Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe Kunstwissenschaft & Medientheorie Seminar mit Exkursion dOCUMENTA (13) -Kritik Heft 1/4
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Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe Kunstwissenschaft & Medientheorie Seminar mit Exkursion dOCUMENTA (13)–Kritik Heft 1/4
Impressum Inhaltsverzeichnis Diese Publikation entstand im Rahmen des Seminars 04........................ Mut zur Kunstkritik! Ein Geleitwort von Sebastian Baden dOCUMENTA (13)–Kritik Sebastian Baden 06........................ Die gute Fee. Warum die dOCUMENTA (13) Künstlerträume erfüllt, unter der Leitung von Sebastian Baden aber die Welt nicht retten kann. im Seminar das Fachbereichs Kunstwissenschaft & Medientheorie der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe Hendrik Bündge 11........................ Die dOCUMENTA (13) – vielleicht eine gute Ausstellung... Sommersemester 2012 Hannah Cooke 13........................ dOCUMENTA (13) und Kassel - Ein siamesischer Zwilling Unter Mitarbeit von Lotte Efnger Hendrik Bündge 16........................ Alles ist wichtig Hannah Cooke Lotte Efnger Julia Emmler Julia Emmler 18........................ B R A I NS – Ein Ausstellungsrückblick nach einem zweitägigen Mira Hirtz Besuch der dOCUMENTA (13) Hanne König Isabel Mehl Seraphine Meya 21........................ Isabel Mehl Judith Milz Alles bleibt Geheimnis Daniel Neumann Grazyna Roguski 25........................ Seraphine Meya Michael Schäble Summer of Love 2012 Silke Weber 28........................ Judith Milz dOCUMENTA (13) - an x-ray of a moment in history 32........................ Daniel Neumann v (document...) Grasche Gestaltung Cover und Satz: Lotte Efnger, Hanne König (Heft 1/2), Mira Hirtz (Heft 2/4), Silke Weber (Heft 3/4) und Hanne König (Heft 4/4) 36........................ Grazyna Roguski EIN DUNKLER RAUM – dOCUMENTA (13) erfahren Heft 1/4, Kunstkritik 39........................ Michael Schäble Heft 2/4, Interviews Der seltsame Fall des Ryan Gander Heft 3/4, Interviews Heft 4/4, Interviews Heft 2: Mira Hirtz Auage Heft 3: Silke Weber © die Autorinnen und Autoren und Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (Hg.) Heft 4: Hanne König
Mut zur Kunstkritik! Ein Geleitwort Eine Ausstellung vom Kaliber der documenta ist ohne Konkurrenz. Wie kann man – oder darf man – über diese Ausstellung eine Kunstkritik verfassen? Muss sie nicht voll des Lobes sein und Kuratorenpanegyrik betreiben? Positives Feedback ist immer gerne gesehen. Oder ist es akzeptierbar, wenn man ehrlich bleibt, etwas herummäkelt, manches befür- wortet und im Fazit eine eigene Meinung hat, vielleicht noch etwas Selbstkritik beimischt? Welche Kritik ist anspruchsvoll und bleibt nicht bei einer deskriptiven Zuschauerführung? Und warum kann man sich dem nicht entziehen – und die documenta ignorieren? Ein Kritik- Boykott, weil es nichts mehr hinzuzufügen gibt? Dreizehn Studierende des Seminars „dOCUMENTA (13)-Kritik“ waren drei Tage in Kassel, um sich die aktuelle Ausstellung anzuschauen. Alles haben wir trotzdem noch nicht gese- hen und das Begleitprogramm kann ohnehin nur von lokalen Dauergästen genutzt werden. Die Theorie bleibt wie immer in der Ferne. Trotzdem wollen wir etwas dazu beitragen, ganz freiwillig und ungefragt. Ja, die Studierenden sollen sogar etwas sagen dürfen, obwohl sie noch nicht befugt erscheinen. Zumindest erschien uns dies so, denn das dOCUMENTA (13)-Büro hat unsere journalistischen Ak- kreditierungswünsche nicht ernst genommen. Sind also Studierende noch kritikunmündig? Davon wollten wir uns überzeugen und haben ein Semester lang den Blick auf die Metae- bene gehoben und verfolgt, wie sich die Kritik anhand dieser Ausstellung über die Jahre entwickeln kann. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist der Wille zum Berufsrisiko, wie in jeder Branche. Ein Urteil muss gefällt werden, in jedem Fall. Doch ob der ästhetische Rich- terspruch gelingt oder akzeptiert wird, das bleibt dem Leser überlassen. So haben sich also die Studierenden engagiert und gegenseitig über die Schulter ge- schaut. Was dabei herausgekommen ist, steht in diesem und weiteren Notizbüchern zu lesen. Es ist vom äußeren Erscheinungsbild ein Heft, wie es in jüngster Zeit rund hundert ähnliche gegeben hat. Im handlichen Format, kommensurabel und kompakt geschaffen, für die otte Lektüre zwischendurch. Und trotzdem intellektuelles Slowfood. So erschienen im Vorfeld der aktuellen dOCUMENTA (13) die Hefte der Reihe 100 Notes – 100 Thoughts / 100 Notizen – 100 Gedanken, die in Zusammen-arbeit mit dem Hatje-Cantz Verlag heraus- gegeben wurde. Laut Pressemitteilung sei dieses „Notizbuch-Projekt [...] eine Reexion über den Stand der Kunstgeschichte. [...] Ein Aufruf, die Analyse zugunsten einer skeptischen Spekulation zu unterbrechen.“ Da Analyse und Spekulation oft miteinander hergehen, hat sich das Kunstwissenschafts- Seminar dOCUMENTA (13)-Kritik die Aufgabe gestellt, diverse Formate für eine Kritik dieser Ausstellung von Weltformat zu nden. Aus studentischer Perspektive und auf dem Neuland der Kunstkritik sind hierbei von Studierenden verschiedener Fachbereiche der HfG eigen- ständig verfasste Kritiken, Interviews und Interpretationen von ausgewählten Kunstwerken der dOCUMENTA (13) in Kassel zusammengestellt worden. Somit wird aus den studentischen Arbeiten, die im Anschluss an das Seminar entstanden sind, ein weiteres Notizbuch, das die Aufforderung wörtlich versteht, die Begleithefte der Ausstellung im Souvenirformat weiterzuführen. Diese dreizehn Gedankensummen über- schneiden und ergänzen sich in ihren Perspektiven. Alle Exkursions-Teilnehmer haben die dOCUMENTA (13) in Kassel gemeinsam besucht und vor Ort über Kunstwerke diskutiert, 4
Improvisation liest (Sprechen Sie die Frau doch einfach an!) und die in der Karlsaue bend- die durch Referate vorbereitet und vorgestellt wurden. Es ist deshalb ein sicher wertvoller liche, leicht geöffnete eiserne Falltür. Vergleich, die verschiedenen Kritik-Resultate in ihrer Gesamtheit zusammenzubringen. Es sind dreizehn Meinungen, die sich in unterschiedlicher Form äußern. Sei es die gewöhn- Eine der ersten Skulpturen, die ich von Gander gesehen habe, ist die 3-teilige Skulptur The liche Form der Kunstkritik, die sich der gesamten Idee der dOCMENTA (13) und exempla- Artwork Nobody Knows (2011). Ein Rollstuhlfahrer liegt neben seinem Rollstuhl am Boden risch einigen Werken zuwendet, das Close-Reading von Schlüsselwerken der Ausstellung und vor ihm steht ein kleiner Würfel. Die liegende Person ist eine Miniatur des Künstlers oder die Transkription von Interviews, die mit beteiligten Künstlern, Publizisten, Besuchern selbst, in der Größe einer Action-Spielgur, dafür aber ziemlich detailgetreu nachgebildet, geführt wurden. sogar das “N“ des New Balance Schuhs ist deutlich erkennbar. Die studentischen Kritiken sind facettenreich und mutig, sie haben sich den großen Schuh, mit dem sie losmarschiert sind, passend gelaufen und wir freuen uns, wenn auch die Wie paradox: Ein Gehbehinderter portraitiert sich liegend wie eine Action-Figur. Der makel- Leser dafür Verständnis haben, dass die Schritte nicht über allzu bequemes Terrain führen. lose Held aus dem Comic liegt gestürzt, zerbrechlich und verwundbar am Boden. Das Kryptonit, die Schwachstelle des Helden, wird zum Thema. Dadurch wird aus dem Held Doch wo soll eine Kunstkritik ansetzen? Am Top of the Top, wo die Fallhöhe vielleicht rich- ein Anti-Held, als Betrachter beginnt man sogar, Mitleid zu verspüren. Ist es das, was der tig weh tut? Noch dazu eine Kunstkritik von Studierenden, die damit ihre zum Teil erste Künstler möchte? Wohl kaum. Ryan Gander hat bereits begonnen, mit uns seinen Schab- Auseinandersetzung mit diesem Genre überhaupt führen? Ja wo denn sonst, wenn nicht ernack zu treiben. genau hier den kritischen Finger auf die Diskurswunde legen und einmal ungläubig sein, Die Gehbehinderung ist unübersehbar, jeder muss zu ihm herabschauen, wie auch bei nach der Wahrheit fragen. Dort in Kassel, wo die Kunst von Beginn an eine Funktion hatte diesem Portrait, jedoch war es Gander selbst, der sich so darstellt. Ich erkenne in dieser zwischen den politischen und ästhetischen Fronten, dort lässt es sich am besten proben. Arbeit Stolz, Stärke und einen Hauch von geistiger Sublimität. Die Schuhe, die Kleider Die deutsche Provinz gibt das Trainingscamp für den Aufbruch in die weite Welt, wo es an als Künstler-Uniform, Gander ist stolz Künstler zu sein, Künstler in seiner vollen Bedeu- versierter Kunstkritik nicht genug geben kann. Wir verlangen nach Urteilsbildung, so wie tung, der Künstler als Gesamtkunstwerk (The Artwork Nobody Knows)– mit gebrechlichem schon Friedrich Schlegel forderte: „Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, Körper, aber starkem Intellekt Das geometrische Objekt, hier der Würfel, taucht übrigens [...] hat kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“ (zit. nach Peter Bürger: Begriff und Gren- häug in Ganders Werk auf, eine Reexion über Abstraktion und Figuration und ebenso zen der Kritik. In: Merkur 726, Heft 11/ 2009, S. 1023–1034, S. 1025). ein Verweis auf die klaren Formen künstlerischer Vorbilder, z.B. die von de Stijl. Ganders Ein Anfang muss immer gemacht werden und Mut sollte belohnt werden. Die Aufbereitung Werk umfasst Fotograen, Videoarbeiten, Skulpturen und raumgreifende Installationen. und Veröffentlichung der Kunstkritik ist eine zwangsläuge Folge des Seminars. „Den“ Gander erkennt man nicht formal an einer Handschrift, sondern auf der geistigen Vielleicht ist diese Formulierung von Kritik eine Überschreitung des kunstwissenschaftli- Ebene. Gander gehört damit einer Künstlergeneration an, bei denen das Konzept, die Idee, chen Rubikon, der eine heftige Reaktion der professionellen Kritikergemeinde erwirkt? Das das Medium dominiert. Gander beherrscht es auch, sowohl künstlerische Arbeiten ohne ist aber kaum zu erwarten. Alle Schreiberlinge arbeiten mit Buchstaben. Und in diesem Raumgebundenheit zu konzipieren, als auch speziell Werke für einen konkreten Raum zu Projekt ging es nicht um die fröhliche Wissenschaft, sondern um die Kritik am Buch der entwickeln. Durch seine Gehbehinderung hat er wohl schon früh die Konzeptkunst für sich Bücher und an der Ausstellung der Ausstellungen. entdeckt. Die geistige Arbeit wird von ihm erledigt, die Umsetzung dann durch die von ihm An der dOCUMENTA (13) kann sich messen lassen, was der Status Quo der Gegenwarts- ausgewählte Fachwerkstatt. Solch eine Vorgehensweise scheint derzeit sehr gängig und kunst sein soll. Aber verlangt nicht auch diese Meßlatte nach Überprüfung ihrer Eichung? erfolgreich zu sein, ich erinnere an Urs Fischer, Alicja Kwade und nicht zuletzt Jeff Koons, Legen wir also das persönliche Urteil als Maßstab an den Tag und richten nicht nach in- jedoch glaube ich, dass Gander, im Gegensatz zu den genannten Künstlern, aus der Not, teresselosem Wohlgefallen, sondern nach systemischen Eigenschaften der kuratierten seinem Handicap, eine Tugend gemacht hat. Ausstellung. Die Botschaft der dOCUMENTA (13) liegt in ihrem Kanon verborgen, hier werden Tendenzen Michael Schäble ausgebreitet und bestimmt, die auch Eingeweihte in ihrer Diversität überraschen. Schon in ihrer Grundkonzeption ist die Ausstellung holistisch angelegt: Der Garten, die Natur, das Politische, Zerstörung und Wiederaufbau, dabei zusammen vier Aktionsorte der Ausstel- lung auf vier Kontinenten – bios und zoon bilden bei dieser dOCUMENTA (13) globale Axi- ome, die sich facettenreich in den künstlerischen Werken der Ausstellung nden lassen. Dies alles zu kritisieren, wäre von herkulischem Aufwand – und sicher nicht nötig. Wir freuen uns deshalb über das Interesse an den Stichproben, die hier kritisch erhoben wurden und hoffen, unsere Notizen und Gedanken können einen Beitrag dazu leisten, die Aktualität und akademische Relevanz einer Ausstellung wie der documenta zu behaupten und zu bewahren. Sebastian Baden Akademischer Mitarbeiter Kunstwissenschaft & Medientheorie, HfG Karlsruhe, Seminarleitung 40 5
Die gute Fee. Der seltsame Fall des Ryan Gander Warum die dOCUMENTA (13) Künstlerträume erfüllt, Wenn es in der Kunst um Gefühl geht, dann eröffnet sich ein schwierig bespielbarer Hori- aber die Welt nicht retten kann. zont. Wie kommuniziert man Gefühl? Was kann die Kunst, was die Sprache nicht kann? Und wie bricht man das auf das Nötigste herunter? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Vielleicht wird diese dOCUMENTA (13) bald die beste genannt werden. Vielleicht wird das Engländer Ryan Gander. Jean-Christophe Ammann hat einmal in einem Interview über die daran liegen, dass diese Ausstellung an einem Mythos der Kunst festhält, der von Heilung Poesie in der Kunst gesagt, dass der Künstler beim Denken von Gegenwart das Präzise spricht. Und keine Erwartungshaltung, die sich nach einem solchen Mythos sehnt, wird diffus und das Diffuse präzise denken muss. Ryan Gander tut genau das. sich enttäuschen lassen. Darum darf die Illusion ruhig bleiben, verweile doch, du bist so schön. Inmitten des sonnengetränkten Aueparks, umgeben von natürlichen und künstlich Das scheinbar unbespielte, windige, nahezu leere Erdgeschoss des Fridericianums wirkt angelegten Panzungen streifen Sommerdüfte übers Land. Es ist wieder schönes Wetter auf den ersten Blick stümperhaft kuratiert, da der wohl bestgelegenste Raum der ganzen in Kassel und der Nieselregen hat sich verzogen. Über einen von dem Künstler Song Dong dOCUMENTA (13) einfach leer gelassen wurde. Abgesehen von ein paar Metallskulpturen vor der Orangerie und im Fluchtpunkt der barocken Gartenanlage positionierten Müllberg des verstorbenen spanischen Künstlers Julio González, einer Soundinstallation der paki- ist Gras gewachsen. Die Zeit und die Kunst, so scheint die dOCUMENTA (13) sagen zu stanischen Künstlerin Ceal Floyer, einem Dokumentarlm des palästinensischen Künstlers wollen, heilen alle Wunden. Khaled Hourani und dem in einer Vitrine präsentierten fünfseitigen Brief des deutschen Doch klaffen auch unverheilte Narben in dieser grünen Landschaft. Auf dem luftigen Gal- Künstlers Kai Althoff an die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, der seine Beteiligung an gengerüst des Amerikaners Sam Durant ist nachzulesen, wie es um die Geschichte der der dOCUMENTA (13) versagt, gibt es nicht viel zu sehen. Nur ein heftiger Windzug fegt öffentlichen Hinrichtung in den USA steht – bis zum Tod des irakischen Diktators Saddam leise Gesänge durch die Türzargen hindurch. Man muss als Betrachter gleich zu Beginn Hussein durch den Strang. Ein paar hundert Meter davon entfernt bieten Robin Kahn der Ausstellung die Sinne wechseln und Hören und Fühlen. Da hat nicht etwa jemand & La Cooperativa Unidad Nacional Mujeres Sahrauis Gespräche über das Schicksal al- das Fenster versehentlich offen gelassen, und vergessen den Raum zu kuratieren, nein, teingesessener Völker der Westsahara an, die von der ehemaligen Kolonialmacht Spanien beim Nachdenken darüber geht man Gander bereits auf den Leim. Gander hat minutiös verlassen und vom Staat Marokko schlecht behandelt wurden. Die Geschichte wiederholt eine Studie zur Geschwindigkeit der Luftströmung in diesen besagten Räumlichkeiten des sich, das ist nicht erst seit Karl Marx bekannt, doch was kann die Kunst gegen diese Farce Fridericianums erstellen lassen, so dass man den künstlich erzeugten Luftstrom nicht di- unternehmen? rekt als einen künstlich erzeugten wahrnimmt. Was hat das zu bedeuten? Der Titel dieses „Durchzugs“ lautet I Need Some Meaning I Can Memorise (The invisible Pull), und in der Man könnte der Kuratorin der Ausstellung, Carolyn Christov-Bakargiev, zunächst bestäti- Tat war dies eines der künstlerischen Werke, an das ich mich im Nachhinein noch sehr gen, dass die von ihr ohne bewusstes Konzept kuratierte Ausstellung zu einer großen stark erinnere (Oder ist es einfach nur der Aufgriff einer Textzeile des melancholischen Erzählung geworden ist. Sie hat vorbeugend zwar betont, dass die dOCUMENTA (13) von Songs “Lover I Don´t Have To Love” der amerikanischen Band Bright Eyes?). Vor allem im einer „ganzheitlichen und nicht logozentristischen Vision angetrieben“ wird, doch die große linken Eingangsbereich, bei dem im anschließenden Nachbarraum die Soundinstallation „Skepsis“ der Ausstellung gegenüber der Welt wird vor allem dann ausdrücklich und ver- Til I Get It Right (2005) von Ceal Floyer leise zu hören ist, springt der melancholische Funke ständlich, wenn man die drei großen Kataloge zur Hand nimmt. der vermutlichen Anspielung auf die Melancholie der Band Bright Eyes über, da es sich bei Schon das Begleitbuch zu einzelnen Künstlern und Werken ist kein Handschmeichler, aber dieser klangvollen Soundinstallation um eine veränderte Form des Song-Klassi-kers von seine Karten und Indices sind unentbehrliches Werkzeug auf der Schnitzeljagd nach den Tammy Wynett handelt. Die Künstlerin Ceal Floyer beschneidet den Liedtext digital auf die schier unzähligen Stationen, die in Kassel dOCUMENTA (13)-Stationen beherbergen. Alle beiden Zeilen “I´ll just keep on/ ´til I get it right”, lässt diesen Mini-Refrain im Loop erklin- drei Bücher, welche die dOCUMENTA (13) begleiten, sind in das Grün der Hoffnung ge- gen und wendet sich damit den Fragen zu, die sich Tammy Wynett mit dem Original damals bunden. Und das „Buch der Bücher“, wie sich der erste voluminöse Band nennt, enthält schon gestellt hat, nämlich der Verwundbarkeit der Seele und der stetigen Möglichkeit des neben den beiden Keynote-Texten der Kuratorinnen Carolyn Christov-Bakargiev und Chuz Scheiterns in der Liebe. Martinez sämtliche Ausgaben der in den Jahren zuvor erschienen 100 Notizen – 100 Gedanken in komprimierter Form. Auch dies ist ein fast unverzichtbares Nachschlagewerk Ganders Kunstwerk, betitelt mit einer Textzeile aus einem melancholischen amerikani- bei der Ergründung der intellektuellen Fundamente dieser Ausstellung. Die Leseliste, die schen Popsong, und Floyers melancholische, reduzierte Variation eines ebenfalls amerika- als „Propädeutik zur Grundlagenforschung“ bezeichnet wird, umfasst nach unsichtbaren nischen Musikklassikers, ergeben eine ungewöhnliche, aber gleichzeitig sehr gelungene Kriterien komponierte Charts, die von der griechischen Antike bis zur aktuell von Tirdad Zusammenführung und Gegenüberstellung dieser beiden doch völlig unterschiedlich wirk- Zolghadr publizierten Schrift „Judgement and Contemporary Art Criticism“ die Vielfalt des enden künstlerischen Positionen. Eine sehnsüchtig wirkende Melancholie Ganders steht menschlichen Intellekts und seiner Urteilskraft exemplarisch beleuchten. Soviel geballte hier einer existentiellen Melancholie Ceal Floyers gegenüber, die beide immateriell blei- Selbstreexion macht ehrfürchtig – und täuscht darüber hinweg, dass hier tatsächlich im- ben, Gefühl mit wenigen oder ohne Worte thematisieren und nicht in einer plumpen Narra- mer noch vom utopischen Traum der „Rolle der Kunst beim Bau einer neuen und besseren tion untergehen. Für den hastigen Besucher erscheinen beide Kunstwerke inexistent. Für Welt“ gesprochen wird, während der Rest der Welt, der sich eigentlich angesprochen den interessierten Besucher dagegen werden die Eingangshallen des Fridericianums zu fühlen müsste, unästhetisch arbeiten muss, um zu überleben und die dOCUMENTA (13) einer poetischen Zauberkiste, die zum Verweilen in eine windgeschützte Nische einlädt. nie erleben wird. Genauso subtil und fast unsichtbar sind die beiden weiteren Interventionen Ganders in der dOCUMENTA (13). Eine Frau, die dauerhaft in der Orangerie sitzt und ein Buch über 6 39
Schild, kein Personal lässt irgendwelche Referenzen erkennen. Vielleicht ist es gerade deshalb die „Unsichtbarkeit“ des „Schicksals der Verlierer der Sie beginnt in einem dunklen Raum. Geschichte“, die in dieser dOCUMENTA (13) so zahlreich angesprochen wird. Besonders Am Anfang sehe ich nichts, strecke den Arm aus und taste mich in winzigen Schritten hervorzuheben sind die Beiträge von Künstlern aus den arabischen Ländern, welche von zentimeterweise vorwärts. Ich nde mich selbst inmitten einer Bühne wieder, die erst der Geschichte des Unfriedens und der prekären Verständigung erzählen, denen Völker durch mein Ein- und Auftreten zu einer solchen wird. Getragen von Bewegung, Raum, und Staaten seit jeher unterworfen sind. Rabih Mroués Videolecture und Daumenkino zu Musik und Mensch verwandelt sich die Bodenäche eines ehemaligen Garagenraums. Am den Sniperangriffen auf Zivilisten in Syrien, die Fiktionen und Verschwörungstheorien des Ende meine ich Gesichter zu erkennen, manchmal auch Lieder. libanesischen Künstlers Walid Raad & The Atlas Group, Ayreen Anastas und Rene Gabris Kryptisierung der Widerstandsbewegung in Ägypten, die postkolonialen Narben „extra-okzi- Es gibt eine klare Setzung: dentaler Kulturen“ in Kader Attias riesiger Installation oder die faszinierend unheimlichen 15 gecasteteTänzer, 1 abgedunkelter Raum, 11 einstudierte cues, 1 sich wiederholende Puppen-Spiellme über die Kreuzzüge von Wael Shwaky – sie sind ein Pars pro toto für politische Botschaft (“the income people achieve from producing things of slight conse- die Unbilden der Existenz und zugleich Zeugnis einer kreativen, erkenntnisreichen und quence is often from great consequence”). befremdenden Kunst. Die Situation des zuschauenden Beobachters erfährt konstant die Dialektik, dass der Luxus der Sicherheit unmittelbar an das Koniktpotenzial, aus welcher Das partizipatorische Moment besteht in der bloßen Anwesenheit des Rezipienten: Die diese entstanden ist, erinnert. Dunkelheit verschleiert Gesichter genauso wie Rollen, und dabei treffen direkte Ansprache und Ungezwungenheit in Betrachtung und Rezeption aufeinander. Die dOCUMENTA (13) macht sich durch ihre gesunde Selbstreexion eine Pazizierungs- Laut Eigenaussage einer Tänzerin konsumieren nicht nur die Besucher die Akteure, auch strategie zu Eigen, mit der das Kuratorium Deutschland verlässt und über Kairo nach die Akteure konsumieren die Besucher. Diese Wechselwirkung erzeugt wohl das emanzi- Kabul und Banff den Diskurs der Ästhetik und Wahrnehmungskritik verbreitet. Ein solcher patorische Moment der Subjektivität. Eskapismus, der idealistisch eines der kulturell prekärsten Zentren der Welt in Afghanistan mit der ökologisch ausbalancierten kanadischen Natur zusammenbringt, sorgt für Exklu- Ein dunkler Raum, das Ungewisse: sivität. Die große Erzählung der dOCUMENTA (13) ist eine noble Geste, die sich zugleich Die dOCUMENTA(13) ist im Gesamten zwar längst nicht so ungewiss wie erhofft – den- an ausgewählte Gäste hält. Ihr Intellektualismus wird in den Dependancen wahrscheinlich noch: Ich weiß immer, dass ich nicht alles sehe; was mich im Endeffekt mehr beruhigt als nur Wenigen zu Teil. Der Traum, in der Welt mit Kunst alles wieder gut zu machen, ist das Gegenteil. Denn ich muss nicht genügen, bestehen, fertig werden. unrealistisch. Dennoch will die Kuratorin CCB mit ihrer Ausstellung Differenzen überwin- den, Verbindungen schaffen und Raum für Veränderungen bereitstellen. Die Kunst wird zur Im besten Fall zischt mich die Kunst an und läuft vor mir weg. Hypnose, wie sie Marcos Luytens anbietet, aus der ein Betrachter vielleicht mit Schrecken erwacht und feststellen muss, dass sich nichts geändert hat. Die Welt ist gleich schlimm Oder ich gehe in kleine Häuser und lasse mir etwas zeigen. Gehe wieder. und gleich gut wie zuvor, vielleicht ist uns aber die Natur ein Stück näher gerückt. CCB Und die Gartenschau, die eine Kunstschau wurde, zeigt ein Fluchtbiotop für Schmetter- will die Rechte der Umwelt stärken und auf Ressourcen schonendes Leben aufmerksam linge. machen. Die Präsenz der Dinge soll dem Besucher bewusster werden, denn Stein ist nicht gleich Stein, wie schon die Kopie eines Marmor-Findlings von Juiseppe Penone beweist. Überhaupt hat CCB viele Gegenstände und Menschen ins Feld der Kunst gebracht, die Grazyna Roguski man dort nicht vermutet hätte. Was haben der binäre Code der Rechenmaschine von Konrad Zuse, die Erdatmosphäre oder Getreidesamen ästhetisch gemeinsam? Sie bilden Komponenten unserer Umwelt, erhalten Leben und machen es berechenbarer. Doch ist das nicht eine Platitüde? Nach Joseph Beuys war jeder Mensch ein Künstler, nun sei alles Kunst? Die dOCUMENTA (13) macht sich frei von einem Kunstbegriff, behält aber dessen Avantgardeanspruch bei, Leben und Kunst in einer Schnittmenge zu sehen. Leben, atmen, sehen, lieben – es ist viel Pathos in dieser Ausstellung, auch wenn es zurückhal- tend formuliert wird. Schon der zugige Eingang ins Museum Fridericianum hält dem Neu- ankömmling im aktuellesten Raum der Kunst nichts als Druckunterschiede vor, produziert von dem Künstler Ryan Gander, dessen Arbeit frischen Wind in die Ausstellung bringt. Hier ist das sogennante „Brain“ der Ausstellung zu betrachten, eine Wunderkammer mit Artefakten aus der Kulturgeschichte der Menschheit. Provozierend symptomatisch stößt man dort auf die Fotos von Lee Miller, die entstanden, als die Fotogran am 30. April 1945 in Hitlers Münchner Wohnung in der Badewanne posierte. Wieder einmal sind es die Initialen des Führers, die für ein schaurig schreckliches Kunsterlebnis sorgen. Auf dieser journalistischen Anekdote baut die dOCUMENTA (13) den Zweig ihrer Erinnerungsarbeit auf 38 7
und mit sichtbarem Erfolg hat CCB viele Künstler mit der Geschichte des Konzentration- Eine Vielzahl der Exponate bringt den Verweis „produced and commissioned for dOCUMEN- slagers, dem ehemaligen Benediktinerkloster und späteren Mädchenheim Breitenau bei TA(13)“. Inwiefern gestaltet die dCUMENTA(13) also ihren Kontext selbst? Site Specic Kassel bekannt gemacht. könnte man als die Reinform einer ausschließlich mit (De)Kontextualisierung arbeitenden Kunst anführen, und so sind auch einige Arbeiten in Kassel angelegt. Offen bleibt, ob und Die eindrücklichste Fiktion dazu hat der deutsche Filmkünstler Clemens von Wedemeyer inwiefern die Kuratorenkommission der dOCUMENTA(13) hier eingegriffen hat. geschaffen und auf einer Triangel-Leinwand im großzügigen Areal des Nordügels im Kul- turbahnhof präsentiert. Über drei Filmteile nähert sich der Künstler historisch der Kloster- Dennoch: Die Setzung der einzelnen Arbeiten bleibt in einem permanent adäquaten Rah- geschichte, wobei drei Figuren alle Erzählstränge verknüpfen. Von der Befreiung der inhafti- men. Susan Hillers subjektiv zusammengestellte Protestsong-Jukebox ist neben einer aus- erten Zwangsarbeiter durch die Alliierten, über die Schauspielproben, um das Drehbuch zu führlichen Version in der Neuen Galerie auch im Café mit Bio-Kaffee und selbstgemachtem Ulrike Meinhofs Schauspiel „Bambule“ umzusetzen, bis zur pädagogischen Anstrengung, Kartoffelsalat platziert, Seth Prices Kunst-Klamotten hängen als Sonder-Aktion neben den einer Schulklasse vor Ort Erinnerungskultur zu vermitteln, reicht das Spektrum des Kunst- Rolltreppen im Kaufhaus Sinn-Leffers, Nedko Solakovs Selbstransformation zum schlag- werks. Wäre darin nicht die schauspielerische Leistung so befremdend, dann könnte man zeugspielenden Ritter ist im Gebrüder Grimm-Museum zu betrachten, ein designter Hun- dem Film sogar kinematograsches Potenzial zuschreiben. So bleibt das künstlerische Be- despielplatz erweitert den Park und Etel Adnans Öl-Gemälde hängen im White Cube der mühen aber lmisch selbstreexiv und führt dem Betrachter immer wieder vor Augen, wie documenta-Halle. schwierig es ist, das Unsagbare oder Undenkbare in eine Form visueller und akustischer Erinnerung zu bringen. Mit dem Erwerb eines Tickets begebe ich mich auf den Weg, vorbei an gelben Schildern, Direkt daneben schafft es hingegen der südamerikanische Künstler und Publikumsliebling die die Arbeiten als solche kennzeichnen, und genieße die Freiheit der Interpretation des William Kentridge mit einer raumfüllenden Videoprojektion über alle Wände hinweg zu ver- Stadtplanes und der Möglichkeit zwischen der Vielzahl an einzelnen Arbeiten einen ei- führen. Zu den Klängen des Komponisten Philipp Miller ruckeln und huschen die bekannt- genen Ablaufplan zu bestimmen. en Animationen spukartig durch die Spots der Filme und bringen auch den Meister selbst Ich fühle mich „frei“ und „selbstbestimmt“, und doch bleibt der Beigeschmack, dass ich ins surreale Tanzstück. Vielleicht sind dies die Clichés, die man sich von einer solchen nicht nur Rezipient, sondern vor allem Konsument bleibe. Position wünscht, um die kritische Erinnerung an die Apartheid zu pegen und dabei auch Warum? Ich gehe hinein, hindurch, nehme vielleicht etwas mit und wieder hinaus. Und die Alltagskonikte im häuslichen Miteinander nicht zu vergessen? Es ist immer wieder ein frage mich, ob das nun eine Situation ist oder ein kleines Spektakel, das mit den gleichen irritierendes Vergnügen, die Vielfalt und Ausdruckskraft in der Kunst von William Kentridge Mitteln wie ein Erlebnispark arbeitet: Ich gehe hinein, hindurch, nehme vielleicht etwas mit zu spüren und zu sehen. Auch die Einfachheit einer hölzernen Maschine kann hier von und wieder hinaus. mystischer Anmut sein und zugleich die harte Arbeit am Kap der guten Hoffnung symboli- sieren. Kleine Gartenhäuser beherbergen Videoinstallationen – trotzdem: Die Grenzen zwischen Kasseler Stadtraum und internationaler Documenta verschwimmen nahezu und die Frage Ein weiterer Liebling des Kuratorenteams scheint das Duo Faivovich&Goldberg zu sein, „Was ist Kunst?“ wird dankbarerweise nicht gestellt, sondern mündet vielmehr in der sub- die mit ihrer Arbeit zeigen wollen, das Kunst und Glaube zwar keine Berge, dafür aber Me- jektiven Beantwortung, Filterung und Differenzierung jedes Einzelnen. teoriten versetzen kann. Ihr erster Versuch, die zwei Hälften des aus dem argentinischen „Campo del Cielo“ stammenden Meteoriten „el taco“ zusammen zu bringen, gelang unter Der Betrachter ist nicht nur anwesend, er ist entscheidend. großem Aufsehen im Frankfurter Portikus 2010. Das ursprünglich in Deutschland zersägte Amalgam aus Eisen und Nickel wurde in Washington und Buenos Aires zu wissenschaftlichen Einige Arbeiten erscheinen mir paradigmatisch im Umgang mit eben dieser Rollenzuwei- Zwecken untersucht und von den Künstlern, ganz im platonischen Sinne, wieder zur Einheit sung zwischen Kunstwerk und Rezipient zu sein. gebracht. Die Tatsache, ein kosmisches „Already-Made“ zu Kunst zu erklären, sorgte somit schon in der Planungsphase der dOCUMENTA (13) für Aufsehen und machte deutlich, wie William Kentridge bindet in seiner Installation den Zuschauer an festgeschraubte Stühle, universal die Größenordnung dieser Ausstellung sein würde. Für ihren Auftritt in Kassel die in loser Anordnung Lockerheit suggerieren. Das Gegenteil ist der Fall. Die Surround- wollten die beiden Künstler noch etwas drauaden und beabsichtigten, den größten Find- Installation aus Objekt, Bild, Ton, Bewegung und Raum hat eine straffe und unausweichli- ling des Meteoritenfeldes zu verschleppen, um ihn in der deutschen Provinz wie Kubricks che Wirkung, ist nahezu hypnotisch. rätselhaften Monolithen aus der Space-Odyssee zwischenzuparken. Das politische, pan- Was stört mich daran? theistische und buchstäbliche Gewicht dieses extra-terrestrischen Körpers machte jedoch Ich merke, wie ich sitzen bleibe – meine Passivität lässt mich sitzen, denn ich „werde“ große Schwierigkeiten und schließlich wurde der Transport des verehrten indigenen Heilig- unterhalten, „lasse“ mich bespielen. Anfang und Ende des multimedialen Werkes sind tums aufgrund des Protests der Resistencia Bewegung in Chaco aufgegeben. Zu sehen deutlich auszumachen. Die große hölzerne Maschine beginnt sich zu bewegen, Bild und ist der gescheiterte Versuch in Form von Dokumenten und einem Video, die erzählerisch Ton folgen. Es fehlt der Schlitz für den Münzeinwurf. genug sind, um den Mythos der Kunst auch hier lebendig zu halten. Das Werk der beiden William Kentridge begegnet mir als diktierender Autor, der seine Souveränität künstler- Argentinier ist damit vielleicht der beste Beweis, wie auch das Scheitern von Größenwahn- ischer Autorität gleichsetzt. sinn in der dOCUMENTA (13) ein Erfolg sein wird. Ein wichtiges Zeugnis der unbedingten Inklusionspotenz von Ausstellung und Kuratoren Eine andere Form des Dialogs nde ich in der Arbeit Tino Sehgals. Erst als ich mich schon ist ein Brief von Kai Althoff, der seine Absage als Teilnehmer an der Ausstellung mitteilen einige Zeit „darin“ aufhalte, wird mir klar, wo ich bin – nämlich bereits mitten in ihr. Kein 8 37
EIN DUNKLER RAUM möchte. Selbst diesen einzigen Rückzieher unter allen geladenen Künstlern macht CCB zum Teil des Ausstellungskonzeptes und stellt die handschriftlich verfasste Beschämung documenta(13) erfahren allein in einen windigen Saal. Zu sehen gibt es aus Trotz im „Gehirn“ der Schau aber doch eine kleine Zeichnung des Das diesjährige Konzept der dOCUMENTA(13) wird als explizite Unverständlichkeit gehan- Künstlers. Ideen werden in dieser dOCUMENTA (13) nicht aufgegeben, und es werden delt. Es gehe um „alles“, „nichts“, es wird über esoterischen Bezug und Hunde-Fetisch täglich mehr, die das fulminante und beeindruckende Begleitprogramm aus Performances, verhandelt. Postkoloniales Denken wird von einem mystischen Ganzen abgelöst – zumin- Lesungen, Filmvorführungen und Führungen vorstellt. Hierzu zählt auch die von dem Ku- dest ist diese Sicht in Kunstmagazinen und Feuilletons immer wieder zu nden. rator und Autor Raimundas Malasauskas mit betreute „Black Box“ im ersten Stock der Dem entspricht, dass Meteoriten, Hypnotherapeuten und Kabul die bestimmenden Fak- Organgerie, inmitten von rätselhaften Technik-Reliquien und Fernrohren. Die aus Plexiglas toren einiger Diskurse und Behauptungen sind. Letzten Endes bleibt dieses inhaltliche und Spiegeln labyrinthisch angelegte Kiste beherbergt unbekannte Objekte, zu deren Deu- Konzept in erster Linie ein Muster und genauso auch eine Strategie, nicht nur mit Kunst, tung jeden Donnerstagnachmittag Teilnehmer der Ausstellung eingeladen werden. Es ist sondern auch mit Erwartungen umzugehen. ein komisches Rätselraten, das eigentlich mehr die Denk- und Arbeitsprozesse der Künstlerin- Neben den kennzeichnenden Exponaten (wie zum Beispiel der Meteorit von Guillermo nen und Künstler offenbart, als den Eigensinn der ausgestellten Artefakte. Faivovich und Nicolás Goldberg) und hypothetischen Diskursen öffnet sich beim tatsäch- Ein Dialog zwischen dem mexikanischen Künstler Abraham Cruzvillegas und Kodwo Eshun, lichen Besuch der dOCUMENTA(13) eine ganz andere und wesentliche Erfahrung: der einem Mitglied der Otolith Group, erzeugt ein Rhizom aus Pseudophilosophie und Kapi- Umgang mit Raum. talismuskritik. Dabei kommt aber die mystizierende Kapazität der Einschüchterung zur Die dOCUMENTA(13) streut sich dieses Jahr in die Stadt. Cafés und Kaufhäuser werden Geltung, mit welcher speziell die wissenschaftliche Arbeit und das Modell der Black Box bespielt, ein alter Bunker, die gesamte Parkanlage, diverse Museen, leerstehende Räume der Forschung belegt sind. und Häuser, Kinos. Eine Mischung aus Natur, Freizeit, Konsum und öffentlichem Raum Die Kunst verhalte sich hermetisch oder hermeneutisch, so Kodwo Eshun, demgegenüber ergibt einen Parcours durch die sonst in ihrer Präsenz sehr zurückhaltenden Stadt Kassel. Abraham Cruzvillegas den Humor als Moment dialektischer Aufhebung formuliert. Nach Stadtpläne treten an die Stelle von Museumsführern, gelb gekennzeichnete Shuttlebusse Dafürhalten des Mexikaners sei das „Verlernen“ ein Akt wichtiger Vergegenwärtigung durchkreisen den Verkehr. im Leben und bei ihm eine künstlerische Strategie. Ein Zeichen, so es nur oft genug Der Besucher ndet sich beim Kunst-Schauen genauso in Pfützen wie neben Kleider- gesprochen oder angeschaut werde, verliert plötzlich seine abstrakte Bedeutung und wird ständern und Glasvitrinen wieder. keusches Ding. Diesen Abstand zu Konnotationen gilt es in die Kunst zu bringen. Cruzvil- legas hat sich deshalb für die Präsenz in absentia entschieden und kein konkretes Objekt Begehbare Kunst! Kassel als großer Kunstraum. zur Ausstellung beigesteuert. Er hält sich stattdessen längere Zeit in Kassel auf und fügt Die Stadt und die einzelnen Werke dienen als Bausteine für die große Gesamtinstallation dem öffentlichen Raum kleine Veränderungen zu, Interventionen, denen man nur durch „dCUMENTA(13)“. Zufall begegnet, wenn man sie denn bemerkt. Eine solche Strategie der minimalinvasiven Eingriffe zählt zum Mikrokosmos dieser Ausstellung, die sich zwischen Grundlagenphysik Für dieses Projekt tritt die Kuratorin als Großregisseurin auf, der Betrachter ebenso als und universaler Mythologie in Quantensprüngen bewegt. Dabei werden auch keine Mühen Akteur. Was dabei geschieht, kann durchaus mit „performativ“ betitelt werden. gescheut, um Personal und Material global zu verfrachten. Nur durch Bewegung in der Fremde lernt man das „Andere“ im Eigenen kennen. Die einzelnen Stationen dieses großen Ganzen spiegeln den Begriff von der Gesamtsitua- Eine Ausstellung wie die dOCUMENTA (13) legt auf diese Re-Importstrategie, wie sie schon tion oftmals wider: Ein Streitraum in der Neuen Galerie lädt zum Schreien und Versöhnen durch die Biennalen bekannt ist, großen Wert. Bestes Beispiel ist das Hugenottenhaus, ein, zu bestimmten Terminen wird dies ebenso live performt. Das Parkdeck von C&A muti- einer der vielen Nebenschauplätze in der Kasseler Stadt, wo der amerikanische Künstler ert zur großen begehbaren, brach gelegten und mit reduzierten Beats unterlegten Kauf- Theaster Gates seine Künstlerkommune aus Chicago mitsamt Werkstatt und Baumaterial haus-Ödnis. Pierre Huyghe vermischt Hunde, Brennesseln und Bienen zu einer surrealen herangeschafft hat, um während der Laufzeit der Ausstellung das marode Gebäude attrak- oder postapokalyptischen Situations-Skulptur. Das Künstlerduo Epaminonda & Cramer tiv umzubauen. Dadurch sieht es noch nicht wohnlicher aus, aber die künstlerischen Ein- nutzt ein altes Zollhaus am Bahnhof als Bühne zur Schaffung ihres eigenen Erzähl-Kos- bauten füllen überraschende Leerräume mit kleinen Details aus, schaffen dunkle Stuben mos. Sam Garreth inszeniert ein System im System, klein- und feinteilig zusammengebaut für atmosphärische Jazz-Videos und sorgen für ein rustikales Ambiente, in dem auch live aus Übriggebliebenem oder ganz einfach aus Müll. Ein Hypnose-Künstler wartet in einem konzertiert wird. Die in Leuchtkisten eingesetzten kleinen Diapositive aus der Art Library eigens gebauten Bungalow auf angemeldete Besucher/Rezipienten/Klienten/Akteure/ der Universität Chicago zeigen Abbildungen von deutschen Renaissance-Stichen, darunter Mitwirkende. die Vertreibung aus dem Paradies. Das Diskurs-Trauma des Christentums, welches Erkenntnis mit der Strafe des harten Eine documenta zeigt Kunstwerke aus ganz verschiedenen Kontexten. Aber sie stellt die Kunst- Lebens verbindet, ndet Widerhall im eschatologischen Schauplatz der Kunst, wo „die werke nicht in ihren Kontext zurück, sondern löst sie aus ihm heraus. Eine documenta bringt die Möglichkeit einer metaphorologischen Heilung der durch den Krieg verursachten Verlet- Freiheit zur Erfahrung, mit der die Kunstwerke den Kontext ihrer Herkunft übersteigen. zungen“ verkündet wird. Es gilt also nicht zu vergessen, dass die französischen Hugenot- (Zitat: Christoph Menke auf Zeit.de) tenverfolgungen keine anderen Glaubenskriege waren als der zerstörerische Terrorismus, der unilateral um islamistische Vorherrschaft kämpft. Die Künstlerkommune aus Chicago Eine documenta generiert Kontext, eine Documenta dekontextualisiert. ruft aber auch die Anthroposophen des Monte Verità in Erinnerung, die CCB immer gerne 36 9
als Beispiel für ihre utopischen Vorbilder nennt, wenn sie Auskunft über ihre Lehrzeit bei thek menschlicher Gene aus, von denen eins ums andere nach dem Zufallsprinzip ausgel- Harald Szeemann gibt. Der Traum von einer besseren Welt – ob er wenigstens in der Kunst esen wird, während auf einem Bildschirm die Visualisierung des Genverhaltens bei einem einen probaten Botschafter ndet? Trauma zu sehen ist. Letztere inszenieren ein dystopisches Szenario, das von zwei nebe- neinander laufenden Filmen, die wie ein früher und später symmetrisch ablaufen, zu Frag- Für den Kampf zwischen Gut und Böse gibt es eigentlich nur einen Ort, wo man ein menten einer Zukunft führt, die Imagelme eines neuen, hygienischen Menschen zeigen Happy End sicher erwarten kann. In Kassel steht dafür das Gebrüder Grimm Museum oder auch modellhaft Tatlinsche Hochhausstrukturen präsentieren, welche aus Platzman- parat, um über die Ursprünge der Märchensammlung zu informieren. Dort hat sich der gel oder auf Grund einer anachronistischen Idee der Moderne das soziale Leben von der bulgarische Künstler Nedko Solakov mit einer fulminanten Installation selbst inszeniert. Fläche in die Höhe staffeln. Beide Werke gehen von den biopolitischen Implikationen der Laut Eigenaussage konnte sich Solakov durch den Auftrag der dOCUMENTA (13) endlich Gegenwart aus, die den Menschen in seine Einzeiteile zerlegen und ihn potentiell, unter seine Jugendträume erfüllen und ließ sich eine Ritterrüstung schmieden, schaffte sich Vernachlässigung einer Idee von Subjektivität, neu organisieren können. Geradzu absurd Miniaturhubschrauber an und lernte Schlagzeug spielen. Mit schelmischem Humor stellt stehen dagegen dann die Quantenphysik-Miniaturen von A. Zeilinger, die einen Blick auf er sich in die Tradition des Malteserordens, nimmt an Kriegs-Reenactments teil und unter- Teilchenmessungen erlauben oder sie nach ihren ästhetischen Qualitäten bewundern las- sucht die ritterlichen Tugenden im Alltag. All dies orientiert sich an der romantischen Idee sen wollen, aber notwendigerweies eher verwirren, so wie es dort auf der mit Formeln des Rittertums, die auch im Märchen die erlösende Utopie stellt. Für viele dOCUMENTA übersäten Schiefertafel heißt: „Want something explained? Ask the physicist!“ Oder auch: (13)-Künstler mag die Teilnahme in Kassel wie ein Traum erscheinen, in dessen Wirkli- „Don’t know Physics? Go Fuck Yourself!“. Anders verstimmen mag A. Balkins Wand aus chkeit die Kuratorin als gute Fee vorbeihuscht, um für märchenhafte Erfüllung zu sorgen. Petitionsgesuchen die Erdatmosphäre als Weltkulturerbe zu deklarieren. Aus vielen ein- Die Ausstellung könnte ein Märchen sein, das sicher gut ausgeht, in dem alte Geschichten zelnen Briefen bestehend, die von einiger Entfernung gesehen ein gleichmäßiges Muster aus dem Dornröschenschlaf geweckt werden und den Besucher zum suchenden Prinzen abgeben, löschen sie, wie Farmers aufgespießte Ikonen, ihren abgebildeten oder aufge- machen. Und weil auch im Märchen nur die Bösen sterben müssen, besteht Hoffnung, schriebenen Sinn durch Repetition, das Abdrucken des immergleichen Schreibens an ver- dass die dOCUMENTA (13) die Träume hält, die sie verspricht. Vielleicht. schiedene Empfänger, aus. Die Idee kollidiert mit der schlichten Addition der Idee, sie drückt sich aus in einem Haufen von Briefen, deren Bedeutung malgré lui-même in Ne- gation umschlägt. Geschickter geht T. Dean sowohl mit Schiefertafeln als auch Wieder- Sebastian Baden ho-lung um. Die Kreidezeichnungen eines Flusses (der an verschiedenen Daten und Po- sitionen abgebildet wurde) modizieren durch die Stärke und Schwäche des Aufdrucks nicht nur die Erkennbarkeit und akzentuieren das Fließen, Verdampfen und Stillstehen. Sie inkorporieren auch den Effekt der verwischten Kreide. So erinnert dieser Effekt an die Tafel als Folie und die Zeichnungen als den temporär auf ihr enthaltenen Ausdruck. Daniel Neumann 10 35
Gander, C. Erek und F. Onur drei Arten des leeren Raumes. Ersterer lässt künstlich den Die dOCUMENTA(13) – vielleicht eine gute Ausstellung... Wind durch den leeren Eingangsbereich eines Ausstellungsgebäudes blasen, wobei sich Kanäle von ziehenden und drückenden Spannungen ergeben um den Besucher gleich in die nächste Toninstallation zu treiben. Die Implikation des geöffneten Fensters oder auch Wie stieg doch die Nervosität unter uns Journalisten an, als absehbar wurde, dass die der Nichtunterscheidbarkeit von Innen und Außen wollen hier vordergründig die Gemacht- Künstlerliste der dOCUMENTA (13) tatsächlich erst zur Pressekonferenz Anfang Juni heit des Kunstwerks selbst in Abrede stellen, wo es sich ja nur durch die Abrede äußern veröffentlicht werden sollte. Angstschweiß auf der Stirn, Erklärungsnot dem Chefredakteur kann. Erek nutzt eine leere Kaufhausetage, die sich durch eine C&A-Filliale erreichen lässt, gegenüber – man konnte ihm ja nicht einmal das Konzept der diesjährigen Ausgabe er- um dort einen monolithischen Turm aus Boxen, der einen gleichmäßigen, teils synkopi- läutern – und zuletzt gab es noch Nägelkauen während der Pressekonferenz (Ceal Floyer), erten Bassrhythmus wiedergibt, wahlweise mit einem Metrum zu verschalten, auf das aber da mussten wir jetzt mitschreiben. Die Wochen und Tage zuvor, brockte uns die sich die Boxen bei jedem neuen Durchlauf anders beziehen. Daneben ergeben sich hinter- Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev schließlich das ein: auf eigene Faust recherchieren gründige Störgeräusche, die sich der onkyo-Musik eines Toshimaru Nakamura oder Rioji und als verdeckte Ermittler mit Kuratoren, Künstlern und Galeristen zusammenarbeiten. Ikeda verpichtet zeigen. Das Potential der akustischen Durchformung des Raumes erhält Als wir schon einstimmten in die Kritik des Kein-Konzept-Konzepts, zog uns die Äußerung so einen Kontrapunkt, dessen Analogon das Öffnen eines Fensters bei Gander darstel- Christov-Bakargievs über die „politische Intention der Erdbeere“ (Interview in der SZ) den len könnte. Die Leerstelle zwischen den Wänden nutzt Onur, um dort eine Draperie mit Boden unter den Füßen weg. Meinte sie das ernst oder hat sie einfach Humor und Ver- ausgeschnittenen Vogelmotiven zu hängen und den einzigen Blick, der sich von den hier ständnis für Ironie? abwesenden Ausstellungsgegenständen abwenden könnte, zu überformen. Dieses Gespaltensein zeigte sich bereits im Vorfeld mit der Veröffentlichung der 100 Notiz- Die Fläche nur besetzend und nicht darüber hinaus den Raum füllend sind dann etwa bücher, die eine dermaßen hohe Anzahl verschiedener Verweise und Stränge herstellten, die Riesenbilder von J. Mehretu. Über dem dichten Liniennetz architektonischer Skiz- dass man den Glauben an alles verlieren konnte. In weiser Voraussicht nannte Christov- zen und Modellzeichnungen der riesenformatigen Bilder sind gleichmäßige Formationen Bakargiev deshalb den dOCUMENTA (13)-Katalog „Buch der Bücher“. Wir nannten sie for- schwarzer Flecken und bunte geklebte Striche interventionistisch angebracht. Die drei tan „Miss Maybe“. Doch bereits die ersten Stunden auf der dOCUMENTA (13) zeigten, dass Bildebenen würden wohl jeder für sich eine einheitliche Durchgestaltung der Leinwand es so „Vielleicht”, so konzeptlos gar nicht war. Im Gegenteil. Im Fridericianum, dem ersten ergeben, erzeugen aber durch ihre Überlagerung, die sich eher kontrastierend als aufein- öffentlichen Museum Deutschlands, wehte ein konzeptueller Wind durch die Flügel: Ryan ander antwortend verhält, Disharmonien. Eine ähnliche Wirkung erzielt E. Adnan durch Ganders frischer Wind, der die Töne von Ceal Floyers Loopinstallation durch den Flügel die reduktivere Methode, aus leuchtenden Pastellfarben geometrische Konstruktionen auf trug, eine Vitrine mit der Absage an der Teilnahme der dOCUMENTA (13) von Kai Althoff kleinformatigen Bildern zu gestalten. Der Logik und Wirkungsweise der Farben folgend, oder eine Anleihe an Arnold Bodes documenta II, mit den Plastiken von Julio González, die ergeben sich in dem geringen Platz, da sie sich gegeneinander verhalten können, mitunter damals nicht ins Konzept passten und trotzdem gezeigt wurden. irritierende Sukzessivkontraste. Diesen zwei Weisen, mit der malerischen oder zeichne- rischen Bildgestaltung eine wohltemperierte Komposition zu verunmöglichen, und dadurch Die Rotunde ist durch eine Glasscheibe abgetrennt – the middle of, the middle of, the mid- das Augenmerk auf den Prozess seiner Herstellung zu richten, zu den Punkten, da der dle of (Lawrence Weiner) – und wird „the brain“ genannt. Nach dem Eintritt zeigt sich, dass Ausdruck sich gegen die immanente Forderung entschied und der Harmonie durch Dispro- dieser Kosename durchaus treffend ist. Fragile, tausend Jahre alte Prinzessinengürchen, portion oder reizende Farbwahl absagte, ndet in den Wüstenmalerein von D. Nakamarra verschmolzene Zufallsprodukte durch Zerstörung, absurd anmutende Keramiken oder die ein Gegenmodell. Ihre Darstellungen aus dicht angeordneten und gleichmäßig ießenden Sillleben von Morandi. Dazwischen das Handtuch von Adolf Hitler, mitsamt Fotograen Linien provozieren, ähnlich einigen Bildern Vasarelys, eine Irritation des Auges, die hier seines Badezimmers, hintergründige Arbeiten von Sam Durant und Tamás St. Auby und ein vielleicht die immernde Hitze über dem Boden der australischen Wüste andeuten mag. Werk von Guiseppe Penone, einem arte-povera-Veteranen, der Lieblingskunstrichtung der Der Effekt ist allerdings durch die strenge Komposition im Vorfeld kontrolliert, der Betrach- Leiterin. Man fühlt sich tatsächlich so, als erhielte man Einblicke in ihr Gehirn. Also doch: ter vor die Unmöglichkeit gestellt, die einfache Struktur wahrzunehmen, ohne dass sie Beeing Carolyn Christov-Bakargiev. Nach dieser nicht unangenehmen Kopfwäsche kann es anfangen würde, sich zu verzerren und zu verschieben. weiter gehen – nach oben, zurück, nach rechts, nein doch nicht, links?, auch nicht, nach Von dieser modernistisch anmutenden, aber außerhalb der europäischen Kunsttradi- unten, da waren wir ja schon, oder?, ja, nein, vielleicht – wo es einige Entdeckungen zu tionen entstandenen Malerei führt ein Weg zu E. Carr, deren Annäherungen an indianische machen gibt: Malerei in ihrer Simplizität und ihrem Umgang mit Farben an Rousseau erinnern. Eine an- Charlotte Salomons unergründliche Zeichnungen, Kader Attias gedankentiefes Gruselka- dere Verknüpfung leitet zu T. Bayrle, der neben anthropomorphen Motorenkonstruktionen binett oder Mariana Castillo Deballs tableaux archéologique und daran anknüpfend ihr auch mit einem riesiges mise-en-abyme Flugzeug vertreten ist. Dieses spaltet sich, je schlaues Projekt „Black Box“ in der Orangerie, in Zusammenarbeit mit Gabriel Lester. In näher man es betrachtet, in immer kleinere Formen des gleichen Motivs, bis die kleinsten regelmäßigen Abständen treten hier Künstler und Wissenschaftler in den Dialog mit fünf Flugzeuge kaum mehr auszumachen sind. So wird die kantische Idee der Unendlichkeit, Objekten aus der dortigen Sammlung. Das Besondere: die Funktion der ausgestellten Ge- nämlich das Streben zu ihr hin ohne sie je zu erreichen, guriert. bilde ist nicht mehr bekannt. Waren es Waffen, Spielzeuge oder Instrumente? Überhaupt: die Frage nach dem Objekthaften in vielen Arbeiten und was sie zu solchen macht. In An- Entreißt man dieses Streben der begrifichen Bestimmung und projiziert man es, unter lehnung an Krzysztof Pomian könnte man daher von „Semiphoren“ sprechen, oder, wie er Benutzung wissenschaftlicher Koordinaten, nach vorne, landet man bei den Arbeiten von Objekte, die erst durch Vermittlung zu Trägern von Informationen werden, noch bezeichnet A. Tarakhovsky und dem Filmduo M. Kyungwon und J. Joonho. Ersterer stellt eine Biblio- hat: „Repräsentanten des Unsichtbaren“. 34 11
Auf den ersten Blick unsichtbare Repräsentanten kann man dagegen im Hugenottenhaus Referent ein imaginärer ist. So ndet sich in der vielräumigen Materialsammlung von N. in dem dunklen Raum von Tino Sehgal hören: Satzfetzen, schrille Schreie, Snaredrumzischen Solakov ein Konglomerat aus Kindheitsträumen in Form von sich selbst dokumentierenden oder Reime verdichten sich zu einem Klangkörper, dessen beweglicher Teil man selbst Projektionen, nachträglicher Mimesis und Autosuggestion statt, in der jenseits des point wird: Live-Art. In Kontrast dazu im selben Haus Theaster Gates Wohnraumprojekt für en- of no return das Leben als Ritter und Rockstar und die existierenden Ritter und Rockstars gagierte Künstler und neugierige Besucher. Real existierende Do-It-Yourself-Sozialutopie nachgestellt bzw. untersucht werden. zwischen Kassel und Chicago für die Dauer von 100 Tagen. Unterwegs zur Neuen Galerie wieder einige Entdeckungen, so die Räume von Paul Chan und Francis Alys. Der Zielort Eine visuelle Referenz, die weder als Bezugspunkt den Betrachter noch die Person des selbst eher belanglos. Dort aber der Beuys-Raum als Dauerrepräsentant der Sammlung. Künstlers herbeizitiert bietet Z. Muholi. In einer großen Wand von s/w Portraits wird verge- Irgendwie schwebt er doch über Kassel, als Übervater einer engagierten Kunst, die un- blich der direkte Blick der Aufgenommenen präsent zu machen versucht. Das Auge des seren Umgang mit der Natur und Tieren nur kritisieren kann. Dann eben ausstellen, wie es Betrachters kann den Moment nicht einholen, da die Sujets lebendig vor der Kamera Platz der Kanadier Brian Jungen mit dem Hundeparcours in der Karlsaue vorschlägt. Die über genommen haben, in der Dauer eines Augenblicks, da die Kameralinse genau das zeigte, dem gesamten Areal verteilten Holzhütten sind zwar ein gelungener Einfall, aber nicht im- was jetzt unabänderlich zu sehen ist. In ihrer Anzahl überlasten oder parodieren die Foto- mer ideal für das darin gezeigte Kunstwerk. Die bedrückende Videoarbeit von Omer Fast graen so ihre indexikalische Funktion. Eine Wiederholung der Vergangenheit erzählender hätte einen größeren Raum verdient oder gleich den Platz mit Willie Dohertys Video über Art stellt dann die Rezitation einiger Fragmente eines Gerichtsprozesses R. Biscottis dar. das Absterben der Natur im Südügel des Bahnhofs tauschen können. Demgegenüber, Nichtchronologische Passagen, die im Vorfeld auf eine inhaltliche Kohärenz verzichten, im Nordügel, die dreigeteilte Videoprojektion von Clemens von Wedemeyer und die ein- werden in der italienischen Originalaufnahme abgespielt, während auf der anderen Seite nehmende Gesamtkunstprojektion von William Kentridge, eine der bislang besten Arbeiten der Wand eine deutsche Simultanübersetzung vorgetragen wird. Dazu nden sich Beton- des Südafrikaners. Beeindruckend auch die Kreidetafelinstallation von Tacita Dean im ehe- abgüsse des Gebäudes, in dem die Verhandlung stattfand. Ein paar Räume weiter ist maligen Finanzministerium und die wie von einer fernen Zukunft als Untergangsfragmente eine Jukebox aufgebaut, die 100 Songs enthält, deren Texte sich je in Originalsprache kündenden, verstörenden Skulpturen von Adrián Villar Rojas – eingebettet in die im Zerfall an der Wand benden. In dieser Arbeit von S. Hiller als auch in jener Re-Präsentation von begriffenen Weinbergterrassen. Z. Muholi werden zwei Arten verhandelt, die sich einem oder vieler Kontexte nur vermit- tels eines akustischen Bruchstückes nähern. Die gegenwärtigen Worte der Übersetzerin Auffallend ist die hohe Anzahl an eigens für die dOCUMENTA (13) hergestellten Arbeiten. möchten ihren Raum inspirieren, sowie die frei auswählbaren Songs nicht nur eine Musi- Es zeugt vom Gespür der Leitung, die ihr Vertrauen nicht wie häug üblich in zum Konzept kauswahl darstellen, sondern schon in ihrem Verbund eine Art von totem Tanz, eins nach passende (oder passend gemachte und zu theoretisiert untermauerte) Werke, sondern in dem anderen, eins in dem verhallenden Echo des anderen, ausführen. Eine einmalige die Künstler selbst setzt. Nur dank dieser Zuversicht in das Vielleicht, können Künstler und geschichtliche Situation steht gegen die grundsätzliche Möglichkeit der Reproduktion, Kuratoren gemeinsam etwas Besonderes schaffen – eine gute Ausstellung kann dadurch die aufgenommenen Stimmen des Gerichtssaals aber sprachen im Gegensatz zu den viel leichter gelingen. So geschehen auch beim bulgarischen Künstler Nedko Solakov. Er deklamierenden Musikern nicht für das Mikrophon. Zwei Stockwerke tiefer wird das Spiel wählte das Gebrüder Grimm Museum gegenüber der Neuen Galerie als Spielort aus, um der Gegenwärtigung nochmals aufgenommen, durch eine tonlose Filmaufnahme von H. sich einen Kindheitstraum zu erfüllen: einmal Ritter, Pilot und Drummer einer Hard Rock Khan, der einzig die Hauptgur nachsprechen lässt und so Bild- und Tonraum zerteilt. Band sein. Mit allerlei Beweisen und Verweisen, so genannter Sub-Stories, exerziert Sola- Zwischen den drei Werken benden sich die Aufzeichnungen eines Anger-Workshops von kov gewohnt hintergründig doch humorvoll die einzelnen Stufen seines Projekts durch und S.Ringholt. Das Videomaterial sich anschreiender Menschen ist gleichzeitig spontane Äu- liefert damit einen der umfassendsten und selbstentblößenden Beiträge für die Großver- ßerung und theaterhafte Situation. Die Teilnehmer sind sich der Kamera bewusst, die anstaltung ab. Am Ende des Rundgangs konstatiert Solakov in seiner typisch-krakeligen als Theraphiesupplement ein exteriorisiertes Über-Ich gurieren oder die Konsequenzen Schrift: „Ich hätte sie in meinem Kopf lassen sollen, diese Träume, wo sie auf immer und einer sich selbst aufzeichenden Öffentlichkeit einholen kann. Befremdend ist der Eindruck ewig glücklich hätten leben können. Vielleicht.“ Da war es wieder, das Vielleicht. Und viel- dieser dialogischen Provokation von Wut, was auch immer an ihr hängt oder mit ihr ausge- leicht, so könnte man vielleicht hinzufügen, ist die dOCUMENTA (13) eine gute Ausstellung. drückt wird, allemal. Vielleicht war es richtig von Christov-Bakargiev, dass sie uns wie Solakov ihre Träume, Wünsche und Vorstellungen offenbart hat. Zwar gab es Proteste und Demonstrationen vor Von der entgegengesetzten Seite gehen R. Ondák und G. Farmer das Verhältnis Bild/ dem Fridericianum, aber keine von Erdbeeren...noch nicht. Gefühl/Bedeutung an. Ersterer präsentiert 120 gerahmte Bilder, deren Unterschriften entweder einen schon offensichtlichen Sachverhalt nachträglich bezeichenen oder ihn kreativ ausdeuten. Eine didaktische Annäherung an Alltägliches würde so jemanden, des- Hendrik Bündge sen Erinnerung von Dr. Donald Cameron gelöscht wurde, zumindest ein paar Situationen erklären helfen. Farmers auf Holz gespießter Signikantensalat, eine aus über tausend Zeitungsausschnitten bestehende Schlange medialer Aufmerksamkeit, hingegen ist be- strebt, ihr Bezeichnetes abzuschaffen, indem die Bilder nun zueinander Verhältnisse von Farbe, Größe und Anordnung ergeben, eine nicht-gurative Neuformulierung aus dem Zeichenüberschuss. Entgegen solcher demokratischer Modelle sich ordnender Mannigfaltigkeit präsentieren R. 12 33
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