Sonderdruck - Zeitschrift für Germanistik Neue Folge - Germanistisches Seminar

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Zeitschrift für Germanistik
                      Neue Folge
                     XXX – 1/2020

                   Herausgeberkollegium

   Ulrike Vedder (Geschäftsführende Herausgeberin, Berlin)
              Alexander Košenina (Hannover)
              Mark-Georg Dehrmann (Berlin)
                 Claudia Stockinger (Berlin)

                     Gastherausgeberin

                   Christiane Holm (Halle)

             Sonderdruck

                      PETER LANG
           Internationaler Verlag der Wissenschaften
Bern · Berlin · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien
pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 184–200

Konferenzberichte

Johann Michael Moscheroschs Textwelten (Interdisziplinäre und internationale Tagung in
Willstätt v. 3.–5.4.2019)

Die Tagung wurde anlässlich des 350. Todestags                      Sinngebung zu erkennen, durch die der Schreib-
des frühneuzeitlichen Dichters und Gelehrten                        kalender in die Nähe der Tagebuchliteratur rücke.
Johann Michael Moscherosch (1601–1669) von                              Ein Dokument der Moscherosch-Rezeption aus
Sylvia Brockstieger und Dirk Werle (Heidel-                         der Zeit des Ersten Weltkrieges war Gegenstand
berg) in Kooperation mit der Gemeinde Willstätt                     des Vortrags von M artin Frank (Marbach) zum
(Heimatstadt Moscheroschs), der Arbeitsstelle für                   Auftakt der zweiten Sektion „Kultur und Trans-
literarische Museen, Archive und Gedenkstätten                      fer“. Er las Edmund Kreuschs 1915 publizierte
in Baden-Württemberg (DLA Marbach) und der                          Erzählung Moscherosch und Grimmelshausen im
Grimmelshausen-Gesellschaft veranstaltet.                           Schützengraben vor dem Hintergrund der politi-
    Nach einer Einführung durch die Veranstalter                    schen Ausrichtung der Zeitschrift März und stellte
referierte M artin Ruch (Willstätt) in der ersten                   Überlegungen zur Autorintention an.
Sektion „Autor und Netzwerk“ über die Spuren                            Elsa K ammerer (Lille) identifizierte die bisher
Moscheroschs in den Rechnungsbüchern der                            unbekannte Vorlage der Méditation sur la vie de
Gemeinde Willstätt. Diese seien als Quellen für                     Jesus Christ (1646) als Robert Arnauld d’Andillys
das alltägliche Leben in Willstätt zur Zeit des                     Poeme sur la vie de Jesus Christ (1645). Mit der
Dreißigjährigen Krieges ergiebig.                                   Änderung des Titels habe Moscherosch entspre-
    Mit dem verlegerischen Netzwerk Moscheroschs                    chend der Lehren des Straßburger Kirchenpräsiden-
befasste sich Holger Thomas Gräf (Marburg). Er                      ten Johann Schmidt darauf aufmerksam gemacht,
zeigte Verbindungen zwischen Moscherosch und                        dass sich diese Schrift zur Anwendung in der
dem Frankfurter Kupferstecher Johann Philipp                        privaten Meditation eigne. Im Gegensatz zur Vor-
Thelott auf, der Moscherosch in seinem Rech-                        lage habe Moscherosch zudem in diversen Passagen
nungsbuch für die Jahre 1665–1671 als Kunden                        dezidiert katholische Begriffe geändert oder getilgt.
nennt. Denkbar sei, dass es sich bei Thelott um                         Den Abschluss des ersten Konferenztags bil-
den bisher unbekannten Stecher des Titelkupfers                     dete ein öffentlicher Abendvortrag von Wilhelm
der Ausgabe der Gesichte Philanders von Sittewalt                   K ü hl m a n n (Heidelberg), in dem es um die
aus dem Jahre 1666 handele.                                         ambivalente und vielschichtige Bedeutung der
    Sylvia Brockstieger (Heidelberg) zeigte an-                     Alamode-Kritik in den Gesichten Philanders von
hand von Moscheroschs Schreibkalender literatur-                    Sittewalt ging.
wissenschaftliche Fragestellungen auf, die sich bei                     M aximilian Bergengruen (Karlsruhe) befasste
der Auseinandersetzung mit dieser Gattung stellen,                  sich in seinem Vortrag in der dritten Sektion „Sa-
etwa zum Verhältnis von dokumentierendem und                        tire und Roman“ mit den Höllendarstellungen in
erzählendem Schreiben sowie nach dem Ausdruck                       La Genestes Übersetzung von Quevedos Sueños,
eines Autor-Bewusstseins. Einzelne Einträge Mo-                     Moscheroschs Hoff-Schule und der Continuatio
scheroschs erschienen zwar oft beliebig, in den                     des Simplicissmus Teutsch. Die Tyrannenthematik
zahlreichen Tilgungen und Verbesserungen werde                      aus Moscheroschs Vorlage sei angereichert und
jedoch ein Bewusstsein für die Archivierbarkeit                     in ihrer Komplexität gesteigert worden. Auch
des Geschriebenen erkennbar. Man könne nicht                        vor dem Hintergrund der in anderen Vorträgen
von einer durchgängigen Selbstinszenierung spre-                    betonten Komplexität und Selbstreflexivität des
chen, es seien aber Versuche von Ordnungs- und                      Moscherosch’schen Œuvre erscheint die Folgerung

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Bergengruens plausibel, dies gehöre zu einer um-             Die explizite und implizite Gattungsreflexion,
fassenden Hofkritik, die jeden Teilnehmer des            die in den fortlaufenden Überarbeitungen der Ge-
Hoflebens als Teil eines gottvergessenen politischen     sichte stattfindet, führte Nora R amtke (Bochum)
Systems versteht, was auch den Sprecher Philander        exemplarisch an vier Episoden vor, in denen sich
mit einschließt.                                         Philander in Gerichtsverhandlungen für sein
    Mit der Selbstrechtfertigung des Moralsati-          Schreiben verantworten muss. Die einzelnen Ge-
rikers Moscherosch im Gesicht Reformation be-            richtsverfahren variieren dabei in der Zusammen-
fasste sich der Vortrag von Peter H esselmann            setzung des Gerichts, im Anklagegegenstand und
(Münster). In der Reformation verteidigt Philander       im Urteil – am Ende des vierten Verfahrens stehe
zwar die bereits verfassten Satiren und besteht          jedoch der Freispruch Philanders und damit der
auf den artikulierten moralischen Ansprüchen,            Freispruch seiner Satiren.
verspricht aber auch, keine weiteren Satiren mehr            M isia Sophia Doms (Baden b. Wien) zeigte
zu schreiben. Philander gelange damit zu der Er-         in der vierten Sektion „Literatur und Wissen“
kenntnis, dass Gesellschaftskritik zwar notwendig        mögliche Ordnungsprinzipien des Wörterbuchs
sei, sich jedoch am gesellschaftlichen Wandel            Technologie Allemande & Françoise auf. In Abgren-
orientieren müsse; eine Rückbesinnung auf die            zung von Walter Ernst Schäfers Urteil, es handle
Vergangenheit stelle keine Alternative zu Reformen       sich um eine mehr oder weniger unsystematische
in der Gegenwart dar.                                    Auf listung von Wörtern und Wortgruppen,
    Rosmarie Zeller (Basel) stellte einige Beobach-      stellte Doms in dem Text zwei miteinander kon-
tungen zu den Paratexten der Gesichte Philanders von     kurrierende Ordnungssysteme fest. So sei zum
Sittewalt an. Das Verfassen einer Vorrede zu jedem       einen eine Anordnung vom Geistig-Erhabenen
der Gesichte stelle eine Auffälligkeit dar, zumal sie    zum Materiell-Niedrigen im ersten Abschnitt des
nicht zur Einzelveröffentlichung bestimmt waren.         Wörterbuchs erkennbar, die in den Abschnitten
Außerdem seien die Vorreden durch ihre Heteroge-         2–7 umgekehrt werde. Zum anderen könnten die
nität gekennzeichnet: So fänden sich ebenso solche,      Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall (Gen.
die die Gattung der Satire verteidigen, wie Vorreden,    1–3) als narrativer Hintergrund für das gesamte
die um das Wohlwollen des Lesers werben oder aber        Wörterbuch verstanden werden. Doms machte
den Leser beschimpfen. Bezüglich der ab 1650 vor-        plausibel, dass es sich bei dem Wörterbuch um ein
handenen Titelkupfer für jedes der Gesichte lasse sich   Sprachlehrbuch gehandelt haben könnte.
feststellen, dass deren Verhältnis zum Text häufig           Mit der Insomnis Cura Parentum (1643) befasste
erst durch die Lektüre erkennbar werde.                  sich der Vortrag von Simon Zeisberg (Berlin). In
    Mit dem Verhältnis von ‚Guter Policey‘ und der       diesem Text, der sich in einem zweifachen Ad-
menippeischen Satire bei Moscherosch befasste            ressatenbezug sowohl an Moscheroschs Kinder
sich Philip Ajouri (Stuttgart). Im ersten Teil der       als auch an die Öffentlichkeit richtet, inszeniere
Gesichte dienten der gesellschaftliche Stand und die     sich Moscherosch durch eine Rhetorik des Kunst-
‚Gute Policey‘ als Ordnungskriterien, gleichzeitig       losen als Practicus, dessen Wort durch seine
liege der Satire bei Moscherosch aber eine Ord-          Welterfahrung Gewicht gewinne. Eine ähnliche
nung zugrunde, die nicht ständisch begründet sei.        Strategie lasse sich in Schupps Freund in der Not
Als Grund hierfür wurde die Krise der Ständege-          beobachten. Dieses Schreibprinzip werde dann
sellschaft durch den Dreißigjährigen Krieg ge-           von Grimmelshausen in seinem Ewigwährenden
nannt, mit der sich auch neue Wege für die Satire        Kalender parodiert, die Unordnung werde hier zu
eröffneten. Dementsprechend sei der Gegenstand           Unterhaltungszwecken eingesetzt. Gleichzeitig
der Alamode-Kritik nicht ein Überschreiten der           stelle die Insomnis Cura Parentum Genealogie
Ständegrenzen, sondern ein ständeübergreifend            diskursiv her.
‚undeutsches‘ Verhalten, das durch die Abführung             Der Bibliothekskatalog Moscheroschs war
finanzieller Mittel ins Ausland dem ‚gemeinen            Gegenstand des Vortrags von Dirk Werle (Hei-
Nutz‘ in Deutschland schade. Damit seien Mo-             delberg). Moscheroschs Bibliothek sei laut diesem
scheroschs Satiren ein Normrelativismus und              Dokument bemerkenswert gut ausgestattet gewe-
eine Komplexität zu eigen, die die Tradition der         sen, wobei jedoch berücksichtigt werden müsse,
Menippea überstiegen.                                    dass der Katalog keinen Einblick in den Wandel

Peter Lang                                                         Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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der Bibliothek gewährt. Bereits zum aktuellen           geringen Qualität der französischen Übersetzung
Zeitpunkt der erst beginnenden Erschließung             von La Geneste, auf der die Gesichte Philanders von
ließen punktuelle Beobachtungen aus dem Be-             Sittewalt beruhen, müsse vor diesem Hintergrund
stand der Bibliothek ziehen. So verzeichne der          überdacht werden.
Katalog z. B. Texte, die sich mit der Erfindung            H ans -Joachim Jakob (Siegen) befasste sich
des Buchdrucks befassen, wie er im Soldatenleben        mit der Rezeption Moscheroschs in den Schul-
thematisiert wird.                                      programmen des 19. Jahrhunderts. Die geringe
    Jörg R iecke (Heidelberg) näherte sich der          Aufmerksamkeit, die Moscherosch zwischen 1820
Verwendung von Geheimsprachen und Rotwelsch             und 1914 in den Schulprogrammen und ihren
bei Moscherosch aus sprachwissenschaftlicher            Abhandlungen zukam, sei repräsentativ für das
Perspektive an. Das Glossar rotwelscher Wörter          wenig ausgeprägte Interesse an der Literatur des 17.
im Soldatenleben lasse sich zu großen Teilen auf        Jahrhunderts. Dennoch lasse sich in den (literatur-)
den Liber Vagatorum (zuerst 1510) zurückführen,         pädagogischen Periodika eine frühe Moscherosch-
Moscherosch folge der Überarbeitung Martin              Forschung erkennen, die zwar zum Teil unter den
Luthers. Festzustellen sei auch, dass Moscherosch       Vorzeichen nationalistischer Bewegungen stehe,
das Rotwelsche nicht gut genug beherrscht hat, um       aber auch philologische Abhandlungen biete.
einige Fehler zu vermeiden. Aufgrund der Wort-             In der Abschlussdiskussion wurde festgestellt,
bildungen lasse sich von einem nahezu sprachwis-        dass sich die thematische Vielfalt von Moscheroschs
senschaftlichen Interesse Moscheroschs sprechen.        Œuvre in den Tagungsbeiträgen widerspiegele, und
    Der Vortrag von D ieter Br euer (Aachen)            dass es gelungen sei, an die vorhandene Forschung
befasste sich zu Beginn der fünften Sektion „Re-        anzuknüpfen und diese zu ergänzen. Gleichzeitig
zeption“ mit den Pseudo-Moscheroschiana, die            wurde wiederholt auf das Desiderat einer Mosche-
zwischen 1646 und 1648 von dem Frankfurter              rosch-Gesamtedition hingewiesen. Zusätzlich
Verleger Johann Theobald Schönwetter publiziert         zum Tagungsprogramm wurde eine gemeinsame
worden. Diese insgesamt achtbändige Ausgabe ver-        Besichtigung der Dauerausstellung Johann Michael
sammle neben Moscheroschs Gesichten auch Mo-            Moscherosch: Aus Willstätt nach Europa unter der
ralsatiren, die nicht von Moscherosch stammen,          Leitung von Thomas Schmidt unternommen.
sowie in fünf Bänden unterhaltsame Erzählungen,         Insgesamt bot die Tagung eine Vielzahl neuer
Historien und aktuelle politische Informationen.        Erkenntnisse, etwa bezüglich der Prätexte Mosche-
Dabei würden Stoffe für das 17. Jahrhundert aktu-       roschs, seinem Netzwerk oder der Selbstreflexivität
alisiert, die zum Teil seit dem Mittelalter bekannt     seiner Satiren. Eine Publikation der Beiträge wird
sind. Literaturwissenschaftlich relevant seien die      in den Beiheften zu Simpliciana erfolgen.
Pseudo-Moscheroschiana vor allem deswegen, weil
sie zur stofflichen Fundgrube für jüngere Autoren                                               Sofia Derer
wurden, darunter Grimmelshausen.                        Universität Heidelberg
    E ric Achermann (Münster) führte anhand             Neuphilologische Fakultät
einer Detailanalyse einiger Textstellen vor, dass die   Germanistisches Seminar
angemessene Übersetzung von Quevedos Sueños             Hauptstraße 207–209
aus dem Spanischen in das Französische überaus          D–69117 Heidelberg
anspruchsvoll ist. Die gängige Kritik an der            

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                               Peter Lang
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„Die deutsche Freiheit erdolcht!“. Tagung zu Leben, Werk und Tod August von Kotzebues
anlässlich seiner Ermordung vor 200 Jahren (Interdisziplinäre Tagung in Mannheim v.
21.–23.3.2019)

Zur 200. Wiederkehr von Kotzebues Todestag lu-           Der Musikwissenschaftler A x el S chröter
den die Organisatoren Julia Bohnengel (Heidel-       (Bremen) ging auf Kotzebues spannungsvolles
berg) und Thomas Wortmann (Mannheim), u. a.          Verhältnis zur Musik ein, indem er einerseits die
in Kooperation mit dem Mannheimer Altertums-         erhaltene Theatermusik zu Kotzebues Dramen
verein, Germanisten und Komparatisten, Histori-      analysierte (wobei im Fall des Mannheimer Natio-
ker und Musikwissenschaftler sowie Experten aus      naltheaters der Großteil der Bühnenmusik verloren
Museen zu einer interdisziplinären Tagung nach       ist) und andererseits aufzeigte, wie der Dramatiker
Mannheim ein. Ziel war es, sowohl das Attentat       selbst durch Anweisungen und Vorgaben versuch-
und dessen Folgen als auch das schriftstellerische   te, stets den Primat seines Textes gegenüber der
Werk Kotzebues neu in den Blick zu nehmen.           Musik zu wahren.
   In ihrer Einführung in die Tagung wiesen              Die Komparatistin Julia Bohnengel (Heidel-
B ohnengel und Wortmann auf die national-            berg) nahm mit Kotzebues Laientheaterstücken
historische Bedeutung des Kotzebue-Attentates        ein Genre in den Blick, für das sich die Forschung
hin. Denn als der Student Karl Ludwig Sand           bisher wenig interessiert hat, obwohl es fast die
am 23. März 1819 den Schriftsteller August von       Hälfte seines dramatischen Gesamtœuvres be-
Kotzebue in dessen Mannheimer Wohnhaus               stimmt. Bohnengel verortete zum einen die Ent-
erstach, setzte er nicht nur dem Leben des meist-    stehungsumstände von Kotzebues Laienstücken in
gespielten Dramatikers der Goethezeit ein jähes      der literarischen Fehde mit Goethe von 1801/02
Ende. Die Ermordung zog mit den Karlsbader           und spürte zum anderen seinen französischen
Beschlüssen auch tiefgreifende gesellschaftliche     Vorbildern (insbes. Louis Carrogis de Carmon-
Konsequenzen nach sich. Von nun an wurde             telle) nach.
die Freiheiten der Universitäten beschnitten, die        Thomas Wortmann (Mannheim) setzte sich
Burschenschaften verboten und die ‚Demagogen-        mit Kotzebues Südseedrama La Peyrouse ausein-
verfolgung‘ begann.                                  ander. Der Literaturwissenschaftler interpretierte
   Die erste Sektion der Tagung trug den Titel       das Drama im Hinblick auf den darin verhandel-
„Kotzebues Theater. Der Dramatiker im eu-            ten kolonialen Diskurs, den Kotzebue insofern
ropäischen Kontext“ und wurde von der Literatur-     durchkreuzt, als er durch die Gleichsetzung der
wissenschaftlerin I rmtr aud H nilica (Hagen/        französischen und polynesischen ‚Gattinnen‘ des
Trier) eröffnet, die in ihrem Vortrag herausarbei-   Protagonisten Zuschreibungen und Wertungen
tete, wie Kotzebues Abolitionsdrama Die Neger-       des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ kollabieren lässt.
sklaven auf die Mitleidsästhetik des bürgerlichen    Die folgende Diskussion kreiste um die Frage,
Trauerspiels rekurriert, um mittels einer daran      inwiefern die ‚exotischen‘ Texte Kotzebues, zu
geschulten Affektpoetik – und weniger durch          denen z. B. auch die Negersklaven zählen, im Hin-
eine Fakten gesättigte Darstellung – die Sklaven-    blick auf eine Textproduktion, die auf Effekte von
haltung zu problematisieren.                         Serialität setzt, zu verstehen sind: Der Liebesplot,
   Unter dem provokanten Titel Alles nur geklaut?    der zahlreiche Kotzebue-Stücke organisiert, wird
widmete sich Johannes Birgfeld (Saarbrücken)         hier wiederholt, aber eben auch entscheidend durch
Kotzebues oftmals negativ ausgelegter Praxis, po-    ein nicht-europäisches Setting und die damit ver-
puläre Prätexte für die Bühne zu modifizieren. Am    bundenen Verschiebungen variiert.
Beispiel von Kotzebues Auseinandersetzung mit            Kotzebues Adaptionsstrategien standen auch im
den Texten des dänisch-norwegischen Dramatikers      Zentrum des Vortrags der Literaturwissenschaft-
Ludvig Holberg zeigte der Literaturwissenschaftler   lerin A nke Detken (Göttingen), der sich mit den
die Strategien auf, mittels derer Kotzebue seine     Deutschen Kleinstädtern, dem wohl bekanntesten
Prätexte adaptierte und zog eine Linie zum Theater   Text August von Kotzebues, beschäftigte. Detken
der Gegenwart.                                       las das Drama vor der Folie seines französischen

Peter Lang                                                      Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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Prätextes, Louis-Benoît Picards La petite ville, um   fragten nach den Kontexten des Attentats und
die Unterschiede in der Schilderung der Provinz       den Folgen der Ermordung. Den ersten Vortrag
bei Kotzebue und Picard herauszuarbeiten, die         hielt die Historikerin Sarah Pister (Mannheim),
in der anschließenden Diskussion auch darauf          die in intensiver Auseinandersetzung mit stadt-
zurückgeführt wurden, dass der Status von Paris       historischen Quellen rekonstruierte, an welchen
in der zeitgenössischen deutschen Kultur keine        Ort Kotzebue 1818 übersiedelte bzw. mit welcher
Entsprechung findet. Eine szenische Lesung der        Stadtgesellschaft der Dramatiker, der an seinen Le-
Deutschen Kleinstädter im Werkhaus des Mann-          bensorten stets die Öffentlichkeit gesucht und sich
heimer Nationaltheaters beschloss diesen ersten       am kulturellen Leben beteiligt hatte, in Mannheim
Konferenztag.                                         konfrontiert war.
    Am nächsten Tag nahm die zweite Sektion der           Sylvia Schraut (München), ebenfalls Histori-
Konferenz „Kotzebues Vielfalt“ dessen schriftstel-    kerin, arbeitete in ihrem Beitrag auf, wie Kotzebue
lerisches Engagement jenseits der Bühne in den        durch seine Texte zum Feindbild der liberalen
Fokus. Eröffnet wurde sie durch den Literaturwis-     Bewegung avancierte. Der populäre Dramatiker,
senschaftler M ax Graff (Heidelberg) mit einem        durch seine Arbeit als russischer Generalkonsul als
Beitrag zu Kotzebues frühen Verserzählungen, die      Spion verschrien, wurde zur Projektionsfläche, auf
bisher von der Forschung noch nicht untersucht        die sich ein Feindbild werfen ließ, das schließlich
worden sind. Graff konnte dabei u. a. frühneu­        sogar den Mord zu legitimieren versprach und nach
zeitliche Quellen Kotzebues, aber auch den Einfluss   dem Attentat dafür sorgte, dass nicht das Opfer be-
Wielands identifizieren, zeigte jedoch zugleich die   dauert, sondern der Täter gefeiert wurde. Intensiv
Konventionalität der ersten schriftstellerischen      diskutiert wurde im Anschluss an diesen Vortrag,
Versuche Kotzebues auf.                               inwiefern Sands Attentat als ein terroristischer Akt
    Im folgenden Vortrag diskutierte A lexander       verstanden werden kann. Schraut selbst ließ daran
Košenina (Hannover), ebenfalls Literaturwissen-       keinen Zweifel.
schaftler, wie Kotzebue in seinem Almanach der            Der Bedeutung der Studentenbewegung im
Chroniken (1803) auf die Gespenstermode der           Kontext der Kotzebue-Ermordung widmete sich
Romantik antwortete, und zog Linien zu anderen,       Wilhelm K reutz (Mannheim). In einer akribi-
heute kanonisierten Autoren wie etwa Heinrich         schen Auseinandersetzung mit dem Quellenma-
von Kleist, um damit ein weiteres Desiderat der       terial zeichnete der Geschichtswissenschaftler die
Forschung zu benennen, das in der Folge kon­          Ideologien der radikalen Burschenschaften nach,
trovers diskutiert wurde: Zu untersuchen wäre,        denen Karl Ludwig Sand in seinem Anschlag auf
inwiefern Autoren wie Schiller und Kleist in          den Dramatiker in Mannheim zu folgen versuchte.
ihren Texten auf narrative Strategien und Stoffe          Den Tag beschloss der Literaturwissenschaftler
zurückgreifen, derer sich auch der populäre Kot-      Pierre M attern (Offenburg), der Kotzebue als
zebue bedient, um Gemeinsamkeiten und Unter-          einen streitbaren und streitlustigen Autor präsen-
schiede der jeweiligen Erzählungen zu bestimmen.      tierte. Mattern besprach die Feindschaften, die
    Für den Reiseschriftsteller August von Kotze-     Kotzebue Zeit seines Lebens pflegte und die den
bue interessierte sich der Literaturwissenschaftler   Dramatiker nicht nur zu einem berühmten, son-
A lbert Meier (Kiel) im letzten Vortrag der zwei-     dern auch zu einem berüchtigten Autor machten.
ten Sektion. Meier setzte sich mit der Faktur von         Der letzte Konferenztag, der die Sektion des
Kotzebues Reiseberichten über Italien auseinander,    Vortags vorführte und hierbei insbesondere Carl
deren Fragmentarität er problematisierte, um die      Ludwig Sand in den Fokus rückte, wurde von
Reiseschilderungen insgesamt als epigonal zu be-      Liselotte Homering (Mannheim) eröffnet. Als
werten. Die anschließende Diskussion kreiste um       Leiterin der theater- und literaturgeschichtlichen
die Frage, inwiefern Kotzebues Reisedichtung          Sammlungen der Mannheimer Reiss-Engelhorn
eher als modern gelten kann, gerade weil sie kein     Museen erschloss sie auf Basis des Archivmaterials
‚geschlossenes‘ Bild mehr entwirft, sondern epi-      in einem ersten Schritt dem Devotionalienkult
sodenhaft, vielleicht gar ‚journalistisch‘ erzählt.   um Karl Ludwig Sand, um in einem zweiten die
    Die dritte und größte Sektion der Tagung          politisch höchst unterschiedlichen Ansätze zu dis-
kreiste um „Kotzebues Tod“ – ihre Beiträge            kutieren, mit denen die Stadt Mannheim in den

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                             Peter Lang
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letzten 200 Jahren das Gedenken an das Attentat              die Unterhaltung zentral, sie erfüllen ein ‚Format‘
gestaltete und den Mord semantisierte.                       und haben als künstlerische Artefakte keines. Und
    Die Literaturwissenschaftlerin Sandr a Beck              selbst wenn man Kotzebue noch den Willen zuge-
(Mannheim) widmete sich Kotzebue und Sand als                steht, gesellschaftskritisch wirken zu wollen, dann
Protagonisten (populärer) Fallgeschichten und zeigte         scheitere er daran grandios mit seinen Stücken,
auf, inwiefern die in diesen Textsammlungen erfol-           weil er sich dem Publikumsgeschmack anbiedere.
gende Pathologisierung des Täters immer auch eine                Die Mannheimer Konferenz hat diesen kultur-
politische Frage ist. Eine politische Frage ist ebenfalls,   kritischen Blick auf den populären Schriftsteller
wie Beck zeigte, die Behandlung Kotzebues in germa-          August von Kotzebue grundlegend in Frage ge-
nistischen Literaturgeschichten, die in den meisten          stellt. Pauschalverurteilungen wie aus Erenz’ Feder
Fällen nicht den Autor, sondern das Opfer Kotzebue           erscheinen vor diesem Hintergrund problematisch.
besprechen und damit eine Wertung vornehmen, die             Die Vorträge und die intensiven Diskussionen
bis heute die germanistische Rezeption beeinflusst.          der Konferenz belegten, dass es sich lohnt, den
    Hermann Wiegand (Mannheim/Heidelberg),                   populärsten Autor der Goethezeit einer Neupers­
Vorsitzender des Mannheimer Altertumsvereins,                pektivierung zu unterziehen. Der Blick auf die
beschloss die Konferenz mit seinem Vortrag, in               Stücke, die die Deutschen schauten, während ihrer
dem er in einer materialreichen Studie die wechsel-          Klassiker schrieben, ist von Bedeutung – auch weil
vollen Wege aufzeigte, in denen sowohl Kotzebue              diese klassischen Texte vor der Folie derjenigen
als auch Sand ihren Weg in die belletristische               gelesen werden müssen, die zur Entstehungszeit
Literatur des 20. Jahrhunderts gefunden haben.               populär waren und als Orientierungspunkte
Auch hier, so Wiegands Befund, ist Sand eindeutig            dienten, ob im positiven oder im negativen Sinne.
die populärere Figur.                                            Auch deshalb werden die Ergebnisse der Ta-
    Um zu einem Fazit zu kommen: Vor gut 35                  gung in einem Sammelband dokumentiert, der im
Jahren hat der Kulturjournalist Benedikt Erenz               Wehrhahn Verlag in Hannover erscheinen wird,
August von Kotzebue als Erfinder des Fernsehens              der bereits zahlreiche Theatertexte Kotzebues in
bezeichnet: „Am 23. November 1788 wurde in                   Neuausgaben publiziert und damit wieder einer
einem kleinen Theater der estländischen Haupt-               Leserschaft zugänglich gemacht hat.
stadt Reval das Fernsehen geboren. Auf dem Spiel-
plan stand die Uraufführung von Menschenhaß
und Reue […]. Mit Kotzebues Stücken entstand je-
                                                             Anmerkung
ner Unterhaltungsstil, […] der in seinem heillosen,
virtuosen Eklektizismus aus Spannung, Rührung,
                                                             1   Benedikt Erenz: Dallas 1788. In: Die Zeit v. 13.12.1985.
moralisierendem Räsonnement, billigen Effekten
und teuren Garderoben alles zu ‚Fernsehen‘ ver-
                                                                                                         Katja Holweck
wurstet, was an gesellschaftlichem Konfliktstoff
im Raum liegt […].“1 Erenz’ Kommentar ist von                Universität Mannheim
Interesse, weil er die Vorbehalte, die gemeinhin             Seminar für Deutsche Philologie
in der Germanistik über Kotzebues verbreitet                 D–68131 Mannheim
sind, präzise zusammenfasst: Die Stücke setzen               

„Ach, die Wahrheit“. Theodor Fontane und das Erbe der Aufklärung. Symposium zum
200. Geburtstag des Dichters (Symposium in Leipzig v. 12.–13.4.2019)

„Ach, die Wahrheit“. Das Motto aus Fontanes                  Symposium stellten, regte im 200. Geburtsjahr
Graf Petöfy, unter das die Organisatoren M at-               Fontanes dazu an, dessen vielfältige Zugriffe
thias Grüne und Jana K ittelmann das in der                  auf den Begriff, die Ideen und die Epoche der
Bibliotheca Albertina in Leipzig stattfindende               Aufklärung in den Blick zu nehmen. Im Zentrum

Peter Lang                                                               Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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der Einführung M atthi as G rüne s (Leipzig,          Fontane zu verweigern. Auch der mit Freiheit asso-
Wuppertal) stand die Erkenntnis, dass die seit dem    ziierte Fortschrittsglauben wird in Quitt zumindest
frühen 19. Jahrhundert oft gestellte Frage nach       ambivalent bewertet. Kritisch betrachtet erscheint
dem Erbe der Aufklärung gerade in der zentralen       der Begriff Fontane als bloße „Phrase“ (Von
Schaffenszeit Fontanes an Aktualität gewinnt. In      Zwanzig bis Dreißig). Ihm wird eine Geschichts-
einer Zeit wiederholter Infragestellung der im Ka-    auffassung vorgezogen, die das Fortschreiten der
nonisierungsprozess befindlichen aufklärerischen      Zeit selbst in den Mittelpunkt rückt. So bedeutet
Werte lässt sich bei Fontane eine hohe Diversität     Geschichte zu schreiben, „mit der Zeit zu gehen“,
in den Auffassungen von Aufklärung, Normen            statt die Zeit voranzutreiben.
und Wissen belegen. Eindrücklich skizzierten              Die zweite Sektion leitete Dirk Oschmann
die Beiträge, wie sich diese Auseinandersetzung       (Leipzig) (Freiheit bei Fontane) ein: Er kontras-
sowohl literarisch als auch biographisch und in den   tierte zunächst die durch aufklärerische Diskurse
verschiedensten Gattungen niederschlägt.              aufgeladene und um 1800 mit Pathos behauptete
    Hubertus Fischer (Hannover) („...und spielt       Idee der Freiheit mit einem „depotenzierten“, „re-
sich trotzdem auf Aufklärung und Liberalismus aus“    lativierten“ und in gewisser Weise pragmatisierten
– Philosophisch-Politisches bei Fontane) widmete      Begriff von Freiheit bei Fontane. Der Versuch,
sich im Eröffnungsvortrag der ersten Sektion der      diesen „Pragmatismus der Freiheit“ vor dem
Beobachtung, dass die Begriffe „Aufklärung“,          Hintergrund einer im politischen Vormärz reali-
„Liberalismus“ und „Judenherrschaft“ häufig Fon-      sierten Freiheit in den Romanen zu lesen, wurde
tanes politische Äußerungen prägen. Das schwan-       paradigmatisch an Stine, Quitt und Der Stechlin
kende Verhältnis des Dichters gegenüber liberalen     dokumentiert. Dort führt die lebenspraktische
Parteien, vor allem gegenüber dem Nationallibe-       Konfrontation mit der erlebten politischen Freiheit
ralismus, wurde als Wurzel seiner Aufklärungs-        quasi zwangsläufig zu einer Relativierung des emo-
skepsis angesehen. Mit seinem Austritt aus der        tionalen und gesellschaftskritischen Ideals. Nach
Fortschrittspartei und den einsetzenden Beziehun-     Oschmann versteht Fontane unter Freiheit mehr
gen zu Mitgliedern der Kreuzzeitungspartei (etwa      die innerliche Befreiung als z. B. den sozialen Aus-
Leopold von Ledebur) – Fontanes „konservative         stieg, die Auswanderung nach Amerika oder den
Phase“ – korrelierte eine zunehmende Ablehnung        wirtschaftlichen Liberalismus. Freiheit in diesem
des neuen politischen Aufklärungsideals. Fontane      Sinn sei immer als Wahlfreiheit im Rahmen einer
setzte es mit dem „säkularen Staatsbürgerbegriff“     spezifischen lokal-sozialen Realität anzusehen.
gleich und identifizierte es als Grundsatz des von        L eonhard H errmann (Leipzig) („‚Freiheit‘,
ihm abgelehnten Sozialismus. Fontanes konkrete        wiederholte Botho“ – Das Trauerspiel des Bürgertums
Stellung zu politischen Ideen der Auf klärung         bei Lessing und Fontane) ging auf die Rezeption
wurde von Fischer an dessen Ablehnung exempli-        des von Lessing etablierten bürgerlichen Trauer-
fiziert, einen Prolog zur Jubiläumsaufführung von     spiels bei Fontane ein. Die für die deutsche Bühne
Nathan der Weise anlässlich des 100. Todestages       reformatorischen Grundsätze, die Lessing in der
Lessings zu verfassen. Fontanes distanzierte Hal-     Hamburgischen Dramaturgie entwarf, zielen auf
tung gegenüber der Aufklärung erscheint dabei als     eine Überführung der aufklärerischen Anthro-
ein Unbehagen, sich dem ideologischen Zwang des       pologie ins Trauerspiel: Mitleidsästhetik, Liebe
Liberalismus sowie verbindlichen Freiheits- und       für den Gegenstand und Identifikation stellen
Toleranzideen zu unterwerfen.                         Grundgedanken dar, die die Geschichte des Dra-
    Bei der Suche nach Spuren des Fortschritts-       mas zu einer „bürgerlichen“ – im Sinne einer
begriffs in den späten Romanen Fontanes sah sich      individuellen, privaten – Angelegenheit machen.
Christian H elmreich (Halle) („Comme philo-           An Effi Briest und Irrungen, Wirrungen wurden
sophe“? Fortschrittsgedanke und Fortschrittsskepsis   Parallelen zu Lessings Dramentheorie belegt. Eine
in Fontanes späten Romanen) mit ernüchternden         zentrale These war, dass die Handlung nicht von
Ergebnissen konfrontiert. Dem Begriff selbst, einer   politischen oder gesellschaftlichen Kontexten,
historiographisch-philosophischen Neuschöpfung        sondern von individuellen Emotionen und Nei-
der Spätaufklärung, die zu einem „Leitbegriff des     gungen getragen werde, die ihrerseits mit sozialen
19. Jahrhunderts“ (Koselleck) wurde, scheint sich     Normen kollidieren.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                             Peter Lang
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    Im Abendvortrag präsentierte Roland Berbig                   A nett Lütteken (Bern) („Und möchten wir
(Berlin) (Fontane – Aufklärer, Verklärer, Erklärer?)         von der entkirchlichten Zeit/ Auch nicht das Gute
den Vorschlag, Fontanes literarisches Leben durch            missen...“ – Glaubensdinge des 18. und 19. Jahr-
die drei Zuschreibungen in drei Schaffensphasen              hunderts im Werk Theodor Fontanes) führte aus,
zu unterteilen. Als Aufklärer zeige sich der junge           wie Fontane vergangene Jahrhunderte vielfach
Fontane dort, wo vor 1848 das Versprechen einer              durch den Blick auf „noch kirchliche Zeiten“
übergreifenden neuen Aufklärung gepaart mit Frei-            charakterisierte, der jedoch oft als „Diagnose der
heits- und Fortschrittsidealen den Geist der Zeit            eigenen Zeit“ fungierte. Objekte des Glaubens
bestimmte. Seine unzureichende philosophische                und des Ritus spielen dann eine Rolle, wenn sie
Bildung verhinderte allerdings eine intensivere Be-          als überfällige Reste einer älteren Kirchengemein-
teiligung an den neuaufklärerischen Ideen. Beim              schaft erscheinen; sie unterstreichen den Wandel
mittleren Fontane dominiere die programmati-                 in den Zeitwahrnehmungen, indem sie einerseits
sche Idee der Verklärung – ein zentraler Aspekt              Frömmigkeit und Respekt erwecken, andererseits
seines Realismuskonzepts. Mit Rückblick auf die              einem Sinn- und Raumpragmatismus weichen
Forschung konnte Berbig deutlich machen, dass                müssen. Zudem erläuterte Lütteken die Funktion
Fontane in seiner mittleren Phase mit der Hin-               der Frömmigkeitsbewegungen und besonders
gabe an das Vaterländische und in seiner Verherr-            des Kirchenlieds (Gerhardt, Woltersdorf ) auf
lichung der preußischen Geschichte als Verklärer             der Suche nach Authentizität des Gefühls und
agierte. Auf das Briefwerk gestützt, führte Berbig           des Glaubens, die bei vielen Figuren in Fontanes
schließlich vor, wie Fontane die Rolle des Erklärers         Romanen von handlungsentscheidender Aktualität
in den späten Jahren als seine wahre Bestimmung              ist. Anhand des Prologs zur Feier anläßlich des zwei-
zu begreifen schien: Von allgemein-medizinischen             hundertjährigen Bestehens der französischen Kolonie
Ratschlägen bis zu politischen Lösungen verstand             in Berlin (1885) zeigte sie schließlich Fontanes
sich Fontane auf weitgreifende Erklärungen aller             Kritik an einer schwach gewordenen protestanti-
Art. Schlussthese des Vortrags war, dass alle drei           schen Staatskirche.
Masken des Schriftstellers den literarisch gebro-                In der vierten Sektion ging Jana K ittelmann
chenen Umgang mit Wahrheit gemeinsam haben.                  (Halle) (Geselligkeitskonzepte bei Fontane) den Ge-
    Am Samstag eröffnete Monika R itzer (Leipzig)            meinsamkeiten zwischen Fontanes Geselligkeits-
(Wahrheit oder Wahrnehmung? Positionen der Er-               konzepten und den Geselligkeitstraditionen der
kenntniskritik in Naturwissenschaft und Philosophie          Aufklärungszeit nach. Kittelmann führte zunächst
[1860–1890] und die Modifikationen realistischen             drei „Spielformen der Vergesellschaftung“ (Sim-
Schreibens bei Fontane, Meyer und Raabe) die dritte          mel) ein: das Tischgespräch als gelehrter Austausch
Sektion mit der Feststellung, dass Fontane den durch         (ironisiert in Frau Jenny Treibel), die Neuprägung
Kritik an der romantisch-idealistischen Wahrneh-             des geselligen Freundeskreises nach dem Modell
mungstheorie begründeten Wahrheitsanspruch der               empfindsamer Kreise um 1750 (so in der Pick-
frühen Realisten (Keller, Stifter) nicht völlig integriert   nick-Erzählung in Ein Sommer in London) und die
habe. Deutlich wurde, wie die „Nivellierung“ der             geheimen Gesellschaften (vgl. Wanderungen durch
naturwissenschaftlich-weltanschaulichen Bedingun-            die Mark Brandenburg). Auch in der „Topographie
gen der Erkenntnis (Helmholtz, Haeckel) Fontanes             der Geselligkeit“ zeigte sich eine erstaunliche Nähe
Realismusauffassung beeinflusste. Im zweiten Teil            zu den Motiven des 18. Jahrhunderts, nicht nur
verwies Ritzer auf die Rezeption des Darwinismus             bezogen auf den Garten oder die Natur allgemein,
durch die Realisten und die Wandlung von Fontanes            sondern auch hinsichtlich konkreter Orte (Berlin
Realismusbegriff ab den 1860er Jahren. Wie Meyer             als Hauptstadt der Geselligkeit) und erzählerischer
und Raabe in dieser Zeit, reflektierte Fontane das           Motive wie der Bootsfahrt (Irrungen, Wirrungen)
Verhältnis zwischen Charakter bestimmender                   oder der Begegnung in der Laube (L’Adultera). Ab-
Natur und freier Persönlichkeit als eines zwischen           schließend wandte sich Kittelmann den Differen-
determiniertem Schicksal und individueller Ver-              zen zu, die häufig den Ausgang der nur scheinbar
schuldung. Hier verortete Ritzer letztlich die bei           am Geselligkeitsgebot orientierten Erzählungen
Fontane sehr präsente Schicksalsthematik (z. B.              kennzeichnen: Entfernung, Verstörung, Um-
Zeichen, Ahnungen).                                          orientierung, oder gar Selbstmord deuten vielmehr

Peter Lang                                                              Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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auf Konzepte der „Gegengeselligkeiten“ im Werk          von der Bildbeschreibung zur Beschreibungs-
Fontanes hin.                                           kunst“ sind bei Fontane in der Einbeziehung
    Sophia Wege (Halle) (Das Maß der Dinge. Zur         der lokalen und nationalen Identität sowie der
Funktion der Homöopathie in „Unwiederbringlich“)        Künstlergeschichte in die Kunstanalyse (vgl.
zeigte an der Diskussion um die Homöopathie im          die Berichte von der Londoner Weltausstellung
Roman, dass deren Geschichte und Theorie Deu-           1851), aber auch in der eigentlichen Kunstbe-
tungsmöglichkeiten für die Gesamtentwicklung            trachtung zu finden (z. B. Die Berliner Synagoge,
von Unwiederbringlich berge. Das Prinzip Similia        1865). Der Beitrag spannte den Bogen bis in die
similibus („Gleiches löst sich in Gleichem“) wurde in   Formierungsphase der neueren Kunstgeschichte:
Bezug auf seine Bedeutung für die psychologische        Die Bekanntschaft mit mehreren Akteuren dieser
Charakterisierung der Figuren untersucht. Des           Institutionalisierung, die Rezension der Bücher
Weiteren wurde die homöopathische Grundan-              Wilhelm Lübkes oder der Artikel Stendal und
nahme, das Übel nur durch kleine Dosen kurieren         die Winckelmann-Statue (1859) zeugen von der
zu können, für die Romaninterpretation frucht-          Anteilnahme Fontanes an der Geschichte der
bar gemacht. Gerade weil die Romanfiguren den           jungen Disziplin sowie an der Diskussion um die
Grundsatz vom „Maß der Dinge“ mehrfach verlet-          Rolle der Kunstgeschichte für die zeitgenössische
zen, sei das homöopathische Prinzip in einem durch-     Öffentlichkeit, womit er auf ein zentrales Motiv
aus therapeutischen Sinne auf die Gefühlskrankheit      des aufklärerischen Kunstdiskurses (Winckel-
der beiden Protagonisten übertragbar.                   mann, Heinse, Lessing) zurückgreift.
    In der fünften Sektion ging Iwan-Michelange-           Mike Rottmann (Halle) (Aufklärendes Lesen?
lo DʾA prile (Potsdam) (Autodidaxe und populäre         – Zur jüdischen Rezeption Fontanes) präsentierte
Medien bei Fontane) auf die Verbindung zwischen         aufklärerische Momente in der Rezeption Fon-
den populären Medien und dem Modell autono-             tanes durch jüdische Gelehrte und Leser(innen).
mer gelehrter Bildung ein, deren Wurzeln in die         Rottmann wies zunächst auf die Widersprüchlich-
Aufklärungszeit liegen (so Lessing, Mendelssohn         keit in den Urteilen hin: Sie schwanken zwischen
und Nicolai in ihren Briefe[n], die neueste Littera-    der Bewertung Fontanes als „Verbündeten im
tur betreffend). Unter Rückgriff auf vier Faktoren      Streit um die Emanzipation“ und als Exempel der
– Geselligkeitsformen, Medienformen, literarische       Unversöhnbarkeit mit dem Judentum. Rottmann
Praktiken, Diskurse –, deren Zusammenwirkung            stellte die Rezeptionszeugnisse in den Kontext
als kulturelles Umbruchsmoment identifiziert            des jüdischen Auf klärungsdiskurses der Zeit.
wurde, hob D’Aprile die Bedeutung der medialen          ,Aufklärung‘ wurde dort als kultureller Prozess
Ausdifferenzierung hervor und führte dafür vier         einer Assimilation und Funktionalisierung des
Beispiele an: den Literaturverein, der zugleich als     Werkes Fontanes im Zuge der Judenemanzipation
Produkt aufklärerischen Bewusstseins und als            und nicht zuletzt der Klassikerbildung des frühen
Organ „preußischen Selbstbewusstseins“ fungier-         20. Jahrhunderts verhandelt. „Aufklärendes Lesen“
te; die Gattung des Reisetextes, die bei Fontanes       – eine (jüdische) Würdigung des von Fontane
Englands- und Italienreisen als Bildungsmedium          zeitlebens gepflegten aufklärenden Schreibens? Die
fungiert; die populäre Enzyklopädie, positiv als        Beiträge des Symposions verdeutlichen jedenfalls,
Quelle und „Wissenswerkzeug“ sowie als Muster           dass die Antwort auf solche Fragen differenziert
für lexikographisches, vielstimmiges Schreiben          ausfallen und doch fragmentarisch bleiben muss.
(vgl. die Wanderungen durch die Mark Brandenburg           Eine zeitnahe Publikation der Konferenz-Bei­
als Sammelsurium) erscheint; und die Zeitung, ein       träge in der Reihe Schriften der Theodor-Fontane-
Kernmedium der Spätaufklärung, das Fontane              Gesellschaft ist vorgesehen.
durchaus kritisch zu betrachten wusste.
    C armen Aus der Au (Zürich) (Die Kunstbe-                                        Baptiste Baumann
schreibung Fontanes im Vergleich mit der Kunst-         Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
beschreibung der Aufklärung) verglich Fontanes          Germanistisches Institut
Kunstkritik mit Johann Joachim Winckelmanns             Ludwig-Wucherer-Straße 2
Modell der Kunstbeschreibung. Spuren des seit           D–06108 Halle (S.)
den 1750er Jahren vorangetriebenen „Wandels             

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                              Peter Lang
Konferenzberichte | 193

Sich einrichten. Zur Poetik und Semiotik des Wohnens seit 1850 (Tagung in Lausanne v.
11.–13.4.2019)

Die Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft      (einsamen) Sammler als Insassen des Interieurs.
für Kulturtheorie und Semiotik (SGKS) M arie          Benjamins Fokus auf das 19. Jahrhundert betont
Theres Stauffer und die beiden Tagungsorga-           die Trennung von Arbeitsplatz und Interieur, mit
nisatoren H ans-Georg von A rburg (Lausanne)          der die Entfremdung von Ding und Gebrauchs-
und Thomas Wegmann (Innsbruck) eröffneten             wert einherging. Mit der Abschottung nach außen
die interdisziplinäre Jahrestagung der SGKS an der    wird das Interieur zum Kreativraum, in dem die
Universität Lausanne. Die Kollaboration zwischen      eigene Originalität profiliert werden kann, und
der SGKS und der Literaturwissenschaftlichen Fa-      die Möglichkeit eines anderen Erfahrungsraums
kultät bildete das Fundament für diese dreitägige     entsteht.
Tour durch zwei Jahrhunderte Wohngeschichte.               Was passiert, wenn die Dinge im Interieur ihren
    Im Entrée strich H ans-Georg von A rburg he-      Bezug zum Bewohner verlieren, zeigte A lexandra
raus, dass Wohnen als prekäre Praxis zu bewerten      Schamel (München) (Dysfunktionales Wohnen
ist, die sich zwischen Immobilität (Immobilien,       in Adalbert Stifters „Turmalin“). Ein Haus, das
Sich-Einrichten) und Mobilität (Umziehen) sowie       angefüllt ist mit Bildern berühmter Männer, zu
Privatheit und Öffentlichkeit bewegt. Man richtet     denen der Bewohner in keinem Verhältnis steht,
sich nie alleine ein, da Wohnen eine soziale Inter-   wirft sowohl die Frage nach Identitätsbildung als
aktion und eine Auseinandersetzung mit dem            auch nach einer Normalität des Wohnens auf. Das
Eigenleben der Dinge (Möbel, Pflanzen, Tiere)         Zimmer wird zum Schauraum, in dem sich das an-
darstellt: „Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im      schauende Ich nicht verankern kann und auflöst.
Interieur werden sie betont.“, konstatierte von       Letztendlich verschwinden sogar die Bewohner*-
Arburg mit Walter Benjamin, der so seinerseits        innen und lassen das Haus funktionslos zurück.
bereits im Eingangsbereich dieser Tagung Spuren            Roland Innerhofer (Wien) (Mobilis in mobi-
hinterließ. Thomas Wegmann verdeutlichte mit          le: Jules Vernes fahrbare, schwimmende und fliegende
Blick auf Martin Heidegger, dass Wohnen eine          Interieurs) begab sich mit Jules Verne auf Zimmer-
anthropologische Grundkonstante ist: Man kann         reise. In Vernes Romanen geht das Interieur auf
nicht Nicht-Wohnen (Gert Selle) und muss dieses       Reisen, seien es Unterseeboot oder Raumkapsel.
immer tun, gleichgültig wo (Vilém Flusser). Trotz     Die Verschränkung von Wohnen und Reisen
der scheinbaren Banalität und Ubiquität des Woh-      verknüpft das Interieur mit Mobilität. Gleichzei-
nens sind die darunter gefassten Tätigkeiten nicht    tig öffnet und verschließt sich der so mobilisierte
unmittelbar erfahr- und wahrnehmbar. Erst über        Innenraum vor der Außenwelt, wobei besonders
Ablagerungen, Bilder, Narrative und Reflexionen       deren Gefahren den Intimitätswert des Hauses
werden Spuren sichtbar, deren Bedeutungen ge-         erhöhen (Bachelard). Vernes Reisemaschinen sind
lesen werden können. Die sowohl begriffliche          Ausdruck technischer Neuerungen, die zwischen
als auch praktische Unschärfe des Wohnens ist         Wohnsucht und Wohnflucht changieren.
jedoch Garant für die diskursive Erfolgsgeschich-          Dass sich am Interieur ein bestimmtes Wohn-
te. Wegmann betonte in dieser Hinsicht, dass          wissen ablesen lässt, zeigte I r ene N ier h aus
erst die kulturelle Poiesis eine Phänomenologie       (Bremen) (Sich Ein_Richten: Wohnen, Wohnwissen
des Wohnens und des Menschen als wohnendes            und Wohnsubjekte). Wohnwissen ist ein Zeige-
Wesen ermöglicht.                                     system, das über verschiedene Mediasierungen
    Die erste Sektion „Wohnen im langen 19. Jahr-     sowohl einen Diskurs über das Wohnen als auch
hundert“ wurde von Günter Oesterle (Gießen)           über den Bewohner entfaltet. Es bedarf allerdings
(Die aisthesis des Interieurs und der leere Raum)     zumeist des fremden Blicks, um dieses Wissen dar-
eröffnet. Mit Benjamin unterschied er zwei Mo-        zustellen. Nierhaus verdeutlichte am Beispiel des
delle des Interieurs – zum einen das historistische   Neuen Bauens um 1920 eine Zäsur, die dem 19.
Requisiten- und Kulisseninterieur, das jedoch zu      Jahrhundert mit seinen vollgestopften Interieurs
komplexitätsreduzierend ist, zum anderen den          eine Leichtigkeit aus geraden Linien und weißen

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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Flächen entgegensetzt. Während in der Theorie          von Subjekttechniken sind. Der Mensch wird
ganz eindeutig das alte Wissen ausgehebelt wird        durch Gerüche – ephemer, persistent, ungreifbar
und ein neues Subjekt entsteht, zeigen sich in der     – in einem Milieu eingerichtet, das zwischen dem
Praxis Mischformen, die eher eine Kippfigur als        Ideal der frischen Luft, dem Blumenwohlgeruch
einen Bruch nahelegen.                                 und -rausch und dem Gestank changiert.
    Wie das Wohnen zwischen verschieden Zei-               Die Kunst des Einrichtens und das Einrichten
ten funktioniert, veranschaulichte Dave Lüthi          der Kunst präsentierte Beate Söntgen (Lüneburg)
(Lausanne) (Leben in einem Museum: Dynastische         (Wohnen in Bildern: Bloomsbury and Company) an-
Burgen in der Schweiz im 19. Jahrhundert) anhand       schaulich am Beispiel der Bloomsbury Gruppe, die
historischen Materials. Im 19. Jahrhundert wurden      während und nach dem Ersten Weltkrieg in einem
Schlösser in der Schweiz von Privatpersonen ge-        englischen Landhaus lebte. Das Interieur wird hier
kauft und nach historischem Vorbild eingerichtet.      zum Resonanzraum und Rahmen einer modernen
Es entstand ein Spannungsverhältnis zwischen           Häuslichkeit und künstlerischen Einrichtung.
der Rückbesinnung auf die Vergangenheit einer-         Durch die Aufhebung der Trennung von Arbeit
seits, die die Inszenierung historischen Wohnens       (Atelier, Werkstatt) und Wohnen fließt die Kunst
bewirkte: Möbel und Gemälde werden zu Spuren           in die Raumausstattung ein, und gleichzeitig ma-
und Symbolen der Geschichte; sie sind Teil des         terialisiert sich in der Kunst das Leben im Sinne
Schlosses und nicht mehr unmittelbarer Besitz des      einer Lebendigkeit und nicht einer abbildenden
Bewohners und somit Zeugnis von dessen Leben.          Mimesis. Es entstehen neue Verflechtungen mit
Andererseits fand in diesen Schlössern, abseits der    wechselnden Bewohnern und wechselnder Ein-
Öffentlichkeit, das alltägliche Leben mit moder-       richtung, die andere Künstler zitiert, transformiert
nem Komfort statt, über das es jedoch nur wenige       und sich aneignet.
Aufzeichnungen gibt.                                       Die zweite Sektion „Die Moderne bewohnen“
    Vom Leben im musealen Schloss leitete Bernd        führte zunächst ins Schlafzimmer und ganz kon-
Stiegler (Konstanz) (Die Brüder Goncourt: Die          kret zum Bett. Peter Brandes (Bochum) (Litera-
Ordnung der Dinge) über zur Bricobracomanie der        rische Klinologie um 1900 [Thomas Mann, Proust,
Brüder Goncourt, deren besondere Sammelleiden-         Kafka]) zeichnete keine bloße Motivgeschichte des
schaft in ihrem Haus in Auteuil zum Ausdruck           Bettes nach. Brandes versteht das Bett als Medium
kam und in La maison d’un artiste (1880/81) und        des Wissens, an dem seine Genese als Aktant
den Photographien Ferdinand Lochards festge-           (Riehl), Ware, Erbstück, Ort der Krankheit und
halten wurde. Das zur Sammlung gewordene 18.           Rekonvaleszenz und verschiedene Funktionen (pri-
Jahrhundert entfaltet sich in einer Listenprosa, die   vater Rückzugsraum, Medium der Introspektion)
den Menschen verdrängt und ihm ihre Ordnung            abgelesen werden können. Anhand ausgewählter
aufzwingt. Lediglich als Betrachter, Selektierer       literarischer Texte veranschaulicht Brandes, wie
und Vermittler der Geschichten der Dinge tritt         das Bett zur Keimzelle des Erzählens wird und eine
der Mensch auf. Hier wird die Welt zum Haus            Ich- und Welterkenntnis ermöglicht.
und das Haus zum Buch.                                     Dass Wohnen auch Arbeit bedeutet, zeigte
    Anknüpfend an Walter Benjamin verwies              Szilv i a G ell ai (Karlsruhe) (Das Interieur als
Sergej R ickenbacher (Aachen) (Eingerichtet wer-       Exterieur: Vom Leben im Glashaus zur Semiotik
den: Olfaktorische Konditionierung in literarischen    des Wohnens) am Beispiel des Glashauses. Es ist
Wohnräumen um 1900 [Zola, Fontane, Scheer-             Modell und Verkörperung einer Arbeit an den
bart, Friedländer]) darauf, dass das Hinterlassen      Grenzen, die destabilisiert und neukonstituiert
von Spuren oft visuell und haptisch geprägt ist.       werden (nach Isobel Armstrong manifestiert sich
Dabei lassen sich an Gerüchen Spuren der Ge-           in der Transparenz und der Barriere eine Ästhetik
sundheit, Sittlichkeit, Schichtzugehörigkeit und       der Widersprüche). Gellai stellte an verschiedenen
Individualität ablesen. Anhand ausgewählter            Glashäusern (Gewächshaus, Ausstellungsbau,
literarischer Beispiele, die das Gewächshaus in        Glass House Philip Johnsons) dar, dass es sowohl
den Blick nahmen, zeichnete Rickenbacher das           um ein Hereinholen des Außen als auch um die
Narrativ eines Ensembles aus Reinigungs- und           Öffnung des Innen geht. Nichtdestotrotz mar-
Hybridisierungspraktiken nach, die Ausdruck            kiert Glas ebenso Barrieren und setzt Spuren an.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                              Peter Lang
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Benjamins Entwurf des Glashauses als Gegenbild         des Romans, der reine Poesie und Poetik des Mülls
zum Interieur des 19. Jahrhunderts ist in dieser       vereint.
Hinsicht Gellai zufolge zu vereinfacht gedacht.           Claudia K eller (Zürich) (Angeschwemmt im
    Michael Jennings (Princeton) (Nomadism and         „dichtergefügten Strandgut“. Peter Handkes episch-
Domesticity: Walter Benjamin’s perpetuum mobile)       nomadisches Hausen) verschränkte Handkes
verdeutlichte, dass Wohnen für Benjamin ein De-        Schreiben und Wohnen mit dem Bild des Strand-
siderat ist, das jedoch nicht erreicht wird. Anstatt   guts. Das Angeschwemmte ist sowohl Ausdruck
sich Dinge gefügig zu machen, muss man sich mit        der Spurenbeseitigung als auch der Neuordnung,
ihnen arrangieren. Das Interieur zwingt dem Men-       die dichterisch vorgenommen wird. Dadurch
schen Gewohnheiten auf und macht ihn „zu einer         entstehen Resonanzräume, die das Wohnen in-
Funktion von Verrichtungen“. Die kapitalistische       szenieren und den Bewohner poetologisch lesen.
Moderne produziert Phantasmen, die die eigent-         Keller deutete die Wohnräume als raumgewor-
lichen Mechanismen des Kapitalismus verbergen          dene Poetik des Epischen und archäologische
und zum Verfall menschlicher Erfahrung führen.         Stätte der Moderne, die in Bildern und Texten
In beinahe schamanistischer Weise besteht eine         sichtbar wird.
Lösung für Benjamin in der Angleichung des Be-            Den Ausgang dieser Tagung bildete der Beitrag
wohners an die unbelebten Objekte.                     von Sarah Pogoda (Bangor) (Theorien und Prak-
    Vera Bachmann (Regensburg) (Rationalisierte        tiken ‚poetischen Instituierens‘ in Künsten der Gegen-
Frauenzimmer: Kitchentalk in der Weimarer Re-          wart). Mit verschiedenen Projekten Christoph
publik) führte uns in die Küche und zeigte, dass       Schlingensiefs und der Stuttgarter Künstlergruppe
„Kitchentalk“ mehr ist als nur Tratsch. Besonders      Die Institution stellte Pogoda den performativen
im Zuge des Neuen Bauens steht die Küche im            Charakter des Wohnens aus, der sich zwischen
Zentrum von architektonischen, ökonomischen            Alltäglichkeit, Arbeit und Kunst bewegt. Die
und politischen Veränderungen. Die Frankfurter         ästhetischen Strategien durchbrechen gewöhnliche
Küche wird zum Symbol einer neuen Zeit, die            Abläufe und befragen somit diskursive Strategien,
sich zwischen Funktionalität (Rationalisierung         die sich auf Machtverhältnisse, die Rolle des Zu-
von Arbeitsvorgängen) und Ästhetik (Design)            schauers und das Vorübergehende und Provisori-
bewegt; und die Rolle der Hausfrau hervorhebt,         sche des Wohnens richten (Zelt, Wohncontainer).
die die Doppelbelastung von Arbeit und Haushalt           Alle Vorträge widmeten sich einem Aspekt des
bewältigen muss und trotzdem nur beschränkt            Wohnens, doch wie bereits die Inventarlisten der
am Diskurs über Küchen oder gar als Architektin        Goncourts oder die Auslegungen der Hausordnung
beteiligt ist.                                         deutlich machten, lässt sich die Liste unendlich
    Die verwaltungstechnische Seite des Woh-           fortsetzen, dekonstruieren und neu zusammen-
nens beleuchtete David -Christopher A ssmann           setzen. Sich dem Wohnen künstlerisch zu nähern,
(Turin/Frankfurt a. M.) (‚Wohnen allein genügt         bedeutet eine Ästhetisierung des Alltäglichen, die
nicht.‘ Reinheit und Gefährdung in H.G. Adlers         Verschränkung verschiedener Medien (Texte,
„Hausordnung“) anhand der Hausordnung (1972)           Fotos, Filme) und ein ständiger Umgang mit
von H.G. Adler zu Beginn der dritten Sektion           Spuren (Herstellung, Bewahrung, Beseitigung,
„Wohnkünste in der Spätmoderne“. Er stellte            Auslegung).
seinen Kommentar zu einem zunächst profan
erscheinenden Alltagstext vor, der auf der Ebene                                         Cindy Heine
der histoire und des discours um Reinigungs- und       Universität Lausanne
Ordnungsprozesse sowie störende, verunreinigen-        Fakultät für Germanistik
de Elemente und Texturen kreist. Die Inszenierung      Campus UNIL
der bürokratischen Vorschrift verweist auf die zer-    CH–1015 Lausanne
gliedernde und neuordnende Produktionsästhetik         

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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