KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
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KUNST 17 Das gemeinsame Magazin von Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 2/2020 Nr. EINSICHT Seite 14 Realität, Vision, Utopie – Kunst in Zeiten der Krise
Event & Congress Location Zentrum Paul Klee, Bern Inspirierender Raum für Dialog, Begegnung und Erlebnis Ob Workshop, Tagung, Seminar, Konferenz oder Konzert – das Zentrum Paul Klee verleiht Ihrer Veranstaltung eine unvergleichliche Atmosphäre. Entdecken Sie die aussergewöhnliche Location mit beeindruckender Architektur, lassen Sie sich vom kulturellen Rahmenprogramm inspirieren und profitieren Sie von der international ausgezeichneten Multimediainfrastruktur in den Räumlichkeiten. www.zpk.org/events n re L ocatio Ih chere für si ltungen sta Veran
Editorial Das Jahr 2020 fordert und prägt uns alle. Zentrum Paul Klee von seiner rebellischen Unsere Welt sei vom Erstickungstod be- und geniesserischen Seite kennenlernen droht, sagt der kamerunische Theoretiker können. Bis es soweit ist, tauchen wir in die Achille Mbembe in seinem Essay, und dies eindrücklichen Fotografien der «unheilbar nicht nur wegen der Corona-Pandemie. Was Reisenden» Annemarie Schwarzenbach ein kann Kunst in solchen Krisensituationen und begeben uns mit Paul Klee in die Ferne. leisten? Sie kann uns mit unseren Emotio- Mit Bernhard Giger, dem abtretenden Leiter nen konfrontieren, uns neue Blicke auf des Kornhausforum Bern, und Roger von die Realität eröffnen und unseren Horizont Wattenwyl, dem Präsidenten der Stiftung erweitern. Gleich zwei Ausstellungen im Albert Anker-Haus Ins haben wir über Ver- Kunstmuseum Bern setzen sich aus unter- gangenheit, Gegenwart und vor allem die schiedlichen Perspektiven mit dieser Macht Zukunft gesprochen. von Kunst auseinander, und die Kuratorin- nen Kathleen Bühler und Marta Dziewańska lassen uns im Gespräch an ihren Ideen Nina Zimmer teilhaben. Noch etwas gedulden müssen Direktorin Kunstmuseum Bern — wir uns, bis wir Paul Klee ab Januar im Zentrum Paul Klee Inhalt Persönlich Debatte 6 Bernhard Giger 23 Achille Mbembe Der abtretende Leiter des Kornhausforum Bern und Das allgemeine Recht Präsident des Vereins bekult über zwölf spannende Jahre, die Herausforderungen im Kulturbetrieb und aufs Atmen seine Zukunftspläne. Der kamerunische Historiker, Politwissenschaftler und Theoretiker über eine Welt, die vom Erstickungstod bedroht ist. Ausstellung 8 Nordkorea Zu Besuch Let’s Talk about Mountains 28 Ein Pavillon für Das Alpine Museum der Schweiz zeigt ab 20. Februar 2021 eine filmische Annäherung an das verschlossene Albert Anker Land Nordkorea. Sie zwingt hinzusehen, zuzuhören – Roger von Wattenwyl, der Präsident des Stiftungsrates und Fragen zu stellen. der Stiftung Albert Anker-Haus Ins, über den grossen Schweizer Maler und das geplante Centre Albert Anker. Ausstellung 12 Paul Klee 34 Forum Rebell & Geniesser 38 Kalender Vom Teufel besessen und den Göttern nah: 39 More to See Das Zentrum Paul Klee zeigt Paul Klee in all seinen 40 Agenda Widersprüchen. 50 Kolumne
Entdecken Eintauchen Liebe Aare Wundergärten und Die Aare ist der längste Fluss innerhalb Herbarien der Schweiz. Sie entspringt in den Berner Alpen, speist den Brienzer-, den Thuner- und den Bielersee, umschliesst die Berner Altstadt in einer Umarmung. Ob kalt oder warm, smaragdgrün oder braun, wild oder ruhig und träge — die Aare ist Kult. Viele lieben sie, einige fürchten sie, alle spre- chen über sie, besonders in den warmen Monaten, wenn der Fluss zum Bad oder zum weit über die Berner Kantonsgrenzen hinaus bekannten «Aareböötle» lockt. Liebe Aare thematisiert den Fluss in all seinen Facetten — vom Berner Oberland bis zur Rheinmündung. Von geologischen Eigenheiten, Wassertemperaturen, Flora und Fauna, Fan-Typen, Wasserfarbe und Namenserklärung über spezielle Orte in und an der Aare bis hin zu Songs über die Aare ist in den lehrreichen und unter- haltsamen Texten und Infografiken alles zu finden. Stephanie Christ, Sabine Glardon, In der bildenden Kunst sind sie allgegenwärtig: Freude an ästhetischen Formen vereinigten Maria Künzli Blumen. In Form von frischgepflückten und Botanisierbüchse und Herbarium in Liebe Aare. Ein grafisches Fanbuch Sträussen, detailreichen Studien, üppigen fast jedem bürgerlichen Haushalt zu finden über den schönsten Fluss der Welt Gärten, bunten Wiesen, als Hutschmuck waren. Werd & Weber Verlag AG oder, wie in Ernst Kreidolfs Blumen-Märchen, 60 Seiten, gebunden, CHF 29 als vermenschlichte Blumenwesen. Aber Wundergärten. Ernst Kreidolf und die nicht nur das: Der Schweizer Bilderbuch Pflanzen in der Kunst illustrator malte sie auch in Stillleben und Vortrag von Anna Lehninger illustrierte Schulbücher wie Roti Rösli im Sonntag, 15. November 2020, 11 Uhr Garte. Das Begleitprogramm zur Ausstellung Kunstmuseum Bern Wachsen — Blühen — Welken. Ernst Kreidolf und die Pflanzen (04.09.2020—10.01.2021) Als Flora regierte. Ernst Kreidolf und im Kunstmuseum Bern geht dieser Faszi die Pflanzenbegeisterung seiner Zeit nation für Pflanzen im Rahmen von zwei Vor- Vortrag von Margrit Wyder trägen auf den Grund. Dienstag, 1. Dezember 2020, 18 Uhr Kunstmuseum Bern Die Kunsthistorikerin Anna Lehninger blättert durch Pflanzenbilder seit der Frühen Neu- Zur Ausstellung ist beim Michael Imhof zeit und lädt zu einem Spaziergang durch Verlag ein Katalog erschienen. Wachsen — die Blumengärten der bildenden Kunst. Blühen — Welken. Ernst Kreidolf und Margrit Wyder, Wissenschaftshistorikerin am die Pflanzen, 128 Seiten, Hardcover, mit 179 Herbarium der Universität Zürich, betrach- Farb- und 4 Schwarz-Weiss-Abbildungen, tet Ernst Kreidolfs Blumenwerke im Kontext CHF 29 ihrer Entstehungsepoche, als sich Wissen- Ernst Kreidolf, Iris, Bleistift und Aquarell auf Papier schaft, Patriotismus, Naturerfahrung und 45,2 × 42,3 cm, Kunstmuseum Bern, Verein Ernst Kreidolf 4
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Persönlich Engagiert, fokussiert, pointiert Bernhard Giger Nach zwölf Jahren zieht sich Bernhard Giger Ende 2020 als Leiter des Kornhausforum Bern zurück. Im Gespräch erinnert er sich an spannende Debatten und vielbesuchte Ausstellungen und spricht über die Schwierigkeiten, mit denen der Kulturbetrieb in der aktuellen Situation zu kämpfen hat. Und er blickt in die Zukunft der Berner Kultur, die er mit seinem Engagement als Präsident des Vereins bekult weiterhin mitprägen wird. MARIA-TERESA CANO Herr Giger, die Corona-Pandemie durch- dringt jeden Lebensbereich. Wie führt man in diesen Zeiten eine Institution wie das Kornhausforum Bern, die von der Zusammen- kunft der Menschen und deren Austausch lebt? BERNHARD GIGER Für das zweite Halbjahr haben wir in der Pla- nung gewisse Korrekturen vorgenommen. Dennoch versuchen wir, einen einigermassen normalen Betrieb zu führen. Soweit An- Bernhard Giger, seit 2009 wesenheitslisten und Gesichtsmasken normal sind. Aber jetzt ist und noch bis Ende Jahr Leiter des Kornhausforum vor allem eines entscheidend: Dass dieses sanfte Wiedererwachen Bern, im Stadtsaal. der Kultur nach Corona sich auch festigen kann. Die Kultur muss, wie auch immer, wieder spielen können, auf den Bühnen, in den Museen, auf den Plätzen. Die Vorstellung ist entsetzlich, Kultur nur noch gestreamt konsumieren zu können. Geisterspiele sind nicht nur im Fussball tödlich. MTC Sie haben das im Jahr 1998 eröffnete Kornhausforum 2009 über- nommen und werden sich Ende Jahr altershalber zurückziehen. Was denken Sie über Ihre Zeit im Kornhaus? BG Es war eine grossartige Zeit. Ich habe das Kornhausforum nach der Wiedereröffnung 2009 übernommen, mit weniger öffentli- chen Mitteln als zuvor und mit neuem Konzept. Man gab uns nicht besonders viel Kredit. Aber das Kornhausforum ist zur Platt- form in der Mitte der Region geworden, seine Debatten werden gehört und seine Ausstellungen beachtet. Besonders die Foto- grafie-Ausstellungen werden von Tausenden besucht, und es gibt dafür in Bern unterdessen ein festes Publikum. 6
Bernhard Giger MTC Gibt es eine Ausstellung, die Sie wahnsinnig gern gemacht hätten, MTC Wie erleben Sie in diesem Zusammenhang die Unterstützung die aber aus irgendeinem Grund nicht zustande gekommen ist? durch Politik und Behörden? BG Es gibt einen Stapel mit solchen Ausstellungsprojekten. Auch BG Der Gegenwind ist härter geworden. Kulturförderung ist nicht wenn wir ein relativ dichtes Ausstellungsprogramm hatten, liess mehr so selbstverständlich wie noch vor ein paar Jahren. Und sich vieles nicht umsetzen. Oft waren es vor allem finanzielle grosse Projekte, Visionen gar, von denen noch kürzlich als Leucht- Gründe. Das Kornhausforum verfügt über extrem beschränkte türme die Rede war, werden hintenangestellt. Oder habe ich in Mittel, da stösst man rasch an Grenzen. Aber wir haben probiert, letzter Zeit irgendeine Neuigkeit zum Museumsprojekt an der mit dem, was da war, das Beste zu machen. Ich glaube, das ist uns Hodlerstrasse verpasst? nicht schlecht gelungen. Das Kornhausforum machte wohl die MTC Sie werden auch weiterhin den Verein bekult – den Dachverband kostengünstigsten Ausstellungen der Stadt, und angesichts der der Berner Kulturveranstalter*innen – präsidieren. Was tut dieser guten Eintrittszahlen auch einige der erfolgreichsten. Verein, was kann er bewirken? MTC Im Kornhaus wird der Gedanke des Forums gelebt, das Zentrum BG Die über 80 Mitglieder von bekult vertreten das ganze Spektrum Paul Klee ist ein Mehrspartenhaus: Die Idee von offenen Kultur- des Berner Kulturangebots. Wir sind nicht branchengebunden häusern, die verschiedene Interessengruppen und Gesellschafts- und mischen uns in die alltäglichen Belange der Kulturstadt Bern bereiche zusammenbringen, scheint eine gute Möglichkeit, Pub- ein. Damit es endlich nicht nur in den Aussenquartieren, sondern likum anzusprechen und aktiv einzubinden. Wie kann dieser auch in der Innenstadt Kultursäulen gibt. Damit, leider ohne Er- Ansatz weiterentwickelt werden? folg, die Bundesmillion weiter fliesst. Damit der Kulturkredit BG Das liegt ganz an uns, den Kulturschaffenden, den Ver- nicht gekürzt wird. Solche Dinge. Jetzt, in Corona-Zeiten, ist es anstalterinnen und Veranstaltern, wie wir unsere Besucher*innen sicher gut, dass die Kultur in Bern eine solche Stimme hat. Und abholen. Gerade jetzt, mit der durch Corona ausgelösten Ver- mich dünkt, die Politik hört uns auch zu. unsicherung, in der viele nicht mehr recht wissen, wie sie mit MTC Sie waren lange Jahre Journalist und Redaktor beim Bund und der Kultur umgehen sollen, ist das zentral. Niederschwelligkeit ist da Berner Zeitung, seit über einer Dekade leiten Sie nun das Korn- sicher wichtig, im Preis und in der Form. Der Kulturbetrieb könn- hausforum. Aber eigentlich kommen Sie ja vom Bild: Sie haben te günstiger werden. Ganz einfach: mehr freier Eintritt. Er müsste eine Ausbildung als Fotograf und Sie drehten zahlreiche Spiel- aber auch flexibler werden in seinen Formen der Vermittlung, und und Dokumentarfilme. Wie hat Sie dieser Bezug zum stillen und vielleicht etwas bescheidener in seinen Ansprüchen. zum bewegten Bild begleitet? Und kehren Sie in Zukunft wieder MTC Bern hat seit jeher ein sehr vielfältiges kulturelles Leben, kleine zum Bild zurück? Formate bestehen neben grossen Institutionen, es gibt viel Expe- BG Mit den Fotografie-Ausstellungen im Kornhausforum kehrte ich zu rimentelles, aber auch Bewährtes. Ein bunter Mix und ein riesiges meinen Anfängen zurück, das war ein Heimkommen. Aber das foto- Angebot für die kleine Bundesstadt. Wie kann dieses Angebot grafische Bild, ob still oder bewegt, hat mich immer begleitet, zuerst bewahrt und weiter gefördert werden? als freier Fotograf, dann als Mitarbeiter der Kellerkinos, als Filmer, BG Ich fürchte sehr um die Vielfalt der Berner Kultur. Gewiss, die als Redaktor auf Zeitungsredaktionen. Und ja, klar, eine Rückkehr Institutionen mit den Leistungsverträgen, also auch das Korn- zum Bildermachen, Fotografie oder Film, das wünsche ich mir, da hausforum, die werden irgendwie durchkommen – mit zünftigen gibt es genug Bilder im Kopf und in der Schublade. Für 2021 gibt es Defiziten vielleicht, aber durchkommen. Doch was der Corona- ein Ausstellungsprojekt in der Galerie Béatrice Brunner. Stillstand im Kulturbetrieb wirklich verursacht hat und noch an- MTC Gibt es einen Film, den Sie mit auf die einsame Insel nähmen? richten wird, wissen wir nicht. Und vor einer ungewissen Zukunft BG Also zehn müssten das schon sein, die da mitkämen. Darunter stehen ja nicht nur kleine Betriebe oder freie Gruppen: Lassen wären sicher Une partie de campagne von Jean Renoir, The Tarnished sich grosse Festivals wie Gurten oder Buskers überhaupt noch so Angels von Douglas Sirk und L’albero degli zoccoli von Ermanno durchführen wie bisher? Oder näherliegend: Gibt es im Stadtsaal Olmi. Und vielleicht Les deux anglaises et le continent, ein Liebes- des Kornhausforums je wieder Partynächte mit 500 jungen Men- film von François Truffaut, den ich zu meinem 30. Geburtstag im schen, die sich verdammt nahe kommen? Die Vielfalt der Berner Kellerkino gezeigt habe, weil ich damit eine Frau verführen wollte. Kultur baut auf einem sehr fein gewobenen Netz. Ich bin nicht b Das Interview führte Maria-Teresa Cano, Leiterin Kommunika- sicher, ob es hält. tion und Öffentlichkeitsarbeit. «Aber jetzt ist vor allem eines entscheidend: Dass dieses sanfte Wiedererwachen der Kultur nach Corona sich auch festigen kann. Die Kultur muss, wie auch immer, wieder spielen können, auf den Bühnen, in den Museen, auf den Plätzen. Die Vorstellung ist entsetzlich, Kultur nur noch gestreamt konsumieren zu können. » 7
Nordkorea Unten: Willkommen im Skiresort Masikryong. Die Alpines Museum der Schweiz Hotelangestellten Park un-Jung und Kim sun-Young in der Après-Ski-Zone Oben: Fototermin einer ab 20.02.2021 Arbeiterbrigade auf dem Videostills: Alpines Museum Paektusan, dem höchsten der Schweiz / Katharina Gipfel Nordkoreas Schelling 8
Ausstellung Nordkorea Let’s Talk about Mountains Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie den Niesen oder den Gantrisch denken. Aber Es geht um Dialog und Verständigung mit Men- «Nordkorea» hören? Raketentests? Massen- der Paektusan, der höchste Berg Nordkoreas, schen aus einem Land, das hinter Mauern ver- aufmärsche? Die Menschenrechts- oder und der Hallasan, der höchste Berg Südkoreas, schwindet. Das Filmteam fragte, Menschen Ernährungssituation? Das Alpine Museum sind ideologische Landmarken. Sie waren antworteten. Zum Beispiel auf dem Kumgang- der Schweiz zeigt ab 20. Februar 2021 eine 2018 die symbolischen Referenzpunkte der san, im Gebirge nahe der Demarkationslinie filmische Annäherung an das verschlossene einmal mehr versuchten Verständigung auf zu Südkorea. Die nordkoreanischen Wander- Land. Ein Filmteam des Alpinen Museums höchster Staatsebene, als sich die beiden touristen werden nach den Bergen im Süden reiste 2018 und 2019 während mehrerer Staatschefs aus Nord- und Südkorea, Kim gefragt, auf dem Hallasan, dem einzigen Film- Wochen nach Nord- und Südkorea und suchte Jong-un und Moon Jae-in, auf dem Paektusan drehort in Südkorea und höchsten Berg auf der an unterschiedlichen Schauplätzen — im begegneten. Berge sind in Nordkorea wie Ferieninsel Jeju-do, nach den Bergen im Nor- Stadtpark, auf Berggipfeln, im Schulzimmer überall auf der Welt mehr als topografische den. Die Antworten fielen beidseits berührend — das direkte Gespräch. Die Ausstellung Erhebungen. Sie sind Bestandteil kultureller offen aus. Die Reise in der Ausstellung führt Let’s Talk about Mountains. Eine filmische und ideologischer Konstruktionen, die in der auf den Stadthügel Pjöngjangs, in den Ge- Annäherung an Nordkorea wird das Publi- Kulturgeschichte oft weit zurückgreifen, aber schichts-, Geografie- und Zeichenunterricht in kum herausfordern. Sie zwingt hinzusehen, auch wandlungsfähig sind. Der Paektusan ist mehrere Schulzimmer, hinauf auf Berggipfel, zuzuhören — und Fragen zu stellen. ein mächtiger Vulkanberg an der nord- ins vermeintliche Guerilla-Camp am Fusse des koreanischen Grenze zu China. Er ist im öf- Paektusan, in Kunstateliers, in Landwirt- Ja, Reisen nach Nordkorea sind möglich. Es fentlichen Raum Nordkoreas omnipräsent, schaftsbetriebe der hügeligen Provinz und ins gibt sie in Reisebüros als fixfertige Angebote, weil er für die Macht der herrschenden Dynas- grosse Skiresort von Masikryong. Die Kamera ähnlich wie Kreuzfahrten oder Pauschal- tie steht. Der heilige Berg Koreas, den auch schaut manchmal auch nur zu. Etwa auf dem arrangements im mediterranen Ferienresort, das alte China verehrte, mutierte in der nord- Gipfel des Paektusan beim geschäftigen Selfie- und es gibt massgeschneiderte Reisen, die ihr koreanischen Lesung zum «heiligen Berg der Treiben. eigenes Programm verfolgen. Let’s Talk about Revolution», in Südkorea ist er immer noch Let’s Talk about Mountains kommentiert Mountains gehörte zur zweiten Kategorie. der «heilige Berg Koreas», der für Süd- nicht, sondern zeigt. Zu den Filmbildern er- Doch auch da gilt immer: Ein freies, selb- koreaner*innen nur von der chinesischen scheint ein reich illustriertes Magazin, das die ständiges Reisen in Nordkorea ist nicht mög- Seite zugänglich ist. Berge sind mit ihrem Themen der Filmräume aufgreift, vertieft und lich. Reisen sind immer begleitet von hervor- ideologischen Gewicht selbstverständlich interpretiert. Namhafte Nordkorea-Expert*in- ragend ausgebildeten Guides, die auch als auch Stoff in den Schulen, was Schweizer*in- nen konnten als Autor*innen gewonnen wer- Übersetzer wirken. Das Programm wird im nen leicht nachvollziehen können. Rütli, den. Ein breites Vermittlungs- und Ver- Voraus festgelegt. Reisen in Nordkorea brau- Gotthard und Réduit lassen grüssen. Berge anstaltungsangebot mit weiteren Berner chen eine staatliche Bewilligung. Reisen mit sind zudem Schauplätze von Freizeitver- Kulturinstitutionen ist in Vorbereitung, unter Dreharbeiten in Nordkorea brauchen mehrere gnügen, von Tourismusinvestitionen und von anderem mit dem Kunstmuseum Bern und staatliche Bewilligungen, aber sie sind mit prekärer Berglandwirtschaft. Und Berge sind seiner Korea-Ausstellung Grenzgänge mit etwas Hartnäckigkeit, Charme und Willen zur seit Jahrhunderten Gegenstand von Kunst Kunstwerken aus der Sammlung Uli Sigg. Zusammenarbeit möglich. Let’s Talk about und Kultur, von Ästhetik, Schönheit und stili- b Beat Hächler, Direktor des Alpinen Museums Mountains entstand als Angebot des Alpinen sierter Harmonie, buddhistische Religion in- der Schweiz und Kurator der Ausstellung Museums der Schweiz an die Botschaft Nord- begriffen. Die Künste – Malerei, Musik, Film, koreas in Bern. Nordkorea hat 25 Millionen Literatur – kommen ohne Berge nicht aus. Das Einwohner*innen. Wir wollten mit einigen ist in Nordkorea nicht anders. Let’s Talk about Alpines Museum der Schweiz wenigen an von uns gewünschten Schau- Mountains versucht dies zu zeigen. Let’s Talk about Mountains. plätzen über Berge sprechen. Das mag etwas Das Material, aus dem die Ausstellung Eine filmische Annäherung an Nordkorea harmlos klingen, wenn wir an Gespräche über derzeit entsteht, ist überraschend unaufgeregt. ab 20. Februar 2021 9
Kindermuseum Creaviva Kunst in unsicheren Zeiten Am 14. Mai 2020, drei Tage nach unserer Wiederauferstehung, In Zeiten von wollten wir von unseren Gästen wissen, welche Rolle Kunst vor dem Krisen ist Kunst für mich wichtig, weil … Hintergrund der aktuellen Pandemie für sie gespielt hat. Hier eine kleine Auswahl von Antworten, die uns erreicht haben: … Kunst das Leben atmen lässt – und wer atmet, bleibt begeistert! b Andreas, 50 … sie mich froh macht und mir zeigt, wie bunt und gross die Welt ist. b Félix, 5 … sie das Leben bereichert, schöner macht, Gedanken herausfordert, die Sinne schärft, provoziert, ethische Fragen aufwirft, beruhigend wirkt, Entwicklungen nachverfolgt und Identifikation schafft. Das Creaviva ist b Bea, 59 für mich unverzichtbar, weil … … sie mir hilft, die Gedanken fliegen zu lassen. b Rolf, 69 … meine Enkelin im Creaviva mit 5 Jahren entdeckt hat, dass sie, wie Paul Klee, mit verschiedensten Materialien etwas gestalten kann, zaubern kann. Immer wieder wünscht sie sich ins Creaviva zu … sie mich darin unterstützt, zu realisieren, was Gesundheit und gehen. Der nächste Enkel wird sich hoffentlich genauso abenteuer- Leben überhaupt bedeuten, und wie privilegiert ich bin. b Martin, 74 lustig in die Kunst wagen. b Jeannette, 68 … sie ein immerwährender Ort ist, der lebt, egal auf welchen Rutsch- … es daran erinnert, die kindliche Lust, Freude und Verspieltheit bahnen des Lebens oder Leidens. Kunst zeigt uns den Weg im Alltag, beim Gestalten zu behalten. b Sarah, 42 in unserm Sein, wo immer wir unterwegs sind, auch im Träumen! b Paul, 34 … ich in der Schweiz keine andere Institution kenne, die mir und meinen Enkeln Kunst so unverkrampft und inspiriert nahezubringen … sie eine Begegnung ermöglicht, die lautlos und direkt in meinem vermag. b Max, 54 Herzen Gefühle hervorbringt, die aus meinem tiefsten Innersten kommen. b Georg, 78 … es ein Ort ist, der mich einlädt zum Experimentieren, in Farben und Formen zu schwelgen, und ich mir dadurch nahe bin und mich lebendig und erfinderisch erleben darf. b Jan, 33 … für Gross und Klein ein Raum geschaffen wird, um sich in der Kreativität zu entfalten – ein grenzenloses «Hier und Jetzt» mit Staunen. b Simone, 44 … ich es liebe, Freude in den Augen meiner Kinder zu sehen, wenn Wären die Türen des Kindermuseums zu sie Neues entdecken, schaffen können und sie aufgeregt und stolz geblieben, hätte ich … auf ihr Ergebnis sind. b Ivana, 38 … dem Zauberer um die Ecke seinen Zauberstab stibitzt und … es einfach gut tut, dort zu sein! Diese Vielfalt an Farben, Formen das Creaviva wieder hergezaubert. Subito. Ohne Wenn und Aber! und Ideen. b Christel, 66 b Eva, 59 10
Ausstellung Paul Klee, Côte de Provence 1, 1927, 229, Aquarell auf Papier auf Karton, 15,1 × 23,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern Mapping Klee «Ohne Phantasie wird nichts» Zentrum Paul Klee 05.09.2020 – 24.01.2021 Ausstellung statt All-inclusive: Mit Mapping hatte, gaben ihm stets neue Impulse für sein Serie von 17 Zeichnungen nimmt Klee uns bei- Klee in ungeahnte Welten eintauchen und kreatives Schaffen. Und doch wirkt Klees spielsweise mit auf einen schaurigen Spazier- das grenzenlose Reich der Fantasie bereisen. Spätwerk – trotz Reisestopps – nicht ärmer gang durch einen Infernen Park. eingangs be- Beglückend, inspirierend, Horizont erwei- oder uninspirierter als seine früheren Arbei- treten wir den Schauplatz, überwinden eine ternd und garantiert CO2-neutral. ten. Im Gegenteil: In seinen letzten Lebens- scheinbare Überbrückung, passieren die Mord- jahren steigerte Klee seine Produktion ins Stelle, ehe wir uns zur verfrühten Rast nieder- Paul Klee reiste gern: nach Italien, an die fran- Unermessliche – mit über 1300 registrierten lassen. Die Titel und reduzierten Zeichnungen zösische Mittelmeerküste, bis nach Tunesien Werken allein im Jahr 1939. «[…] ich komme evozieren Bilder im Geiste des Betrachtenden und Ägypten. Seine Aufgaben als Lehrperson diesen Kindern nicht mehr ganz nach. Sie ent- und lassen doch genügend Raum für die eigene am Bauhaus empfand er zuweilen als Be- springen», schrieb Klee im Dezember 1939 an Ausgestaltung der Leerstellen. lastung. Der regenerativen Kraft seiner Ferien seinen Sohn Felix über seine sprudelnden Der therapeutische Nutzen von Fantasie- in Südfrankreich, auf Porquerolles und Korsi- Bildeinfälle. reisen als imaginatives Verfahren zur Thera- ka im Sommer 1927, bedurfte er so sehr, dass Woher kamen diese Scharen von «Kin- pie und zur Entspannung wurde erst Jahr- er erst mit mehrwöchiger Verspätung zum dern»? Klees ungeheure Gabe der Imagination zehnte später erkannt. Und doch scheint dies neuen Semester ans Bauhaus zurückkehrte. hauchte ihnen Leben ein. Körperliche Hin- in Klees Bildern bereits angelegt. Und nur zu Ab 1933 waren es nicht mehr berufliche fälligkeit und geschlossene Grenzen konnten gerne beanspruchen wir, gerade in diesen Verpflichtungen, die ihn am freien Reisen daran nichts ändern. Bereits früh hatte Klee Zeiten, die heilvolle Wirkung der Bilder und hinderten. Nach der Machtergreifung der das Potenzial der Fantasie erkannt. Im Jahr begeben uns mit Klee auf eine Reise in die Nationalsozialisten in Deutschland kehrte 1905 schrieb er an seine Verlobte Lily Stumpf: Fantasie – träumen von fernen Orten, tanken Klee Ende des Jahres in seine Heimatstadt «In mageren Minuten sehe ich zu deutlich und Kraft und finden Inspiration und Ausgleich. Bern zurück. Neben den veränderten politi- klar, es fehlt der Glaube, und die Welt bleibt b Kai-Inga Dost, Ausstellungsassistentin Zen- schen Verhältnissen in Europa waren auch ungeschaffen. Ohne Phantasie wird nichts.» trum Paul Klee eine finanziell angespanntere Lage und ab Was ihm damals zuweilen noch schwer zu 1935 Klees ernste Erkrankung schwer- fallen schien, kultivierte und perfektionierte wiegende Hindernisse für grössere Unter- er bis zu seinem Tod: das Erschaffen neuer nehmungen. Seine Reisemöglichkeiten be- Welten durch die Macht der Vorstellungskraft. schränkten sich fortan auf die Schweiz – vor Seine Bildwelten sind bevölkert von allem auf Kuraufenthalte. geheimnisvollen Wesen, absonderlichen Pflan- Zentrum Paul Klee Die Erfahrungen und Beobachtungen, zen, und sie entführen uns an mystische Orte Mapping Klee die Klee auf seinen früheren Reisen gemacht – auch in der Ausstellung Mapping Klee. In einer 05.09.2020 —24.01.2021 11
Ausstellung Paul Klee, nach der Zeichnung 19/75, 1919, 113, aquarellierte Lithographie, 22,2 × 16 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee Paul Klee Rebell & Geniesser Zentrum Paul Klee 15.01.– 30.05.2021 12
Rebell & Geniesser Lernbegieriger Schüler mit Bestnoten und schlechtestes Abitur seiner Klasse, jugendlicher Vagabund und moderner Hausmann, seriöser Bauhausmeister und Unterrichtsverweigerer, zurückgezogener Künstler und Mitglied des Aktionsausschusses revolutionärer Künstler im Zuge der Novemberrevolution, vom Teufel besessen und den Göttern nah. Das Zentrum Paul Klee zeigt Paul Klee in all seinen Widersprüchen. Grotesken und Karikaturen bevölkern manche er regelmässig dem Unterricht bei Heinrich Reisen verzichtet er nicht gänzlich – er be- Seiten von Klees Schulheften und -büchern Knirr und später Franz von Stuck fern und be- gleitet Flugzeugtransporte und «reist» so nach und illustrieren seinen Drang zur Flucht vor gründet trocken seinen «Unfleiss» gegenüber Köln, Brüssel und an die Nordsee. schulischen – und später alltäglichen, beruf- den Eltern damit, dass es diesmal «ganz der Mit ironischen Kommentaren und später lichen sowie politischen – Verpflichtungen gleiche Fall wie früher [ist], wenn ich die seiner Kunst kritisiert Klee nicht nur das vor- mittels Bleistift in eine fantastische Gegenwelt. Schule schwänzte, nämlich, weil es momen- herrschende Schulsystem, Bereiche der Kul- In der Schulzeit publiziert Klee gemeinsam mit tan Wichtigeres zu tun gibt für mich.» Wich- tur- und Mentalitätsgeschichte der Schweiz, seinen Mitschülern Hans Bloesch und René tiger sind Klee Reisen, musikalische Soirées, wirtschaftliche und politische Autoritäten Thiessing die «stark gewürzte Commerszei- Theater- und Opernvorstellungen, Masken- während des Ersten und Zweiten Weltkrieges tung» mit dem Titel Die Wanze. Er verleiht bälle, üppige Abendessen in Restaurants in Deutschland, sondern auch die für viele seiner Ablehnung gegenüber dem «Zuchthaus sowie der Genuss seines Lieblingsgetränks: unsichtbaren alltäglichen Widersprüche des Waisenhausstrasse» – Klees Berner Schulhaus «guter roter Wein». Den in München lehren- modernen Lebens. In seinem künstlerischen und heutigem Atelierhaus PROGR – Aus- den «akademischen Büffeln» kehrt Klee bald Schaffen konfrontiert Klee sich und die Be- druck, indem er in seinen satirischen Zeich- den Rücken und zieht sich zur Selbstaus- trachtenden immer wieder mit der Absurdität nungen Teile der Lehrerschaft und ihre ver- bildung und -findung nach Bern in sein Eltern- des menschlichen Daseins. Die oppositionel- altete Pädagogik attackiert. Ebenfalls mit haus zurück. le und geniesserische Seite Klees verträgt Bloesch bereitet er 1908 das unveröffentlichte Auch zu Beginn des Ersten Weltkrieges sich schlecht mit autoritärem Gehabe. In Buch Der Musterbürger vor. In sieben Illustra- schliesst er sich nicht der unter vielen be- allen Systemen, in denen er sich bewegt – ob tionen verspottet Klee den spiessbürgerlichen freundeten Intellektuellen und Künstler*in- während der Schul-, Ausbildungs-, Militär-, Menschen samt der schweizerischen Büro- nen in München ausbrechenden Kriegs- Eltern- oder später der Bauhauszeit –, findet kratie, die um 1900 einen ersten Höhepunkt euphorie an. Anders als etwa Franz Marc er stets ein Schlupfloch, einen realen oder erreicht. Er stellt den Protagonisten, einen meldet er sich nicht freiwillig zum Militär- imaginären Raum, und «ist einfach Mensch». Beamten («Er kostete nie gestohlnes Obst, dienst, sondern flüchtet vor der «schreckens- Selbst wenn Klee die laute Revolution und das war nie in Nachbars Garten») überspitzt, vollen Welt» in die abstrakte Kunst. Als Klee konkrete Politisieren lieber anderen über- nunmehr als Karikatur seiner selbst, dar und 1916 schliesslich als Landsturmmann zur lässt, so zeugen sein Handeln und seine legt so die Abgründe des vorbildlichen Men- deutschen Armee berufen wird, findet er Bilderwelten von einem Bewusstsein für die schen offen. Wege, dem «verhassten Soldatenspiel» zu- «Traditionen der mächtigen Realitäten» und Selbst Klees Entschluss, nach dem Abitur mindest teilweise zu entkommen und mietet seinem lebenslangen Versuch, «in der Stille in München Kunst zu studieren, ist primär etwa ein privates Zimmer ausserhalb der Ka- das Unmögliche zu vollbringen» – mit Pinsel, Akt der Rebellion und Emanzipation von sei- serne. Den so geschaffenen Freiraum nutzt er, Geige und Kochlöffel. b Livia Wermuth, kunst- nem Elternhaus: Er stellt sich damit gegen um heimlich zu malen, zu musizieren und zu wissenschaftliche Volontärin Zentrum Paul den Wunsch seines Vaters, der für das Doppel- kochen. In einer Zeit, in der die malerischen Klee talent – als Geiger und Zeichner – eine Mittel und Materialien schwer zu beschaffen Musikerkarriere vorsieht. In seinem Tagebuch sind, bedient er sich anderer Bildträger und schreibt Klee über seine Vorliebe für Ver- verwendet etwa Reste von Leinen, die in den Zentrum Paul Klee botenes, dass ihn weniger die bildende Kunst Gersthofener Werkstätten, wo er stationiert Paul Klee. Rebell & Geniesser an sich, «als die Aussicht, möglichst bald weit ist, zur Bespannung der Flugzeugflügel ver- 15.01.— 30.05.2021 weg zu sein» nach München lockt. Dort bleibt wendet werden. Selbst auf sein geliebtes Eröffnung: Donnerstag, 14. Januar 2021 13
Fokus Realität Vision Utopie Die Macht von Kunst in Zeiten der Krise Zwei Sammlungen und unzählige Geschichten: Die Kuratorinnen Kathleen Bühler und Marta Dziewańska sprechen über ihre Ausstellungen, die vor und während der Corona-Pandemie entstanden sind. Im Fokus stehen Emotionen, Revolution und die Art und Weise, wie Kunst werke in verschiedenen Realitäten immer wieder neu aktiviert werden können. Beide Ausstellungen im Kunstmuseum Bern, Crazy, Cruel and Full of Love (J Seite 21) wie auch Tools for Utopia (J Seite 17), sind Sammlungsausstellungen. Eine schöpft aus der Sammlung von Gegenwartskunst des Kunstmuseum Bern, die andere aus der Daros Latinamerica Collection. Obwohl auf verschiedenen Kontinenten, zu unterschiedlichen Zeiten und vor anderen politischen und sozialen Hintergründen entstanden, lassen sich Parallelen zwischen den ausgestellten Werken ziehen. Sie alle dokumentieren Krisen, verarbeiten extreme Situationen und Emotionen und haben auch vor dem heutigen Hintergrund der Corona-Pandemie nichts an Aktualität eingebüsst. 14
Realität Vision Utopie KATHLEEN BÜHLER Unsere Sammlung Gegenwartskunst ist für wie oft Kunstwerke erst Jahre nach ihrer Entstehung wirklich mich eine Sammlung von Geschichten und Erfahrungen. Ich verstanden werden. Sie sind präzise Zeitdokumente, aber möchte diese Werke nutzen, um auf empathische, aber auch auch Ausdruck von dazugehörigen Träumen von einer anderen, sarkastische oder ironische Art und Weise darüber zu reflek- besseren Welt. tieren, was wir momentan erleben. Künstler*innen haben in Die zeitgenössischen Werke hingegen reagieren extrem ihren Werken schon immer ausserordentliche Gemütszustände aktiv auf ihr Hier und Jetzt. Es geht weniger um utopische thematisiert, und mit der Ausstellung Crazy, Cruel and Full of Zukunftsvisionen als vielmehr um konkrete Wege, die Gegen- Love schlage ich vor, sie unter dem Blickpunkt der globalen wart zu kommentieren, an ihr teilzunehmen und sie zu «reparie- Covid-19-Pandemie und so als Antworten auf eine ganz aktuelle ren» — was letztendlich natürlich auch sehr viel mit der Zu- Erfahrung zu lesen. Die Werkauswahl ist sehr kontrastreich kunft zu tun hat. Die chilenische Fotografin Paz Errázuriz zum und soll die Unsicherheit und Haltlosigkeit widerspiegeln, der Beispiel macht mit ihren Schwarz-Weiss-Fotografien diejenigen wir ausgesetzt sind. Ich habe mir erlaubt, die Werkinhalte Menschen sichtbar, die das System zensiert, kriminalisiert spielerisch auf einer anderen Ebene zu befragen. Die Auswahl und unterdrückt. Sie konnte diese Bilder in ihrer Entstehungs- umfasst deshalb unterschiedlichste Werke, die sich mit star- zeit nicht publizieren, worum es ihr aber auch nicht in erster ken und ambivalenten Emotionen befassen, und die losgelöst Linie ging. Es ging vielmehr darum, für ihre Protagonist*innen von ihrem Zeit- und Werkkontext gezeigt werden. Der Aus ein Umfeld des Vertrauens zu schaffen. Durch ihre Arbeiten stellungstitel fasst dieses Wechselbad der Gefühle treffend — inhaltlich wie auch bezogen auf ihr Vorgehen — bot sie den zusammen: Unsere Situation ist verrückt, sie ist grausam, aber bestehenden hierarchischen und gewalttätigen politischen sie ist auch voller Liebe. Systemen die Stirn. Die Ausstellung folgt den Künstler*innen, wenn sie sich mit den verletzlichen Körpern und den Minder- MARTA DZIEWAŃSKA Ich denke, die ambivalenten Emotionen, heiten in der Gesellschaft auseinandersetzen. Eine Art be- die du ansprichst, umschreiben die aktuelle Situation sehr gut. scheidene, sehr lokale und doch hoffnungsvolle, und meiner Wir wissen nicht, was kommt, und verstehen nicht wirklich, Meinung nach mächtige Utopie. Das Gleiche versuchte ich was passiert. Was konntest du von den ausgewählten Werken auch im Katalog umzusetzen. Er ist im Stil einer Zeitung gestal- lernen? tet, in der wir den aktuellen Zeitgeist zu erfassen versuchen. Historische Manifeste werden den Aussagen zeitgenössischer KB Viele der Werke erzeugen aufgrund ihrer Motive oder ihrer Künstler*innen über die momentane Situation in Guatemala, Machart widersprüchliche Reaktionen. Es ist nicht immer klar, Costa Rica, Chile, Kolumbien oder Brasilien gegenübergestellt. was sie eigentlich darstellen. David Hominal zum Beispiel malt Im Fokus stehen die persönlichen Eindrücke und Emotionen: seine romantischen Landschaften so übertrieben, dass er die lokalen Krisen, die individuellen Lebensgeschichten und sie dadurch als Klischee entlarvt. Gleichzeitig durchbricht er Entscheidungen hinter der globalen Krise. das Klischee und kreiert so eine beunruhigende Mehrdeutig- keit. Manche Werke haben sprechende Motive, wie zum Beispiel KB Ich denke, das ist eine der Haupteigenschaften von Kunst: Urs Lüthis doppeltes Selbstporträt. Das Werk verwebt zwei Sie kann einem alternative Perspektiven eröffnen und uns unterschiedliche Zustände und kann als Kommentar zu frühe- dabei helfen, Wandlungspotenzial zu erkennen. Und das in den ren Selbstporträts gelesen werden. Es ist die Ausstellung als unterschiedlichsten Situationen und losgelöst von ihrem Ent- Ganzes, die mir hilft, die vielen Emotionen und diese aktuelle stehungskontext. Ihre Inhalte sind auf vielfältige Weise aktivier- Gleichzeitigkeit von Lebenslust und Gefährdung zu verstehen. bar: Das Gemälde BLAU von Miriam Cahn zum Beispiel zeigt Und sie ist ein Versuch, die Besucher*innen mit ihren eigenen einen Mann, eine Frau und ein Kind, die im Mittelmeer ertrinken, Empfindungen zu konfrontieren, ohne dabei kathartisch und ist der Kommentar der Künstlerin auf die Flüchtlingskrise wirken zu wollen. Wenn ich hier den Bogen zu Tools for Utopia im Mittelmeerraum. In einer wunderschönen Sinfonie in Blau schlage, sehe ich eine starke Ähnlichkeit, obwohl diese Werke visualisiert Cahn die körperliche Todeserfahrung. Natürlich in einem ganz anderen politischen Umfeld entstanden sind. ist dies immer noch der Inhalt des Werks, aber die Idee des unkontrollierten Treibens im Sinne eines Nicht-Wissens wohin MD Tools for Utopia setzt sich aus einem historischen und einem etwas führt, erhält durch die Pandemie eine zusätzliche Be- zeitgenössischen Teil zusammen. Der historische Teil der deutungsebene. Ausstellung umfasst Werke, die von 1950 bis in die 1970er- Jahre entstanden sind. In dieser Zeit waren die meisten latein- MD Künstler*innen blicken über den Tellerrand. Sie schlagen mutige, amerikanischen Länder Diktaturen. Die Künstler*innen ver- unmögliche und oftmals verrückte Sichtweisen vor, und gerade suchten nicht nur das, was passierte, zu beschreiben, sondern jetzt brauchen wir unbedingt mutige Visionen. die Gesellschaft und die Politik neu zu denken und sich eine andere Welt zu erträumen. Anstatt die Werke anhand ästheti- KB Ich würde sagen, verrückte und grausame Visionen voller Liebe. scher Parameter zu ordnen, habe ich versucht, sie als Aussagen über und Szenarien für die Zukunft zu verstehen. Die Künst- ler*innen waren nicht so sehr daran interessiert, Gemälde zu schaffen, die in Institutionen hingen, oder unbewegliche Skulp- b Kathleen Bühler, Kuratorin der Ausstellung Crazy, Cruel and turen, die in abstrakten Situationen gezeigt werden. Ihre Full of Love. Werke aus der Sammlung Gegenwartskunst Kunstwerke behandelten sie als Werkzeuge zur Emanzipation. 12.09.2020 — 14.02.2021, im Kunstmuseum Bern Ein wunderschönes Konzept, von dem wir heute lernen können, b Marta Dziewańska, Kuratorin der Ausstellung Tools for Utopia. Kunst als politisches Werkzeug ernst zu nehmen. Ich bin Ausgewählte Werke der Daros Latinamerica Collection überzeugt, dass Künstler*innen wie hochempfindliche Seismo- 30.10.2020 —21.03.2021, im Kunstmuseum Bern grafen funktionieren — führen wir uns nur einmal vor Augen, b Text: Martina Witschi, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit 15
Ausstellung Tools for Utopia Ausgewählte Werke der Daros Kunstmuseum Bern Latinamerica 30.10.2020 — 21.03.2021 Collection Die Ausstellung setzt sich mit den Spannungs feldern zwischen Wirklichkeit und Traum, Individuum und Gesellschaft, Vergangenheit und Zukunft und ganz besonders zwischen Realität und Utopie auseinander. Sie stellt historische Werke zeitgenössischen gegenüber und zeigt auf, wie lateinamerikanische Künstler*innen ihre Arbeiten in unterschiedlichen historischen, so- zialen und politischen Kontexten als Werkzeuge zur Emanzipation genutzt haben. 17
Tools for Utopia In seinem programmatischen Text «El marco: un problema de la Mit der Gegenüberstellung von historischen und zeitgenössischen plástica actual» (Der Rahmen: Ein Problem der Gegenwartskunst), Werken untersucht die Ausstellung, wie Kunst, die «den Willen zu welcher 1944 publiziert wurde, führte der uruguayische Künstler handeln» erzeugt und zu einer «aktiven Inbesitznahme der Gegen- Rhod Rothfuss seine Gedanken zum Bilderrahmen aus: Ein Gemälde, wart» (Interventionistisches Manifest) einlädt, von den Künstler*innen erklärte er, sollte «in sich selbst beginnen und enden», und «die der nachfolgenden Generationen weitergeführt, weiter kompliziert Kante der Leinwand spielt eine aktive Rolle im Kunstwerk». Der und hinterfragt wird. Wie haben die lateinamerikanischen Kunst Blick auf die Kante und, als Konsequenz davon, über den Bilder bewegungen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts die kulturelle, rahmen hinaus wurde für lateinamerikanische Künstler*innen zum soziale und politische Vorstellungskraft beeinflusst? Wofür stehen Erkennungsmerkmal: Anders als ihre europäischen und eher an diese Ideen und Hoffnungen heute? Was bleibt von ihrem ästheti- formalistischen Problemen interessierten Vorgänger (Max Bill, Josef schen Erbe und dessen umfangreichen politischen Ambitionen? Albers) interpretierten sie Konkrete Kunst als eine bildhafte Spra- Solche Fragen scheinen im aktuellen Kontext sozialer und politischer che des Engagements und behandelten ihre zentrale Maxime — Spannungen — in Lateinamerika, aber auch weltweit — besonders die Erfindung — als ihr mächtigstes revolutionäres Instrument. Die relevant, und Tools for Utopia versucht aufzuzeigen, wie dieses Erbe «Auslöschung» des rechteckigen Rahmens — so einfach sie auch uns heute inspirieren und anregen kann. scheinen mag — ermöglichte dynamischere Kompositionen, die mit ihrer Umgebung in ganz neue Dialoge treten konnten. Der nach- b Marta Dziewańska, Kuratorin der Ausstellung denkliche Betrachter wurde so zum teilnehmenden Subjekt, das b Übersetzung aus dem Englischen: Martina Witschi, durch das Kunstwerk «auf wirkliche Gegebenheiten schliesst, und Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit nicht auf Fiktionen» (Interventionistisches Manifest, 1946). Kunstmuseum Bern Den Ausgangspunkt der Ausstellung Tools for Utopia bilden Werke Tools for Utopia. Ausgewählte Werke der Daros Latinamerica Collection von Künstler*innen aus Brasilien, Venezuela, Uruguay und Argen 30.10.2020 —21.03.2021 tinien, die zwischen den frühen 1950er-Jahren und späten 1970er- Eröffnungstag: Donnerstag, 29. Oktober 2020, 10—20 Uhr. Jahren entstanden sind. Die Schönheit der Werke ist unbestritten, Am Eröffnungstag ist der Eintritt in die Ausstellung kostenlos. sie wurden jedoch nicht aus rein ästhetischen Gründen ausgewählt. Das Hauptauswahlkriterium war vielmehr ihre politische Dimension. In einer Zeit entstanden, in der viele lateinamerikanische Länder durch interne und internationale Konflikte gespalten und von bruta- len, korrupten und unberechenbaren Diktatoren beherrscht wurden, eröffneten diese Werke — ob konkret, neo-konkret oder konzeptio- nell — Möglichkeiten, die Funktion von Kunst in politischen Systemen weiterzudenken, deren Hauptmerkmale institutionalisierte Gewalt, Repression und Zensur sind. Die Abkehr von der Leinwand, das Durchbrechen des Rahmens und Experimente mit neuen Materialien reflektierten die Unsicherheit der Zeit und waren Ausdruck einer Suche nach Alternativen. So betrachtet stellen diese künstlerischen Experimente Mittel der bewussten Grenzüberschreitung dar, denn mit ihnen können soziale und politische Utopien geschaffen werden. Den unscharfen und mehrdeutigen Begriff «Utopie» zu verwenden mag gewagt scheinen. Anstatt für eine Fantasie der unmittelbaren Darstellung plädiert die Ausstellung jedoch für eine Rückkehr zur modernen Vorstellung von Utopie, wie sie von Ernst Bloch in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung (1954) entwickelt wurde. Für Bloch ist die Utopie gleichbedeutend mit dem kritischen Potenzial, solch «Die Schönheit der gegensätzliche Kategorien wie «vorher» und «nachher», «innen» und «aussen», «Optimismus» und «Pessimismus», die die Welt (und unsere Vorstellungskraft) unterteilen, zu überwinden. Die Utopie Werke ist unbestritten, vermischt derartige Dichotomien, aktiviert unsere Fähigkeit zu träu- men und wird so zu einer Waffe und Form des Widerstands. Die Er- sie wurden jedoch nicht neuerung der utopischen Hoffnung entspringt einem Unbehagen am erlebten Hier und Jetzt, und die in Tools for Utopia gezeigten Künstler*innen setzen ebendiese Hoffnung als zukunftsorientiertes aus rein ästhetischen politisches Werkzeug ein, um der Gegenwart mit Widerstand zu be- gegnen und alternative Visionen zu entwickeln. Gründen ausgewählt. Die Ausstellung ist demnach rund um die Auffassung von Kunstwer- ken als «Werkzeuge» aufgebaut. Sie bezieht sich auf die Geschichte Das Hauptauswahlkrite- von Arbeiten, die in unterschiedlichen sozialen und politischen Kontexten die reine Darstellung zu überwinden versuchen, die Räume rium war vielmehr ihre ausserhalb des Kunstwerks beleuchten und so eine aktive Rolle in der Umgestaltung der Gesellschaft eingenommen haben. politische Dimension.» 18
Ausstellung Crazy, Cruel and Full of Love Werke aus der Sammlung Kunstmuseum Bern Gegen 12.09.2020 —14.02.2021 wartskunst Was erzählen uns zeitgenössische Kunstwerke zum Wechselbad der Gefühle, das wir im Lock- down erlebten? In unserer Zusammenstellung von Werken aus der Sammlung Gegenwartskunst — der Ausstellungstitel ist einem Werk der Genfer Künstlerin Vidya Gastaldon entlehnt — wagen wir einen Streifzug durch die jüngste Kunst geschichte. Immer auf der Suche nach dem, was die jeweiligen Künstler*innen uns über extreme Zustände erzählen können. 21
Die Begriffe «verrückt», «grausam» und auch «voller Liebe» beschrei- ben gut das Wechselbad der Gefühle, welchem viele Menschen während des Lockdowns ausgesetzt waren. Zur gesundheitlichen Gefährdung, zu Krankheit und Todesfällen kamen neue existenzielle Verunsicherungen dazu. Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Einkommens- einbussen schafften neue ökonomische Realitäten, und Social Distancing wurde zum Schlagwort der Stunde. Gleichzeitig konnte man aber auch stärkere Solidarität, Nachbarschaftshilfe und — aufgrund von Homeoffice und Homeschooling gezwungenermas- sen — mehr familiären Austausch erleben. Menschen mussten auf engerem Raum zusammen auskommen, und den Möglichkeiten, sich mit Vergnügen und Unterhaltung ablenken zu können, waren Grenzen gesetzt. Viele Menschen wurden vermehrt auf sich selbst zurückgeworfen. Diese existenzielle Konfrontation mit einer neuen Realität hatte positive und negative Auswirkungen. Sie konnte zu starken Ängsten führen, aber auch zu mehr mitmenschlicher Acht- samkeit, Gelassenheit und subjektiver Innenschau. Betrachtet man die Werke einer Kunstsammlung nicht nur als Aus- druck eines zeitspezifischen und individuellen Kunstbegriffes, sondern auch als visuelle und dreidimensional gestaltete symboli- sche «Erfahrungsberichte», dann lassen sich auch in jüngerer Zeit Beispiele von extremen Gefühlslagen, spannungsvollen Kons- tellationen und starken Krisenerlebnissen finden. Die vorgefundenen Seite 16, oben: Seite 20, oben: Beispiele führen uns von Verliebtheit und überbordender Lebens- Antonio Dias, To the Police, 1968, Bronze, Vidya Gastaldon, Crazy, Cruel and Full of lust bis zu einer vertieften Konfrontation mit Vergänglichkeit. 3-teilig: 7,5 × 12,5 × 12,5 cm; 9 × 14,5 × 14,5 cm; Love, 2011, Mischtechnik: Acryl und Öl auf 8 × 11 × 11 cm, Courtesy: Daros Latinamerica Leinwand, 100 × 180,5 cm, Kunstmuseum Collection, Zürich, Foto: Peter Schälchli, Bern Ausgestellte Werke von: Zürich, © 2020, ProLitteris, Zürich Marina Abramović, Luc Andrié, Christian Boltanski, Michael Buthe, Seite 20, unten: Seite 16, unten: Miriam Cahn, BLAU, 2017, Öl auf Leinwand, Miriam Cahn, Martin Disler, Quynh Dong, Vidya Gastaldon, Daiga Julio Le Parc, Continuel-lumière cylindre, 280 × 225 cm, Kunstmuseum Bern, Grantina, David Hominal, Urs Lüthi, Markus Raetz, Jean-Frédéric 1962, Light-kinetic object: Wood, Sammlung Stiftung GegenwART stainless steel, metal, motors, light sources, Schnyder, Francisco Sierra Seite 22: 280 × 280 × 50 cm, Courtesy: Daros Latinamerica Collection, Zürich, Foto: David Hominal, Two Birds in the Space, b Kathleen Bühler, Kuratorin der Ausstellung Adrian Fritschi, © 2020, ProLitteris, Zürich 2008, Öl auf Leinwand, 100,7 × 101 × 2,5 cm, Kunstmuseum Bern Seite 19: Ana Mendieta, aus der Serie Untitled (Glass on Body Imprints), 1972, Iowa Kunstmuseum Bern (Estate print, 1997), Folge von sechs Farb- Crazy, Cruel and Full of Love. fotos, je 50,7 × 40,5 cm, Courtesy: Daros Latinamerica Collection, Zürich, Foto: Werke aus der Sammlung Gegenwartskunst Peter Schälchli, Zürich, © 2020, ProLitteris, 12.09.2020—14.02.2021 Zürich 22
Debatte Achille Mbembe Das allgemeine Recht aufs Atmen Die Welt ist vom Erstickungstod bedroht. Will die Menschheit nach Covid-19 weiterleben, muss sie sich um eine Neugestaltung der bewohnbaren Erde bemühen. Manche sprechen heute schon von der Zeit nach Covid-19. Dagegen ist reproduziert» – durch etwas, das ich, wenn nicht als «Aufbrechen und nichts einzuwenden. Doch vor allem in den Weltregionen, in denen die Aufreissen», als «Entleerung der Gefässe», «Tiefenbohrung» oder Gesundheitssysteme jahrelang gezielt vernachlässigt wurden, steht für «Ausschlachtung von organischen Substanzen» 3, schlagwortartig als die meisten von uns das Schlimmste noch bevor. Da Krankenhaus- «Depletion» im Sinne von Auszehrung bezeichnen würde.4 betten, Beatmungsgeräte, Massentests, Masken und Desinfektions- Zu Recht lag dabei die Aufmerksamkeit auf der molekularen, che- mittel auf Alkoholbasis fehlen und ausser den bereits bestehenden noch mischen, ja sogar radioaktiven Dimension dieses Vorgangs: «Ist Giftig- keine weitergehenden Quarantänevorkehrungen ergriffen worden sind, keit, das heisst die starke Zunahme von chemischen Substanzen und werden unglücklicherweise viele Menschen auf der Strecke bleiben. gefährlichen Abfällen, nicht eine Strukturdimension der Gegenwart? Wenn jemand vor einigen Wochen versucht hat, angesichts der Diese Substanzen und Abfälle greifen nicht nur Natur und Umwelt an sich abzeichnenden Aufregung und Ratlosigkeit die heutige Zeit zu be- (Luft, Böden, Gewässer, Nahrungsketten), sondern auch die Körper, schreiben, war von einer Zeit ohne Garantien und Verheissungen in die Blei, Phosphor, Quecksilber, Beryllium und Kühlmitteln ausgesetzt einer mehr und mehr von ihrem eigenen Untergang besessenen Welt werden».5 Natürlich wurde in diesem Rahmen auch auf die «lebendi- die Rede – aber auch von einer Zeit, in der «Verletzbarkeit ungleich gen, physischer Erschöpfung und einer ganzen Reihe von in manchen verteilt ist» und «neue, verheerende Kompromisse mit ebenso futuris- Fällen unsichtbaren biologischen Gefahren ausgesetzten Körper» ver- tischen wie archaischen Gewaltformen eingegangen wurden» 1, ja wiesen. Namentlich nicht erwähnt habe ich dagegen die (fast 600.000 mehr noch: von einer Zeit des Brutalismus. 2 bei allen Säugetierarten auftretenden) Viren – ausser auf metaphori- Über seinen Ursprung in der gleichnamigen Architekturbewegung sche Weise in dem Kapitel, das den «Grenzkörpern» gewidmet ist. Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus würde ich den Brutalismus der Doch davon abgesehen, ging es hier durchaus ein weiteres Mal um eine Gegenwart als einen Vorgang definieren, «durch den Macht als geo- Politik des Lebendigen als Ganzem.6 Und diese nennt das Coronavirus morphe Kraft sich heute bildet, äussert, rekonfiguriert, auswirkt und ganz sicherlich beim Namen. 23
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