KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern

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KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern
KUNST                                  16
                 Das gemeinsame Magazin von
            Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee

                                   1/2020
                                                     Nr.

EINSICHT

             Seite 14

    El Anatsui – die erste
Retrospektive in der Schweiz
KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Schadenskizze

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KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Editorial

Es ist eine landesweite Debatte : Das                              zeitgenössische Künstler Afrikas, kon­
Ungleichgewicht zwischen Künstlerinnen                             frontiert uns in seinem Werk mit (Kolonial-)
und Künstlern in den Programmen der                                Geschichte, Identität und unserem Um­-
grossen Schweizer Kunsthäuser. Umso mehr                           gang mit natürlichen Ressourcen. Aber
freuen wir uns, dass wir das Jahr gleich                           auch Bern kommt nicht zu kurz : Wir haben
mit zwei monografischen Ausstellungen                              mit Silvia Müller, Initiantin der Berner
von Künstlerinnen starten : Den Abstrakten                         Museumsnacht, und mit Bernhard Fibicher,
Expressionistinnen Lee Krasner im Zentrum                          ehemaliger Kurator der Abteilung Gegen­
Paul Klee und Teruko Yokoi im Kunstmuseum                          wartskunst am Kunstmuseum Bern und
Bern, die mutig und ihrer Zeit voraus die                          heute Direktor des Musée cantonal des
bekannten Pfade verliessen. Der foto­                              Beaux-Arts in Lausanne, über Kunst,
grafierenden Schriftstellerin Annemarie                            Kultur und Zukunftsprojekte gesprochen.
Schwarzenbach wird im zweiten Halbjahr
eine Ausstellung gewidmet. Wir laden
Sie ein, sich von den Bildern der « unheilbar
                                                                                       Nina Zimmer
Reisenden » in ferne Regionen entführen                                                Direktorin Kunstmuseum Bern —
zu lassen. El Anatsui, der wohl wichtigste                                             Zentrum Paul Klee

                                                               Inhalt

                              Interview                                                           Ausstellung

  6                 Bernhard Fibicher                                   22           Aufbruch ohne Ziel.
       Der Direktor des Musée cantonal des Beaux-Arts                             Annemarie Schwarzenbach
       über den Neubau, neue Ausstellungsformate und das
       zukünftige Museumsquartier Plateforme 10.
                                                                                       als Fotografin
                                                                             Erstmals wird in einem thematischen und sparten­
                                                                             übergreifenden Überblick das fotografische Schaffen
                            Thematisch
                                                                             der Pionierin des Foto- und Reisejournalismus in
  8                Von Künstlerinnen                                         der Schweiz gezeigt.
                  und Kunstgeschichte
                                                                                                  Persönlich
       Die Kuratorinnen Fabienne Eggelhöfer und Marta
       Dziewańska über Lee Krasner, Teruko Yokoi und                    26            Brückenbauerin und
       allgemeine Tendenzen zur Wiederentdeckung von
       Künstlerinnen.
                                                                                   Querdenkerin : Silvia Müller
                                                                             Die Initiantin der Berner Museumsnacht und
                                                                             Geschäftsleiterin des Vereins Museen Bern über
                            Ausstellung
                                                                             laufende und Herzensprojekte.
 20                   Auf den Spuren
                     eines Reisenden
                                                                        34                         Forum
       Mapping Klee folgt anhand seiner Reisen der künst-
                                                                        38                        Kalender
       lerischen Laufbahn Paul Klees und zeigt, wie er sich
                                                                        39                       More to See
       von der Fremde inspirieren liess.
                                                                        40                        Agenda
                                                                        50                        Kolumne
KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern
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      Kunst sehen                                 tät tat — Sacco                               Reportagen —
      Julian Barnes                                Brillenhalter                               Weltgeschehen
                                                                                               im Kleinformat

                                               Ob für Brillen, Stifte oder die Fernbedie­
                                               nung — Sacco eignet sich zur (aufrechten !)
                                               Aufbewahrung verschiedenster persönli­
                                               cher Accessoires. Der weiche und leichte
Ein Buch voller Kunstgeschichten : Über        Fleecestoff ist robust, das Design zeitlos
Maler und ihre Exzentrik, über ihre Modelle    und das Produkt in verschiedenen Farben
und das oftmals komplizierte Verhältnis        erhältlich. tät tat steht für witziges und    Früher gab es das Lagerfeuer, an dem
zwischen Musen und Künstlern, über Bilder      eigenwilliges Schweizer Design, das sauber    die spannendsten Geschichten erzählt
und Eskapaden wie auch Autoren, die sich       gedacht, schön verpackt und in der Schweiz    wurden. Heute gibt es Reportagen, das
mit Malern beschäftigen. Durch Julian          sozial produziert wird. CHF 29 im Museums­    unabhän­gige Magazin für erzählte Gegen­
Barnes’ Kenntnisreichtum und durch sein        shop KMB.                                     wart. Herausragende Autorinnen und
Wissen um menschliche Schwächen und                                                          Autoren — sie sind Journalistinnen und
Laster entsteht eine erzählte Kunstge­                                                       Erzähler zugleich — berichten in spannen­
schichte von der Romantik bis in die Post­                                                   den Reportagen aus der ganzen Welt.
moderne, von Delacroix, Courbet, Manet,                Vase                                  Vor Ort recherchiert, persönlich bei den
Cézanne und Degas bis hin zu Lucian Freud                                                    Protagonisten und abseits der ausgetrete­
— ein Buchgenuss für Kennerinnen und                Cache-Cache                              nen Pfade spüren sie berührenden, auf­
Laien gleichermassen. Die siebzehn Auf­                                                      rüttelnden und unerwarteten Schicksalen
sätze erheben in ihrer umstandslos einge­                                                    nach, nehmen ungewöhnliche Perspektiven
standenen Subjektivität in Bezug auf die                                                     ein, treffen überraschende Menschen und
Geschichte der Kunst und der Literatur kei­                                                  verwandeln scheinbar bekannte Themen
nen Anspruch auf Vollständigkeit. So zeigt                                                   in unentdecktes Neuland. Jeden zweiten
sich vielmehr die Faszination des Autors                                                     Monat erhalten Leserinnen und Leser
für die Vormoderne des 19. und frühen                                                        die Auswahl der besten Reportagen in ihren
20. Jahrhunderts sowie eine grosse Affinität                                                 Briefkasten.
für die französische Malerei. Es stehen
weniger eine Analyse der Bilder als vielmehr                                                 Passend dazu die Ausstellungen Mapping
die Marotten und Lebensgeschichten                                                           Klee (21.05.—04.10.2020) und Aufbruch
ihrer Schöpfer im Vordergrund — das                                                          ohne Ziel. Annemarie Schwarzenbach als
Menschlich–Allzumenschliche eben, das          Gleich mehrere Produkte werden mithilfe       Fotografin (05.06.—06.09.2020).
der britische Autor in seiner gewohnt          dieses Designs recycelt : Erstens der
geistreichen und zuweilen koketten Spra­       Karton, aus dem die runde oder tulpenför­
che und mit seinem scharfen Humor zu           mige Aussenform der Vase besteht. Und
Papier bringt.                                 zweitens die PET-Flasche, die als Wasser­
                                               behälter im Innern versteckt wird. Und so
Julian Barnes                                  funktioniert es :
Kunst sehen
Aus dem Englischen von Gertraude
Krueger und Thomas Bodmer
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019
352 Seiten

                                               tout simplement ist eine französische
                                               Marke, die umweltfreundliche, lokale und
                                               schlicht-funktionale Designobjekte ent­
                                               wirft und in Morteau im Herzen des Jura
                                               sozial produziert. CHF 36 im Museums­
© Ellen Warner                                 shop ZPK.

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KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Jubiläum                                                             Recycling

           Das ZPK
           wird 15 !
     Sonntag 21.06.2020

Mit einem Fest der offenen Türen feiert
das Zentrum Paul Klee 2020 sein 15-jähri­
ges Bestehen. Nebst Führungen « behind
the scenes » — etwa in den Büro- und
Forschungsräumlichkeiten im Südhügel,
in der Restauration oder im Technik- und
Regiebereich der Veranstaltungsräume —
erwartet die Besucherinnen und Besucher
ein attraktives Programm : Les passions
de l’Ame, die Camerata Bern und weitere
Ensembles versprechen vielseitige musi­
kalische Genüsse. Nach Lust und Laune
kann auch gleich selber mit angepackt und
gestaltet werden : Das Kindermuseum
Creaviva bietet offene Ateliers für Gross
und Klein. Theatergruppen, Chöre, Orches­
ter oder Akrobaten können ausserdem die
offene Bühne des Auditoriums bespielen
(Anmeldung und weitere Informationen
unter www.paulundich.ch). Im Hinterland
kann das fachgerechte Verpacken von
Kunstwerken gelernt werden und im Frucht­
land suchen Abenteuerlustige den Weg
durchs Maislabyrinth. Das Zentrum Paul
Klee lädt Sie herzlich ein !
                                                                                        Bern

                                                                                  Offcut
                                            Neu gibt es ihn neben Basel und Zürich auch     Geschäftsauflösungen. Offene Ateliers, Work­
                                            in der Bundesstadt : den OFFCUT-Material­       shops und Vermittlungsangebote sowie
                                            markt. OFFCUT sammelt und verkauft Ge­          Begegnungszonen ergänzen das Angebot.
                                            braucht- und Restmaterialien zur kreativen
                                            Wiederverwertung, schlägt Brücken zwi­           « Vernetzt und verflochten » : Offenes Atelier
                                            schen Industrie und Kunst und macht aus                     im Kunstmuseum Bern
                                            Reststoffen wieder Rohstoffe. Gemäss dem        In Zusammenarbeit mit OFFCUT Bern verwan­
                                            Zero-Waste-Gedanken wird keine neue             delt sich das Atelier der Kunstvermittlung
                                            Ware produziert, sondern aus dem riesigen       ab Freitag, 20. März 2020 (Museumsnacht)
Es läuft die Jubiläumsausstellung Mapping
                                            Fundus des Vorhandenen geschöpft. Künst­        im Rahmen der Ausstellung El Anatsui.
Klee sowie eine Sonderausstellung des
                                            lerinnen und Heimwerker können sich             Triumphant Scale (13.03.—21.06.2020) in
Klee-Enkels Aljoscha Ségard, der dieses
                                            von verschiedensten Farben, Formen und          einen kreativen Gestaltungsraum. Ab dem
Jahr seinen 80. Geburtstag feiert.
                                            Mustern inspirieren lassen und finden bei       20. März jeweils mittwochs von 14—17 Uhr
                                            OFFCUT alles, was das Kreativherz begehrt       und sonntags von 13—16 Uhr geöffnet.
                                            — seien es Ideen oder passende Bauteile :       Das Atelier kann auch von Gruppen und
                                            von Folien, Papier und Karton, Stanzblechen,    Schulklassen besucht werden (Anmeldung
                                            Seilen, Nieten, Verpackungen, Holz, Leder       erforderlich, 031 328 09 11 oder
                                            und Verschlüssen bis hin zu ausgedientem        vermittlung@kunstmuseumbern.ch).
                                            Dekorationsmaterial. Bildende Künstler
                                            kaufen hier Farben und Materialien für Skulp­   OFFCUT Bern, Meinen-Areal
                                            turen. Fotografinnen finden Requisiten für      Gartenstrasse 23, 3007 Bern
                                            Shootings, Architektinnen und Designer          www.offcut.ch
                                            Rohstoffe, um Modelle zu bauen. Das Mate­
                                            rial stammt aus Produktionsüberschüssen,        Öffnungszeiten
                                            Restposten oder von Privatpersonen,             Mittwoch bis Freitag : 11—18 Uhr
                                            etwa aus Atelier- und Kellerräumungen oder      Samstag : 10—16 Uhr

                                                                                                                                         5
KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Interview

                                              Bernhard Fibicher
                                       Es kann eigentlich immer
                                         nur aufwärts gehen!

                                                                                 MTC   Nach der erfolgreichen Eröffnungsausstellung Atlas. Kartographie
                                                                                       des Schenkens mit der Sammlung im Fokus hat Ihr Haus zwischen
                                                                                       Mitte Januar und Mitte Februar nochmals eine Pause eingelegt,
                                                                                       um das Museum für den Dauerbetrieb zu justieren. Was sind Ihre
                                                                                       ersten Erfahrungen und Erkenntnisse mit dem Neubau?
                                                                                 BF    Ein ideales Raumangebot für alle künstlerischen Medien, schönes
                                                                                       Licht, eine gute Besucherführung mit Platz zum Verschnaufen, ein
                                                                                       erfolgreiches Restaurant und ein gelungener Start des Museums-
                                                                                       shops. Daneben gibt es gewisse Mängel, wie zum Beispiel Risse im
                                                                                       Terrazzoboden, die behoben werden müssen, und es braucht ein
                                                                                       zusätzliches Garderobeangebot. Zudem muss die Signalisierung
                                                                                       vom Bahnhof her verbessert werden.
                                                                                 MTC   Welche Rolle spielt das Gebäude und seine Einbettung in das
                                                                                       Bahnhofsviertel für die Sache der Kunst ? Und was dürfen die
                                                                                       Besucherinnen und Besucher vom baldigen Zuzug des Musée
                                                                                       de design et d’arts appliqués contemporains und des Musée de
                                                  Bernhard Fibicher legt
                                                  besonderen Wert auf                  l’Elysée erwarten, die zusammen mit dem MCBA das Museums-
                                                  Flexibilität und die Öffnung         quartier Plateforme 10 bilden werden?
                                                  gegenüber Kunst aus aller
                                                  Welt. Foto: Florian Cella
                                                                                 BF    Der Standort gleich neben dem Bahnhof ist natürlich ideal und
                                                                                       lädt ein, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln (Zug, Metro, Bus)
                                                                                       ins Museum zu kommen. Der Bahnhof wird in den nächsten Jah-
                                                                                       ren für über eine Milliarde Franken erweitert, um in 10 Jahren
                                                                                       200 000 Benutzer täglich empfangen zu können. Das stellt für uns
                                                                                       ein interessantes Potenzial dar. Ende 2021/Anfang 2022 wird das
Bernhard Fibicher, der Direktor des 2019 neu eröffneten Musée                          zweite Haus mit dem Fotomuseum und dem Designmuseum er-
cantonal des Beaux-Arts in Lausanne, spricht im Interview über den                     öffnet. Dann wird das Kulturquartier erst vollständig sein und wir
beeindruckenden Neubau, neue Ausstellungsformate und die                               werden gegenseitig voneinander profitieren können. Es kann
enge Zusammenarbeit zwischen Kanton, Museen und Mäzenen im                             eigentlich immer nur aufwärts gehen !
Hinblick auf das zukünftige Museumsquartier Plateforme 10.                       MTC   Drei Museen, drei Marken, ein Stiftungsdach: Das ist eine ähn-
                                                                                       liche Konstellation wie hier in Bern mit dem Kunstmuseum und
MARIA-TERESA CANO     Herr Fibicher, das Musée cantonal des Beaux-Arts                 dem Zentrum Paul Klee. Was erachten Sie als besonders wichtig,
    in Lausanne (MCBA) wurde am 3. Oktober 2019 neu eröffnet.                          um im Triumvirat erfolgreich in die Zukunft zu gehen ?
    Weit über 80 000 Besucherinnen und Besucher aus dem In- und                  BF    Als am Allerwichtigsten erachte ich die grösstmögliche Freiheit
    Ausland haben Sie seither verzeichnet, das sind etwa 1000 pro                      aller drei Museen. Eine Stärkung der Identität jedes Museums
    Tag. Ein wenig schwingt Bewunderung mit, wenn ich Sie frage :                      führt dazu, dass wir uns gut ergänzen. Lockere Strukturen also.
    Wie macht man das ?                                                                Die Lust, zusammenzuarbeiten, besteht schon. Wir haben einige
BERNHARD FIBICHER     Diese höchst erfreuliche Besucherzahl resultiert                 Male bewiesen, dass wir das können. Kurz : Wir müssen unsere
    aus einem Mix aus Architektur-Touristen, Kulturinteressierten                      Verschiedenheiten pointieren, aber auch interdisziplinär denken
    und ganz einfach Neugierigen, die einen Blick in den seit etwa 10                  – was nicht bedeutet, dass alle alles machen !
    Jahren im Gespräch stehenden Bau werfen wollten. Den Leuten                  MTC   Gegenüber dem früheren Standort verfügt das Museum über
    hat nicht nur die gleichzeitig strenge und elegante Architektur mit                dreimal mehr Ausstellungsfläche. Dieser Umstand erweitert die
    idealen Räumen für die Kunst gefallen, sondern auch die Er-                        Möglichkeiten für kommende Ausstellungen enorm. Was werden
    öffnungsausstellung, die 350 Schenkungen thematisch präsen-                        Sie mit diesem Potenzial anfangen ?
    tierte. Viele Besucher haben uns versichert, dass sie für die nächs-         BF    Wir haben dieselbe Ausstellungsfläche von 1200 m² für Wechsel-
    te Ausstellung Wien 1900 wieder kommen würden.                                     ausstellungen zur Verfügung wie im Altbau, in dem wir seit den

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KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Bernhard Fibicher

      1940er-Jahren nur noch Wechselausstellungen veranstaltet haben.      MTC   Neben dem Ausstellungsformat Espace Focus, das dreimal jährlich
      Das zusätzliche Raumangebot dient vor allem der Sammlungs-                 die Sammlung unter verschiedenen Aspekten ins Zentrum stellt,
      präsentation, aber auch neuen Ausstellungsformaten wie dem                 wird es im neuen Museum einen weiteren Schwerpunkt geben,
      Projektraum (Espace Projet) im Erdgeschoss.                                nämlich den Espace Projet. Wie soll diese Plattform helfen, das
MTC   Mehr Fläche schafft natürlich auch Platz für Ankäufe und                   junge und zeitgenössische Kunstschaffen der Region Lausanne
      Sammlungserweiterungen. Wohin steuert die Sammlung unter                   bekannt zu machen?
      Ihrer Ägide?                                                         BF    Kunst aus der Region wird im Projektraum nur im Zusammenhang
BF    Unsere Sammlung besteht aus beinahe 11 000 Werken, darunter ca.            mit den Kunstpreisen (Manor, Buchet) gezeigt. Espace Projet ist
      6000 Arbeiten auf Papier. Unsere wichtigsten historischen Bestände         unsere kleine Kunsthalle, die einem Manko im Kanton Waadt ent-
      (mit mehr als hundert Arbeiten) stammen von Künstlerinnen und              springt: Es gibt kein eigentliches Angebot für Ausstellungen mit
                                                                                 international bekannten Künstlerinnen und Künstlern. Als erste
                                                                                 zeigen wir die Russin Taus Makhacheva, dann folgt der Argentinier
                                                                                 Jorge Macchi und anschliessend die Manor-Kunstpreisträgerin
                                                                                 Anne Rochat, die Waadtländerin ist.
                                                                           MTC   Reden wir noch ein wenig von Zahlen. Der Neubau des MCBA
                                                                                 kostete 83,4 Millionen Franken – ein relativ bescheidener Be-
                                                                                 trag, wenn man ihn in Vergleich zu anderen Museumsneu- oder
« Es ist uns wichtig, dass                                                       erweiterungsbauten setzt. Interessant ist aber, dass 34 Millio-
                                                                                 nen Franken – also über 40% – von Privaten zusammengebracht

so viele Menschen wie                                                            wurden. Ist Lausanne von speziell grosszügigen Menschen be-
                                                                                 siedelt, die sich ihrer Verantwortung der Kunst gegenüber be-
                                                                                 sonders bewusst sind ?
möglich – Menschen aller                                                   BF    Lausanne kann man punkto Privatunterstützung von Kultur
                                                                                 nicht mit Zürich, Basel oder Winterthur vergleichen. Diese mä-

Altersstufen und je­g­-                                                          zenatische Tradition gibt es bei uns nicht. Ich glaube, dass eben
                                                                                 diese einmalige Gelegenheit, sich dem Kanton gegenüber er-
                                                                                 kenntlich zu zeigen, den Erfolg dieser Public-Private Partner­
licher sozialer Herkunft –                                                       ships ausgemacht hat. Dem Kanton Waadt geht es finanziell sehr
                                                                                 gut; er kann und will in die Kultur investieren und es gelingt ihm,

so oft wie möglich                                                         MTC
                                                                                 Mäzene und Sponsoren in diese Dynamik einzubinden.
                                                                                 Kein Eintrittsgeld für die erste grosse Ausstellung zur Eröffnung,
                                                                                 in Zukunft sind auch alle weiteren Sammlungsausstellungen
unser Museum besuchen                                                            (Espace Focus) sowie die Ausstellungen zur zeitgenössischen
                                                                                 Kunstszene (Espace Projet) gratis. Wie ist diese generöse Idee

können. »                                                                  BF
                                                                                 zustandegekommen? Und wie werden Sie diese «entgangenen»
                                                                                 Einnahmen künftig gegenfinanzieren ?
                                                                                 Diese Gratiseintritte nach dem englischen Vorbild wurden durch
                                                                                 unseren Staatsrat bewilligt, im Wissen, dass ein öffentliches Mu-
                                                                                 seum ein wichtiges gesellschaftsförderndes Bildungsinstitut ist.
                                                                                 Es ist uns wichtig, dass so viele Menschen wie möglich – Men-
                                                                                 schen aller Altersstufen und jeglicher sozialer Herkunft – so oft
                                                                                 wie möglich unser Museum besuchen können. Eine stattliche
                                                                                 Subvention des Kantons in der Höhe von 80–85% des Jahres-
      Künstlern wie Louis Ducros, Charles Gleyre, Théophile-Alexandre            budgets macht dies möglich.
      Steinlen, Félix Vallotton, Louis Soutter, Aloïse, René Auberjonois   MTC   Seit dem 14. Februar ist Wien zu Gast in Lausanne, unter anderen
      und Ernest Biéler. Daneben besitzen wir einzelne Werke inter-              mit Schiele, Klimt und Kokoschka. Ist dies eine ganz bewusste
      nationaler Künstlerinnen und Künstler wie Cézanne, Degas,                  Setzung im Ausstellungsangebot des MCBA ?
      Rodin sowie zeitgenössische Werke von Boltanski, Raetz, Broodt­      BF    Es ging uns darum, das Publikum mit einer Ausstellung bekannter
      haers und Nauman. In den letzten 10 Jahren durften wir mit Sou-            Künstler an unser Museum zu binden. Gleichzeitig wollten wir
      lages, Penone, Kapoor, Kentridge, Nevelson oder Rebecca Horn               das östliche Gegenstück zur Art Nouveau französischer Prägung
      grossartige Schenkungen entgegennehmen, die vor allem unsere               zum ersten Mal in der französischsprechenden Schweiz präsen-
      zeitgenössische Sammlung gestärkt haben. Das hat zu neuen star-            tieren. Paris um 1900 (mit Steinlen oder Grasset etwa, die in
      ken Setzungen geführt – zum Beispiel im Bereich der arte povera            unserer Sammlung sehr gut vertreten sind) hatte in den letzten
      mit Giuseppe Penone, Mario Merz und Luciano Fabro. Wir ver-                Jahren im alten Museum prominente Auftritte.
      suchen einerseits, Lücken zu füllen (so suchen wir etwa eine         MTC   Und zu guter Letzt: Welches ist Ihr Lieblingsbild aus der reichen
      Kriegslandschaft von Vallotton), oder aber Neuland zu betreten             Sammlung des Musée cantonal des Beaux-Arts, das Sie bei sich
      (durch die Annahme einer Schenkung von zwei Aborigines-Ge-                 zuhause über das Sofa hängen würden ?
      mälden). Besonders wichtig erscheint mir die Flexibilität und        BF    Leider habe ich eine Fensterfront hinter meinem Sofa … Museale
      Öffnung gegenüber Kunst aus aller Welt – im Wissen, dass wir nie           Werke sollen im Museum gezeigt werden. Ich könnte mir aber gut
      ein enzyklopädisches Museum sein werden, aber im Bewusstsein               vorstellen, mit den Holzschnitten Intimités von Vallotton zu
      der globalen Vernetzung der Schweiz : politisch, wirtschaftlich            leben. b Das Interview führte Maria-Teresa Cano, Leiterin Kom-
      und eben auch kulturell.                                                   munikation und Öffentlichkeitsarbeit.

                                                                                                                                                  7
KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Thematisch

                Von Künstlerinnen
               und Kunstgeschichte
                    Ein Gespräch

Lee Krasner im Zentrum Paul Klee, Teruko Yokoi
im Kunstmuseum Bern : Zeitgleich sind in Bern zwei
monografische Ausstellungen über Künstlerinnen
zu sehen. Beide Frauen – Krasner und Yokoi – über-
wanden die Marginalisierung durch die Kunst­
geschichte. Die Kuratorinnen Fabienne Eggelhöfer
und Marta Dziewańska sprechen über die Lebens­-
wege dieser Künstlerinnen und erklären, weshalb die
Kate­gorien, die wir in der Kunstgeschichte haben,
im Grunde nicht funktionieren.
8
KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Von Künstlerinnen und Kunstgeschichte

Ein Meilenstein im Leben von Lee Krasner wie auch Teruko Yokoi war              und Asiatin orientalisch und exotisch zugleich. Ausserdem sprach
ihre Zeit an der Hans Hofmann School of Fine Arts in New York. Sie              sie nicht sehr gut Englisch, sodass es verschiedene Ebenen der
sind sich dort zwar nie begegnet — Krasner studierte fast zwanzig               Marginalisierung gab.
Jahre vor Yokoi —, beide entwickelten ihre künstlerische Sprache           FE   Ja, Lee Krasner war viel weniger ausgegrenzt als Teruko Yokoi : Sie
aber wesentlich im Spannungsfeld der Künstlergruppe, die der deut­              stand im Zentrum eines der aktivsten künstlerischen Zirkel der
sche Maler und Lehrer um sich geschart hatte.                                   damaligen Zeit. Als Frau befand sie sich zwar immer noch ausser-
MARTA DZIEWAŃSKA          Teruko Yokoi reiste 1954 mit dem Schiff von           halb des männlichen « Mainstreams », war aber dennoch eine
     Japan in die USA, nach San Francisco, was eine sehr mutige Ent-            wichtige Stimme und extrem ausdrucksstark. Ebendas wollen wir
     scheidung war. Ab 1955 studierte sie bei Hans Hofmann in New               zeigen : Der Schwerpunkt der Ausstellung im Zentrum Paul Klee
     York. Sie war eine junge, sehr ehrgeizige Studentin. Mehr noch :           liegt auf den späten 1950er-Jahren und der Zeit danach, in der Lee
     Sie war fest davon überzeugt, etwas zu sagen zu haben und eine             Krasner wusste, was sie tun und wohin sie mit ihrer Kunst gehen
     wichtige Künstlerin werden zu können. Und tatsächlich galt sie             wollte. Die Jahre, in denen sie nach ihrem eigenen künstlerischen
     bald als sehr talentiert.                                                  Ausdruck suchte, sind in der Ausstellung nicht zu sehen.
FABIENNE EGGELHÖFER       Zur damaligen Zeit verlagerte sich die Kunst-    MD   Die Ausstellung über Teruko Yokoi im Kunstmuseum Bern kon-
     metropole von Paris in die USA, vor allem nach New York. Teruko            zentriert sich auf das Gegenteil : Die 1950er- und 1960er-Jahre
     Yokoi muss erkannt haben, dass New York die erste Adresse für              waren die Jahre, in denen sie am meisten um ihre eigene künst-
     Künstlerinnen und Künstler war, und sie studierte – wie Lee Kras-          lerische Sprache rang. Als Kind eines Kalligrafen hatte sie eine
     ner und viele andere Künstler – bei Hans Hofmann.                          ausgesprochen traditionelle Ausbildung durchlaufen, wurde aber
Trotz ihres Talents und ihres starken Charakters wurden sowohl                  gleichzeitig in den USA mit neuen Sprachen und Ausdrucks-
Lee Krasner als auch Teruko Yokoi von der Gruppe der Abstrakten                 formen konfrontiert – vor allem nach den verheerenden Aus-
Expressionisten marginalisiert : « Das ist so gut, man würde gar nicht          wirkungen des Krieges. Diese Spannung zwischen den beiden
denken, dass es von einer Frau gemalt wurde », urteilte Hans Hof­               Kulturen ist auf der materiellen Ebene ihrer Leinwand sichtbar :
mann über Krasners Arbeiten. Und auch Yokoi befand sich in einer                In den zarten japanischen Motiven, die von dieser stark abstrakt-
Randposition — aufgrund ihrer Herkunft noch mehr als Krasner.                   expressionistischen Geste geprägt sind. Für mich ist dies die in-
MD    Es gab diesen Tross um Hans Hofmann, zu dem Teruko Yokoi                  teressanteste Phase ihres Werks.
      gehörte und in dem sie Sam Francis, Joan Mitchell, Franz Kline       1945 heiratete Lee Krasner den Maler Jackson Pollock. Sie hatten
      und andere Künstler traf, die sich um die damals berühmte Mar-       sich einige Jahre zuvor kennengelernt, als Werke von beiden in der
      tha Jackson Gallery versammelten. In dieser Schar war sie als Frau   McMillen Gallery in New York ausgestellt wurden. Als Pollocks Stern

Links : Teruko Yokoi, um­
geben von ihren Werken im
Chelsea Hotel, New York,
1959, © the artist

Rechts : Lee Krasner um
1938, Fotograf : unbekannt

                                                                                                                                                9
KUNST EINSICHT 16 1/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Von Künstlerinnen und Kunstgeschichte

aufgestiegen war, wurde Krasners Werk lange Zeit von dem ihres Man­           FE   All diese Kategorien, die wir in der Kunstgeschichte haben, funk-
nes überschattet. Dennoch pflegten die beiden einen regen künstleri­               tionieren im Grunde nicht. Die ganze Geschichte ist viel komple-
schen Austausch. Bei Teruko Yokoi und dem Künstler Sam Francis, den                xer, viel fragmentierter, vielschichtiger und vielfältiger. Die Leute
sie 1959 heiratete, war der Umgang mit ihr als Künstlerin ein anderer.             drücken den Dingen gerne ein Etikett auf, weil es hilft, zu struktu-
MD   Teruko Yokoi begleitete Sam Francis zu allen Ausstellungs­                    rieren und zu verstehen. Die Herausforderung für Museen besteht
     eröffnungen und er stellte sie Künstlern und Galeristen vor – als             heute darin, die Kategorien zu untergraben – und zu sehen, was
     seine Partnerin, nicht als Künstlerkollegin. Angesichts ihrer man-            passiert, wenn wir die Geschichte durch das Infragestellen des Be-
     gelnden Sprachkenntnisse war er ihr Tor zur Kunstwelt. Natürlich              stehenden verändern. b Das Gespräch mit Fabienne Eggelhöfer,
     gab es einen Dialog, Fakt ist aber, dass Sam Francis sich in der Posi-        Kuratorin der Ausstellung Lee Krasner. Living Colour, und Marta
     tion befand, dieser sehr starke Künstler in der Geschichte zu wer-            Dziewańska, Kuratorin von Teruko Yokoi. Tokyo–New York–Paris–
     den, und sie nicht. Entdeckt wurde Teruko Yokoi schliesslich von              Bern wurde aufgezeichnet von Martina Witschi, Volontärin Kom-
     Arnold Rüdlinger, dem damaligen Direktor der Kunsthalle Basel, als            munikation und Öffentlichkeitsarbeit.
     er sie und Sam Francis zuhause in New York besuchte. Er sah einige
     von Terukos Werken und fragte Sam, mit dem er eng befreundet
     war, warum dieser nie erwähnt hatte, dass seine Frau Malerin war.
     Danach fand 1964 ihre erste grosse Ausstellung in Basel statt.
FE   Lee Krasner war bereits gut vernetzt, als sie Jackson Pollock kennen-
     lernte. Ihr Verhältnis änderte sich erst, als Pollocks Bekanntheit
     durch seine Action Paintings zunahm. Krasner entschied sich, im
     Hintergrund zu bleiben. Sie promotete ihn, aber gleichzeitig setzte
     sie ihre künstlerische Arbeit fort. Die Gerüchte, Pollock wolle nicht,
     dass sie malt, hielten sich hartnäckig, waren aber natürlich nicht
     wahr. Krasner betonte wiederholt, dass sie ihn verlassen hätte,
     wenn er ihr verboten hätte zu malen. Sie unterstützten sich gegen-
     seitig, tauschten sich aus und besuchten sich in ihren Ateliers.
Die Hauptschwierigkeit bei der Konzeption von Ausstellungen über
Künstlerinnen ist die Tatsache, dass es nebst ihren Werken kaum
Quellen über sie gibt. Der Mangel ist das Ergebnis einer jahrzehnte­
langen einseitigen Geschichtsschreibung. Es ist nun die Aufgabe von
Museen, Kunsthistorikerinnen und Kunstkritikern, das gegenwärtige
Bild der Kunstgeschichte um weibliche Beiträge zu erweitern.
MD   Es gibt keine schriftlichen Zeugnisse über Teruko Yokois Leben
     und Werk. Ausserdem wurde viel verallgemeinert, weshalb ich
     versucht habe, die Auswahl der Werke einzuschränken und wirk-
     lich zu betrachten, was auf der Ebene der Leinwand passiert :
     Welche Spannungen lassen sich in den Bildern beobachten ? Wel-
     che Art von Austausch findet statt ? Die Ausstellung konzentriert
     sich auf die Geschichte der Künstlerin, die sich im Kontext grös-
     serer historischer und künstlerischer Erzählungen abspielt. Ich
     habe mich nie besonders dafür interessiert, die Kunstgeschichte
     aus der Sicht von Frauen zu erzählen. Ich denke, wir sollten viel-
     mehr das Bild der Kunstgeschichte, an das wir uns gewöhnt haben
     und das – nebenbei gesagt – von Männern geschrieben wurde,
     verkomplizieren.
FE   Lee Krasner ist ein Sonderfall, doch es gibt viele Künstlerinnen,
     bei denen man Mühe hat, Material wie Interviews, Texte oder
     Rezensionen ihrer Ausstellungen zu finden. Es gibt keine mono-
     grafischen Darstellungen, und je weniger Informationen es gibt,
                                                                                   « Kunstgeschichte ist
     desto weniger werden diese Künstlerinnen in einem komplexeren
     kunsthistorischen Kontext rezipiert und gelesen. Da ist noch eine
                                                                                   komplizierter als das,
MD
     Menge Grundlagenforschung zu betreiben.
     Ausserdem ist es wichtig, mit den vorhandenen Wissensfrag-
     menten über Künstlerinnen zu arbeiten. Nicht nur, um ihre Ge-
                                                                                   was seit Jahrzehnten
     schichten zu erzählen, sondern auch um zu zeigen, dass Kunst-
     geschichte komplizierter ist als das, was seit Jahrzehnten gelehrt
                                                                                   gelehrt wird. Wir müssen
     wird. Wir müssen versuchen, über die vorgegebenen Formate
     hinauszuschauen, um das Bild der Kunstgeschichte und des Abs-
     trakten Expressionismus in diesen speziellen Fällen zu ergänzen.
                                                                                   versuchen, über die
     Ich beobachte nur allzu gern, wie die einstmals marginalisierten
     Geschichten – und sei es auch nur ganz sanft – an den gegebenen
                                                                                   vorgegebenen Formate
     Kanons rütteln können. Geschichte ist nie ein Bericht, nie linear.
     Wir konstruieren sie ständig.                                                 hinaus­zuschauen. »
10
Hintergrund

                                                                                       Paul Klee, Ohne Titel,
                                                                                       1939 (Vorderseite),
                                                                                       Kleisterfarbe und Bleistift
                                                                                       auf Papier, 20,4 × 29,5 cm
                                                                                       Privatbesitz, Frankreich,
                                                                                       © Zentrum Paul Klee, Bern,
                                                                                       Bildarchiv

Paul Klee, Gärtnerei
b. München, 1910, 20, Feder
auf Papier auf Karton,
11,8 × 28,8 cm, © Zentrum
Paul Klee, Bern, Bildarchiv

                                        Neuentdeckungen im
                                         Werk von Paul Klee

Das Schaffen von Paul Klee (1879—1940) mit       Abbildung dokumentiert und lassen somit               nach der Ausstellung erworben wurde – mög-
fast 10 000 Werken ist gut dokumentiert. Wer     einen fast lückenlosen Überblick über die ver-        licherweise direkt bei Paul Klee – und sich seit-
einen Blick in das Archiv und die Bibliothek     schiedenen Werkphasen und die stilistische            her in einer Berner Familie befand.
des Zentrum Paul Klee wirft, wird sich beein­    Entwicklung des Künstlers zu.                              Bei einem anderen Beispiel handelt es sich
druckt fragen, was es überhaupt noch zu               Trotzdem hofft die Klee-Forschung, die           um ein einfarbiges Werk, beidseitig mit einer
entdecken gibt. Im neunbändigen Werkver­         Lücken zumindest teilweise noch füllen zu             Darstellung aus der Spätzeit von Klee. Es
zeichnis findet sich aber hin und wieder         können, und die bisherigen Neuentdeckungen            stammt nachweislich aus dem Besitz von Petra
eine Lücke, ein fehlendes Mosaiksteinchen.       bestärken uns in dieser Hinsicht. In den letz-        Petitpierre, einer Schülerin Klees am Bauhaus
                                                 ten 15 Jahren kamen immerhin 82 Werke zum             in Dessau und der Kunstakademie in Düssel-
Das umfassende Wissen über Klees Werk ver-       Vorschein, die eindeutig einem registrierten          dorf. Petra Petitpierre lebte seit 1934 in Mur-
danken wir nicht allein einer intensiven         Werk in Klees Œuvre-Katalog zugeschrieben             ten und Paul und Lily Klee besuchten sie 1939
Forschungsarbeit nach dem Tod des Künstlers,     werden konnten. Durch Besitzwechsel oder              mehrmals während eines knapp zwei Monate
sondern auch Klee selbst, der mit seinem hand-   Auflösung einer Privatsammlung kommen                 dauernden Aufenthalts in Faoug am Murtensee.
schriftlichen Œuvre-Katalog bereits zu Leb-      immer wieder unerwartet Arbeiten ans Licht,           Vermutlich schenkte Klee seiner ehemaligen
zeiten eine Werkübersicht geschaffen hat. In     die man bereits als verschollen oder als im           Schülerin spontan die frisch entstandene Zeich-
akribischer Weise listete er seine Werke auf     2. Weltkrieg zerstört glaubte.                        nung, was erklären würde, weshalb sich kein
und versah sie mit Nummern und Titeln. So             Zu diesen erfreulichen Entdeckungen ge-          passender Eintrag in seinem Œuvre-Katalog
haben wir auch Kenntnis von Werken, die bis      hört die Federzeichnung Gärtnerei b. München          finden lässt. Petra Petitpierre musste die Zeich-
heute unbekannt sind – wir wissen nichts über    von 1910, die uns im Herbst des vergangenen           nung später aus finanziellen Gründen ver-
deren Verbleib und Aussehen.                     Jahres zur Expertise vorgelegt wurde. Klee ver-       äussern. 2017 tauchte das Blatt in französischem
     Als die mehrjährige Arbeit am Werkver-      zeichnete sie in seinem handschriftlichen Œu-         Privatbesitz auf und wurde im Zentrum Paul
zeichnis mit der Publikation der neun Bände      vre-Katalog als Nr. 20 des Jahres 1910 mit dem        Klee expertisiert. b Eva Wiederkehr Sladeczek
des Catalogue raisonné im Herbst 2004, ein       Titel Gärtnerei Bauer mit der Bäumchenreihe,          ist Leiterin Archiv und Dokumentation des
halbes Jahr vor Eröffnung des Zentrum Paul       als Technik notierte er Feder auf Ingres. Dieses      Zentrum Paul Klee.
Klee, abgeschlossen war, gab es unter den        Werk wurde im Rahmen einer Wanderaus-
8927 Werken, die Klee in seinem Œuvre-Kata-      stellung in Bern, Zürich, Winterthur und Basel
log verzeichnet hatte, noch 480 unbekannte       von August 1910 bis Ende Januar 1911 aus-
Werke. Mit andern Worten : Rund 95 % des         gestellt. Danach ist es nicht mehr an die
Gesamtwerks sind zumindest in Form einer         Öffentlichkeit gelangt. Vermutlich, weil es kurz

                                                                                                                                                    11
Jubiläum

                           Das Zufallende ist mehr als nur
                                 ein schöner Zufall

Der Berner Künstler Aljoscha Ségard feiert in     Glaskästen, andererseits grossformatige Kohle-      dies auf den Punkt ; der Punkt ist jedoch wie-
diesem Jahr seinen 80. Geburtstag. Ségard         zeichnungen. So verschieden die beiden Werk-        derum voller Offenheit :
ist der Enkel von Paul Klee. Mit Leihgaben und    stränge auf den ersten Blick auch sein mögen,
seiner Unterstützung hat er mit dazu bei­         so sehr sind sie die Essenz eines langjährigen                  « BUCHSTABEN
getragen, dass 2005 das Zentrum Paul Klee         Schaffens und Suchens. In den Kästen lässt                      AUF EIN BLATT GEWORFEN
eröffnet werden konnte. Ségards eigen­            der Künstler kleine Dinge zusammenkommen,                       IM SCHWINDENDEN LICHT
ständigem Werk ist zum Jubiläum eine Aus­         die ihm im Alltag aufgefallen sind. Zettelchen                  EIN LETZTES GEDICHT. »
stellung gewidmet.                                können das sein, Relikte, die es an einen
                                                  Strand geschwemmt hat, oder einfach Farb-           Dies Haiku-artige ist der Kern von Ségards
Paul Klee starb 1940. Im selben Jahr wurde        stiftstummel. So entstehen, nur scheinbar           Werk. Nicht zufällig. Denn die japanische
Alexander Klee in Sofia geboren. 1948 kam er      beiläufig, poetische Reliquienkästchen voller       Tradition ist für den Klee-Enkel ebenso wich-
in die Schweiz. Damals war der Name Klee          Assoziationen, die manchmal durch beigefügte        tig wie die europäische. Nach Japan kehrt
noch wenigen ein Begriff. Alexander Klee          Wörter noch erweitert werden. Dabei bleibt          er immer wieder für längere Zeit zurück. b
machte eine Lehre als Fotograf, später arbeite-   immer ein Geheimnis, das den Reiz der Dinge         Konrad Tobler ist freier Autor, Kulturjournalist,
te er als Pressefotograf und Buchhändler. Er      erhöht.                                             Kunst- und Architekturkritiker.
machte sich 1976 als freischaffender Künstler           Das Geheimnisvolle prägt auch die
selbstständig – unter dem Künstlernamen           Kohlezeichnungen. Zu sehen sind sehr rhyth-         In der Edition Till Schaap erscheint
Aljoscha Ségard. Das gab ihm mehr Freiheiten,     misch gesetzte Linien, die sich zu Figuratio-       aus Anlass der Ausstellung eine reich
sein eigenes Werk zu entfalten. Mit seinem        nen verdichten, teils zu tief schwarzen Flä-        illustrierte Publikation mit Texten von
Grossvater verbinden ihn künstlerisch min-        chen, teils zu schriftähnlichen Erzählungen,        Fabienne Eggelhöfer und Konrad Tobler.
destens drei Eigenschaften, allerdings in ganz    die nicht in Worte zu fassen sind, zumal auch
eigener ästhetischer Ausprägung : das Hinter-     Leerflächen eine wichtige Rolle spielen.            Zentrum Paul Klee
sinnige, das Witzig-Poetische und die Freude            So fallen Ségard die Dinge zu – als Bilder.   Aljoscha Ségard
am Zusammenspiel von Bild und Wort.               Aber dieses Zufallen ist kein Zufall. Denn nur      28.06.—23.08.2020
     Seit einigen Jahren arbeitet Ségard vor      wer das Auge und den Sinn dafür hat, sieht,
                                                                                                      Aljoscha Ségard in
allem an zwei Werkgruppen. Da sind einer-         was die Dinge, die da zufallen, besagen könn-       seinem Atelier.
seits Ding-Assemblagen in kleinen schwarzen       ten. In einem kleinen Text bringt der Künstler      Foto : Monika Flückiger

12
Fruchtland                                                                   Digital

                     Lob                                                                     Paul Klee
                  der Vielfalt                                                                 4.0

Kunst, Kultur, Natur: Die Verbindung und die gegenseitige Beein­       Die Chance erkannt, ergriffen und zugepackt, könnte man sagen.
flussung dieser drei Bereiche wird im Rahmen von FRUCHTLAND            Das Zentrum Paul Klee wird sein erstes Digitorial zur Ausstellung
im Zentrum Paul Klee seit 2015 untersucht, genutzt und in ganz         Mapping Klee umsetzen. Wie wollen wir die Geschichte von Paul
unterschiedlichen Projekten umgesetzt. 2020 liegt der Fokus auf        Klees Reisen erzählen ? Wie viel Interaktion braucht es, um den
der Artenvielfalt. Mit einer Obstbaumgilde erhält das Zentrum          Nutzern ein spannendes, aber nicht überladenes (Reise-)Erlebnis
Paul Klee seine eigene Permakultur.                                    zu verschaffen ? Diesen Fragen stellt sich unser Team.

Schritt für Schritt wird im und vor allem um das Zentrum Paul Klee     Ein Digitorial ist Teamwork. Ein Digitorial dient der Kunstvermittlung,
im Rahmen von FRUCHTLAND die Biodiversität gefördert und               ersetzt aber keine Führung, geschweige denn den physischen Besuch
durch verschiedenste Massnahmen gesteigert. Dies geschieht in der      der Ausstellung. Es ist ein Marketinginstrument, ohne dem Plakat die
Überzeugung, dass Biodiversität ein wichtiger Teil einer nachhaltig-   Schau zu stehlen oder Ersatz für den Webauftritt sein zu wollen. Ein
ökologischen Bewirtschaftung von Natur und Landschaft ist. Mit         Digitorial ist ein Onepager, eine Microsite. Eine kurze Einführung in die
Kopfsteinpflaster mit Sand, Trockenmauern, Böschungsabbrüchen,         Ausstellung, die vor deren Besuch und für jeden zugänglich sein soll. Es
Steinhaufen und Totholz, der Verwendung von Natursand anstelle         liefert Hintergrundinformationen und Kontext zu den Werken, zur
von Kies, Brachflächen, auf denen die Pflanzen stehen bleiben, sowie   Epoche, den Künstlerinnen und Künstlern. Bestenfalls ist ein Digitorial
sandigen oder begrünten Bewirtschaftungswegen werden arten-            so informativ, dass Nutzerinnen und Nutzer bei ihrem Besuch nur noch
reiche Biotope geschaffen, die allerhand Tieren und Pflanzen eine      durch die Ausstellung flanieren und die Werke geniessen können.
Lebensgrundlage bieten. Zudem wurden im Umland des Zentrum
Paul Klee spezifische Pflanzen als Nahrung für Schmetterlingsraupen                                Digitale Zukunft
sowie Bienen- und Schmetterlingsweiden angelegt. Von den Mass-         Vorgemacht haben es das Städel Museum, die Liebieghaus Skulpturen-
nahmen profitieren Wildbienen und die einheimischen Dunklen            sammlung und die Schirn Kunsthalle Frankfurt. Das Digitorial® ist eine
Bienen des Zentrum Paul Klee, Schmetterlinge und weitere Insekten      Marke und wurde als digitales Vermittlungsangebot von den drei
und damit das ganze Ökosystem – also auch wir Menschen.                Frankfurter Häusern konzipiert und vielfach realisiert. Für das Zent-
     2020 entsteht in Kooperation mit Tobias Messmer von der           rum Paul Klee ist dies das erste Angebot in dieser Art. 2018 haben wir
Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften           uns in einem Open Call für Digitorials unter dem Motto « Museen und
HAFL der Berner Fachhochschule in Zollikofen eine sogenannte           die digitale Zukunft » beworben. Nach einem erfolgreichen Pitch vor
Baumgilde rund um einen Obstbaum auf dem Areal des Zentrum Paul        einem Jahr bekamen wir den Zuschlag. Das Projekt wird von maze
Klee. Eine Baumgilde ist eine Permakultur – eine dauerhafte Land-      pictures swiss in Kooperation mit den oben genannten Museen durch-
wirtschaft. Die Permakultur zielt auf ein gesundes, standort-          geführt und von Engagement Migros, dem Förderfonds der Migros-
angepasstes und ressourceneffizientes Ökosystem ab. Mit alten und      Gruppe, unterstützt. Nun gehen wir gemeinsam einen wichtigen
neuen Anbaumethoden aus der ganzen Welt entstehen meist klein-         Schritt in Richtung digitale Zukunft.
räumige Permakulturen. Unter der Verwendung von einheimischen
und fremdländischen Wild- und Kulturpflanzen wird eine möglichst                                  Virtueller Zugang
hohe Vielfalt angestrebt. Dies kann eine Mischung aus Kräutern,        Museen sammeln, bewahren, erforschen, zeigen und vermitteln. Sie
Beeren, Gemüse und Blumen sein. Im Idealfall handelt es sich um        sind öffentlich zugänglich, aber nicht jeder hat die Möglichkeit, sie zu
mehrjährige Pflanzen, sodass der Aufwand für den Unterhalt der         besuchen. Da oft auch nicht genug Platz zur Verfügung steht, können
Permakultur möglichst gering ist. Eine Permakultur pflegt die Natur    Museen meist nicht all ihre Schätze zeigen. Die Digitalisierung erlaubt
und Landwirtschaft genauso, wie sie die Lebensqualität steigert. Und   es mittlerweile Interessierten auf der ganzen Welt, die Sammlungen
für das Zentrum Paul Klee ist besonders interessant, dass in der Ge-   einiger Museen online anzuschauen. Sind diese auch noch ansprechend
staltung zugleich Wert auf Ästhetik gelegt wird.                       kuratiert, erlauben sie ein virtuelles Flanieren. Für uns heisst dies, dass
     Bei der Baumgilde entsteht die Permakultur rund um einen          wir uns nach verschiedenen Workshops nun an die Überarbeitung des
Baum. Die verschiedenen angelegten Pflanzen unterstützen den           Konzepts für das Storytelling des Digitorials Mapping Klee machen.
Baum und fördern sein Wachstum. Auf dem Areal des Zentrum Paul         Das Projekt geht in die Umsetzungsphase, die Komponenten und das
Klee wird die Baumgilde rund 30 m² Fläche unter einem Obstbaum         Design werden bestimmt, um die Nutzer auf eine spannende Reise mit
einnehmen. Eventuell wird Tobias Messmer – ganz im Sinne von           Paul Klee mitzunehmen. b Maria Horst ist Verantwortliche Digitale
FRUCHTLAND – gar eine Brücke zwischen Natur und Kunst schla-           Kommunikation.
gen und sich bei der Bepflanzung von Werken von Paul Klee in-
spirieren lassen. b Dominik Imhof ist Leiter Kunstvermittlung.         Zentrum Paul Klee
                                                                       Digitorial Mapping Klee
Zentrum Paul Klee                                                      Ab dem 30. April 2020 mit dem Digitorial zur Ausstellung
FRUCHTLAND Natur Kultur Agrikultur                                     spannende Einblicke in Paul Klees Reisen erhalten :
Saisonstart mit den Agri-Kultur-Tagen ab Mai 2020                      www.zpk.org/digitorialmappingklee

                                                                                                                                              13
Gravity and Grace, 2010 (Ausschnitt)
                                    Aluminium, Kupferdraht
     482 × 1120 cm, Collection of the artist, Nsukka, Nigeria, © El Anatsui. Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York

14
Fokus

     EL
   ANATSUI

  DIE ERSTE
RETRO­SPEKTIVE
    IN DER
   SCHWEIZ
    Kunstmuseum Bern
     13.03.–21.06.2020
                         15
Fokus

Kein grösseres Kunstmuseum in der Schweiz
hat bisher einer westafrikanischen Künstlerin
oder einem westafrikanischen Künstler eine
Einzel­ausstellung gewidmet. Umso erfreulicher
ist es für das Kunstmuseum Bern, die umfang­
reiche Retrospektive El Anatsui . Triumphant
Scale (konzipiert und organisiert vom Haus der
Kunst München) nach Bern zu holen und den
ehr­würdigen Stettlerbau an der Hodlerstrasse in
neue Dialoge mit grossformatigen Reliefs und
Skulpturen zu bringen.

Vom berühmten ghanaischen Künstler El Anatsui (*1944, Anyako,          wollte Enwezor seit langem ein Buch über den künstlerischen Werde-
Ghana) wurden zwar schon verschiedentlich Arbeiten in der Schweiz      gang El Anatsuis schreiben. Als er dann 2011 als Direktor ans Haus der
gezeigt – unvergessen sind seine monumentalen Metallgewebe an der      Kunst nach München kam, rückte auch eine Ausstellung in greifbare
Art Unlimited 2016 in Basel. Doch noch nie präsentierte eine Werk-     Nähe, die schliesslich knapp vor seinem Tod im Frühling 2019 zu-
schau in solchem Umfang Anatsuis lebenslanges Forschen über inno-      stande kam.
vative skulpturale Formen in verschiedensten Materialien und sogar          Okeke-Agulu besuchte uns im Januar, um die provisorische Plat-
Medien. Papier, Holz, Metall und Keramik sind seine Werkstoffe. Ana-   zierung der Werke, die ich für die Ausstellung im Kunstmuseum Bern
loge und digitale Verfahren, der Griff zu neuen und gebrauchten        vorgenommen hatte, zu begutachten. Er freute sich über die dritte
Materialien, kollektive und individuelle Vorgehensweisen bilden die    Station, die nochmals eine andere räumliche Rahmung bietet als die
Palette seiner künstlerischen Strategien. Dabei steht stets sein Be-   faschistische Architektur in München oder das umgestaltete ehemalige
streben im Mittelpunkt, nicht nur vorrangig mit denjenigen Materia-    Schulhaus von MATHAF (Arabisches Museum für Moderne Kunst) in
lien zu arbeiten, welche die Umgebung selbst hergibt, sondern auch     Doha (Katar). Unser Stettlerbau wurde 1878 in einer Zeit erbaut, in
eine skulpturale Form zu (er-)finden, die definiert und doch ver-      welcher der Kolonialismus in vollem Schwung war. Es war einige Jahre
änderbar bleibt. Gerade im Feld der zeitgenössischen Skulptur, in      vor der berühmten « Kongokonferenz » in Berlin (15. November 1884
dem zurzeit so viel Überraschendes zu entdecken ist, erscheint das     bis 26. Februar 1885), während der auf Einladung des deutschen
Werk des 76-Jährigen von beeindruckender Frische und beharrlicher      Reichskanzlers Bismarck der afrikanische Kontinent unter den
Innovationskraft.                                                      Kolonialmächten aufgeteilt wurde. Ungeachtet von ethnischen oder
     Der ghanaische Künstler ist eine Ausnahmeerscheinung in jeder     kulturellen Territorien wurden dabei zum Teil mit dem Lineal nur im
Hinsicht. Die Länge und der Umfang seiner Karriere sind genauso er-    Hinblick auf europäische Wirtschaftsinteressen Grenzen neu gezogen.
staunlich wie der Umstand, dass er in der postkolonialen Umbruchzeit   Das Museumsgebäude an der Hodlerstrasse erlaubt eine quasi physi-
in Ghana seine künstlerischen Vorprägungen abschütteln konnte, um      sche Verbindung zu jener historischen Phase in Europa, die nicht nur
zu einem genuin eigenen, zeitgenössischen Schaffen zu gelangen, das    für einen verschärften Kolonialismus in Afrika steht, sondern auch für
den Klischees über « afrikanische Kunst » widerspricht und den Blick   den Anfang seines Niedergangs.
konsequent auf das Gegenwartsbezogene lenkt.                                Dies ist nur eine der Verbindungen zu den (post-)kolonialen
     Das Kuratorenteam – bestehend aus Okwui Enwezor und Chika         Wurzeln afrikanischer Gegenwartskunst, denen auch im Rahmen-
Okeke-Agulu – hat dafür gesorgt, dass die umfangreiche Werkschau       programm nachgegangen wird. Zwar besass die Schweiz selbst nie
von München ausgehend um die ganze Welt tourt. Dass es gleichzeitig    Kolonien, doch gab es vielfältige Handels- und Forschungsbeziehungen
die letzte Ausstellung des nigerianischen Ausnahmekurators Okwui       zwischen der Schweiz und den Kolonialmächten. Allerdings kommt
Enwezor wurde, verleiht dem Vorhaben zusätzlich Bedeutung. Zu-         ihre historische Aufarbeitung – wie etwa der Film African Mirror (2019,
sammen mit Chika Okeke-Agulu, der selbst Künstler ist und zudem in     Mischa Hedinger) über René Gardi kürzlich zeigte – erst langsam im
Princeton, USA, afrikanische Archäologie und Kunstgeschichte lehrt,    öffentlichen Bewusstsein an.

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Tiled Flower Garden, 2012
 Aluminium, Kupferdraht
Masse variabel, Collection of the artist, Nsukka, Nigeria

                                                            17
Omen, 1978
                            Keramik, Mangan
     39 × 42 cm, Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York, © El Anatsui

18
El Anatsui

« Der Künstler entfesselt ein Fest der Farben,
Texturen und Glanzlichter in unserem selbst an
Schmuck nicht armen Stettlerbau. Es ist sofort
einsichtig, weshalb seine Kunst auch Menschen
anspricht, die sonst nichts mit Gegenwarts­kunst
am Hut haben. »

El Anatsuis Kunst beginnt sich in den 1960er-Jahren parallel zur schritt-   bezaubern, beeindrucken, verlocken und faszinieren. Sie führen zualler-
weisen Befreiung der afrikanischen Länder von ihren kolonialen Regie-       erst die poetische und ästhetische Macht der Kunst vor Augen, bevor sie
rungen zu entwickeln. Zentral war für ihn damals die Frage, was nach        in anspielungsreichen Titeln auf Geschichte, Philosophie und Politik
diesen Jahrzehnten der Abspaltung von der eigenen Kultur « afrikani-        verweisen wie etwa Kammern der Erinnerung, Einladung zur Geschichte,
sche Gegenwartskunst » sein könnte ? Was wollte er – schon 1975 als         Auf ihrer schicksalhaften Reise ins Nirgendwo oder Schwerkraft und Anmut.
Lehrer an die Fakultät für Schöne und Angewandte Künste der Uni-            Anatsuis Kunst richtet den Blick in undogmatischer Weise auf universell
versität von Nigeria in Nsukka berufen – aus den handwerklichen Tra-        menschliche Erfahrungen wie den Umgang mit Geschichte oder Er-
ditionen und verschiedenen kulturellen Auffassungen schöpfen ? Dieser       innerung – und auf die Frage nach der Orientierung in einer zunehmend
Anfangsimpuls war wichtig, doch zeigt sein umfangreiches und faszinie-      komplexen Welt.
rendes Werk, dass er sich längst auch weiteren Themen wie dem Um-                Für Chika Okeke-Agulu liegt genau darin die Herausforderung in
gang mit Geschichte und natürlichen Ressourcen oder formalen An-            der Präsentation und Vermittlung der Ausstellung. « Das Afrikanische »
liegen zugewendet hat.                                                      in Anatsuis Kunst sollte von sekundärer Bedeutung sein. Mir fällt eine
      Bei seinem Arbeitsbesuch im Januar nahm Chika Okeke-Agulu nur         Szene bei der Pressekonferenz im Haus der Kunst in München ein, als
wenige Änderungen in der Platzierung der Werke vor. Der Fokus der           Journalisten daran zweifelten, dass sie Anatsuis Kunst verstehen könn-
Ausstellung ist ganz auf die formale Entwicklung und die künstlerischen     ten, ohne Afrikaner zu sein. Für Okeke-Agulu, der 1993 zusammen mit
Strategien von El Anatsui gerichtet. Die Metallgewebe oder bottle cap-      Okwui Enwezor die Kunstzeitschrift NKA für afrikanische Gegenwarts-
Arbeiten, für die der Künstler bekannt geworden ist, sind eine logisti-     kunst gegründet hat, ist die hiesige Neigung unverständlich, auf afrika-
sche Herausforderung. Ihre «triumphale» Grösse – Formate von 5 mal          nische Traditionen und Bräuche zurückzuverweisen, wenn von zeit-
10 Metern sind keine Seltenheit – ist das eigentliche Thema und bringt      genössischer afrikanischer Kunst die Rede ist. Er wünscht sich, dass es
auch unser Gebäude an seine Kapazitätsgrenzen. Die Werke verkörpern         eine Selbstverständlichkeit wird, afrikanische Gegenwartskunst zu be-
Gegensätzliches und bringen herkömmliche disziplinarische Kategorien        trachten (und zu zeigen), genauso wie asiatische, arabische oder euro-
ins Wanken : Sie stammen aus steifem Metall und fallen zugleich weich       päische. Schliesslich sei die Frage, was ein Werk zeitgenössisch macht,
wie gewobene Stoffe, sie beanspruchen auf fast aggressive Weise Raum        viel wichtiger als die Frage, welche Sprache jemand zuhause spricht.
und sind doch filigran wie ein Papierschnitt. Sie erinnern an kostbare      Antworten kann man vom 13. März bis 21. Juni täglich im Kunstmuseum
Textilien und wirken letztlich wie monumentale Architektur.                 Bern finden. b Kathleen Bühler ist die Kuratorin der Ausstellung.
      Innerhalb der Gegenwartskunst entfalten Anatsuis Metallreliefs
dieselbe immersive Wirkung wie eine raumumspannende Video-                  Kunstmuseum Bern
installation. Der Künstler entfesselt ein Fest der Farben, Texturen und     El Anatsui. Triumphant Scale
Glanzlichter in unserem selbst an Schmuck nicht armen Stettlerbau. Es       13.03.—21.06.2020
                                                                                                                              Seite 15: El Anatsui,
ist sofort einsichtig, weshalb seine Kunst auch Menschen anspricht, die     Eröffnung: Donnerstag, 12. März 2020              Haus der Kunst, 2019,
sonst nichts mit Gegenwartskunst am Hut haben. Anatsuis Werke               18.30 Uhr                                         Foto: Maximilian Geuter

                                                                                                                                                        19
Ausstellung

             Auf den Spuren
             eines Reisenden
Im Sommer 2020 drehen sich gleich zwei Ausstellungen
im Zentrum Paul Klee um das Thema Reisen – die
Klee-Ausstellung Mapping Klee sowie parallel dazu die
Ausstellung Aufbruch ohne Ziel. Annemarie Schwarzenbach
als Fotografin. Wozu reist der Mensch, und insbesondere
die Künstlerin oder der Künstler ? Welchen Reiz und
welches Erkenntnispotenzial verspricht die Begegnung
mit dem Unbekannten ? Die Ausstellung Mapping Klee
zeichnet anhand von Klees Reisen seine künstlerische
Laufbahn nach. Und zeigt auf, wie sich Klee von der
Fremde inspirieren liess.

Zentrum Paul Klee                             Paul Klee und Hermann

21.05.– 04.10.2020
                                              Haller in Rom, Zentrum
                                              Paul Klee, Bern, Schenkung
                                              Familie Klee

20
Mapping Klee

                                                                                                                             Paul Klee, Côte de
                                                                                                                             Provence 1, 1927, 229,
                                                                                                                             Aquarell auf Papier auf
                                                                                                                             Karton, 23,2 × 30,6 cm
                                                                                                                             Zentrum Paul Klee, Bern

Paul Klee liebte das Reisen. Er reiste zur Er-    Künstlers örtlich, geografisch und kulturell zu   Die Ausstellung wird durch einen dokumenta-
holung von seiner Tätigkeit als Bauhauslehrer     verorten – und den Besucherinnen und Be-          rischen Teil erweitert, in dem anhand exemp-
– aber auch zur Inspiration, zur künstlerischen   suchern anhand des zentralen Motivs der           larischer Fallstudien die « Reisen » der Bilder
Bildung, zur Selbstfindung und zur Ver-           Reise einen Gesamtüberblick über Leben und        Klees nach seinem Tod nachgezeichnet wer-
netzung mit anderen Künstlern und Galeris-        Werk Paul Klees zu vermitteln.                    den. Eine Station wird sich beispielsweise der
ten. Abgesehen von einzelnen Städtereisen               Wie in einem Atlas macht die Ausstellung    wichtigsten deutschen Klee-Sammlung in der
nach Paris oder Berlin führte ihn das Fernweh     sichtbar, welche Themen Klee an seinen unter-     Kunstsammlung NRW in Düsseldorf widmen,
jedoch zumeist ins milde Klima Südeuropas :       schiedlichen Lebensstationen beschäftigt          die in den 1970er- und 1980er-Jahren in einer
nach Südfrankreich und Italien sowie nach         haben – so beispielsweise die Auseinander-        beispiellosen Welttournee global ausgestellt
Nordafrika.                                       setzung mit den Ordnungs- und Gestaltungs-        wurde und für Deutschland von grosser
      Klee war kein klassischer Landschafts-      prinzipien der Architektur auf seiner frühen      kulturpolitischer Bedeutung ist. In einer wei-
maler, der sich für eine unmittelbare Dar-        Italienreise (1901–1902) oder die Faszination     teren Station wird die 2019 durchgeführte
stellung der Natur interessiert hätte und auf     für geheimnisvolle Schriftzeichen und Hiero-      Klee-Ausstellung in Brasilien dokumentiert,
Reisen landschaftliche Motive suchte. Zwar        glyphen während seines Ägyptenaufenthalts         wobei auch ein neu produzierter Film zu
fertigte Klee vor Ort häufig Skizzen oder         (1928–1929). Die unterschiedlichen Statio-        sehen sein wird, in dem die Besucherinnen
Aquarelle an, doch die Bedeutung von Klees        nen der Ausstellung beinhalten neben Werken       und Besucher der Ausstellung ihre Begegnung
Reisen für sein Werk geht weit über die vor       aus der Sammlung auch zahlreiche Fotos,           mit dem Werk Paul Klees reflektieren.
Ort entstandenen Werke hinaus. Klee liess         Filmaufnahmen und Ansichtskarten.                       Im Rahmen von Mapping Klee veröffent-
sich unterwegs von der Intuition leiten und             Wie viele Künstler der Moderne suchte       licht das Zentrum Paul Klee auch sein erstes
beobachtete Natur, Architektur und Men-           Klee auf Reisen die Begegnung mit dem Exoti-      «Digitorial» zum Ausstellungsthema. Digitori-
schen sehr genau. Er machte Entdeckungen,         schen, Fremdartigen und Archetypischen als        als sind ein neuartiges digitales Vermittlungs-
die er in seinen Tagebüchern und Briefen be-      Gegenwelt zum Bekannten. Klee zeichnete           angebot, das Bild, Ton und Text verbindet und
schrieb, und nahm vielfältige Impulse auf.        sich jedoch besonders dadurch aus, wie er das     Ausstellungsinhalte online zugänglich macht.
Diese verarbeitete er häufig erst später künst-   Gesehene in seinem Werk verarbeitete. Auf         b Martin Waldmeier ist der Kurator der Aus-
lerisch, oft in abstrahierter Form, aufs          seinen Reisen griff er Formen und Strukturen,     stellung.
Wesentliche reduziert.                            Beobachtungen und Erlebnisse, Phänomene
      Unter dem Titel Mapping Klee zeigt das      von Flora und Fauna, architektonische und
Zentrum Paul Klee im Sommer eine Klee-­           kulturhistorische Monumente auf und liess
Ausstellung, die anhand von Klees Reisen          sie in seinen künstlerischen Kosmos ein-          Zentrum Paul Klee
sowie Lebens- und Wirkungsorten seine             fliessen – jedoch zumeist in einer Art und        Mapping Klee
künstlerische Biografie nachzeichnet. Der Be-     Weise, die sich vom konkreten Ort oder Phä-       21.05.—04.10.2020
griff Mapping (engl. für kartografieren oder      nomen löst, sich verselbständigt und uni-         Eröffnung: Mittwoch, 20. Mai 2020
verorten) steht für die Idee, das Werk des        versellen Charakter erhält.                       18 Uhr

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