Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe Kunstwissenschaft & Medientheorie Seminar mit Exkursion dOCUMENTA (13) -Kritik Heft 1/4

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Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe
Kunstwissenschaft & Medientheorie

Seminar mit Exkursion
dOCUMENTA (13)––Kritik

Heft 1/4
Impressum                                                                                           Inhaltsverzeichnis

Diese Publikation entstand im Rahmen des Seminars                                                   04........................   Mut zur Kunstkritik! Ein Geleitwort von Sebastian Baden

dOCUMENTA (13)––Kritik                                                                                                           Sebastian Baden
                                                                                                    06........................   Die gute Fee. Warum die dOCUMENTA (13) Künstlerträume erfüllt,
unter der Leitung von Sebastian Baden                                                                                            aber die Welt nicht retten kann.
im Seminar das Fachbereichs Kunstwissenschaft & Medientheorie
der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe                                                                              Hendrik Bündge
                                                                                                    11........................   Die dOCUMENTA (13) – vielleicht eine gute Ausstellung...
Sommersemester 2012
                                                                                                                                 Hannah Cooke
                                                                                                    13........................   dOCUMENTA (13) und Kassel - Ein siamesischer Zwilling
Unter Mitarbeit von
                                                                                                                                 Lotte Efnger
Hendrik Bündge                                                                                      16........................   Alles ist wichtig
Hannah Cooke
Lotte Efnger                                                                                                                    Julia Emmler
Julia Emmler                                                                                        18........................   B R A I NS – Ein Ausstellungsrückblick nach einem zweitägigen
Mira Hirtz                                                                                                                       Besuch der dOCUMENTA (13)
Hanne König
Isabel Mehl
Seraphine Meya                                                                                      21........................   Isabel Mehl
Judith Milz                                                                                                                      Alles bleibt Geheimnis
Daniel Neumann
Grazyna Roguski                                                                                     25........................   Seraphine Meya
Michael Schäble                                                                                                                  Summer of Love 2012
Silke Weber
                                                                                                    28........................   Judith Milz
                                                                                                                                 dOCUMENTA (13) - an x-ray of a moment in history

                                                                                                    32........................   Daniel Neumann
                                                                                                                                 v (document...)
Grasche Gestaltung Cover und Satz: Lotte Efnger, Hanne König (Heft 1/2), Mira Hirtz (Heft 2/4),
Silke Weber (Heft 3/4) und Hanne König (Heft 4/4)                                                   36........................   Grazyna Roguski
                                                                                                                                 EIN DUNKLER RAUM – dOCUMENTA (13) erfahren

Heft 1/4, Kunstkritik                                                                               39........................   Michael Schäble
Heft 2/4, Interviews                                                                                                             Der seltsame Fall des Ryan Gander
Heft 3/4, Interviews
Heft 4/4, Interviews

                                                                                                                                 Heft 2: Mira Hirtz

Auage                                                                                                                           Heft 3: Silke Weber

© die Autorinnen und Autoren und Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (Hg.)                                            Heft 4: Hanne König
Mut zur Kunstkritik! Ein Geleitwort

Eine Ausstellung vom Kaliber der documenta ist ohne Konkurrenz. Wie kann man –– oder darf
man –– über diese Ausstellung eine Kunstkritik verfassen? Muss sie nicht voll des Lobes
sein und Kuratorenpanegyrik betreiben? Positives Feedback ist immer gerne gesehen.
Oder ist es akzeptierbar, wenn man ehrlich bleibt, etwas herummäkelt, manches befür-
wortet und im Fazit eine eigene Meinung hat, vielleicht noch etwas Selbstkritik beimischt?
Welche Kritik ist anspruchsvoll und bleibt nicht bei einer deskriptiven Zuschauerführung?
Und warum kann man sich dem nicht entziehen –– und die documenta ignorieren? Ein Kritik-
Boykott, weil es nichts mehr hinzuzufügen gibt?

Dreizehn Studierende des Seminars „„dOCUMENTA (13)-Kritik““ waren drei Tage in Kassel,
um sich die aktuelle Ausstellung anzuschauen. Alles haben wir trotzdem noch nicht gese-
hen und das Begleitprogramm kann ohnehin nur von lokalen Dauergästen genutzt werden.
Die Theorie bleibt wie immer in der Ferne.

Trotzdem wollen wir etwas dazu beitragen, ganz freiwillig und ungefragt. Ja, die Studierenden
sollen sogar etwas sagen dürfen, obwohl sie noch nicht befugt erscheinen. Zumindest
erschien uns dies so, denn das dOCUMENTA (13)-Büro hat unsere journalistischen Ak-
kreditierungswünsche nicht ernst genommen. Sind also Studierende noch kritikunmündig?
Davon wollten wir uns überzeugen und haben ein Semester lang den Blick auf die Metae-
bene gehoben und verfolgt, wie sich die Kritik anhand dieser Ausstellung über die Jahre
entwickeln kann. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist der Wille zum Berufsrisiko, wie in
jeder Branche. Ein Urteil muss gefällt werden, in jedem Fall. Doch ob der ästhetische Rich-
terspruch gelingt oder akzeptiert wird, das bleibt dem Leser überlassen.

So haben sich also die Studierenden engagiert und gegenseitig über die Schulter ge-
schaut. Was dabei herausgekommen ist, steht in diesem und weiteren Notizbüchern zu
lesen. Es ist vom äußeren Erscheinungsbild ein Heft, wie es in jüngster Zeit rund hundert
ähnliche gegeben hat. Im handlichen Format, kommensurabel und kompakt geschaffen,
für die otte Lektüre zwischendurch. Und trotzdem intellektuelles Slowfood. So erschienen
im Vorfeld der aktuellen dOCUMENTA (13) die Hefte der Reihe 100 Notes –– 100 Thoughts /
100 Notizen –– 100 Gedanken, die in Zusammen-arbeit mit dem Hatje-Cantz Verlag heraus-
gegeben wurde.
Laut Pressemitteilung sei dieses „„Notizbuch-Projekt [...] eine Reexion über den Stand der
Kunstgeschichte. [...] Ein Aufruf, die Analyse zugunsten einer skeptischen Spekulation zu
unterbrechen.““

Da Analyse und Spekulation oft miteinander hergehen, hat sich das Kunstwissenschafts-
Seminar dOCUMENTA (13)-Kritik die Aufgabe gestellt, diverse Formate für eine Kritik dieser
Ausstellung von Weltformat zu nden. Aus studentischer Perspektive und auf dem Neuland
der Kunstkritik sind hierbei von Studierenden verschiedener Fachbereiche der HfG eigen-
ständig verfasste Kritiken, Interviews und Interpretationen von ausgewählten Kunstwerken
der dOCUMENTA (13) in Kassel zusammengestellt worden.
Somit wird aus den studentischen Arbeiten, die im Anschluss an das Seminar entstanden
sind, ein weiteres Notizbuch, das die Aufforderung wörtlich versteht, die Begleithefte der
Ausstellung im Souvenirformat weiterzuführen. Diese dreizehn Gedankensummen über-
schneiden und ergänzen sich in ihren Perspektiven. Alle Exkursions-Teilnehmer haben die
dOCUMENTA (13) in Kassel gemeinsam besucht und vor Ort über Kunstwerke diskutiert,

4
Improvisation liest (Sprechen Sie die Frau doch einfach an!) und die in der Karlsaue bend-    die durch Referate vorbereitet und vorgestellt wurden. Es ist deshalb ein sicher wertvoller
liche, leicht geöffnete eiserne Falltür.                                                       Vergleich, die verschiedenen Kritik-Resultate in ihrer Gesamtheit zusammenzubringen.
                                                                                               Es sind dreizehn Meinungen, die sich in unterschiedlicher Form äußern. Sei es die gewöhn-
Eine der ersten Skulpturen, die ich von Gander gesehen habe, ist die 3-teilige Skulptur The    liche Form der Kunstkritik, die sich der gesamten Idee der dOCMENTA (13) und exempla-
Artwork Nobody Knows (2011). Ein Rollstuhlfahrer liegt neben seinem Rollstuhl am Boden         risch einigen Werken zuwendet, das Close-Reading von Schlüsselwerken der Ausstellung
und vor ihm steht ein kleiner Würfel. Die liegende Person ist eine Miniatur des Künstlers      oder die Transkription von Interviews, die mit beteiligten Künstlern, Publizisten, Besuchern
selbst, in der Größe einer Action-Spielgur, dafür aber ziemlich detailgetreu nachgebildet,    geführt wurden.
sogar das ““N““ des New Balance Schuhs ist deutlich erkennbar.                                 Die studentischen Kritiken sind facettenreich und mutig, sie haben sich den großen Schuh,
                                                                                               mit dem sie losmarschiert sind, passend gelaufen und wir freuen uns, wenn auch die
Wie paradox: Ein Gehbehinderter portraitiert sich liegend wie eine Action-Figur. Der makel-
                                                                                               Leser dafür Verständnis haben, dass die Schritte nicht über allzu bequemes Terrain führen.
lose Held aus dem Comic liegt gestürzt, zerbrechlich und verwundbar am Boden. Das
Kryptonit, die Schwachstelle des Helden, wird zum Thema. Dadurch wird aus dem Held
                                                                                               Doch wo soll eine Kunstkritik ansetzen? Am Top of the Top, wo die Fallhöhe vielleicht rich-
ein Anti-Held, als Betrachter beginnt man sogar, Mitleid zu verspüren. Ist es das, was der
                                                                                               tig weh tut? Noch dazu eine Kunstkritik von Studierenden, die damit ihre zum Teil erste
Künstler möchte? Wohl kaum. Ryan Gander hat bereits begonnen, mit uns seinen Schab-
                                                                                               Auseinandersetzung mit diesem Genre überhaupt führen? Ja wo denn sonst, wenn nicht
ernack zu treiben.
                                                                                               genau hier den kritischen Finger auf die Diskurswunde legen und einmal ungläubig sein,
Die Gehbehinderung ist unübersehbar, jeder muss zu ihm herabschauen, wie auch bei
                                                                                               nach der Wahrheit fragen. Dort in Kassel, wo die Kunst von Beginn an eine Funktion hatte
diesem Portrait, jedoch war es Gander selbst, der sich so darstellt. Ich erkenne in dieser
                                                                                               zwischen den politischen und ästhetischen Fronten, dort lässt es sich am besten proben.
Arbeit Stolz, Stärke und einen Hauch von geistiger Sublimität. Die Schuhe, die Kleider
                                                                                               Die deutsche Provinz gibt das Trainingscamp für den Aufbruch in die weite Welt, wo es an
als Künstler-Uniform, Gander ist stolz Künstler zu sein, Künstler in seiner vollen Bedeu-
                                                                                               versierter Kunstkritik nicht genug geben kann. Wir verlangen nach Urteilsbildung, so wie
tung, der Künstler als Gesamtkunstwerk (The Artwork Nobody Knows)–– mit gebrechlichem
                                                                                               schon Friedrich Schlegel forderte: „„Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist,
Körper, aber starkem Intellekt Das geometrische Objekt, hier der Würfel, taucht übrigens
                                                                                               [...] hat kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.““ (zit. nach Peter Bürger: Begriff und Gren-
häug in Ganders Werk auf, eine Reexion über Abstraktion und Figuration und ebenso
                                                                                               zen der Kritik. In: Merkur 726, Heft 11/ 2009, S. 1023––1034, S. 1025).
ein Verweis auf die klaren Formen künstlerischer Vorbilder, z.B. die von de Stijl. Ganders
                                                                                               Ein Anfang muss immer gemacht werden und Mut sollte belohnt werden. Die Aufbereitung
Werk umfasst Fotograen, Videoarbeiten, Skulpturen und raumgreifende Installationen.
                                                                                               und Veröffentlichung der Kunstkritik ist eine zwangsläuge Folge des Seminars.
„„Den““ Gander erkennt man nicht formal an einer Handschrift, sondern auf der geistigen
                                                                                               Vielleicht ist diese Formulierung von Kritik eine Überschreitung des kunstwissenschaftli-
Ebene. Gander gehört damit einer Künstlergeneration an, bei denen das Konzept, die Idee,
                                                                                               chen Rubikon, der eine heftige Reaktion der professionellen Kritikergemeinde erwirkt? Das
das Medium dominiert. Gander beherrscht es auch, sowohl künstlerische Arbeiten ohne
                                                                                               ist aber kaum zu erwarten. Alle Schreiberlinge arbeiten mit Buchstaben. Und in diesem
Raumgebundenheit zu konzipieren, als auch speziell Werke für einen konkreten Raum zu
                                                                                               Projekt ging es nicht um die fröhliche Wissenschaft, sondern um die Kritik am Buch der
entwickeln. Durch seine Gehbehinderung hat er wohl schon früh die Konzeptkunst für sich
                                                                                               Bücher und an der Ausstellung der Ausstellungen.
entdeckt. Die geistige Arbeit wird von ihm erledigt, die Umsetzung dann durch die von ihm
                                                                                               An der dOCUMENTA (13) kann sich messen lassen, was der Status Quo der Gegenwarts-
ausgewählte Fachwerkstatt. Solch eine Vorgehensweise scheint derzeit sehr gängig und
                                                                                               kunst sein soll. Aber verlangt nicht auch diese Meßlatte nach Überprüfung ihrer Eichung?
erfolgreich zu sein, ich erinnere an Urs Fischer, Alicja Kwade und nicht zuletzt Jeff Koons,
                                                                                               Legen wir also das persönliche Urteil als Maßstab an den Tag und richten nicht nach in-
jedoch glaube ich, dass Gander, im Gegensatz zu den genannten Künstlern, aus der Not,
                                                                                               teresselosem Wohlgefallen, sondern nach systemischen Eigenschaften der kuratierten
seinem Handicap, eine Tugend gemacht hat.
                                                                                               Ausstellung.
                                                                                               Die Botschaft der dOCUMENTA (13) liegt in ihrem Kanon verborgen, hier werden Tendenzen
Michael Schäble                                                                                ausgebreitet und bestimmt, die auch Eingeweihte in ihrer Diversität überraschen. Schon in
                                                                                               ihrer Grundkonzeption ist die Ausstellung holistisch angelegt: Der Garten, die Natur, das
                                                                                               Politische, Zerstörung und Wiederaufbau, dabei zusammen vier Aktionsorte der Ausstel-
                                                                                               lung auf vier Kontinenten –– bios und zoon bilden bei dieser dOCUMENTA (13) globale Axi-
                                                                                               ome, die sich facettenreich in den künstlerischen Werken der Ausstellung nden lassen.
                                                                                               Dies alles zu kritisieren, wäre von herkulischem Aufwand –– und sicher nicht nötig. Wir
                                                                                               freuen uns deshalb über das Interesse an den Stichproben, die hier kritisch erhoben
                                                                                               wurden und hoffen, unsere Notizen und Gedanken können einen Beitrag dazu leisten, die
                                                                                               Aktualität und akademische Relevanz einer Ausstellung wie der documenta zu behaupten
                                                                                               und zu bewahren.

                                                                                               Sebastian Baden
                                                                                               Akademischer Mitarbeiter Kunstwissenschaft & Medientheorie,
                                                                                               HfG Karlsruhe, Seminarleitung

40                                                                                                                                                                                       5
Die gute Fee.                                                                                   Der seltsame Fall des Ryan Gander
Warum die dOCUMENTA (13) Künstlerträume erfüllt,
                                                                                                Wenn es in der Kunst um Gefühl geht, dann eröffnet sich ein schwierig bespielbarer Hori-
aber die Welt nicht retten kann.                                                                zont. Wie kommuniziert man Gefühl? Was kann die Kunst, was die Sprache nicht kann?
                                                                                                Und wie bricht man das auf das Nötigste herunter? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der
Vielleicht wird diese dOCUMENTA (13) bald die beste genannt werden. Vielleicht wird das
                                                                                                Engländer Ryan Gander. Jean-Christophe Ammann hat einmal in einem Interview über die
daran liegen, dass diese Ausstellung an einem Mythos der Kunst festhält, der von Heilung
                                                                                                Poesie in der Kunst gesagt, dass der Künstler beim Denken von Gegenwart das Präzise
spricht. Und keine Erwartungshaltung, die sich nach einem solchen Mythos sehnt, wird
                                                                                                diffus und das Diffuse präzise denken muss. Ryan Gander tut genau das.
sich enttäuschen lassen. Darum darf die Illusion ruhig bleiben, verweile doch, du bist so
schön. Inmitten des sonnengetränkten Aueparks, umgeben von natürlichen und künstlich            Das scheinbar unbespielte, windige, nahezu leere Erdgeschoss des Fridericianums wirkt
angelegten Panzungen streifen Sommerdüfte übers Land. Es ist wieder schönes Wetter             auf den ersten Blick stümperhaft kuratiert, da der wohl bestgelegenste Raum der ganzen
in Kassel und der Nieselregen hat sich verzogen. Über einen von dem Künstler Song Dong          dOCUMENTA (13) einfach leer gelassen wurde. Abgesehen von ein paar Metallskulpturen
vor der Orangerie und im Fluchtpunkt der barocken Gartenanlage positionierten Müllberg          des verstorbenen spanischen Künstlers Julio González, einer Soundinstallation der paki-
ist Gras gewachsen. Die Zeit und die Kunst, so scheint die dOCUMENTA (13) sagen zu              stanischen Künstlerin Ceal Floyer, einem Dokumentarlm des palästinensischen Künstlers
wollen, heilen alle Wunden.                                                                     Khaled Hourani und dem in einer Vitrine präsentierten fünfseitigen Brief des deutschen
Doch klaffen auch unverheilte Narben in dieser grünen Landschaft. Auf dem luftigen Gal-         Künstlers Kai Althoff an die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, der seine Beteiligung an
gengerüst des Amerikaners Sam Durant ist nachzulesen, wie es um die Geschichte der              der dOCUMENTA (13) versagt, gibt es nicht viel zu sehen. Nur ein heftiger Windzug fegt
öffentlichen Hinrichtung in den USA steht –– bis zum Tod des irakischen Diktators Saddam        leise Gesänge durch die Türzargen hindurch. Man muss als Betrachter gleich zu Beginn
Hussein durch den Strang. Ein paar hundert Meter davon entfernt bieten Robin Kahn               der Ausstellung die Sinne wechseln und Hören und Fühlen. Da hat nicht etwa jemand
& La Cooperativa Unidad Nacional Mujeres Sahrauis Gespräche über das Schicksal al-              das Fenster versehentlich offen gelassen, und vergessen den Raum zu kuratieren, nein,
teingesessener Völker der Westsahara an, die von der ehemaligen Kolonialmacht Spanien           beim Nachdenken darüber geht man Gander bereits auf den Leim. Gander hat minutiös
verlassen und vom Staat Marokko schlecht behandelt wurden. Die Geschichte wiederholt            eine Studie zur Geschwindigkeit der Luftströmung in diesen besagten Räumlichkeiten des
sich, das ist nicht erst seit Karl Marx bekannt, doch was kann die Kunst gegen diese Farce      Fridericianums erstellen lassen, so dass man den künstlich erzeugten Luftstrom nicht di-
unternehmen?                                                                                    rekt als einen künstlich erzeugten wahrnimmt. Was hat das zu bedeuten? Der Titel dieses
                                                                                                „„Durchzugs““ lautet I Need Some Meaning I Can Memorise (The invisible Pull), und in der
Man könnte der Kuratorin der Ausstellung, Carolyn Christov-Bakargiev, zunächst bestäti-         Tat war dies eines der künstlerischen Werke, an das ich mich im Nachhinein noch sehr
gen, dass die von ihr ohne bewusstes Konzept kuratierte Ausstellung zu einer großen             stark erinnere (Oder ist es einfach nur der Aufgriff einer Textzeile des melancholischen
Erzählung geworden ist. Sie hat vorbeugend zwar betont, dass die dOCUMENTA (13) von             Songs ““Lover I Don´t Have To Love”” der amerikanischen Band Bright Eyes?). Vor allem im
einer „„ganzheitlichen und nicht logozentristischen Vision angetrieben““ wird, doch die große   linken Eingangsbereich, bei dem im anschließenden Nachbarraum die Soundinstallation
„„Skepsis““ der Ausstellung gegenüber der Welt wird vor allem dann ausdrücklich und ver-        Til I Get It Right (2005) von Ceal Floyer leise zu hören ist, springt der melancholische Funke
ständlich, wenn man die drei großen Kataloge zur Hand nimmt.                                    der vermutlichen Anspielung auf die Melancholie der Band Bright Eyes über, da es sich bei
Schon das Begleitbuch zu einzelnen Künstlern und Werken ist kein Handschmeichler, aber          dieser klangvollen Soundinstallation um eine veränderte Form des Song-Klassi-kers von
seine Karten und Indices sind unentbehrliches Werkzeug auf der Schnitzeljagd nach den           Tammy Wynett handelt. Die Künstlerin Ceal Floyer beschneidet den Liedtext digital auf die
schier unzähligen Stationen, die in Kassel dOCUMENTA (13)-Stationen beherbergen. Alle           beiden Zeilen ““I´ll just keep on/ ´til I get it right””, lässt diesen Mini-Refrain im Loop erklin-
drei Bücher, welche die dOCUMENTA (13) begleiten, sind in das Grün der Hoffnung ge-             gen und wendet sich damit den Fragen zu, die sich Tammy Wynett mit dem Original damals
bunden. Und das „„Buch der Bücher““, wie sich der erste voluminöse Band nennt, enthält          schon gestellt hat, nämlich der Verwundbarkeit der Seele und der stetigen Möglichkeit des
neben den beiden Keynote-Texten der Kuratorinnen Carolyn Christov-Bakargiev und Chuz            Scheiterns in der Liebe.
Martinez sämtliche Ausgaben der in den Jahren zuvor erschienen 100 Notizen –– 100
Gedanken in komprimierter Form. Auch dies ist ein fast unverzichtbares Nachschlagewerk          Ganders Kunstwerk, betitelt mit einer Textzeile aus einem melancholischen amerikani-
bei der Ergründung der intellektuellen Fundamente dieser Ausstellung. Die Leseliste, die        schen Popsong, und Floyers melancholische, reduzierte Variation eines ebenfalls amerika-
als „„Propädeutik zur Grundlagenforschung““ bezeichnet wird, umfasst nach unsichtbaren          nischen Musikklassikers, ergeben eine ungewöhnliche, aber gleichzeitig sehr gelungene
Kriterien komponierte Charts, die von der griechischen Antike bis zur aktuell von Tirdad        Zusammenführung und Gegenüberstellung dieser beiden doch völlig unterschiedlich wirk-
Zolghadr publizierten Schrift „„Judgement and Contemporary Art Criticism““ die Vielfalt des     enden künstlerischen Positionen. Eine sehnsüchtig wirkende Melancholie Ganders steht
menschlichen Intellekts und seiner Urteilskraft exemplarisch beleuchten. Soviel geballte        hier einer existentiellen Melancholie Ceal Floyers gegenüber, die beide immateriell blei-
Selbstreexion macht ehrfürchtig –– und täuscht darüber hinweg, dass hier tatsächlich im-       ben, Gefühl mit wenigen oder ohne Worte thematisieren und nicht in einer plumpen Narra-
mer noch vom utopischen Traum der „„Rolle der Kunst beim Bau einer neuen und besseren           tion untergehen. Für den hastigen Besucher erscheinen beide Kunstwerke inexistent. Für
Welt““ gesprochen wird, während der Rest der Welt, der sich eigentlich angesprochen             den interessierten Besucher dagegen werden die Eingangshallen des Fridericianums zu
fühlen müsste, unästhetisch arbeiten muss, um zu überleben und die dOCUMENTA (13)               einer poetischen Zauberkiste, die zum Verweilen in eine windgeschützte Nische einlädt.
nie erleben wird.                                                                               Genauso subtil und fast unsichtbar sind die beiden weiteren Interventionen Ganders in
                                                                                                der dOCUMENTA (13). Eine Frau, die dauerhaft in der Orangerie sitzt und ein Buch über
6                                                                                                                                                                                               39
Schild, kein Personal lässt irgendwelche Referenzen erkennen.                               Vielleicht ist es gerade deshalb die „„Unsichtbarkeit““ des „„Schicksals der Verlierer der
Sie beginnt in einem dunklen Raum.                                                          Geschichte““, die in dieser dOCUMENTA (13) so zahlreich angesprochen wird. Besonders
Am Anfang sehe ich nichts, strecke den Arm aus und taste mich in winzigen Schritten         hervorzuheben sind die Beiträge von Künstlern aus den arabischen Ländern, welche von
zentimeterweise vorwärts. Ich nde mich selbst inmitten einer Bühne wieder, die erst        der Geschichte des Unfriedens und der prekären Verständigung erzählen, denen Völker
durch mein Ein- und Auftreten zu einer solchen wird. Getragen von Bewegung, Raum,           und Staaten seit jeher unterworfen sind. Rabih Mroués Videolecture und Daumenkino zu
Musik und Mensch verwandelt sich die Bodenäche eines ehemaligen Garagenraums. Am           den Sniperangriffen auf Zivilisten in Syrien, die Fiktionen und Verschwörungstheorien des
Ende meine ich Gesichter zu erkennen, manchmal auch Lieder.                                 libanesischen Künstlers Walid Raad & The Atlas Group, Ayreen Anastas und Rene Gabris
                                                                                            Kryptisierung der Widerstandsbewegung in Ägypten, die postkolonialen Narben „„extra-okzi-
Es gibt eine klare Setzung:                                                                 dentaler Kulturen““ in Kader Attias riesiger Installation oder die faszinierend unheimlichen
15 gecasteteTänzer, 1 abgedunkelter Raum, 11 einstudierte cues, 1 sich wiederholende        Puppen-Spiellme über die Kreuzzüge von Wael Shwaky –– sie sind ein Pars pro toto für
politische Botschaft (““the income people achieve from producing things of slight conse-    die Unbilden der Existenz und zugleich Zeugnis einer kreativen, erkenntnisreichen und
quence is often from great consequence””).                                                  befremdenden Kunst. Die Situation des zuschauenden Beobachters erfährt konstant die
                                                                                            Dialektik, dass der Luxus der Sicherheit unmittelbar an das Koniktpotenzial, aus welcher
Das partizipatorische Moment besteht in der bloßen Anwesenheit des Rezipienten: Die         diese entstanden ist, erinnert.
Dunkelheit verschleiert Gesichter genauso wie Rollen, und dabei treffen direkte Ansprache
und Ungezwungenheit in Betrachtung und Rezeption aufeinander.                               Die dOCUMENTA (13) macht sich durch ihre gesunde Selbstreexion eine Pazizierungs-
Laut Eigenaussage einer Tänzerin konsumieren nicht nur die Besucher die Akteure, auch       strategie zu Eigen, mit der das Kuratorium Deutschland verlässt und über Kairo nach
die Akteure konsumieren die Besucher. Diese Wechselwirkung erzeugt wohl das emanzi-         Kabul und Banff den Diskurs der Ästhetik und Wahrnehmungskritik verbreitet. Ein solcher
patorische Moment der Subjektivität.                                                        Eskapismus, der idealistisch eines der kulturell prekärsten Zentren der Welt in Afghanistan
                                                                                            mit der ökologisch ausbalancierten kanadischen Natur zusammenbringt, sorgt für Exklu-
Ein dunkler Raum, das Ungewisse:                                                            sivität. Die große Erzählung der dOCUMENTA (13) ist eine noble Geste, die sich zugleich
Die dOCUMENTA(13) ist im Gesamten zwar längst nicht so ungewiss wie erhofft –– den-         an ausgewählte Gäste hält. Ihr Intellektualismus wird in den Dependancen wahrscheinlich
noch: Ich weiß immer, dass ich nicht alles sehe; was mich im Endeffekt mehr beruhigt als    nur Wenigen zu Teil. Der Traum, in der Welt mit Kunst alles wieder gut zu machen, ist
das Gegenteil. Denn ich muss nicht genügen, bestehen, fertig werden.                        unrealistisch. Dennoch will die Kuratorin CCB mit ihrer Ausstellung Differenzen überwin-
                                                                                            den, Verbindungen schaffen und Raum für Veränderungen bereitstellen. Die Kunst wird zur
Im besten Fall zischt mich die Kunst an und läuft vor mir weg.                              Hypnose, wie sie Marcos Luytens anbietet, aus der ein Betrachter vielleicht mit Schrecken
                                                                                            erwacht und feststellen muss, dass sich nichts geändert hat. Die Welt ist gleich schlimm
Oder ich gehe in kleine Häuser und lasse mir etwas zeigen. Gehe wieder.                     und gleich gut wie zuvor, vielleicht ist uns aber die Natur ein Stück näher gerückt. CCB
Und die Gartenschau, die eine Kunstschau wurde, zeigt ein Fluchtbiotop für Schmetter-       will die Rechte der Umwelt stärken und auf Ressourcen schonendes Leben aufmerksam
linge.                                                                                      machen. Die Präsenz der Dinge soll dem Besucher bewusster werden, denn Stein ist nicht
                                                                                            gleich Stein, wie schon die Kopie eines Marmor-Findlings von Juiseppe Penone beweist.
                                                                                            Überhaupt hat CCB viele Gegenstände und Menschen ins Feld der Kunst gebracht, die
Grazyna Roguski                                                                             man dort nicht vermutet hätte. Was haben der binäre Code der Rechenmaschine von
                                                                                            Konrad Zuse, die Erdatmosphäre oder Getreidesamen ästhetisch gemeinsam? Sie bilden
                                                                                            Komponenten unserer Umwelt, erhalten Leben und machen es berechenbarer.

                                                                                            Doch ist das nicht eine Platitüde? Nach Joseph Beuys war jeder Mensch ein Künstler, nun
                                                                                            sei alles Kunst? Die dOCUMENTA (13) macht sich frei von einem Kunstbegriff, behält aber
                                                                                            dessen Avantgardeanspruch bei, Leben und Kunst in einer Schnittmenge zu sehen. Leben,
                                                                                            atmen, sehen, lieben –– es ist viel Pathos in dieser Ausstellung, auch wenn es zurückhal-
                                                                                            tend formuliert wird. Schon der zugige Eingang ins Museum Fridericianum hält dem Neu-
                                                                                            ankömmling im aktuellesten Raum der Kunst nichts als Druckunterschiede vor, produziert
                                                                                            von dem Künstler Ryan Gander, dessen Arbeit frischen Wind in die Ausstellung bringt.

                                                                                            Hier ist das sogennante „„Brain““ der Ausstellung zu betrachten, eine Wunderkammer mit
                                                                                            Artefakten aus der Kulturgeschichte der Menschheit. Provozierend symptomatisch stößt
                                                                                            man dort auf die Fotos von Lee Miller, die entstanden, als die Fotogran am 30. April
                                                                                            1945 in Hitlers Münchner Wohnung in der Badewanne posierte. Wieder einmal sind es die
                                                                                            Initialen des Führers, die für ein schaurig schreckliches Kunsterlebnis sorgen. Auf dieser
                                                                                            journalistischen Anekdote baut die dOCUMENTA (13) den Zweig ihrer Erinnerungsarbeit auf

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und mit sichtbarem Erfolg hat CCB viele Künstler mit der Geschichte des Konzentration-         Eine Vielzahl der Exponate bringt den Verweis „„produced and commissioned for dOCUMEN-
slagers, dem ehemaligen Benediktinerkloster und späteren Mädchenheim Breitenau bei             TA(13)““. Inwiefern gestaltet die dCUMENTA(13) also ihren Kontext selbst? Site Specic
Kassel bekannt gemacht.                                                                        könnte man als die Reinform einer ausschließlich mit (De)Kontextualisierung arbeitenden
                                                                                               Kunst anführen, und so sind auch einige Arbeiten in Kassel angelegt. Offen bleibt, ob und
Die eindrücklichste Fiktion dazu hat der deutsche Filmkünstler Clemens von Wedemeyer           inwiefern die Kuratorenkommission der dOCUMENTA(13) hier eingegriffen hat.
geschaffen und auf einer Triangel-Leinwand im großzügigen Areal des Nordügels im Kul-
turbahnhof präsentiert. Über drei Filmteile nähert sich der Künstler historisch der Kloster-   Dennoch: Die Setzung der einzelnen Arbeiten bleibt in einem permanent adäquaten Rah-
geschichte, wobei drei Figuren alle Erzählstränge verknüpfen. Von der Befreiung der inhafti-   men. Susan Hillers subjektiv zusammengestellte Protestsong-Jukebox ist neben einer aus-
erten Zwangsarbeiter durch die Alliierten, über die Schauspielproben, um das Drehbuch zu       führlichen Version in der Neuen Galerie auch im Café mit Bio-Kaffee und selbstgemachtem
Ulrike Meinhofs Schauspiel „„Bambule““ umzusetzen, bis zur pädagogischen Anstrengung,          Kartoffelsalat platziert, Seth Prices Kunst-Klamotten hängen als Sonder-Aktion neben den
einer Schulklasse vor Ort Erinnerungskultur zu vermitteln, reicht das Spektrum des Kunst-      Rolltreppen im Kaufhaus Sinn-Leffers, Nedko Solakovs Selbstransformation zum schlag-
werks. Wäre darin nicht die schauspielerische Leistung so befremdend, dann könnte man          zeugspielenden Ritter ist im Gebrüder Grimm-Museum zu betrachten, ein designter Hun-
dem Film sogar kinematograsches Potenzial zuschreiben. So bleibt das künstlerische Be-        despielplatz erweitert den Park und Etel Adnans Öl-Gemälde hängen im White Cube der
mühen aber lmisch selbstreexiv und führt dem Betrachter immer wieder vor Augen, wie          documenta-Halle.
schwierig es ist, das Unsagbare oder Undenkbare in eine Form visueller und akustischer
Erinnerung zu bringen.                                                                         Mit dem Erwerb eines Tickets begebe ich mich auf den Weg, vorbei an gelben Schildern,
Direkt daneben schafft es hingegen der südamerikanische Künstler und Publikumsliebling         die die Arbeiten als solche kennzeichnen, und genieße die Freiheit der Interpretation des
William Kentridge mit einer raumfüllenden Videoprojektion über alle Wände hinweg zu ver-       Stadtplanes und der Möglichkeit zwischen der Vielzahl an einzelnen Arbeiten einen ei-
führen. Zu den Klängen des Komponisten Philipp Miller ruckeln und huschen die bekannt-         genen Ablaufplan zu bestimmen.
en Animationen spukartig durch die Spots der Filme und bringen auch den Meister selbst         Ich fühle mich „„frei““ und „„selbstbestimmt““, und doch bleibt der Beigeschmack, dass ich
ins surreale Tanzstück. Vielleicht sind dies die Clichés, die man sich von einer solchen       nicht nur Rezipient, sondern vor allem Konsument bleibe.
Position wünscht, um die kritische Erinnerung an die Apartheid zu pegen und dabei auch        Warum? Ich gehe hinein, hindurch, nehme vielleicht etwas mit und wieder hinaus. Und
die Alltagskonikte im häuslichen Miteinander nicht zu vergessen? Es ist immer wieder ein      frage mich, ob das nun eine Situation ist oder ein kleines Spektakel, das mit den gleichen
irritierendes Vergnügen, die Vielfalt und Ausdruckskraft in der Kunst von William Kentridge    Mitteln wie ein Erlebnispark arbeitet: Ich gehe hinein, hindurch, nehme vielleicht etwas mit
zu spüren und zu sehen. Auch die Einfachheit einer hölzernen Maschine kann hier von            und wieder hinaus.
mystischer Anmut sein und zugleich die harte Arbeit am Kap der guten Hoffnung symboli-
sieren.                                                                                        Kleine Gartenhäuser beherbergen Videoinstallationen –– trotzdem: Die Grenzen zwischen
                                                                                               Kasseler Stadtraum und internationaler Documenta verschwimmen nahezu und die Frage
Ein weiterer Liebling des Kuratorenteams scheint das Duo Faivovich&Goldberg zu sein,           „„Was ist Kunst?““ wird dankbarerweise nicht gestellt, sondern mündet vielmehr in der sub-
die mit ihrer Arbeit zeigen wollen, das Kunst und Glaube zwar keine Berge, dafür aber Me-      jektiven Beantwortung, Filterung und Differenzierung jedes Einzelnen.
teoriten versetzen kann. Ihr erster Versuch, die zwei Hälften des aus dem argentinischen
„„Campo del Cielo““ stammenden Meteoriten „„el taco““ zusammen zu bringen, gelang unter        Der Betrachter ist nicht nur anwesend, er ist entscheidend.
großem Aufsehen im Frankfurter Portikus 2010. Das ursprünglich in Deutschland zersägte
Amalgam aus Eisen und Nickel wurde in Washington und Buenos Aires zu wissenschaftlichen        Einige Arbeiten erscheinen mir paradigmatisch im Umgang mit eben dieser Rollenzuwei-
Zwecken untersucht und von den Künstlern, ganz im platonischen Sinne, wieder zur Einheit       sung zwischen Kunstwerk und Rezipient zu sein.
gebracht. Die Tatsache, ein kosmisches „„Already-Made““ zu Kunst zu erklären, sorgte somit
schon in der Planungsphase der dOCUMENTA (13) für Aufsehen und machte deutlich, wie            William Kentridge bindet in seiner Installation den Zuschauer an festgeschraubte Stühle,
universal die Größenordnung dieser Ausstellung sein würde. Für ihren Auftritt in Kassel        die in loser Anordnung Lockerheit suggerieren. Das Gegenteil ist der Fall. Die Surround-
wollten die beiden Künstler noch etwas drauaden und beabsichtigten, den größten Find-         Installation aus Objekt, Bild, Ton, Bewegung und Raum hat eine straffe und unausweichli-
ling des Meteoritenfeldes zu verschleppen, um ihn in der deutschen Provinz wie Kubricks        che Wirkung, ist nahezu hypnotisch.
rätselhaften Monolithen aus der Space-Odyssee zwischenzuparken. Das politische, pan-           Was stört mich daran?
theistische und buchstäbliche Gewicht dieses extra-terrestrischen Körpers machte jedoch        Ich merke, wie ich sitzen bleibe –– meine Passivität lässt mich sitzen, denn ich „„werde““
große Schwierigkeiten und schließlich wurde der Transport des verehrten indigenen Heilig-      unterhalten, „„lasse““ mich bespielen. Anfang und Ende des multimedialen Werkes sind
tums aufgrund des Protests der Resistencia Bewegung in Chaco aufgegeben. Zu sehen              deutlich auszumachen. Die große hölzerne Maschine beginnt sich zu bewegen, Bild und
ist der gescheiterte Versuch in Form von Dokumenten und einem Video, die erzählerisch          Ton folgen. Es fehlt der Schlitz für den Münzeinwurf.
genug sind, um den Mythos der Kunst auch hier lebendig zu halten. Das Werk der beiden          William Kentridge begegnet mir als diktierender Autor, der seine Souveränität künstler-
Argentinier ist damit vielleicht der beste Beweis, wie auch das Scheitern von Größenwahn-      ischer Autorität gleichsetzt.
sinn in der dOCUMENTA (13) ein Erfolg sein wird.
Ein wichtiges Zeugnis der unbedingten Inklusionspotenz von Ausstellung und Kuratoren           Eine andere Form des Dialogs nde ich in der Arbeit Tino Sehgals. Erst als ich mich schon
ist ein Brief von Kai Althoff, der seine Absage als Teilnehmer an der Ausstellung mitteilen    einige Zeit „„darin““ aufhalte, wird mir klar, wo ich bin –– nämlich bereits mitten in ihr. Kein

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EIN DUNKLER RAUM                                                                                  möchte. Selbst diesen einzigen Rückzieher unter allen geladenen Künstlern macht CCB
                                                                                                  zum Teil des Ausstellungskonzeptes und stellt die handschriftlich verfasste Beschämung
documenta(13) erfahren                                                                            allein in einen windigen Saal.
                                                                                                  Zu sehen gibt es aus Trotz im „„Gehirn““ der Schau aber doch eine kleine Zeichnung des
Das diesjährige Konzept der dOCUMENTA(13) wird als explizite Unverständlichkeit gehan-            Künstlers. Ideen werden in dieser dOCUMENTA (13) nicht aufgegeben, und es werden
delt. Es gehe um „„alles““, „„nichts““, es wird über esoterischen Bezug und Hunde-Fetisch         täglich mehr, die das fulminante und beeindruckende Begleitprogramm aus Performances,
verhandelt. Postkoloniales Denken wird von einem mystischen Ganzen abgelöst –– zumin-             Lesungen, Filmvorführungen und Führungen vorstellt. Hierzu zählt auch die von dem Ku-
dest ist diese Sicht in Kunstmagazinen und Feuilletons immer wieder zu nden.                     rator und Autor Raimundas Malasauskas mit betreute „„Black Box““ im ersten Stock der
Dem entspricht, dass Meteoriten, Hypnotherapeuten und Kabul die bestimmenden Fak-                 Organgerie, inmitten von rätselhaften Technik-Reliquien und Fernrohren. Die aus Plexiglas
toren einiger Diskurse und Behauptungen sind. Letzten Endes bleibt dieses inhaltliche             und Spiegeln labyrinthisch angelegte Kiste beherbergt unbekannte Objekte, zu deren Deu-
Konzept in erster Linie ein Muster und genauso auch eine Strategie, nicht nur mit Kunst,          tung jeden Donnerstagnachmittag Teilnehmer der Ausstellung eingeladen werden. Es ist
sondern auch mit Erwartungen umzugehen.                                                           ein komisches Rätselraten, das eigentlich mehr die Denk- und Arbeitsprozesse der Künstlerin-
Neben den kennzeichnenden Exponaten (wie zum Beispiel der Meteorit von Guillermo                  nen und Künstler offenbart, als den Eigensinn der ausgestellten Artefakte.
Faivovich und Nicolás Goldberg) und hypothetischen Diskursen öffnet sich beim tatsäch-            Ein Dialog zwischen dem mexikanischen Künstler Abraham Cruzvillegas und Kodwo Eshun,
lichen Besuch der dOCUMENTA(13) eine ganz andere und wesentliche Erfahrung: der                   einem Mitglied der Otolith Group, erzeugt ein Rhizom aus Pseudophilosophie und Kapi-
Umgang mit Raum.                                                                                  talismuskritik. Dabei kommt aber die mystizierende Kapazität der Einschüchterung zur
Die dOCUMENTA(13) streut sich dieses Jahr in die Stadt. Cafés und Kaufhäuser werden               Geltung, mit welcher speziell die wissenschaftliche Arbeit und das Modell der Black Box
bespielt, ein alter Bunker, die gesamte Parkanlage, diverse Museen, leerstehende Räume            der Forschung belegt sind.
und Häuser, Kinos. Eine Mischung aus Natur, Freizeit, Konsum und öffentlichem Raum                Die Kunst verhalte sich hermetisch oder hermeneutisch, so Kodwo Eshun, demgegenüber
ergibt einen Parcours durch die sonst in ihrer Präsenz sehr zurückhaltenden Stadt Kassel.         Abraham Cruzvillegas den Humor als Moment dialektischer Aufhebung formuliert. Nach
Stadtpläne treten an die Stelle von Museumsführern, gelb gekennzeichnete Shuttlebusse             Dafürhalten des Mexikaners sei das „„Verlernen““ ein Akt wichtiger Vergegenwärtigung
durchkreisen den Verkehr.                                                                         im Leben und bei ihm eine künstlerische Strategie. Ein Zeichen, so es nur oft genug
Der Besucher ndet sich beim Kunst-Schauen genauso in Pfützen wie neben Kleider-                  gesprochen oder angeschaut werde, verliert plötzlich seine abstrakte Bedeutung und wird
ständern und Glasvitrinen wieder.                                                                 keusches Ding. Diesen Abstand zu Konnotationen gilt es in die Kunst zu bringen. Cruzvil-
                                                                                                  legas hat sich deshalb für die Präsenz in absentia entschieden und kein konkretes Objekt
Begehbare Kunst! Kassel als großer Kunstraum.                                                     zur Ausstellung beigesteuert. Er hält sich stattdessen längere Zeit in Kassel auf und fügt
Die Stadt und die einzelnen Werke dienen als Bausteine für die große Gesamtinstallation           dem öffentlichen Raum kleine Veränderungen zu, Interventionen, denen man nur durch
„„dCUMENTA(13)““.                                                                                 Zufall begegnet, wenn man sie denn bemerkt. Eine solche Strategie der minimalinvasiven
                                                                                                  Eingriffe zählt zum Mikrokosmos dieser Ausstellung, die sich zwischen Grundlagenphysik
Für dieses Projekt tritt die Kuratorin als Großregisseurin auf, der Betrachter ebenso als         und universaler Mythologie in Quantensprüngen bewegt. Dabei werden auch keine Mühen
Akteur. Was dabei geschieht, kann durchaus mit „„performativ““ betitelt werden.                   gescheut, um Personal und Material global zu verfrachten. Nur durch Bewegung in der
                                                                                                  Fremde lernt man das „„Andere““ im Eigenen kennen.
Die einzelnen Stationen dieses großen Ganzen spiegeln den Begriff von der Gesamtsitua-            Eine Ausstellung wie die dOCUMENTA (13) legt auf diese Re-Importstrategie, wie sie schon
tion oftmals wider: Ein Streitraum in der Neuen Galerie lädt zum Schreien und Versöhnen           durch die Biennalen bekannt ist, großen Wert. Bestes Beispiel ist das Hugenottenhaus,
ein, zu bestimmten Terminen wird dies ebenso live performt. Das Parkdeck von C&A muti-            einer der vielen Nebenschauplätze in der Kasseler Stadt, wo der amerikanische Künstler
ert zur großen begehbaren, brach gelegten und mit reduzierten Beats unterlegten Kauf-             Theaster Gates seine Künstlerkommune aus Chicago mitsamt Werkstatt und Baumaterial
haus-Ödnis. Pierre Huyghe vermischt Hunde, Brennesseln und Bienen zu einer surrealen              herangeschafft hat, um während der Laufzeit der Ausstellung das marode Gebäude attrak-
oder postapokalyptischen Situations-Skulptur. Das Künstlerduo Epaminonda & Cramer                 tiv umzubauen. Dadurch sieht es noch nicht wohnlicher aus, aber die künstlerischen Ein-
nutzt ein altes Zollhaus am Bahnhof als Bühne zur Schaffung ihres eigenen Erzähl-Kos-             bauten füllen überraschende Leerräume mit kleinen Details aus, schaffen dunkle Stuben
mos. Sam Garreth inszeniert ein System im System, klein- und feinteilig zusammengebaut            für atmosphärische Jazz-Videos und sorgen für ein rustikales Ambiente, in dem auch live
aus Übriggebliebenem oder ganz einfach aus Müll. Ein Hypnose-Künstler wartet in einem             konzertiert wird. Die in Leuchtkisten eingesetzten kleinen Diapositive aus der Art Library
eigens gebauten Bungalow auf angemeldete Besucher/Rezipienten/Klienten/Akteure/                   der Universität Chicago zeigen Abbildungen von deutschen Renaissance-Stichen, darunter
Mitwirkende.                                                                                      die Vertreibung aus dem Paradies.
                                                                                                  Das Diskurs-Trauma des Christentums, welches Erkenntnis mit der Strafe des harten
Eine documenta zeigt Kunstwerke aus ganz verschiedenen Kontexten. Aber sie stellt die Kunst-      Lebens verbindet, ndet Widerhall im eschatologischen Schauplatz der Kunst, wo „„die
werke nicht in ihren Kontext zurück, sondern löst sie aus ihm heraus. Eine documenta bringt die   Möglichkeit einer metaphorologischen Heilung der durch den Krieg verursachten Verlet-
Freiheit zur Erfahrung, mit der die Kunstwerke den Kontext ihrer Herkunft übersteigen.            zungen““ verkündet wird. Es gilt also nicht zu vergessen, dass die französischen Hugenot-
(Zitat: Christoph Menke auf Zeit.de)                                                              tenverfolgungen keine anderen Glaubenskriege waren als der zerstörerische Terrorismus,
                                                                                                  der unilateral um islamistische Vorherrschaft kämpft. Die Künstlerkommune aus Chicago
Eine documenta generiert Kontext, eine Documenta dekontextualisiert.                              ruft aber auch die Anthroposophen des Monte Verità in Erinnerung, die CCB immer gerne

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als Beispiel für ihre utopischen Vorbilder nennt, wenn sie Auskunft über ihre Lehrzeit bei     thek menschlicher Gene aus, von denen eins ums andere nach dem Zufallsprinzip ausgel-
Harald Szeemann gibt. Der Traum von einer besseren Welt –– ob er wenigstens in der Kunst       esen wird, während auf einem Bildschirm die Visualisierung des Genverhaltens bei einem
einen probaten Botschafter ndet?                                                              Trauma zu sehen ist. Letztere inszenieren ein dystopisches Szenario, das von zwei nebe-
                                                                                               neinander laufenden Filmen, die wie ein früher und später symmetrisch ablaufen, zu Frag-
Für den Kampf zwischen Gut und Böse gibt es eigentlich nur einen Ort, wo man ein               menten einer Zukunft führt, die Imagelme eines neuen, hygienischen Menschen zeigen
Happy End sicher erwarten kann. In Kassel steht dafür das Gebrüder Grimm Museum                oder auch modellhaft Tatlinsche Hochhausstrukturen präsentieren, welche aus Platzman-
parat, um über die Ursprünge der Märchensammlung zu informieren. Dort hat sich der             gel oder auf Grund einer anachronistischen Idee der Moderne das soziale Leben von der
bulgarische Künstler Nedko Solakov mit einer fulminanten Installation selbst inszeniert.       Fläche in die Höhe staffeln. Beide Werke gehen von den biopolitischen Implikationen der
Laut Eigenaussage konnte sich Solakov durch den Auftrag der dOCUMENTA (13) endlich             Gegenwart aus, die den Menschen in seine Einzeiteile zerlegen und ihn potentiell, unter
seine Jugendträume erfüllen und ließ sich eine Ritterrüstung schmieden, schaffte sich          Vernachlässigung einer Idee von Subjektivität, neu organisieren können. Geradzu absurd
Miniaturhubschrauber an und lernte Schlagzeug spielen. Mit schelmischem Humor stellt           stehen dagegen dann die Quantenphysik-Miniaturen von A. Zeilinger, die einen Blick auf
er sich in die Tradition des Malteserordens, nimmt an Kriegs-Reenactments teil und unter-      Teilchenmessungen erlauben oder sie nach ihren ästhetischen Qualitäten bewundern las-
sucht die ritterlichen Tugenden im Alltag. All dies orientiert sich an der romantischen Idee   sen wollen, aber notwendigerweies eher verwirren, so wie es dort auf der mit Formeln
des Rittertums, die auch im Märchen die erlösende Utopie stellt. Für viele dOCUMENTA           übersäten Schiefertafel heißt: „„Want something explained? Ask the physicist!““ Oder auch:
(13)-Künstler mag die Teilnahme in Kassel wie ein Traum erscheinen, in dessen Wirkli-          „„Don’’t know Physics? Go Fuck Yourself!““. Anders verstimmen mag A. Balkins Wand aus
chkeit die Kuratorin als gute Fee vorbeihuscht, um für märchenhafte Erfüllung zu sorgen.       Petitionsgesuchen die Erdatmosphäre als Weltkulturerbe zu deklarieren. Aus vielen ein-
Die Ausstellung könnte ein Märchen sein, das sicher gut ausgeht, in dem alte Geschichten       zelnen Briefen bestehend, die von einiger Entfernung gesehen ein gleichmäßiges Muster
aus dem Dornröschenschlaf geweckt werden und den Besucher zum suchenden Prinzen                abgeben, löschen sie, wie Farmers aufgespießte Ikonen, ihren abgebildeten oder aufge-
machen. Und weil auch im Märchen nur die Bösen sterben müssen, besteht Hoffnung,               schriebenen Sinn durch Repetition, das Abdrucken des immergleichen Schreibens an ver-
dass die dOCUMENTA (13) die Träume hält, die sie verspricht. Vielleicht.                       schiedene Empfänger, aus. Die Idee kollidiert mit der schlichten Addition der Idee, sie
                                                                                               drückt sich aus in einem Haufen von Briefen, deren Bedeutung malgré lui-même in Ne-
                                                                                               gation umschlägt. Geschickter geht T. Dean sowohl mit Schiefertafeln als auch Wieder-
Sebastian Baden                                                                                ho-lung um. Die Kreidezeichnungen eines Flusses (der an verschiedenen Daten und Po-
                                                                                               sitionen abgebildet wurde) modizieren durch die Stärke und Schwäche des Aufdrucks
                                                                                               nicht nur die Erkennbarkeit und akzentuieren das Fließen, Verdampfen und Stillstehen.
                                                                                               Sie inkorporieren auch den Effekt der verwischten Kreide. So erinnert dieser Effekt an die
                                                                                               Tafel als Folie und die Zeichnungen als den temporär auf ihr enthaltenen Ausdruck.

                                                                                               Daniel Neumann

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Gander, C. Erek und F. Onur drei Arten des leeren Raumes. Ersterer lässt künstlich den          Die dOCUMENTA(13) –– vielleicht eine gute Ausstellung...
Wind durch den leeren Eingangsbereich eines Ausstellungsgebäudes blasen, wobei sich
Kanäle von ziehenden und drückenden Spannungen ergeben um den Besucher gleich in
die nächste Toninstallation zu treiben. Die Implikation des geöffneten Fensters oder auch       Wie stieg doch die Nervosität unter uns Journalisten an, als absehbar wurde, dass die
der Nichtunterscheidbarkeit von Innen und Außen wollen hier vordergründig die Gemacht-          Künstlerliste der dOCUMENTA (13) tatsächlich erst zur Pressekonferenz Anfang Juni
heit des Kunstwerks selbst in Abrede stellen, wo es sich ja nur durch die Abrede äußern         veröffentlicht werden sollte. Angstschweiß auf der Stirn, Erklärungsnot dem Chefredakteur
kann. Erek nutzt eine leere Kaufhausetage, die sich durch eine C&A-Filliale erreichen lässt,    gegenüber –– man konnte ihm ja nicht einmal das Konzept der diesjährigen Ausgabe er-
um dort einen monolithischen Turm aus Boxen, der einen gleichmäßigen, teils synkopi-            läutern –– und zuletzt gab es noch Nägelkauen während der Pressekonferenz (Ceal Floyer),
erten Bassrhythmus wiedergibt, wahlweise mit einem Metrum zu verschalten, auf das               aber da mussten wir jetzt mitschreiben. Die Wochen und Tage zuvor, brockte uns die
sich die Boxen bei jedem neuen Durchlauf anders beziehen. Daneben ergeben sich hinter-          Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev schließlich das ein: auf eigene Faust recherchieren
gründige Störgeräusche, die sich der onkyo-Musik eines Toshimaru Nakamura oder Rioji            und als verdeckte Ermittler mit Kuratoren, Künstlern und Galeristen zusammenarbeiten.
Ikeda verpichtet zeigen. Das Potential der akustischen Durchformung des Raumes erhält          Als wir schon einstimmten in die Kritik des Kein-Konzept-Konzepts, zog uns die Äußerung
so einen Kontrapunkt, dessen Analogon das Öffnen eines Fensters bei Gander darstel-             Christov-Bakargievs über die „„politische Intention der Erdbeere““ (Interview in der SZ) den
len könnte. Die Leerstelle zwischen den Wänden nutzt Onur, um dort eine Draperie mit            Boden unter den Füßen weg. Meinte sie das ernst oder hat sie einfach Humor und Ver-
ausgeschnittenen Vogelmotiven zu hängen und den einzigen Blick, der sich von den hier           ständnis für Ironie?
abwesenden Ausstellungsgegenständen abwenden könnte, zu überformen.
                                                                                                Dieses Gespaltensein zeigte sich bereits im Vorfeld mit der Veröffentlichung der 100 Notiz-
Die Fläche nur besetzend und nicht darüber hinaus den Raum füllend sind dann etwa
                                                                                                bücher, die eine dermaßen hohe Anzahl verschiedener Verweise und Stränge herstellten,
die Riesenbilder von J. Mehretu. Über dem dichten Liniennetz architektonischer Skiz-
                                                                                                dass man den Glauben an alles verlieren konnte. In weiser Voraussicht nannte Christov-
zen und Modellzeichnungen der riesenformatigen Bilder sind gleichmäßige Formationen
                                                                                                Bakargiev deshalb den dOCUMENTA (13)-Katalog „„Buch der Bücher““. Wir nannten sie for-
schwarzer Flecken und bunte geklebte Striche interventionistisch angebracht. Die drei
                                                                                                tan „„Miss Maybe““. Doch bereits die ersten Stunden auf der dOCUMENTA (13) zeigten, dass
Bildebenen würden wohl jeder für sich eine einheitliche Durchgestaltung der Leinwand
                                                                                                es so „„Vielleicht””, so konzeptlos gar nicht war. Im Gegenteil. Im Fridericianum, dem ersten
ergeben, erzeugen aber durch ihre Überlagerung, die sich eher kontrastierend als aufein-
                                                                                                öffentlichen Museum Deutschlands, wehte ein konzeptueller Wind durch die Flügel: Ryan
ander antwortend verhält, Disharmonien. Eine ähnliche Wirkung erzielt E. Adnan durch
                                                                                                Ganders frischer Wind, der die Töne von Ceal Floyers Loopinstallation durch den Flügel
die reduktivere Methode, aus leuchtenden Pastellfarben geometrische Konstruktionen auf
                                                                                                trug, eine Vitrine mit der Absage an der Teilnahme der dOCUMENTA (13) von Kai Althoff
kleinformatigen Bildern zu gestalten. Der Logik und Wirkungsweise der Farben folgend,
                                                                                                oder eine Anleihe an Arnold Bodes documenta II, mit den Plastiken von Julio González, die
ergeben sich in dem geringen Platz, da sie sich gegeneinander verhalten können, mitunter
                                                                                                damals nicht ins Konzept passten und trotzdem gezeigt wurden.
irritierende Sukzessivkontraste. Diesen zwei Weisen, mit der malerischen oder zeichne-
rischen Bildgestaltung eine wohltemperierte Komposition zu verunmöglichen, und dadurch
                                                                                                Die Rotunde ist durch eine Glasscheibe abgetrennt –– the middle of, the middle of, the mid-
das Augenmerk auf den Prozess seiner Herstellung zu richten, zu den Punkten, da der
                                                                                                dle of (Lawrence Weiner) –– und wird „„the brain““ genannt. Nach dem Eintritt zeigt sich, dass
Ausdruck sich gegen die immanente Forderung entschied und der Harmonie durch Dispro-
                                                                                                dieser Kosename durchaus treffend ist. Fragile, tausend Jahre alte Prinzessinengürchen,
portion oder reizende Farbwahl absagte, ndet in den Wüstenmalerein von D. Nakamarra
                                                                                                verschmolzene Zufallsprodukte durch Zerstörung, absurd anmutende Keramiken oder die
ein Gegenmodell. Ihre Darstellungen aus dicht angeordneten und gleichmäßig ießenden
                                                                                                Sillleben von Morandi. Dazwischen das Handtuch von Adolf Hitler, mitsamt Fotograen
Linien provozieren, ähnlich einigen Bildern Vasarelys, eine Irritation des Auges, die hier
                                                                                                seines Badezimmers, hintergründige Arbeiten von Sam Durant und Tamás St. Auby und ein
vielleicht die immernde Hitze über dem Boden der australischen Wüste andeuten mag.
                                                                                                Werk von Guiseppe Penone, einem arte-povera-Veteranen, der Lieblingskunstrichtung der
Der Effekt ist allerdings durch die strenge Komposition im Vorfeld kontrolliert, der Betrach-
                                                                                                Leiterin. Man fühlt sich tatsächlich so, als erhielte man Einblicke in ihr Gehirn. Also doch:
ter vor die Unmöglichkeit gestellt, die einfache Struktur wahrzunehmen, ohne dass sie
                                                                                                Beeing Carolyn Christov-Bakargiev. Nach dieser nicht unangenehmen Kopfwäsche kann es
anfangen würde, sich zu verzerren und zu verschieben.
                                                                                                weiter gehen –– nach oben, zurück, nach rechts, nein doch nicht, links?, auch nicht, nach
Von dieser modernistisch anmutenden, aber außerhalb der europäischen Kunsttradi-                unten, da waren wir ja schon, oder?, ja, nein, vielleicht –– wo es einige Entdeckungen zu
tionen entstandenen Malerei führt ein Weg zu E. Carr, deren Annäherungen an indianische         machen gibt:
Malerei in ihrer Simplizität und ihrem Umgang mit Farben an Rousseau erinnern. Eine an-         Charlotte Salomons unergründliche Zeichnungen, Kader Attias gedankentiefes Gruselka-
dere Verknüpfung leitet zu T. Bayrle, der neben anthropomorphen Motorenkonstruktionen           binett oder Mariana Castillo Deballs tableaux archéologique und daran anknüpfend ihr
auch mit einem riesiges mise-en-abyme Flugzeug vertreten ist. Dieses spaltet sich, je           schlaues Projekt „„Black Box““ in der Orangerie, in Zusammenarbeit mit Gabriel Lester. In
näher man es betrachtet, in immer kleinere Formen des gleichen Motivs, bis die kleinsten        regelmäßigen Abständen treten hier Künstler und Wissenschaftler in den Dialog mit fünf
Flugzeuge kaum mehr auszumachen sind. So wird die kantische Idee der Unendlichkeit,             Objekten aus der dortigen Sammlung. Das Besondere: die Funktion der ausgestellten Ge-
nämlich das Streben zu ihr hin ohne sie je zu erreichen, guriert.                              bilde ist nicht mehr bekannt. Waren es Waffen, Spielzeuge oder Instrumente? Überhaupt:
                                                                                                die Frage nach dem Objekthaften in vielen Arbeiten und was sie zu solchen macht. In An-
Entreißt man dieses Streben der begrifichen Bestimmung und projiziert man es, unter            lehnung an Krzysztof Pomian könnte man daher von „„Semiphoren““ sprechen, oder, wie er
Benutzung wissenschaftlicher Koordinaten, nach vorne, landet man bei den Arbeiten von           Objekte, die erst durch Vermittlung zu Trägern von Informationen werden, noch bezeichnet
A. Tarakhovsky und dem Filmduo M. Kyungwon und J. Joonho. Ersterer stellt eine Biblio-          hat: „„Repräsentanten des Unsichtbaren““.

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Auf den ersten Blick unsichtbare Repräsentanten kann man dagegen im Hugenottenhaus              Referent ein imaginärer ist. So ndet sich in der vielräumigen Materialsammlung von N.
in dem dunklen Raum von Tino Sehgal hören: Satzfetzen, schrille Schreie, Snaredrumzischen       Solakov ein Konglomerat aus Kindheitsträumen in Form von sich selbst dokumentierenden
oder Reime verdichten sich zu einem Klangkörper, dessen beweglicher Teil man selbst             Projektionen, nachträglicher Mimesis und Autosuggestion statt, in der jenseits des point
wird: Live-Art. In Kontrast dazu im selben Haus Theaster Gates Wohnraumprojekt für en-          of no return das Leben als Ritter und Rockstar und die existierenden Ritter und Rockstars
gagierte Künstler und neugierige Besucher. Real existierende Do-It-Yourself-Sozialutopie        nachgestellt bzw. untersucht werden.
zwischen Kassel und Chicago für die Dauer von 100 Tagen. Unterwegs zur Neuen Galerie
wieder einige Entdeckungen, so die Räume von Paul Chan und Francis Alys. Der Zielort            Eine visuelle Referenz, die weder als Bezugspunkt den Betrachter noch die Person des
selbst eher belanglos. Dort aber der Beuys-Raum als Dauerrepräsentant der Sammlung.             Künstlers herbeizitiert bietet Z. Muholi. In einer großen Wand von s/w Portraits wird verge-
Irgendwie schwebt er doch über Kassel, als Übervater einer engagierten Kunst, die un-           blich der direkte Blick der Aufgenommenen präsent zu machen versucht. Das Auge des
seren Umgang mit der Natur und Tieren nur kritisieren kann. Dann eben ausstellen, wie es        Betrachters kann den Moment nicht einholen, da die Sujets lebendig vor der Kamera Platz
der Kanadier Brian Jungen mit dem Hundeparcours in der Karlsaue vorschlägt. Die über            genommen haben, in der Dauer eines Augenblicks, da die Kameralinse genau das zeigte,
dem gesamten Areal verteilten Holzhütten sind zwar ein gelungener Einfall, aber nicht im-       was jetzt unabänderlich zu sehen ist. In ihrer Anzahl überlasten oder parodieren die Foto-
mer ideal für das darin gezeigte Kunstwerk. Die bedrückende Videoarbeit von Omer Fast           graen so ihre indexikalische Funktion. Eine Wiederholung der Vergangenheit erzählender
hätte einen größeren Raum verdient oder gleich den Platz mit Willie Dohertys Video über         Art stellt dann die Rezitation einiger Fragmente eines Gerichtsprozesses R. Biscottis dar.
das Absterben der Natur im Südügel des Bahnhofs tauschen können. Demgegenüber,                 Nichtchronologische Passagen, die im Vorfeld auf eine inhaltliche Kohärenz verzichten,
im Nordügel, die dreigeteilte Videoprojektion von Clemens von Wedemeyer und die ein-           werden in der italienischen Originalaufnahme abgespielt, während auf der anderen Seite
nehmende Gesamtkunstprojektion von William Kentridge, eine der bislang besten Arbeiten          der Wand eine deutsche Simultanübersetzung vorgetragen wird. Dazu nden sich Beton-
des Südafrikaners. Beeindruckend auch die Kreidetafelinstallation von Tacita Dean im ehe-       abgüsse des Gebäudes, in dem die Verhandlung stattfand. Ein paar Räume weiter ist
maligen Finanzministerium und die wie von einer fernen Zukunft als Untergangsfragmente          eine Jukebox aufgebaut, die 100 Songs enthält, deren Texte sich je in Originalsprache
kündenden, verstörenden Skulpturen von Adrián Villar Rojas –– eingebettet in die im Zerfall     an der Wand benden. In dieser Arbeit von S. Hiller als auch in jener Re-Präsentation von
begriffenen Weinbergterrassen.                                                                  Z. Muholi werden zwei Arten verhandelt, die sich einem oder vieler Kontexte nur vermit-
                                                                                                tels eines akustischen Bruchstückes nähern. Die gegenwärtigen Worte der Übersetzerin
Auffallend ist die hohe Anzahl an eigens für die dOCUMENTA (13) hergestellten Arbeiten.         möchten ihren Raum inspirieren, sowie die frei auswählbaren Songs nicht nur eine Musi-
Es zeugt vom Gespür der Leitung, die ihr Vertrauen nicht wie häug üblich in zum Konzept        kauswahl darstellen, sondern schon in ihrem Verbund eine Art von totem Tanz, eins nach
passende (oder passend gemachte und zu theoretisiert untermauerte) Werke, sondern in            dem anderen, eins in dem verhallenden Echo des anderen, ausführen. Eine einmalige
die Künstler selbst setzt. Nur dank dieser Zuversicht in das Vielleicht, können Künstler und    geschichtliche Situation steht gegen die grundsätzliche Möglichkeit der Reproduktion,
Kuratoren gemeinsam etwas Besonderes schaffen –– eine gute Ausstellung kann dadurch             die aufgenommenen Stimmen des Gerichtssaals aber sprachen im Gegensatz zu den
viel leichter gelingen. So geschehen auch beim bulgarischen Künstler Nedko Solakov. Er          deklamierenden Musikern nicht für das Mikrophon. Zwei Stockwerke tiefer wird das Spiel
wählte das Gebrüder Grimm Museum gegenüber der Neuen Galerie als Spielort aus, um               der Gegenwärtigung nochmals aufgenommen, durch eine tonlose Filmaufnahme von H.
sich einen Kindheitstraum zu erfüllen: einmal Ritter, Pilot und Drummer einer Hard Rock         Khan, der einzig die Hauptgur nachsprechen lässt und so Bild- und Tonraum zerteilt.
Band sein. Mit allerlei Beweisen und Verweisen, so genannter Sub-Stories, exerziert Sola-       Zwischen den drei Werken benden sich die Aufzeichnungen eines Anger-Workshops von
kov gewohnt hintergründig doch humorvoll die einzelnen Stufen seines Projekts durch und         S.Ringholt. Das Videomaterial sich anschreiender Menschen ist gleichzeitig spontane Äu-
liefert damit einen der umfassendsten und selbstentblößenden Beiträge für die Großver-          ßerung und theaterhafte Situation. Die Teilnehmer sind sich der Kamera bewusst, die
anstaltung ab. Am Ende des Rundgangs konstatiert Solakov in seiner typisch-krakeligen           als Theraphiesupplement ein exteriorisiertes Über-Ich gurieren oder die Konsequenzen
Schrift: „„Ich hätte sie in meinem Kopf lassen sollen, diese Träume, wo sie auf immer und       einer sich selbst aufzeichenden Öffentlichkeit einholen kann. Befremdend ist der Eindruck
ewig glücklich hätten leben können. Vielleicht.““ Da war es wieder, das Vielleicht. Und viel-   dieser dialogischen Provokation von Wut, was auch immer an ihr hängt oder mit ihr ausge-
leicht, so könnte man vielleicht hinzufügen, ist die dOCUMENTA (13) eine gute Ausstellung.      drückt wird, allemal.
Vielleicht war es richtig von Christov-Bakargiev, dass sie uns wie Solakov ihre Träume,
Wünsche und Vorstellungen offenbart hat. Zwar gab es Proteste und Demonstrationen vor           Von der entgegengesetzten Seite gehen R. Ondák und G. Farmer das Verhältnis Bild/
dem Fridericianum, aber keine von Erdbeeren...noch nicht.                                       Gefühl/Bedeutung an. Ersterer präsentiert 120 gerahmte Bilder, deren Unterschriften
                                                                                                entweder einen schon offensichtlichen Sachverhalt nachträglich bezeichenen oder ihn
                                                                                                kreativ ausdeuten. Eine didaktische Annäherung an Alltägliches würde so jemanden, des-
Hendrik Bündge                                                                                  sen Erinnerung von Dr. Donald Cameron gelöscht wurde, zumindest ein paar Situationen
                                                                                                erklären helfen. Farmers auf Holz gespießter Signikantensalat, eine aus über tausend
                                                                                                Zeitungsausschnitten bestehende Schlange medialer Aufmerksamkeit, hingegen ist be-
                                                                                                strebt, ihr Bezeichnetes abzuschaffen, indem die Bilder nun zueinander Verhältnisse von
                                                                                                Farbe, Größe und Anordnung ergeben, eine nicht-gurative Neuformulierung aus dem
                                                                                                Zeichenüberschuss.

                                                                                                Entgegen solcher demokratischer Modelle sich ordnender Mannigfaltigkeit präsentieren R.

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