei Zuschreibungen in drei Schaffensphasen hunderts im Werk Theodor Fontanes) führte aus, zu unterteilen. Als Aufklärer zeige sich der junge wie Fontane vergangene Jahrhunderte vielfach Fontane dort, wo vor 1848 das Versprechen einer durch den Blick auf „noch kirchliche Zeiten“ übergreifenden neuen Aufklärung gepaart mit Frei- charakterisierte, der jedoch oft als „Diagnose der heits- und Fortschrittsidealen den Geist der Zeit eigenen Zeit“ fungierte. Objekte des Glaubens bestimmte. Seine unzureichende philosophische und des Ritus spielen dann eine Rolle, wenn sie Bildung verhinderte allerdings eine intensivere Be- als überfällige Reste einer älteren Kirchengemein- teiligung an den neuaufklärerischen Ideen. Beim schaft erscheinen; sie unterstreichen den Wandel mittleren Fontane dominiere die programmati- in den Zeitwahrnehmungen, indem sie einerseits sche Idee der Verklärung – ein zentraler Aspekt Frömmigkeit und Respekt erwecken, andererseits seines Realismuskonzepts. Mit Rückblick auf die einem Sinn- und Raumpragmatismus weichen Forschung konnte Berbig deutlich machen, dass müssen. Zudem erläuterte Lütteken die Funktion Fontane in seiner mittleren Phase mit der Hin- der Frömmigkeitsbewegungen und besonders gabe an das Vaterländische und in seiner Verherr- des Kirchenlieds (Gerhardt, Woltersdorf ) auf lichung der preußischen Geschichte als Verklärer der Suche nach Authentizität des Gefühls und agierte. Auf das Briefwerk gestützt, führte Berbig des Glaubens, die bei vielen Figuren in Fontanes schließlich vor, wie Fontane die Rolle des Erklärers Romanen von handlungsentscheidender Aktualität in den späten Jahren als seine wahre Bestimmung ist. Anhand des Prologs zur Feier anläßlich des zwei- zu begreifen schien: Von allgemein-medizinischen hundertjährigen Bestehens der französischen Kolonie Ratschlägen bis zu politischen Lösungen verstand in Berlin (1885) zeigte sie schließlich Fontanes sich Fontane auf weitgreifende Erklärungen aller Kritik an einer schwach gewordenen protestanti- Art. Schlussthese des Vortrags war, dass alle drei schen Staatskirche. Masken des Schriftstellers den literarisch gebro- In der vierten Sektion ging Jana K ittelmann chenen Umgang mit Wahrheit gemeinsam haben. (Halle) (Geselligkeitskonzepte bei Fontane) den Ge- Am Samstag eröffnete Monika R itzer (Leipzig) meinsamkeiten zwischen Fontanes Geselligkeits- (Wahrheit oder Wahrnehmung? Positionen der Er- konzepten und den Geselligkeitstraditionen der kenntniskritik in Naturwissenschaft und Philosophie Aufklärungszeit nach. Kittelmann führte zunächst [1860–1890] und die Modifikationen realistischen drei „Spielformen der Vergesellschaftung“ (Sim- Schreibens bei Fontane, Meyer und Raabe) die dritte mel) ein: das Tischgespräch als gelehrter Austausch Sektion mit der Feststellung, dass Fontane den durch (ironisiert in Frau Jenny Treibel), die Neuprägung Kritik an der romantisch-idealistischen Wahrneh- des geselligen Freundeskreises nach dem Modell mungstheorie begründeten Wahrheitsanspruch der empfindsamer Kreise um 1750 (so in der Pick- frühen Realisten (Keller, Stifter) nicht völlig integriert nick-Erzählung in Ein Sommer in London) und die habe. Deutlich wurde, wie die „Nivellierung“ der geheimen Gesellschaften (vgl. Wanderungen durch naturwissenschaftlich-weltanschaulichen Bedingun- die Mark Brandenburg). Auch in der „Topographie gen der Erkenntnis (Helmholtz, Haeckel) Fontanes der Geselligkeit“ zeigte sich eine erstaunliche Nähe Realismusauffassung beeinflusste. Im zweiten Teil zu den Motiven des 18. Jahrhunderts, nicht nur verwies Ritzer auf die Rezeption des Darwinismus bezogen auf den Garten oder die Natur allgemein, durch die Realisten und die Wandlung von Fontanes sondern auch hinsichtlich konkreter Orte (Berlin Realismusbegriff ab den 1860er Jahren. Wie Meyer als Hauptstadt der Geselligkeit) und erzählerischer und Raabe in dieser Zeit, reflektierte Fontane das Motive wie der Bootsfahrt (Irrungen, Wirrungen) Verhältnis zwischen Charakter bestimmender oder der Begegnung in der Laube (L’Adultera). Ab- Natur und freier Persönlichkeit als eines zwischen schließend wandte sich Kittelmann den Differen- determiniertem Schicksal und individueller Ver- zen zu, die häufig den Ausgang der nur scheinbar schuldung. Hier verortete Ritzer letztlich die bei am Geselligkeitsgebot orientierten Erzählungen Fontane sehr präsente Schicksalsthematik (z. B. kennzeichnen: Entfernung, Verstörung, Um- Zeichen, Ahnungen). orientierung, oder gar Selbstmord deuten vielmehr Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
192 | Konferenzberichte Konferenzberichte | 192 auf Konzepte der „Gegengeselligkeiten“ im Werk von der Bildbeschreibung zur Beschreibungs- Fontanes hin. kunst“ sind bei Fontane in der Einbeziehung Sophia Wege (Halle) (Das Maß der Dinge. Zur der lokalen und nationalen Identität sowie der Funktion der Homöopathie in „Unwiederbringlich“) Künstlergeschichte in die Kunstanalyse (vgl. zeigte an der Diskussion um die Homöopathie im die Berichte von der Londoner Weltausstellung Roman, dass deren Geschichte und Theorie Deu- 1851), aber auch in der eigentlichen Kunstbe- tungsmöglichkeiten für die Gesamtentwicklung trachtung zu finden (z. B. Die Berliner Synagoge, von Unwiederbringlich berge. Das Prinzip Similia 1865). Der Beitrag spannte den Bogen bis in die similibus („Gleiches löst sich in Gleichem“) wurde in Formierungsphase der neueren Kunstgeschichte: Bezug auf seine Bedeutung für die psychologische Die Bekanntschaft mit mehreren Akteuren dieser Charakterisierung der Figuren untersucht. Des Institutionalisierung, die Rezension der Bücher Weiteren wurde die homöopathische Grundan- Wilhelm Lübkes oder der Artikel Stendal und nahme, das Übel nur durch kleine Dosen kurieren die Winckelmann-Statue (1859) zeugen von der zu können, für die Romaninterpretation frucht- Anteilnahme Fontanes an der Geschichte der bar gemacht. Gerade weil die Romanfiguren den jungen Disziplin sowie an der Diskussion um die Grundsatz vom „Maß der Dinge“ mehrfach verlet- Rolle der Kunstgeschichte für die zeitgenössische zen, sei das homöopathische Prinzip in einem durch- Öffentlichkeit, womit er auf ein zentrales Motiv aus therapeutischen Sinne auf die Gefühlskrankheit des aufklärerischen Kunstdiskurses (Winckel- der beiden Protagonisten übertragbar. mann, Heinse, Lessing) zurückgreift. In der fünften Sektion ging Iwan-Michelange- Mike Rottmann (Halle) (Aufklärendes Lesen? lo DʾA prile (Potsdam) (Autodidaxe und populäre – Zur jüdischen Rezeption Fontanes) präsentierte Medien bei Fontane) auf die Verbindung zwischen aufklärerische Momente in der Rezeption Fon- den populären Medien und dem Modell autono- tanes durch jüdische Gelehrte und Leser(innen). mer gelehrter Bildung ein, deren Wurzeln in die Rottmann wies zunächst auf die Widersprüchlich- Aufklärungszeit liegen (so Lessing, Mendelssohn keit in den Urteilen hin: Sie schwanken zwischen und Nicolai in ihren Briefe[n], die neueste Littera- der Bewertung Fontanes als „Verbündeten im tur betreffend). Unter Rückgriff auf vier Faktoren Streit um die Emanzipation“ und als Exempel der – Geselligkeitsformen, Medienformen, literarische Unversöhnbarkeit mit dem Judentum. Rottmann Praktiken, Diskurse –, deren Zusammenwirkung stellte die Rezeptionszeugnisse in den Kontext als kulturelles Umbruchsmoment identifiziert des jüdischen Auf klärungsdiskurses der Zeit. wurde, hob D’Aprile die Bedeutung der medialen ,Aufklärung‘ wurde dort als kultureller Prozess Ausdifferenzierung hervor und führte dafür vier einer Assimilation und Funktionalisierung des Beispiele an: den Literaturverein, der zugleich als Werkes Fontanes im Zuge der Judenemanzipation Produkt aufklärerischen Bewusstseins und als und nicht zuletzt der Klassikerbildung des frühen Organ „preußischen Selbstbewusstseins“ fungier- 20. Jahrhunderts verhandelt. „Aufklärendes Lesen“ te; die Gattung des Reisetextes, die bei Fontanes – eine (jüdische) Würdigung des von Fontane Englands- und Italienreisen als Bildungsmedium zeitlebens gepflegten aufklärenden Schreibens? Die fungiert; die populäre Enzyklopädie, positiv als Beiträge des Symposions verdeutlichen jedenfalls, Quelle und „Wissenswerkzeug“ sowie als Muster dass die Antwort auf solche Fragen differenziert für lexikographisches, vielstimmiges Schreiben ausfallen und doch fragmentarisch bleiben muss. (vgl. die Wanderungen durch die Mark Brandenburg Eine zeitnahe Publikation der Konferenz-Bei als Sammelsurium) erscheint; und die Zeitung, ein träge in der Reihe Schriften der Theodor-Fontane- Kernmedium der Spätaufklärung, das Fontane Gesellschaft ist vorgesehen. durchaus kritisch zu betrachten wusste. C armen Aus der Au (Zürich) (Die Kunstbe- Baptiste Baumann schreibung Fontanes im Vergleich mit der Kunst- Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg beschreibung der Aufklärung) verglich Fontanes Germanistisches Institut Kunstkritik mit Johann Joachim Winckelmanns Ludwig-Wucherer-Straße 2 Modell der Kunstbeschreibung. Spuren des seit D–06108 Halle (S.) den 1750er Jahren vorangetriebenen „Wandels Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Konferenzberichte | 193 Sich einrichten. Zur Poetik und Semiotik des Wohnens seit 1850 (Tagung in Lausanne v. 11.–13.4.2019) Die Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft (einsamen) Sammler als Insassen des Interieurs. für Kulturtheorie und Semiotik (SGKS) M arie Benjamins Fokus auf das 19. Jahrhundert betont Theres Stauffer und die beiden Tagungsorga- die Trennung von Arbeitsplatz und Interieur, mit nisatoren H ans-Georg von A rburg (Lausanne) der die Entfremdung von Ding und Gebrauchs- und Thomas Wegmann (Innsbruck) eröffneten wert einherging. Mit der Abschottung nach außen die interdisziplinäre Jahrestagung der SGKS an der wird das Interieur zum Kreativraum, in dem die Universität Lausanne. Die Kollaboration zwischen eigene Originalität profiliert werden kann, und der SGKS und der Literaturwissenschaftlichen Fa- die Möglichkeit eines anderen Erfahrungsraums kultät bildete das Fundament für diese dreitägige entsteht. Tour durch zwei Jahrhunderte Wohngeschichte. Was passiert, wenn die Dinge im Interieur ihren Im Entrée strich H ans-Georg von A rburg he- Bezug zum Bewohner verlieren, zeigte A lexandra raus, dass Wohnen als prekäre Praxis zu bewerten Schamel (München) (Dysfunktionales Wohnen ist, die sich zwischen Immobilität (Immobilien, in Adalbert Stifters „Turmalin“). Ein Haus, das Sich-Einrichten) und Mobilität (Umziehen) sowie angefüllt ist mit Bildern berühmter Männer, zu Privatheit und Öffentlichkeit bewegt. Man richtet denen der Bewohner in keinem Verhältnis steht, sich nie alleine ein, da Wohnen eine soziale Inter- wirft sowohl die Frage nach Identitätsbildung als aktion und eine Auseinandersetzung mit dem auch nach einer Normalität des Wohnens auf. Das Eigenleben der Dinge (Möbel, Pflanzen, Tiere) Zimmer wird zum Schauraum, in dem sich das an- darstellt: „Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im schauende Ich nicht verankern kann und auflöst. Interieur werden sie betont.“, konstatierte von Letztendlich verschwinden sogar die Bewohner*- Arburg mit Walter Benjamin, der so seinerseits innen und lassen das Haus funktionslos zurück. bereits im Eingangsbereich dieser Tagung Spuren Roland Innerhofer (Wien) (Mobilis in mobi- hinterließ. Thomas Wegmann verdeutlichte mit le: Jules Vernes fahrbare, schwimmende und fliegende Blick auf Martin Heidegger, dass Wohnen eine Interieurs) begab sich mit Jules Verne auf Zimmer- anthropologische Grundkonstante ist: Man kann reise. In Vernes Romanen geht das Interieur auf nicht Nicht-Wohnen (Gert Selle) und muss dieses Reisen, seien es Unterseeboot oder Raumkapsel. immer tun, gleichgültig wo (Vilém Flusser). Trotz Die Verschränkung von Wohnen und Reisen der scheinbaren Banalität und Ubiquität des Woh- verknüpft das Interieur mit Mobilität. Gleichzei- nens sind die darunter gefassten Tätigkeiten nicht tig öffnet und verschließt sich der so mobilisierte unmittelbar erfahr- und wahrnehmbar. Erst über Innenraum vor der Außenwelt, wobei besonders Ablagerungen, Bilder, Narrative und Reflexionen deren Gefahren den Intimitätswert des Hauses werden Spuren sichtbar, deren Bedeutungen ge- erhöhen (Bachelard). Vernes Reisemaschinen sind lesen werden können. Die sowohl begriffliche Ausdruck technischer Neuerungen, die zwischen als auch praktische Unschärfe des Wohnens ist Wohnsucht und Wohnflucht changieren. jedoch Garant für die diskursive Erfolgsgeschich- Dass sich am Interieur ein bestimmtes Wohn- te. Wegmann betonte in dieser Hinsicht, dass wissen ablesen lässt, zeigte I r ene N ier h aus erst die kulturelle Poiesis eine Phänomenologie (Bremen) (Sich Ein_Richten: Wohnen, Wohnwissen des Wohnens und des Menschen als wohnendes und Wohnsubjekte). Wohnwissen ist ein Zeige- Wesen ermöglicht. system, das über verschiedene Mediasierungen Die erste Sektion „Wohnen im langen 19. Jahr- sowohl einen Diskurs über das Wohnen als auch hundert“ wurde von Günter Oesterle (Gießen) über den Bewohner entfaltet. Es bedarf allerdings (Die aisthesis des Interieurs und der leere Raum) zumeist des fremden Blicks, um dieses Wissen dar- eröffnet. Mit Benjamin unterschied er zwei Mo- zustellen. Nierhaus verdeutlichte am Beispiel des delle des Interieurs – zum einen das historistische Neuen Bauens um 1920 eine Zäsur, die dem 19. Requisiten- und Kulisseninterieur, das jedoch zu Jahrhundert mit seinen vollgestopften Interieurs komplexitätsreduzierend ist, zum anderen den eine Leichtigkeit aus geraden Linien und weißen Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
194 | Konferenzberichte Konferenzberichte | 194 Flächen entgegensetzt. Während in der Theorie von Subjekttechniken sind. Der Mensch wird ganz eindeutig das alte Wissen ausgehebelt wird durch Gerüche – ephemer, persistent, ungreifbar und ein neues Subjekt entsteht, zeigen sich in der – in einem Milieu eingerichtet, das zwischen dem Praxis Mischformen, die eher eine Kippfigur als Ideal der frischen Luft, dem Blumenwohlgeruch einen Bruch nahelegen. und -rausch und dem Gestank changiert. Wie das Wohnen zwischen verschieden Zei- Die Kunst des Einrichtens und das Einrichten ten funktioniert, veranschaulichte Dave Lüthi der Kunst präsentierte Beate Söntgen (Lüneburg) (Lausanne) (Leben in einem Museum: Dynastische (Wohnen in Bildern: Bloomsbury and Company) an- Burgen in der Schweiz im 19. Jahrhundert) anhand schaulich am Beispiel der Bloomsbury Gruppe, die historischen Materials. Im 19. Jahrhundert wurden während und nach dem Ersten Weltkrieg in einem Schlösser in der Schweiz von Privatpersonen ge- englischen Landhaus lebte. Das Interieur wird hier kauft und nach historischem Vorbild eingerichtet. zum Resonanzraum und Rahmen einer modernen Es entstand ein Spannungsverhältnis zwischen Häuslichkeit und künstlerischen Einrichtung. der Rückbesinnung auf die Vergangenheit einer- Durch die Aufhebung der Trennung von Arbeit seits, die die Inszenierung historischen Wohnens (Atelier, Werkstatt) und Wohnen fließt die Kunst bewirkte: Möbel und Gemälde werden zu Spuren in die Raumausstattung ein, und gleichzeitig ma- und Symbolen der Geschichte; sie sind Teil des terialisiert sich in der Kunst das Leben im Sinne Schlosses und nicht mehr unmittelbarer Besitz des einer Lebendigkeit und nicht einer abbildenden Bewohners und somit Zeugnis von dessen Leben. Mimesis. Es entstehen neue Verflechtungen mit Andererseits fand in diesen Schlössern, abseits der wechselnden Bewohnern und wechselnder Ein- Öffentlichkeit, das alltägliche Leben mit moder- richtung, die andere Künstler zitiert, transformiert nem Komfort statt, über das es jedoch nur wenige und sich aneignet. Aufzeichnungen gibt. Die zweite Sektion „Die Moderne bewohnen“ Vom Leben im musealen Schloss leitete Bernd führte zunächst ins Schlafzimmer und ganz kon- Stiegler (Konstanz) (Die Brüder Goncourt: Die kret zum Bett. Peter Brandes (Bochum) (Litera- Ordnung der Dinge) über zur Bricobracomanie der rische Klinologie um 1900 [Thomas Mann, Proust, Brüder Goncourt, deren besondere Sammelleiden- Kafka]) zeichnete keine bloße Motivgeschichte des schaft in ihrem Haus in Auteuil zum Ausdruck Bettes nach. Brandes versteht das Bett als Medium kam und in La maison d’un artiste (1880/81) und des Wissens, an dem seine Genese als Aktant den Photographien Ferdinand Lochards festge- (Riehl), Ware, Erbstück, Ort der Krankheit und halten wurde. Das zur Sammlung gewordene 18. Rekonvaleszenz und verschiedene Funktionen (pri- Jahrhundert entfaltet sich in einer Listenprosa, die vater Rückzugsraum, Medium der Introspektion) den Menschen verdrängt und ihm ihre Ordnung abgelesen werden können. Anhand ausgewählter aufzwingt. Lediglich als Betrachter, Selektierer literarischer Texte veranschaulicht Brandes, wie und Vermittler der Geschichten der Dinge tritt das Bett zur Keimzelle des Erzählens wird und eine der Mensch auf. Hier wird die Welt zum Haus Ich- und Welterkenntnis ermöglicht. und das Haus zum Buch. Dass Wohnen auch Arbeit bedeutet, zeigte Anknüpfend an Walter Benjamin verwies Szilv i a G ell ai (Karlsruhe) (Das Interieur als Sergej R ickenbacher (Aachen) (Eingerichtet wer- Exterieur: Vom Leben im Glashaus zur Semiotik den: Olfaktorische Konditionierung in literarischen des Wohnens) am Beispiel des Glashauses. Es ist Wohnräumen um 1900 [Zola, Fontane, Scheer- Modell und Verkörperung einer Arbeit an den bart, Friedländer]) darauf, dass das Hinterlassen Grenzen, die destabilisiert und neukonstituiert von Spuren oft visuell und haptisch geprägt ist. werden (nach Isobel Armstrong manifestiert sich Dabei lassen sich an Gerüchen Spuren der Ge- in der Transparenz und der Barriere eine Ästhetik sundheit, Sittlichkeit, Schichtzugehörigkeit und der Widersprüche). Gellai stellte an verschiedenen Individualität ablesen. Anhand ausgewählter Glashäusern (Gewächshaus, Ausstellungsbau, literarischer Beispiele, die das Gewächshaus in Glass House Philip Johnsons) dar, dass es sowohl den Blick nahmen, zeichnete Rickenbacher das um ein Hereinholen des Außen als auch um die Narrativ eines Ensembles aus Reinigungs- und Öffnung des Innen geht. Nichtdestotrotz mar- Hybridisierungspraktiken nach, die Ausdruck kiert Glas ebenso Barrieren und setzt Spuren an. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Konferenzberichte | 195 Benjamins Entwurf des Glashauses als Gegenbild des Romans, der reine Poesie und Poetik des Mülls zum Interieur des 19. Jahrhunderts ist in dieser vereint. Hinsicht Gellai zufolge zu vereinfacht gedacht. Claudia K eller (Zürich) (Angeschwemmt im Michael Jennings (Princeton) (Nomadism and „dichtergefügten Strandgut“. Peter Handkes episch- Domesticity: Walter Benjamin’s perpetuum mobile) nomadisches Hausen) verschränkte Handkes verdeutlichte, dass Wohnen für Benjamin ein De- Schreiben und Wohnen mit dem Bild des Strand- siderat ist, das jedoch nicht erreicht wird. Anstatt guts. Das Angeschwemmte ist sowohl Ausdruck sich Dinge gefügig zu machen, muss man sich mit der Spurenbeseitigung als auch der Neuordnung, ihnen arrangieren. Das Interieur zwingt dem Men- die dichterisch vorgenommen wird. Dadurch schen Gewohnheiten auf und macht ihn „zu einer entstehen Resonanzräume, die das Wohnen in- Funktion von Verrichtungen“. Die kapitalistische szenieren und den Bewohner poetologisch lesen. Moderne produziert Phantasmen, die die eigent- Keller deutete die Wohnräume als raumgewor- lichen Mechanismen des Kapitalismus verbergen dene Poetik des Epischen und archäologische und zum Verfall menschlicher Erfahrung führen. Stätte der Moderne, die in Bildern und Texten In beinahe schamanistischer Weise besteht eine sichtbar wird. Lösung für Benjamin in der Angleichung des Be- Den Ausgang dieser Tagung bildete der Beitrag wohners an die unbelebten Objekte. von Sarah Pogoda (Bangor) (Theorien und Prak- Vera Bachmann (Regensburg) (Rationalisierte tiken ‚poetischen Instituierens‘ in Künsten der Gegen- Frauenzimmer: Kitchentalk in der Weimarer Re- wart). Mit verschiedenen Projekten Christoph publik) führte uns in die Küche und zeigte, dass Schlingensiefs und der Stuttgarter Künstlergruppe „Kitchentalk“ mehr ist als nur Tratsch. Besonders Die Institution stellte Pogoda den performativen im Zuge des Neuen Bauens steht die Küche im Charakter des Wohnens aus, der sich zwischen Zentrum von architektonischen, ökonomischen Alltäglichkeit, Arbeit und Kunst bewegt. Die und politischen Veränderungen. Die Frankfurter ästhetischen Strategien durchbrechen gewöhnliche Küche wird zum Symbol einer neuen Zeit, die Abläufe und befragen somit diskursive Strategien, sich zwischen Funktionalität (Rationalisierung die sich auf Machtverhältnisse, die Rolle des Zu- von Arbeitsvorgängen) und Ästhetik (Design) schauers und das Vorübergehende und Provisori- bewegt; und die Rolle der Hausfrau hervorhebt, sche des Wohnens richten (Zelt, Wohncontainer). die die Doppelbelastung von Arbeit und Haushalt Alle Vorträge widmeten sich einem Aspekt des bewältigen muss und trotzdem nur beschränkt Wohnens, doch wie bereits die Inventarlisten der am Diskurs über Küchen oder gar als Architektin Goncourts oder die Auslegungen der Hausordnung beteiligt ist. deutlich machten, lässt sich die Liste unendlich Die verwaltungstechnische Seite des Woh- fortsetzen, dekonstruieren und neu zusammen- nens beleuchtete David -Christopher A ssmann setzen. Sich dem Wohnen künstlerisch zu nähern, (Turin/Frankfurt a. M.) (‚Wohnen allein genügt bedeutet eine Ästhetisierung des Alltäglichen, die nicht.‘ Reinheit und Gefährdung in H.G. Adlers Verschränkung verschiedener Medien (Texte, „Hausordnung“) anhand der Hausordnung (1972) Fotos, Filme) und ein ständiger Umgang mit von H.G. Adler zu Beginn der dritten Sektion Spuren (Herstellung, Bewahrung, Beseitigung, „Wohnkünste in der Spätmoderne“. Er stellte Auslegung). seinen Kommentar zu einem zunächst profan erscheinenden Alltagstext vor, der auf der Ebene Cindy Heine der histoire und des discours um Reinigungs- und Universität Lausanne Ordnungsprozesse sowie störende, verunreinigen- Fakultät für Germanistik de Elemente und Texturen kreist. Die Inszenierung Campus UNIL der bürokratischen Vorschrift verweist auf die zer- CH–1015 Lausanne gliedernde und neuordnende Produktionsästhetik Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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