KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern

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KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
KUNST                                17
                 Das gemeinsame Magazin von
            Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee

                                 2/2020
                                                     Nr.

EINSICHT

             Seite 14

 Realität, Vision, Utopie –
 Kunst in Zeiten der Krise
KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Event & Congress Location
Zentrum Paul Klee, Bern
Inspirierender Raum für Dialog, Begegnung und Erlebnis
Ob Workshop, Tagung, Seminar, Konferenz oder Konzert – das Zentrum Paul Klee verleiht
Ihrer Veranstaltung eine unvergleichliche Atmosphäre.
Entdecken Sie die aussergewöhnliche Location mit beeindruckender Architektur, lassen Sie
sich vom kulturellen Rahmenprogramm inspirieren und profitieren Sie von der international
ausgezeichneten Multimediainfrastruktur in den Räumlichkeiten.

www.zpk.org/events

                                                                                            n
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                                                                             Ih       chere
                                                                               für si ltungen
                                                                                    sta
                                                                             Veran
KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Editorial

Das Jahr 2020 fordert und prägt uns alle.                         Zentrum Paul Klee von seiner rebellischen
Unsere Welt sei vom Erstickungstod be-                            und geniesserischen Seite kennenlernen
droht, sagt der kamerunische Theoretiker                          können. Bis es soweit ist, tauchen wir in die
Achille Mbembe in seinem Essay, und dies                          eindrücklichen Fotografien der «unheilbar
nicht nur wegen der Corona-Pandemie. Was                          Reisenden» Annemarie Schwarzenbach ein
kann Kunst in solchen Krisensituationen                           und begeben uns mit Paul Klee in die Ferne.
leisten? Sie kann uns mit unseren Emotio-                         Mit Bernhard Giger, dem abtretenden Leiter
nen konfrontieren, uns neue Blicke auf                            des Kornhausforum Bern, und Roger von
die Realität eröffnen und unseren Horizont                        Wattenwyl, dem Präsidenten der Stiftung
erweitern. Gleich zwei Ausstellungen im                           Albert Anker-Haus Ins haben wir über Ver-
Kunstmuseum Bern setzen sich aus unter-                           gangenheit, Gegenwart und vor allem die
schiedlichen Perspektiven mit dieser Macht                        Zukunft gesprochen.
von Kunst auseinander, und die Kuratorin-
nen Kathleen Bühler und Marta Dziewańska
lassen uns im Gespräch an ihren Ideen
                                                                                      Nina Zimmer
teilhaben. Noch etwas gedulden müssen                                                 Direktorin Kunstmuseum Bern —
wir uns, bis wir Paul Klee ab Januar im                                               Zentrum Paul Klee

                                                              Inhalt
                             Persönlich                                                           Debatte

  6                    Bernhard Giger                                  23               Achille Mbembe
       Der abtretende Leiter des Kornhausforum Bern und                               Das allgemeine Recht
       Präsident des Vereins bekult über zwölf spannende
       Jahre, die Herausforderungen im Kulturbetrieb und
                                                                                           aufs Atmen
       seine Zukunftspläne.                                                 Der kamerunische Historiker, Politwissenschaftler und
                                                                            Theoretiker über eine Welt, die vom Erstickungstod
                                                                            bedroht ist.
                             Ausstellung

  8                   Nordkorea                                                                  Zu Besuch
             Let’s Talk about Mountains                                28                  Ein Pavillon für
       Das Alpine Museum der Schweiz zeigt ab 20. Februar
       2021 eine filmische Annäherung an das verschlossene
                                                                                            Albert Anker
       Land Nordkorea. Sie zwingt hinzusehen, zuzuhören –                   Roger von Wattenwyl, der Präsident des Stiftungsrates
       und Fragen zu stellen.                                               der Stiftung Albert Anker-Haus Ins, über den grossen
                                                                            Schweizer Maler und das geplante Centre Albert Anker.
                             Ausstellung

 12                     Paul Klee
                                                                       34                          Forum
                    Rebell & Geniesser                                 38                         Kalender
       Vom Teufel besessen und den Göttern nah:                        39                        More to See
       Das Zentrum Paul Klee zeigt Paul Klee in all seinen             40                         Agenda
       Widersprüchen.                                                  50                         Kolumne
KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Entdecken                                                              Eintauchen

        Liebe Aare                                                    Wundergärten und
Die Aare ist der längste Fluss innerhalb                                 Herbarien
der Schweiz. Sie entspringt in den Berner
Alpen, speist den Brienzer-, den Thuner-
und den Bielersee, umschliesst die Berner
Altstadt in einer Umarmung. Ob kalt oder
warm, smaragdgrün oder braun, wild oder
ruhig und träge — die Aare ist Kult. Viele
lieben sie, einige fürchten sie, alle spre-
chen über sie, besonders in den warmen
Monaten, wenn der Fluss zum Bad oder
zum weit über die Berner Kantonsgrenzen
hinaus bekannten «Aareböötle» lockt.
Liebe Aare thematisiert den Fluss in all
seinen Facetten — vom Berner Oberland
bis zur Rheinmündung. Von geologischen
Eigenheiten, Wassertemperaturen, Flora
und Fauna, Fan-Typen, Wasserfarbe und
Namenserklärung über spezielle Orte
in und an der Aare bis hin zu Songs über
die Aare ist in den lehrreichen und unter-
haltsamen Texten und Infografiken alles
zu finden.

Stephanie Christ, Sabine Glardon,
                                              In der bildenden Kunst sind sie allgegenwärtig:   Freude an ästhetischen Formen vereinigten
Maria Künzli
                                              Blumen. In Form von frischgepflückten             und Botanisierbüchse und Herbarium in
Liebe Aare. Ein grafisches Fanbuch
                                              Sträussen, detailreichen Studien, üppigen         fast jedem bürgerlichen Haushalt zu finden
über den schönsten Fluss der Welt
                                              Gärten, bunten Wiesen, als Hutschmuck             waren.
Werd & Weber Verlag AG
                                              oder, wie in Ernst Kreidolfs Blumen-Märchen,
60 Seiten, gebunden, CHF 29
                                              als vermenschlichte Blumenwesen. Aber             Wundergärten. Ernst Kreidolf und die
                                              nicht nur das: Der Schweizer Bilderbuch­          Pflanzen in der Kunst
                                              illustrator malte sie auch in Stillleben und      Vortrag von Anna Lehninger
                                              illustrierte Schulbücher wie Roti Rösli im        Sonntag, 15. November 2020, 11 Uhr
                                              Garte. Das Begleitprogramm zur Ausstellung        Kunstmuseum Bern
                                              Wachsen — Blühen — Welken. Ernst Kreidolf
                                              und die Pflanzen (04.09.2020—10.01.2021)          Als Flora regierte. Ernst Kreidolf und
                                              im Kunstmuseum Bern geht dieser Faszi­            die Pflanzenbegeisterung seiner Zeit
                                              nation für Pflanzen im Rahmen von zwei Vor-       Vortrag von Margrit Wyder
                                              trägen auf den Grund.                             Dienstag, 1. Dezember 2020, 18 Uhr
                                                                                                Kunstmuseum Bern
                                              Die Kunsthistorikerin Anna Lehninger blättert
                                              durch Pflanzenbilder seit der Frühen Neu-         Zur Ausstellung ist beim Michael Imhof
                                              zeit und lädt zu einem Spaziergang durch          Verlag ein Katalog erschienen. Wachsen —
                                              die Blumengärten der bildenden Kunst.             Blühen — Welken. Ernst Kreidolf und
                                              Margrit Wyder, Wissenschaftshistorikerin am       die Pflanzen, 128 Seiten, Hardcover, mit 179
                                              Herbarium der Universität Zürich, betrach-        Farb- und 4 Schwarz-Weiss-Abbildungen,
                                              tet Ernst Kreidolfs Blumenwerke im Kontext        CHF 29
                                              ihrer Entstehungsepoche, als sich Wissen-         Ernst Kreidolf, Iris, Bleistift und Aquarell auf Papier
                                              schaft, Patriotismus, Naturerfahrung und          45,2 × 42,3 cm, Kunstmuseum Bern, Verein Ernst Kreidolf

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KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Shop                                                                 In der Nähe

                                                             Porzellan­                                 Kunstherbst
                                                             kollektion                                    Bern
                                                             «UNSEEN»
                                                 Ob für Tee, Kaffee, als Vasen oder zur Deko-
                                                 ration — die Porzellangefässe von Yael
                                                 Anders lassen sich vielseitig einsetzen und
                                                 kombinieren. Die Objekte, von denen jedes
                                                 ein Unikat und handbemalt ist, spielen mit
                 Upcycling
                                                 Kontrasten: Ihre klaren, minimalistischen
                                                 Formen treffen auf intuitiv entstandene
 Vanto Acryl­glas-                               Linien und organische Muster in purem
                                                 Porzellan-Weiss, Anthrazit-Tönen und Blatt-
    Ohrringe                                     gold.

Lokales Upcycling: Die einzigartige Ohrring-                                                    Das Kunstmuseum Bern und das Zentrum
Kollektion von Veronica Antonucci wird                                                          Paul Klee haben den Kunstherbst einge-
aus Acrylglas-Abfällen aus der Industrie                                                        läutet. Sechs hochkarätige Ausstellungen,
hergestellt, die in einem Radius von 100 km                                                     drei Meisterkonzerte, zweimal Brunch im
um den Produktionsort Biel gesammelt                                                            Klee sowie eine Lesung von Franz Hohler
werden. Und sie recycelt nicht nur die In-                                                      und ein Literaturgespräch mit Mathias
dustrieabfälle: Auch die Schnittreste aus                                                       Énard stehen auf dem Programm der bei-
dem eigenen Atelier werden geschreddert,                                                        den Häuser. Und weil Reisen im Moment
erhitzt, gepresst und zu neuem Schmuck                                                          nur eingeschränkt möglich ist, bringt die
verarbeitet. Die wunderschönen Farb-                                                            Kunst die Ferne nach Bern: Mit Paul Klee
und Formkombinationen bringen Schwung                                                           Italien, Frankreich und Nordafrika besu-
in jedes Outfit und sind echte Hingucker.                                                       chen, mit Annemarie Schwarzenbach die
CHF 75—100 im Museumsshop Zentrum                100 % handgefertigt in Zürich. CHF 55—120      Weiten der USA, der ehemaligen Sowjet-
Paul Klee.                                       im Museumsshop KMB.                            union und des Iran entdecken oder mit der
                                                                                                Daros Latinamerica Collection der utopi-
                                                                                                schen und revolutionären Kraft von Kunst
                                                                                                in Lateinamerika auf die Spur kommen.
                                  Wir gratulieren!                                              Aber Bern ist nicht nur Kunststadt, sondern
                                                                                                auch Wasserstadt, Genussstadt, grüne

                           Aljoscha Ségard                                                      Stadt — sie hat ebenso viele Facetten wie
                                                                                                Brunnen, Lauben und Kunstplätze. So
                                                                                                können etwa im Chun Hee, gleich neben
                                                                                                dem Münster, koreanische Spezialitäten
                                                                                                geschlemmt werden und der PROGR ist
                                                                                                Heimat von alternativer Kulturproduktion,
                                                                                                Café-, Bar- und Clubbetrieb in einem.
                                                                                                Für diejenigen, die mit offenen Augen durch
                                                                                                die Bundesstadt spazieren, eröffnet sich
                                                                                                der Blick aufs Meer und idyllische Schwei-
                                                                                                zer Landschaftsszenen in taiwanesischem
                                                                                                Stil, auf einen launischen Stadtbach,
                                                                                                welcher der Gravitation zu trotzen scheint,
                                                                                                wasserspeiende Kunstwerke und Meret
Aljoscha Ségard, der Enkel Paul Klees, feiert   ausstellung im Zentrum Paul Klee musste         Oppenheims «wachsenden» Brunnen. Hin-
2020 seinen 80. Geburtstag. Aus diesem An-      aufgrund des Coronavirus verschoben wer-        gehen — Innehalten — Einkehren und diesen
lass ist in der Edition Till Schaap ein Buch    den. Sie findet nun im Sommer 2021 statt.       Herbst in Bern die weite Welt entdecken.
zum vielseitigen Schaffen, welches der
Schweizer Maler, Grafiker und Objektkünst-      Aljoscha Ségard
ler in den letzten Jahrzehnten entwickelt       Mit einem Vorwort von Fabienne Eggelhöfer
hat, erschienen. Nebst zahlreichen Werkab­      und einem Essay von Konrad Tobler
bildungen beinhaltet es einen Essay des         Texte D/F/E, Bern: Till Schaap Edition, 2020
Berner Autors und Kulturjournalisten Konrad     304 Seiten, in Naturleinen gebunden,
Tobler sowie ein Vorwort der Kuratorin          zahlreiche Werkabbildungen in Farbe, CHF 59.
                                                                                                Porträt von Annemarie Schwarzenbach mit Kamera, 1939
Fabienne Eggelhöfer. Die ursprünglich für                                                       Fotograf: unbekannt, © Esther Gambaro, Nachlass Marie-
Sommer 2020 vorgesehene Geburtstags-            Foto: Monika Flückiger                          Luise Bodmer-Preiswerk

                                                                                                                                                    5
KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Persönlich

                            Engagiert, fokussiert,
                                 pointiert
                                Bernhard Giger

                                          Nach zwölf Jahren zieht sich Bernhard Giger Ende 2020 als Leiter des
                                          Kornhausforum Bern zurück. Im Gespräch erinnert er sich an
                                          spannende Debatten und vielbesuchte Ausstellungen und spricht
                                          über die Schwierigkeiten, mit denen der Kulturbetrieb in der aktuellen
                                          Situation zu kämpfen hat. Und er blickt in die Zukunft der Berner
                                          Kultur, die er mit seinem Engagement als Präsident des Vereins bekult
                                          weiterhin mitprägen wird.

                                          MARIA-TERESA CANO       Herr Giger, die Corona-Pandemie durch-
                                              dringt jeden Lebensbereich. Wie führt man in diesen Zeiten eine
                                              Institution wie das Kornhausforum Bern, die von der Zusammen-
                                              kunft der Menschen und deren Austausch lebt?
                                          BERNHARD GIGER          Für das zweite Halbjahr haben wir in der Pla-
                                              nung gewisse Korrekturen vorgenommen. Dennoch versuchen
                                              wir, einen einigermassen normalen Betrieb zu führen. Soweit An-
    Bernhard Giger, seit 2009                 wesenheitslisten und Gesichtsmasken normal sind. Aber jetzt ist
    und noch bis Ende Jahr
    Leiter des Kornhausforum                  vor allem eines entscheidend: Dass dieses sanfte Wiedererwachen
    Bern, im Stadtsaal.                       der Kultur nach Corona sich auch festigen kann. Die Kultur muss,
                                              wie auch immer, wieder spielen können, auf den Bühnen, in den
                                              Museen, auf den Plätzen. Die Vorstellung ist entsetzlich, Kultur
                                              nur noch gestreamt konsumieren zu können. Geisterspiele sind
                                              nicht nur im Fussball tödlich.
                                          MTC Sie haben das im Jahr 1998 eröffnete Kornhausforum 2009 über-
                                              nommen und werden sich Ende Jahr altershalber zurückziehen.
                                              Was denken Sie über Ihre Zeit im Kornhaus?
                                          BG  Es war eine grossartige Zeit. Ich habe das Kornhausforum nach
                                              der Wiedereröffnung 2009 übernommen, mit weniger öffentli-
                                              chen Mitteln als zuvor und mit neuem Konzept. Man gab uns
                                              nicht besonders viel Kredit. Aber das Kornhausforum ist zur Platt-
                                              form in der Mitte der Region geworden, seine Debatten werden
                                              gehört und seine Ausstellungen beachtet. Besonders die Foto-
                                              grafie-Ausstellungen werden von Tausenden besucht, und es gibt
                                              dafür in Bern unterdessen ein festes Publikum.

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KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Bernhard Giger

MTC   Gibt es eine Ausstellung, die Sie wahnsinnig gern gemacht hätten,     MTC   Wie erleben Sie in diesem Zusammenhang die Unterstützung
      die aber aus irgendeinem Grund nicht zustande gekommen ist?                 durch Politik und Behörden?
BG    Es gibt einen Stapel mit solchen Ausstellungsprojekten. Auch          BG    Der Gegenwind ist härter geworden. Kulturförderung ist nicht
      wenn wir ein relativ dichtes Ausstellungsprogramm hatten, liess             mehr so selbstverständlich wie noch vor ein paar Jahren. Und
      sich vieles nicht umsetzen. Oft waren es vor allem finanzielle              grosse Projekte, Visionen gar, von denen noch kürzlich als Leucht-
      Gründe. Das Kornhausforum verfügt über extrem beschränkte                   türme die Rede war, werden hintenangestellt. Oder habe ich in
      Mittel, da stösst man rasch an Grenzen. Aber wir haben probiert,            letzter Zeit irgendeine Neuigkeit zum Museumsprojekt an der
      mit dem, was da war, das Beste zu machen. Ich glaube, das ist uns           Hodlerstrasse verpasst?
      nicht schlecht gelungen. Das Kornhausforum machte wohl die            MTC   Sie werden auch weiterhin den Verein bekult – den Dachverband
      kostengünstigsten Ausstellungen der Stadt, und angesichts der               der Berner Kulturveranstalter*innen – präsidieren. Was tut dieser
      guten Eintrittszahlen auch einige der erfolgreichsten.                      Verein, was kann er bewirken?
MTC   Im Kornhaus wird der Gedanke des Forums gelebt, das Zentrum           BG    Die über 80 Mitglieder von bekult vertreten das ganze Spektrum
      Paul Klee ist ein Mehrspartenhaus: Die Idee von offenen Kultur-             des Berner Kulturangebots. Wir sind nicht branchengebunden
      häusern, die verschiedene Interessengruppen und Gesellschafts-              und mischen uns in die alltäglichen Belange der Kulturstadt Bern
      bereiche zusammenbringen, scheint eine gute Möglichkeit, Pub-               ein. Damit es endlich nicht nur in den Aussenquartieren, sondern
      likum anzusprechen und aktiv einzubinden. Wie kann dieser                   auch in der Innenstadt Kultursäulen gibt. Damit, leider ohne Er-
      Ansatz weiterentwickelt werden?                                             folg, die Bundesmillion weiter fliesst. Damit der Kulturkredit
BG    Das liegt ganz an uns, den Kulturschaffenden, den Ver-                      nicht gekürzt wird. Solche Dinge. Jetzt, in Corona-Zeiten, ist es
      anstalterinnen und Veranstaltern, wie wir unsere Besucher*innen             sicher gut, dass die Kultur in Bern eine solche Stimme hat. Und
      abholen. Gerade jetzt, mit der durch Corona ausgelösten Ver-                mich dünkt, die Politik hört uns auch zu.
      unsicherung, in der viele nicht mehr recht wissen, wie sie mit        MTC   Sie waren lange Jahre Journalist und Redaktor beim Bund und der
      Kultur umgehen sollen, ist das zentral. Niederschwelligkeit ist da          Berner Zeitung, seit über einer Dekade leiten Sie nun das Korn-
      sicher wichtig, im Preis und in der Form. Der Kulturbetrieb könn-           hausforum. Aber eigentlich kommen Sie ja vom Bild: Sie haben
      te günstiger werden. Ganz einfach: mehr freier Eintritt. Er müsste          eine Ausbildung als Fotograf und Sie drehten zahlreiche Spiel-
      aber auch flexibler werden in seinen Formen der Vermittlung, und            und Dokumentarfilme. Wie hat Sie dieser Bezug zum stillen und
      vielleicht etwas bescheidener in seinen Ansprüchen.                         zum bewegten Bild begleitet? Und kehren Sie in Zukunft wieder
MTC   Bern hat seit jeher ein sehr vielfältiges kulturelles Leben, kleine         zum Bild zurück?
      Formate bestehen neben grossen Institutionen, es gibt viel Expe-      BG    Mit den Fotografie-Ausstellungen im Kornhausforum kehrte ich zu
      rimentelles, aber auch Bewährtes. Ein bunter Mix und ein riesiges           meinen Anfängen zurück, das war ein Heimkommen. Aber das foto-
      Angebot für die kleine Bundesstadt. Wie kann dieses Angebot                 grafische Bild, ob still oder bewegt, hat mich immer begleitet, zuerst
      bewahrt und weiter gefördert werden?                                        als freier Fotograf, dann als Mitarbeiter der Kellerkinos, als Filmer,
BG    Ich fürchte sehr um die Vielfalt der Berner Kultur. Gewiss, die             als Redaktor auf Zeitungsredaktionen. Und ja, klar, eine Rückkehr
      Institutionen mit den Leistungsverträgen, also auch das Korn-               zum Bildermachen, Fotografie oder Film, das wünsche ich mir, da
      hausforum, die werden irgendwie durchkommen – mit zünftigen                 gibt es genug Bilder im Kopf und in der Schublade. Für 2021 gibt es
      Defiziten vielleicht, aber durchkommen. Doch was der Corona-                ein Ausstellungsprojekt in der Galerie Béatrice Brunner.
      Stillstand im Kulturbetrieb wirklich verursacht hat und noch an-      MTC   Gibt es einen Film, den Sie mit auf die einsame Insel nähmen?
      richten wird, wissen wir nicht. Und vor einer ungewissen Zukunft      BG    Also zehn müssten das schon sein, die da mitkämen. Darunter
      stehen ja nicht nur kleine Betriebe oder freie Gruppen: Lassen              wären sicher Une partie de campagne von Jean Renoir, The Tarnished
      sich grosse Festivals wie Gurten oder Buskers überhaupt noch so             Angels von Douglas Sirk und L’albero degli zoccoli von Ermanno
      durchführen wie bisher? Oder näherliegend: Gibt es im Stadtsaal             Olmi. Und vielleicht Les deux anglaises et le continent, ein Liebes-
      des Kornhausforums je wieder Partynächte mit 500 jungen Men-                film von François Truffaut, den ich zu meinem 30. Geburtstag im
      schen, die sich verdammt nahe kommen? Die Vielfalt der Berner               Kellerkino gezeigt habe, weil ich damit eine Frau verführen wollte.
      Kultur baut auf einem sehr fein gewobenen Netz. Ich bin nicht               b Das Interview führte Maria-Teresa Cano, Leiterin Kommunika-
      sicher, ob es hält.                                                         tion und Öffentlichkeitsarbeit.

«Aber jetzt ist vor allem eines entscheidend: Dass
dieses sanfte Wiedererwachen der Kultur nach Corona
sich auch festigen kann. Die Kultur muss, wie auch
immer, wieder spielen können, auf den Bühnen, in den
Museen, auf den Plätzen. Die Vorstellung ist entsetzlich,
Kultur nur noch gestreamt konsumieren zu können. »
                                                                                                                                                     7
KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Nordkorea

                                                           Unten: Willkommen im
                                                           Skiresort Masikryong. Die

Alpines Museum der Schweiz
                                                           Hotelangestellten Park
                                                           un-Jung und Kim sun-Young
                                                           in der Après-Ski-Zone
                                 Oben: Fototermin einer

ab 20.02.2021
                                 Arbeiterbrigade auf dem   Videostills: Alpines Museum
                                 Paektusan, dem höchsten   der Schweiz / Katharina
                                 Gipfel Nordkoreas         Schelling

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KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Ausstellung

                                                  Nordkorea
                   Let’s Talk about Mountains

Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie          den Niesen oder den Gantrisch denken. Aber        Es geht um Dialog und Verständigung mit Men-
«Nordkorea» hören? Raketentests? Massen-          der Paektusan, der höchste Berg Nordkoreas,       schen aus einem Land, das hinter Mauern ver-
aufmärsche? Die Menschenrechts- oder              und der Hallasan, der höchste Berg Südkoreas,     schwindet. Das Filmteam fragte, Menschen
Ernährungssituation? Das Alpine Museum            sind ideologische Landmarken. Sie waren           antworteten. Zum Beispiel auf dem Kumgang-
der Schweiz zeigt ab 20. Februar 2021 eine        2018 die symbolischen Referenzpunkte der          san, im Gebirge nahe der Demarkationslinie
filmische Annäherung an das verschlossene         einmal mehr versuchten Verständigung auf          zu Südkorea. Die nordkoreanischen Wander-
Land. Ein Filmteam des Alpinen Museums            höchster Staatsebene, als sich die beiden         touristen werden nach den Bergen im Süden
reiste 2018 und 2019 während mehrerer             Staatschefs aus Nord- und Südkorea, Kim           gefragt, auf dem Hallasan, dem einzigen Film-
Wochen nach Nord- und Südkorea und suchte         Jong-un und Moon Jae-in, auf dem Paektusan        drehort in Südkorea und höchsten Berg auf der
an unterschiedlichen Schauplätzen — im            begegneten. Berge sind in Nordkorea wie           Ferieninsel Jeju-do, nach den Bergen im Nor-
Stadtpark, auf Berggipfeln, im Schulzimmer        überall auf der Welt mehr als topografische       den. Die Antworten fielen beidseits berührend
— das direkte Gespräch. Die Ausstellung           Erhebungen. Sie sind Bestandteil kultureller      offen aus. Die Reise in der Ausstellung führt
Let’s Talk about Mountains. Eine filmische        und ideologischer Konstruktionen, die in der      auf den Stadthügel Pjöngjangs, in den Ge-
Annäherung an Nordkorea wird das Publi-           Kulturgeschichte oft weit zurückgreifen, aber     schichts-, Geografie- und Zeichenunterricht in
kum herausfordern. Sie zwingt hinzusehen,         auch wandlungsfähig sind. Der Paektusan ist       mehrere Schulzimmer, hinauf auf Berggipfel,
zuzuhören — und Fragen zu stellen.                ein mächtiger Vulkanberg an der nord-             ins vermeintliche Guerilla-Camp am Fusse des
                                                  koreanischen Grenze zu China. Er ist im öf-       Paektusan, in Kunstateliers, in Landwirt-
Ja, Reisen nach Nordkorea sind möglich. Es        fentlichen Raum Nordkoreas omnipräsent,           schaftsbetriebe der hügeligen Provinz und ins
gibt sie in Reisebüros als fixfertige Angebote,   weil er für die Macht der herrschenden Dynas-     grosse Skiresort von Masikryong. Die Kamera
ähnlich wie Kreuzfahrten oder Pauschal-           tie steht. Der heilige Berg Koreas, den auch      schaut manchmal auch nur zu. Etwa auf dem
arrangements im mediterranen Ferienresort,        das alte China verehrte, mutierte in der nord-    Gipfel des Paektusan beim geschäftigen Selfie-
und es gibt massgeschneiderte Reisen, die ihr     koreanischen Lesung zum «heiligen Berg der        Treiben.
eigenes Programm verfolgen. Let’s Talk about      Revolution», in Südkorea ist er immer noch             Let’s Talk about Mountains kommentiert
Mountains gehörte zur zweiten Kategorie.          der «heilige Berg Koreas», der für Süd-           nicht, sondern zeigt. Zu den Filmbildern er-
Doch auch da gilt immer: Ein freies, selb-        koreaner*innen nur von der chinesischen           scheint ein reich illustriertes Magazin, das die
ständiges Reisen in Nordkorea ist nicht mög-      Seite zugänglich ist. Berge sind mit ihrem        Themen der Filmräume aufgreift, vertieft und
lich. Reisen sind immer begleitet von hervor-     ideologischen Gewicht selbstverständlich          interpretiert. Namhafte Nordkorea-Expert*in-
ragend ausgebildeten Guides, die auch als         auch Stoff in den Schulen, was Schweizer*in-      nen konnten als Autor*innen gewonnen wer-
Übersetzer wirken. Das Programm wird im           nen leicht nachvollziehen können. Rütli,          den. Ein breites Vermittlungs- und Ver-
Voraus festgelegt. Reisen in Nordkorea brau-      Gotthard und Réduit lassen grüssen. Berge         anstaltungsangebot mit weiteren Berner
chen eine staatliche Bewilligung. Reisen mit      sind zudem Schauplätze von Freizeitver-           Kulturinstitutionen ist in Vorbereitung, unter
Dreharbeiten in Nordkorea brauchen mehrere        gnügen, von Tourismusinvestitionen und von        anderem mit dem Kunstmuseum Bern und
staatliche Bewilligungen, aber sie sind mit       prekärer Berglandwirtschaft. Und Berge sind       seiner Korea-Ausstellung Grenzgänge mit
etwas Hartnäckigkeit, Charme und Willen zur       seit Jahrhunderten Gegenstand von Kunst           Kunstwerken aus der Sammlung Uli Sigg.
Zusammenarbeit möglich. Let’s Talk about          und Kultur, von Ästhetik, Schönheit und stili-    b Beat Hächler, Direktor des Alpinen Museums
Mountains entstand als Angebot des Alpinen        sierter Harmonie, buddhistische Religion in-      der Schweiz und Kurator der Ausstellung
Museums der Schweiz an die Botschaft Nord-        begriffen. Die Künste – Malerei, Musik, Film,
koreas in Bern. Nordkorea hat 25 Millionen        Literatur – kommen ohne Berge nicht aus. Das
Einwohner*innen. Wir wollten mit einigen          ist in Nordkorea nicht anders. Let’s Talk about   Alpines Museum der Schweiz
wenigen an von uns gewünschten Schau-             Mountains versucht dies zu zeigen.                Let’s Talk about Mountains.
plätzen über Berge sprechen. Das mag etwas              Das Material, aus dem die Ausstellung       Eine filmische Annäherung an Nordkorea
harmlos klingen, wenn wir an Gespräche über       derzeit entsteht, ist überraschend unaufgeregt.   ab 20. Februar 2021

                                                                                                                                                 9
KUNST EINSICHT 17 2/2020Nr - Kunstmuseum Bern
Kindermuseum Creaviva

                                                   Kunst in
                                              unsicheren Zeiten

Am 14. Mai 2020, drei Tage nach unserer Wiederauferstehung,                                        In Zeiten von
wollten wir von unseren Gästen wissen, welche Rolle Kunst vor dem                    Krisen ist Kunst für mich wichtig, weil …
Hintergrund der aktuellen Pandemie für sie gespielt hat. Hier eine
kleine Auswahl von Antworten, die uns erreicht haben:
                                                                       … Kunst das Leben atmen lässt – und wer atmet, bleibt begeistert!
                                                                       b Andreas, 50

                                                                       … sie mich froh macht und mir zeigt, wie bunt und gross die
                                                                       Welt ist. b Félix, 5

                                                                       … sie das Leben bereichert, schöner macht, Gedanken herausfordert,
                                                                       die Sinne schärft, provoziert, ethische Fragen aufwirft, beruhigend
                                                                       wirkt, Entwicklungen nachverfolgt und Identifikation schafft.
                          Das Creaviva ist
                                                                       b Bea, 59
                   für mich unverzichtbar, weil …

                                                                       … sie mir hilft, die Gedanken fliegen zu lassen. b Rolf, 69
… meine Enkelin im Creaviva mit 5 Jahren entdeckt hat, dass sie,
wie Paul Klee, mit verschiedensten Materialien etwas gestalten
kann, zaubern kann. Immer wieder wünscht sie sich ins Creaviva zu      … sie mich darin unterstützt, zu realisieren, was Gesundheit und
gehen. Der nächste Enkel wird sich hoffentlich genauso abenteuer-      Leben überhaupt bedeuten, und wie privilegiert ich bin. b Martin, 74
lustig in die Kunst wagen. b Jeannette, 68
                                                                       … sie ein immerwährender Ort ist, der lebt, egal auf welchen Rutsch-
… es daran erinnert, die kindliche Lust, Freude und Verspieltheit      bahnen des Lebens oder Leidens. Kunst zeigt uns den Weg im Alltag,
beim Gestalten zu behalten. b Sarah, 42                                in unserm Sein, wo immer wir unterwegs sind, auch im Träumen!
                                                                       b Paul, 34
… ich in der Schweiz keine andere Institution kenne, die mir und
meinen Enkeln Kunst so unverkrampft und inspiriert nahezubringen       … sie eine Begegnung ermöglicht, die lautlos und direkt in meinem
vermag. b Max, 54                                                      Herzen Gefühle hervorbringt, die aus meinem tiefsten Innersten
                                                                       kommen. b Georg, 78
… es ein Ort ist, der mich einlädt zum Experimentieren, in Farben
und Formen zu schwelgen, und ich mir dadurch nahe bin und mich
lebendig und erfinderisch erleben darf. b Jan, 33

… für Gross und Klein ein Raum geschaffen wird, um sich in der
Kreativität zu entfalten – ein grenzenloses «Hier und Jetzt» mit
Staunen. b Simone, 44

… ich es liebe, Freude in den Augen meiner Kinder zu sehen, wenn                     Wären die Türen des Kindermuseums zu
sie Neues entdecken, schaffen können und sie aufgeregt und stolz                             geblieben, hätte ich …
auf ihr Ergebnis sind. b Ivana, 38
                                                                       … dem Zauberer um die Ecke seinen Zauberstab stibitzt und
… es einfach gut tut, dort zu sein! Diese Vielfalt an Farben, Formen   das Creaviva wieder hergezaubert. Subito. Ohne Wenn und Aber!
und Ideen. b Christel, 66                                              b Eva, 59

10
Ausstellung

                                                                                                                                Paul Klee, Côte de
                                                                                                                                Provence 1, 1927, 229,
                                                                                                                                Aquarell auf Papier auf
                                                                                                                                Karton, 15,1 × 23,5 cm,
                                                                                                                                Zentrum Paul Klee, Bern

                                                       Mapping Klee
                                  «Ohne Phantasie wird nichts»
Zentrum Paul Klee
05.09.2020 – 24.01.2021
Ausstellung statt All-inclusive: Mit Mapping        hatte, gaben ihm stets neue Impulse für sein       Serie von 17 Zeichnungen nimmt Klee uns bei-
Klee in ungeahnte Welten eintauchen und             kreatives Schaffen. Und doch wirkt Klees           spielsweise mit auf einen schaurigen Spazier-
das grenzenlose Reich der Fantasie bereisen.        Spätwerk – trotz Reisestopps – nicht ärmer         gang durch einen Infernen Park. eingangs be-
Beglückend, inspirierend, Horizont erwei-           oder uninspirierter als seine früheren Arbei-      treten wir den Schauplatz, überwinden eine
ternd und garantiert CO2-neutral.                   ten. Im Gegenteil: In seinen letzten Lebens-       scheinbare Überbrückung, passieren die Mord-
                                                    jahren steigerte Klee seine Produktion ins         Stelle, ehe wir uns zur verfrühten Rast nieder-
Paul Klee reiste gern: nach Italien, an die fran-   Unermessliche – mit über 1300 registrierten        lassen. Die Titel und reduzierten Zeichnungen
zösische Mittelmeerküste, bis nach Tunesien         Werken allein im Jahr 1939. «[…] ich komme         evozieren Bilder im Geiste des Betrachtenden
und Ägypten. Seine Aufgaben als Lehrperson          diesen Kindern nicht mehr ganz nach. Sie ent-      und lassen doch genügend Raum für die eigene
am Bauhaus empfand er zuweilen als Be-              springen», schrieb Klee im Dezember 1939 an        Ausgestaltung der Leerstellen.
lastung. Der regenerativen Kraft seiner Ferien      seinen Sohn Felix über seine sprudelnden                 Der therapeutische Nutzen von Fantasie-
in Südfrankreich, auf Porquerolles und Korsi-       Bildeinfälle.                                      reisen als imaginatives Verfahren zur Thera-
ka im Sommer 1927, bedurfte er so sehr, dass              Woher kamen diese Scharen von «Kin-          pie und zur Entspannung wurde erst Jahr-
er erst mit mehrwöchiger Verspätung zum             dern»? Klees ungeheure Gabe der Imagination        zehnte später erkannt. Und doch scheint dies
neuen Semester ans Bauhaus zurückkehrte.            hauchte ihnen Leben ein. Körperliche Hin-          in Klees Bildern bereits angelegt. Und nur zu
     Ab 1933 waren es nicht mehr berufliche         fälligkeit und geschlossene Grenzen konnten        gerne beanspruchen wir, gerade in diesen
Verpflichtungen, die ihn am freien Reisen           daran nichts ändern. Bereits früh hatte Klee       Zeiten, die heilvolle Wirkung der Bilder und
hinderten. Nach der Machtergreifung der             das Potenzial der Fantasie erkannt. Im Jahr        begeben uns mit Klee auf eine Reise in die
Nationalsozialisten in Deutschland kehrte           1905 schrieb er an seine Verlobte Lily Stumpf:     Fantasie – träumen von fernen Orten, tanken
Klee Ende des Jahres in seine Heimatstadt           «In mageren Minuten sehe ich zu deutlich und       Kraft und finden Inspiration und Ausgleich.
Bern zurück. Neben den veränderten politi-          klar, es fehlt der Glaube, und die Welt bleibt     b Kai-Inga Dost, Ausstellungsassistentin Zen-
schen Verhältnissen in Europa waren auch            ungeschaffen. Ohne Phantasie wird nichts.»         trum Paul Klee
eine finanziell angespanntere Lage und ab           Was ihm damals zuweilen noch schwer zu
1935 Klees ernste Erkrankung schwer-                fallen schien, kultivierte und perfektionierte
wiegende Hindernisse für grössere Unter-            er bis zu seinem Tod: das Erschaffen neuer
nehmungen. Seine Reisemöglichkeiten be-             Welten durch die Macht der Vorstellungskraft.
schränkten sich fortan auf die Schweiz – vor              Seine Bildwelten sind bevölkert von
allem auf Kuraufenthalte.                           geheimnisvollen Wesen, absonderlichen Pflan-       Zentrum Paul Klee
     Die Erfahrungen und Beobachtungen,             zen, und sie entführen uns an mystische Orte       Mapping Klee
die Klee auf seinen früheren Reisen gemacht         – auch in der Ausstellung Mapping Klee. In einer   05.09.2020  ­—24.01.2021

                                                                                                                                                          11
Ausstellung

                                     Paul Klee, nach der
                                     Zeichnung 19/75, 1919, 113,
                                     aquarellierte Lithographie,
                                     22,2 × 16 cm, Zentrum
                                     Paul Klee, Bern, Schenkung
                                     Livia Klee

                     Paul Klee
            Rebell & Geniesser
Zentrum Paul Klee
15.01.– 30.05.2021
12
Rebell & Geniesser

Lernbegieriger Schüler mit Bestnoten und schlechtestes
Abitur seiner Klasse, jugendlicher Vagabund und
moderner Hausmann, seriöser Bauhausmeister und
Unterrichtsverweigerer, zurückgezogener Künstler
und Mitglied des Aktionsausschusses revolutionärer
Künstler im Zuge der Novemberrevolution, vom
Teufel besessen und den Göttern nah. Das Zentrum
Paul Klee zeigt Paul Klee in all seinen Widersprüchen.

Grotesken und Karikaturen bevölkern manche          er regelmässig dem Unterricht bei Heinrich       Reisen verzichtet er nicht gänzlich – er be-
Seiten von Klees Schulheften und -büchern           Knirr und später Franz von Stuck fern und be-    gleitet Flugzeugtransporte und «reist» so nach
und illustrieren seinen Drang zur Flucht vor        gründet trocken seinen «Unfleiss» gegenüber      Köln, Brüssel und an die Nordsee.
schulischen – und später alltäglichen, beruf-       den Eltern damit, dass es diesmal «ganz der           Mit ironischen Kommentaren und später
lichen sowie politischen – Verpflichtungen          gleiche Fall wie früher [ist], wenn ich die      seiner Kunst kritisiert Klee nicht nur das vor-
mittels Bleistift in eine fantastische Gegenwelt.   Schule schwänzte, nämlich, weil es momen-        herrschende Schulsystem, Bereiche der Kul-
In der Schulzeit publiziert Klee gemeinsam mit      tan Wichtigeres zu tun gibt für mich.» Wich-     tur- und Mentalitätsgeschichte der Schweiz,
seinen Mitschülern Hans Bloesch und René            tiger sind Klee Reisen, musikalische Soirées,    wirtschaftliche und politische Autoritäten
Thiessing die «stark gewürzte Commerszei-           Theater- und Opernvorstellungen, Masken-         während des Ersten und Zweiten Weltkrieges
tung» mit dem Titel Die Wanze. Er verleiht          bälle, üppige Abendessen in Restaurants          in Deutschland, sondern auch die für viele
seiner Ablehnung gegenüber dem «Zuchthaus           sowie der Genuss seines Lieblingsgetränks:       unsichtbaren alltäglichen Widersprüche des
Waisenhausstrasse» – Klees Berner Schulhaus         «guter roter Wein». Den in München lehren-       modernen Lebens. In seinem künstlerischen
und heutigem Atelierhaus PROGR – Aus-               den «akademischen Büffeln» kehrt Klee bald       Schaffen konfrontiert Klee sich und die Be-
druck, indem er in seinen satirischen Zeich-        den Rücken und zieht sich zur Selbstaus-         trachtenden immer wieder mit der Absurdität
nungen Teile der Lehrerschaft und ihre ver-         bildung und -findung nach Bern in sein Eltern-   des menschlichen Daseins. Die oppositionel-
altete Pädagogik attackiert. Ebenfalls mit          haus zurück.                                     le und geniesserische Seite Klees verträgt
Bloesch bereitet er 1908 das unveröffentlichte            Auch zu Beginn des Ersten Weltkrieges      sich schlecht mit autoritärem Gehabe. In
Buch Der Musterbürger vor. In sieben Illustra-      schliesst er sich nicht der unter vielen be-     allen Systemen, in denen er sich bewegt – ob
tionen verspottet Klee den spiessbürgerlichen       freundeten Intellektuellen und Künstler*in-      während der Schul-, Ausbildungs-, Militär-,
Menschen samt der schweizerischen Büro-             nen in München ausbrechenden Kriegs-             Eltern- oder später der Bauhauszeit –, findet
kratie, die um 1900 einen ersten Höhepunkt          euphorie an. Anders als etwa Franz Marc          er stets ein Schlupfloch, einen realen oder
erreicht. Er stellt den Protagonisten, einen        meldet er sich nicht freiwillig zum Militär-     imaginären Raum, und «ist einfach Mensch».
Beamten («Er kostete nie gestohlnes Obst,           dienst, sondern flüchtet vor der «schreckens-    Selbst wenn Klee die laute Revolution und das
war nie in Nachbars Garten») überspitzt,            vollen Welt» in die abstrakte Kunst. Als Klee    konkrete Politisieren lieber anderen über-
nunmehr als Karikatur seiner selbst, dar und        1916 schliesslich als Landsturmmann zur          lässt, so zeugen sein Handeln und seine
legt so die Abgründe des vorbildlichen Men-         deutschen Armee berufen wird, findet er          Bilderwelten von einem Bewusstsein für die
schen offen.                                        Wege, dem «verhassten Soldatenspiel» zu-         «Traditionen der mächtigen Realitäten» und
     Selbst Klees Entschluss, nach dem Abitur       mindest teilweise zu entkommen und mietet        seinem lebenslangen Versuch, «in der Stille
in München Kunst zu studieren, ist primär           etwa ein privates Zimmer ausserhalb der Ka-      das Unmögliche zu vollbringen» – mit Pinsel,
Akt der Rebellion und Emanzipation von sei-         serne. Den so geschaffenen Freiraum nutzt er,    Geige und Kochlöffel. b Livia Wermuth, kunst-
nem Elternhaus: Er stellt sich damit gegen          um heimlich zu malen, zu musizieren und zu       wissenschaftliche Volontärin Zentrum Paul
den Wunsch seines Vaters, der für das Doppel-       kochen. In einer Zeit, in der die malerischen    Klee
talent – als Geiger und Zeichner – eine             Mittel und Materialien schwer zu beschaffen
Musikerkarriere vorsieht. In seinem Tagebuch        sind, bedient er sich anderer Bildträger und
schreibt Klee über seine Vorliebe für Ver-          verwendet etwa Reste von Leinen, die in den      Zentrum Paul Klee
botenes, dass ihn weniger die bildende Kunst        Gersthofener Werkstätten, wo er stationiert      Paul Klee. Rebell & Geniesser
an sich, «als die Aussicht, möglichst bald weit     ist, zur Bespannung der Flugzeugflügel ver-      15.01.— 30.05.2021
weg zu sein» nach München lockt. Dort bleibt        wendet werden. Selbst auf sein geliebtes         Eröffnung: Donnerstag, 14. Januar 2021

                                                                                                                                                13
Fokus

Realität
Vision
Utopie
                                                                            Die Macht
                                                                            von Kunst in
                                                                            Zeiten
                                                                            der Krise
Zwei Sammlungen und un­zählige Geschichten:
Die Kuratorinnen Kathleen Bühler und Marta
Dziewańska sprechen über ihre Ausstel­lungen,
die vor und während der Corona-Pandemie
ent­standen sind. Im Fokus stehen Emotionen,
Revolution und die Art und Weise, wie Kunst­
werke in verschiedenen Realitäten immer wieder
neu aktiviert werden können.

Beide Ausstellungen im Kunstmuseum Bern, Crazy, Cruel and
Full of Love (J Seite 21) wie auch Tools for Utopia (J Seite 17),
sind Sammlungsausstellungen. Eine schöpft aus der Sammlung
von Gegenwartskunst des Kunstmuseum Bern, die andere aus
der Daros Latinamerica Collection. Obwohl auf verschiedenen
Kontinenten, zu unterschiedlichen Zeiten und vor anderen
politischen und sozialen Hintergründen entstanden, lassen sich
Parallelen zwischen den ausgestellten Werken ziehen. Sie alle
dokumentieren Krisen, verarbeiten extreme Situationen und
Emotionen und haben auch vor dem heutigen Hintergrund der
Corona-Pandemie nichts an Aktualität eingebüsst.

                                                                     14
Realität         Vision          Utopie

KATHLEEN BÜHLER           Unsere Sammlung Gegenwartskunst ist für                wie oft Kunstwerke erst Jahre nach ihrer Entstehung wirklich
     mich eine Sammlung von Geschichten und Erfahrungen. Ich                     verstanden werden. Sie sind präzise Zeitdokumente, aber
     möchte diese Werke nutzen, um auf empathische, aber auch                    auch Ausdruck von dazugehörigen Träumen von einer anderen,
     sarkastische oder ironische Art und Weise darüber zu reflek-                besseren Welt.
     tieren, was wir momentan erleben. Künstler*innen haben in                          Die zeitgenössischen Werke hingegen reagieren extrem
     ihren Werken schon immer ausserordentliche Gemütszustände                   aktiv auf ihr Hier und Jetzt. Es geht weniger um utopische
     thematisiert, und mit der Ausstellung Crazy, Cruel and Full of              Zukunftsvisionen als vielmehr um konkrete Wege, die Gegen-
     Love schlage ich vor, sie unter dem Blickpunkt der globalen                 wart zu kommentieren, an ihr teilzunehmen und sie zu «reparie-
     Covid-19-Pandemie und so als Antworten auf eine ganz aktuelle               ren» — was letztendlich natürlich auch sehr viel mit der Zu-
     Erfahrung zu lesen. Die Werkauswahl ist sehr kontrastreich                  kunft zu tun hat. Die chilenische Fotografin Paz Errázuriz zum
     und soll die Unsicherheit und Haltlosigkeit widerspiegeln, der              Beispiel macht mit ihren Schwarz-Weiss-Fotografien diejenigen
     wir ausgesetzt sind. Ich habe mir erlaubt, die Werkinhalte                  Menschen sichtbar, die das System zensiert, kriminalisiert
     spielerisch auf einer anderen Ebene zu befragen. Die Auswahl                und unterdrückt. Sie konnte diese Bilder in ihrer Entstehungs-
     umfasst deshalb unterschiedlichste Werke, die sich mit star-                zeit nicht publizieren, worum es ihr aber auch nicht in erster
     ken und ambivalenten Emotionen befassen, und die losgelöst                  Linie ging. Es ging vielmehr darum, für ihre Protagonist*innen
     von ihrem Zeit- und Werkkontext gezeigt werden. Der Aus­                    ein Umfeld des Vertrauens zu schaffen. Durch ihre Arbeiten
     stellungstitel fasst dieses Wechselbad der Gefühle treffend                 — inhaltlich wie auch bezogen auf ihr Vorgehen — bot sie den
     zusammen: Unsere Situation ist verrückt, sie ist grausam, aber              bestehenden hierarchischen und gewalttätigen politischen
     sie ist auch voller Liebe.                                                  Systemen die Stirn. Die Ausstellung folgt den Künstler*innen,
                                                                                 wenn sie sich mit den verletzlichen Körpern und den Minder-
MARTA DZIEWAŃSKA        Ich denke, die ambivalenten Emotionen,                   heiten in der Gesellschaft auseinandersetzen. Eine Art be-
     die du ansprichst, umschreiben die aktuelle Situation sehr gut.             scheidene, sehr lokale und doch hoffnungsvolle, und meiner
     Wir wissen nicht, was kommt, und verstehen nicht wirklich,                  Meinung nach mächtige Utopie. Das Gleiche versuchte ich
     was passiert. Was konntest du von den ausgewählten Werken                   auch im Katalog umzusetzen. Er ist im Stil einer Zeitung gestal-
     lernen?                                                                     tet, in der wir den aktuellen Zeitgeist zu erfassen versuchen.
                                                                                 Historische Manifeste werden den Aussagen zeitgenössischer
KB   Viele der Werke erzeugen aufgrund ihrer Motive oder ihrer                   Künstler*innen über die momentane Situation in Guatemala,
     Machart widersprüchliche Reaktionen. Es ist nicht immer klar,               Costa Rica, Chile, Kolumbien oder Brasilien gegenübergestellt.
     was sie eigentlich darstellen. David Hominal zum Beispiel malt              Im Fokus stehen die persönlichen Eindrücke und Emotionen:
     seine romantischen Landschaften so übertrieben, dass er                     die lokalen Krisen, die individuellen Lebensgeschichten und
     sie dadurch als Klischee entlarvt. Gleichzeitig durchbricht er              Entscheidungen hinter der globalen Krise.
     das Klischee und kreiert so eine beunruhigende Mehrdeutig-
     keit. Manche Werke haben sprechende Motive, wie zum Beispiel           KB   Ich denke, das ist eine der Haupteigenschaften von Kunst:
     Urs Lüthis doppeltes Selbstporträt. Das Werk verwebt zwei                   Sie kann einem alternative Perspektiven eröffnen und uns
     unterschiedliche Zustände und kann als Kommentar zu frühe-                  dabei helfen, Wandlungspotenzial zu erkennen. Und das in den
     ren Selbstporträts gelesen werden. Es ist die Ausstellung als               unterschiedlichsten Situationen und losgelöst von ihrem Ent-
     Ganzes, die mir hilft, die vielen Emotionen und diese aktuelle              stehungskontext. Ihre Inhalte sind auf vielfältige Weise aktivier-
     Gleichzeitigkeit von Lebenslust und Gefährdung zu verstehen.                bar: Das Gemälde BLAU von Miriam Cahn zum Beispiel zeigt
     Und sie ist ein Versuch, die Besucher*innen mit ihren eigenen               einen Mann, eine Frau und ein Kind, die im Mittelmeer ertrinken,
     Empfindungen zu konfrontieren, ohne dabei kathartisch                       und ist der Kommentar der Künstlerin auf die Flüchtlingskrise
     wirken zu wollen. Wenn ich hier den Bogen zu Tools for Utopia               im Mittelmeerraum. In einer wunderschönen Sinfonie in Blau
     schlage, sehe ich eine starke Ähnlichkeit, obwohl diese Werke               visualisiert Cahn die körperliche Todeserfahrung. Natürlich
     in einem ganz anderen politischen Umfeld entstanden sind.                   ist dies immer noch der Inhalt des Werks, aber die Idee des
                                                                                 unkontrollierten Treibens im Sinne eines Nicht-Wissens wohin
MD   Tools for Utopia setzt sich aus einem historischen und einem                etwas führt, erhält durch die Pandemie eine zusätzliche Be-
     zeitgenössischen Teil zusammen. Der historische Teil der                    deutungsebene.
     Ausstellung umfasst Werke, die von 1950 bis in die 1970er-
     Jahre entstanden sind. In dieser Zeit waren die meisten latein-        MD   Künstler*innen blicken über den Tellerrand. Sie schlagen mutige,
     amerikanischen Länder Diktaturen. Die Künstler*innen ver-                   unmögliche und oftmals verrückte Sichtweisen vor, und gerade
     suchten nicht nur das, was passierte, zu beschreiben, sondern               jetzt brauchen wir unbedingt mutige Visionen.
     die Gesellschaft und die Politik neu zu denken und sich eine
     andere Welt zu erträumen. Anstatt die Werke anhand ästheti-            KB   Ich würde sagen, verrückte und grausame Visionen voller Liebe.
     scher Parameter zu ordnen, habe ich versucht, sie als Aussagen
     über und Szenarien für die Zukunft zu verstehen. Die Künst-
     ler*innen waren nicht so sehr daran interessiert, Gemälde zu
     schaffen, die in Institutionen hingen, oder unbewegliche Skulp-        b Kathleen Bühler, Kuratorin der Ausstellung Crazy, Cruel and
     turen, die in abstrakten Situationen gezeigt werden. Ihre              Full of Love. Werke aus der Sammlung Gegenwartskunst
     Kunstwerke behandelten sie als Werkzeuge zur Emanzipation.             12.09.2020 —  14.02.2021, im Kunstmuseum Bern
     Ein wunderschönes Konzept, von dem wir heute lernen können,            b Marta Dziewańska, Kuratorin der Ausstellung Tools for Utopia.
     Kunst als politisches Werkzeug ernst zu nehmen. Ich bin                Ausgewählte Werke der Daros Latinamerica Collection
     überzeugt, dass Künstler*innen wie hochempfindliche Seismo-            30.10.2020 —21.03.2021, im Kunstmuseum Bern
     grafen funktionieren — führen wir uns nur einmal vor Augen,            b Text: Martina Witschi, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit

                                                                       15
Ausstellung

Tools for
Utopia

                               Ausgewählte
                               Werke der
                               Daros
Kunstmuseum Bern               Latinamerica
30.10.2020 — 21.03.2021        Collection
Die Ausstellung setzt sich mit den Spannungs­
feldern zwischen Wirklichkeit und Traum,
Individuum und Gesellschaft, Vergangenheit und
Zukunft und ganz besonders zwischen Realität
und Utopie auseinander. Sie stellt historische
Werke zeitgenössischen gegenüber und zeigt
auf, wie lateinamerikanische Künstler*innen ihre
Arbeiten in unterschiedlichen historischen, so-
zialen und politischen Kontexten als Werkzeuge
zur Emanzipation genutzt haben.
                          17
Tools for Utopia

In seinem programmatischen Text «El marco: un problema de la                Mit der Gegenüberstellung von historischen und zeitgenössischen
plástica actual» (Der Rahmen: Ein Problem der Gegenwartskunst),             Werken untersucht die Ausstellung, wie Kunst, die «den Willen zu
welcher 1944 publiziert wurde, führte der uruguayische Künstler             handeln» erzeugt und zu einer «aktiven Inbesitznahme der Gegen-
Rhod Rothfuss seine Gedanken zum Bilderrahmen aus: Ein Gemälde,             wart» (Interventionistisches Manifest) einlädt, von den Künstler*innen
erklärte er, sollte «in sich selbst beginnen und enden», und «die           der nachfolgenden Generationen weitergeführt, weiter kompliziert
Kante der Leinwand spielt eine aktive Rolle im Kunstwerk». Der              und hinterfragt wird. Wie haben die lateinamerikanischen Kunst­
Blick auf die Kante und, als Konsequenz davon, über den Bilder­             bewegungen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts die kulturelle,
rahmen hinaus wurde für lateinamerikanische Künstler*innen zum              soziale und politische Vorstellungskraft beeinflusst? Wofür stehen
Erkennungsmerkmal: Anders als ihre europäischen und eher an                 diese Ideen und Hoffnungen heute? Was bleibt von ihrem ästheti-
formalistischen Problemen interessierten Vorgänger (Max Bill, Josef         schen Erbe und dessen umfangreichen politischen Ambitionen?
Albers) interpretierten sie Konkrete Kunst als eine bildhafte Spra-         Solche Fragen scheinen im aktuellen Kontext sozialer und politischer
che des Engagements und behandelten ihre zentrale Maxime —                  Spannungen — in Lateinamerika, aber auch weltweit — besonders
die Erfindung — als ihr mächtigstes revolutionäres Instrument. Die          relevant, und Tools for Utopia versucht aufzuzeigen, wie dieses Erbe
«Auslöschung» des rechteckigen Rahmens — so einfach sie auch                uns heute inspirieren und anregen kann.
scheinen mag — ermöglichte dynamischere Kompositionen, die mit
ihrer Umgebung in ganz neue Dialoge treten konnten. Der nach-               b Marta Dziewańska, Kuratorin der Ausstellung
denkliche Betrachter wurde so zum teilnehmenden Subjekt, das                b Übersetzung aus dem Englischen: Martina Witschi,
durch das Kunstwerk «auf wirkliche Gegebenheiten schliesst, und             Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
nicht auf Fiktionen» (Interventionistisches Manifest, 1946).
                                                                            Kunstmuseum Bern
Den Ausgangspunkt der Ausstellung Tools for Utopia bilden Werke             Tools for Utopia. Ausgewählte Werke der Daros Latinamerica Collection
von Künstler*innen aus Brasilien, Venezuela, Uruguay und Argen­             30.10.2020 —­21.03.2021
tinien, die zwischen den frühen 1950er-Jahren und späten 1970er-            Eröffnungstag: Donnerstag, 29. Oktober 2020, 10—20 Uhr.
Jahren entstanden sind. Die Schönheit der Werke ist unbestritten,           Am Eröffnungstag ist der Eintritt in die Ausstellung kostenlos.
sie wurden jedoch nicht aus rein ästhetischen Gründen ausgewählt.
Das Hauptauswahlkriterium war vielmehr ihre politische Dimension.
In einer Zeit entstanden, in der viele lateinamerikanische Länder
durch interne und internationale Konflikte gespalten und von bruta-
len, korrupten und unberechenbaren Diktatoren beherrscht wurden,
eröffneten diese Werke — ob konkret, neo-konkret oder konzeptio-
nell — Möglichkeiten, die Funktion von Kunst in politischen Systemen
weiterzudenken, deren Hauptmerkmale institutionalisierte Gewalt,
Repression und Zensur sind. Die Abkehr von der Leinwand, das
Durchbrechen des Rahmens und Experimente mit neuen Materialien
reflektierten die Unsicherheit der Zeit und waren Ausdruck einer
Suche nach Alternativen. So betrachtet stellen diese künstlerischen
Experimente Mittel der bewussten Grenzüberschreitung dar, denn
mit ihnen können soziale und politische Utopien geschaffen werden.

Den unscharfen und mehrdeutigen Begriff «Utopie» zu verwenden
mag gewagt scheinen. Anstatt für eine Fantasie der unmittelbaren
Darstellung plädiert die Ausstellung jedoch für eine Rückkehr zur
modernen Vorstellung von Utopie, wie sie von Ernst Bloch in seinem
Werk Das Prinzip Hoffnung (1954) entwickelt wurde. Für Bloch
ist die Utopie gleichbedeutend mit dem kritischen Potenzial, solch
                                                                            «Die Schönheit der
gegensätzliche Kategorien wie «vorher» und «nachher», «innen»
und «aussen», «Optimismus» und «Pessimismus», die die Welt (und
unsere Vorstellungskraft) unterteilen, zu überwinden. Die Utopie
                                                                            Werke ist unbestritten,
vermischt derartige Dichotomien, aktiviert unsere Fähigkeit zu träu-
men und wird so zu einer Waffe und Form des Widerstands. Die Er-
                                                                            sie wurden jedoch nicht
neuerung der utopischen Hoffnung entspringt einem Un­behagen
am erlebten Hier und Jetzt, und die in Tools for Utopia gezeigten
Künstler*innen setzen ebendiese Hoffnung als zukunftsorientiertes
                                                                            aus rein ästhetischen
politisches Werkzeug ein, um der Gegenwart mit Widerstand zu be-
gegnen und alternative Visionen zu entwickeln.
                                                                            Gründen ausgewählt.
Die Ausstellung ist demnach rund um die Auffassung von Kunstwer-
ken als «Werkzeuge» aufgebaut. Sie bezieht sich auf die Geschichte
                                                                            Das Hauptauswahlkrite-
von Arbeiten, die in unterschiedlichen sozialen und politischen
Kontexten die reine Darstellung zu überwinden versuchen, die Räume
                                                                            rium war vielmehr ihre
ausserhalb des Kunstwerks beleuchten und so eine aktive Rolle in
der Umgestaltung der Gesellschaft eingenommen haben.                        politische Dimension.»
                                                                       18
Ausstellung

Crazy,
Cruel and
Full of Love

                              Werke
                              aus der
                              Sammlung
Kunstmuseum Bern              Gegen­
12.09.2020 —14.02.2021        wartskunst
Was erzählen uns zeitgenössische Kunstwerke
zum Wechselbad der Gefühle, das wir im Lock-
down erlebten? In unserer Zusammenstellung
von Werken aus der Sammlung Gegenwartskunst
— der Ausstellungstitel ist einem Werk der Genfer
Künstlerin Vidya Gastaldon entlehnt — wagen
wir einen Streifzug durch die jüngste Kunst­
geschichte. Immer auf der Suche nach dem, was
die jeweiligen Künstler*innen uns über extreme
Zustände erzählen können.
                         21
Die Begriffe «verrückt», «grausam» und auch «voller Liebe» beschrei-
ben gut das Wechselbad der Gefühle, welchem viele Menschen
während des Lockdowns ausgesetzt waren. Zur gesundheitlichen
Gefährdung, zu Krankheit und Todesfällen kamen neue existenzielle
Verunsicherungen dazu. Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Einkommens-
einbussen schafften neue ökonomische Realitäten, und Social
Distancing wurde zum Schlagwort der Stunde. Gleichzeitig konnte
man aber auch stärkere Solidarität, Nachbarschaftshilfe und —
aufgrund von Homeoffice und Homeschooling gezwungenermas-
sen — mehr familiären Austausch erleben. Menschen mussten
auf engerem Raum zusammen auskommen, und den Möglichkeiten,
sich mit Vergnügen und Unterhaltung ablenken zu können, waren
Grenzen gesetzt. Viele Menschen wurden vermehrt auf sich selbst
zurückgeworfen. Diese existenzielle Konfrontation mit einer neuen
Realität hatte positive und negative Auswirkungen. Sie konnte zu
starken Ängsten führen, aber auch zu mehr mitmenschlicher Acht-
samkeit, Gelassenheit und subjektiver Innenschau.

Betrachtet man die Werke einer Kunstsammlung nicht nur als Aus-
druck eines zeitspezifischen und individuellen Kunstbegriffes,
sondern auch als visuelle und dreidimensional gestaltete symboli-
sche «Erfahrungsberichte», dann lassen sich auch in jüngerer
Zeit Beispiele von extremen Gefühlslagen, spannungsvollen Kons-
tellationen und starken Krisenerlebnissen finden. Die vorgefundenen
                                                                            Seite 16, oben:                                       Seite 20, oben:
Beispiele führen uns von Verliebtheit und überbordender Lebens-
                                                                            Antonio Dias, To the Police, 1968, Bronze,            Vidya Gastaldon, Crazy, Cruel and Full of
lust bis zu einer vertieften Konfrontation mit Vergänglichkeit.             3-teilig: 7,5 × 12,5 × 12,5 cm; 9 × 14,5 × 14,5 cm;   Love, 2011, Mischtechnik: Acryl und Öl auf
                                                                            8 × 11 × 11 cm, Courtesy: Daros Latinamerica          Leinwand, 100 × 180,5 cm, Kunstmuseum
                                                                            Collection, Zürich, Foto: Peter Schälchli,            Bern
Ausgestellte Werke von:                                                     Zürich, © 2020, ProLitteris, Zürich
Marina Abramović, Luc Andrié, Christian Boltanski, Michael Buthe,                                                                 Seite 20, unten:
                                                                            Seite 16, unten:                                      Miriam Cahn, BLAU, 2017, Öl auf Leinwand,
Miriam Cahn, Martin Disler, Quynh Dong, Vidya Gastaldon, Daiga              Julio Le Parc, Continuel-lumière cylindre,            280 × 225 cm, Kunstmuseum Bern,
Grantina, David Hominal, Urs Lüthi, Markus Raetz, Jean-Frédéric             1962, Light-kinetic object: Wood,                     Sammlung Stiftung GegenwART
                                                                            stainless steel, metal, motors, light sources,
Schnyder, Francisco Sierra                                                                                                        Seite 22:
                                                                            280 × 280 × 50 cm, Courtesy: Daros
                                                                            Latinamerica Collection, Zürich, Foto:                David Hominal, Two Birds in the Space,
b Kathleen Bühler, Kuratorin der Ausstellung                                Adrian Fritschi, © 2020, ProLitteris, Zürich          2008, Öl auf Leinwand, 100,7 × 101 × 2,5 cm,
                                                                                                                                  Kunstmuseum Bern
                                                                            Seite 19:
                                                                            Ana Mendieta, aus der Serie Untitled
                                                                            (Glass on Body Imprints), 1972, Iowa
Kunstmuseum Bern                                                            (Estate print, 1997), Folge von sechs Farb-
Crazy, Cruel and Full of Love.                                              fotos, je 50,7 × 40,5 cm, Courtesy: Daros
                                                                            Latinamerica Collection, Zürich, Foto:
Werke aus der Sammlung Gegenwartskunst                                      Peter Schälchli, Zürich, © 2020, ProLitteris,
12.09.2020—14.02.2021                                                       Zürich

                                                                       22
Debatte

                                                Achille Mbembe
                                           Das allgemeine Recht
                                                aufs Atmen

Die Welt ist vom Erstickungstod bedroht. Will die
Menschheit nach Covid-19 weiter­leben, muss sie
sich um eine Neugestaltung der bewohnbaren Erde
bemühen.
Manche sprechen heute schon von der Zeit nach Covid-19. Dagegen ist      reproduziert» – durch etwas, das ich, wenn nicht als «Aufbrechen und
nichts einzuwenden. Doch vor allem in den Weltregionen, in denen die     Aufreissen», als «Entleerung der Gefässe», «Tiefenbohrung» oder
Gesundheitssysteme jahrelang gezielt vernachlässigt wurden, steht für    «Ausschlachtung von organischen Substanzen» 3, schlagwortartig als
die meisten von uns das Schlimmste noch bevor. Da Krankenhaus-           «Depletion» im Sinne von Auszehrung bezeichnen würde.4
betten, Beatmungsgeräte, Massentests, Masken und Desinfektions-                Zu Recht lag dabei die Aufmerksamkeit auf der molekularen, che-
mittel auf Alkoholbasis fehlen und ausser den bereits bestehenden noch   mischen, ja sogar radioaktiven Dimension dieses Vorgangs: «Ist Giftig-
keine weitergehenden Quarantänevorkehrungen ergriffen worden sind,       keit, das heisst die starke Zunahme von chemischen Substanzen und
werden unglücklicherweise viele Menschen auf der Strecke bleiben.        gefährlichen Abfällen, nicht eine Strukturdimension der Gegenwart?
     Wenn jemand vor einigen Wochen versucht hat, angesichts der         Diese Substanzen und Abfälle greifen nicht nur Natur und Umwelt an
sich abzeichnenden Aufregung und Ratlosigkeit die heutige Zeit zu be-    (Luft, Böden, Gewässer, Nahrungsketten), sondern auch die Körper,
schreiben, war von einer Zeit ohne Garantien und Verheissungen in        die Blei, Phosphor, Quecksilber, Beryllium und Kühlmitteln ausgesetzt
einer mehr und mehr von ihrem eigenen Untergang besessenen Welt          werden».5 Natürlich wurde in diesem Rahmen auch auf die «lebendi-
die Rede – aber auch von einer Zeit, in der «Verletzbarkeit ungleich     gen, physischer Erschöpfung und einer ganzen Reihe von in manchen
verteilt ist» und «neue, verheerende Kompromisse mit ebenso futuris-     Fällen unsichtbaren biologischen Gefahren ausgesetzten Körper» ver-
tischen wie archaischen Gewaltformen eingegangen wurden» 1, ja           wiesen. Namentlich nicht erwähnt habe ich dagegen die (fast 600.000
mehr noch: von einer Zeit des Brutalismus. 2                             bei allen Säugetierarten auftretenden) Viren – ausser auf metaphori-
     Über seinen Ursprung in der gleichnamigen Architekturbewegung       sche Weise in dem Kapitel, das den «Grenzkörpern» gewidmet ist.
Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus würde ich den Brutalismus der          Doch davon abgesehen, ging es hier durchaus ein weiteres Mal um eine
Gegenwart als einen Vorgang definieren, «durch den Macht als geo-        Politik des Lebendigen als Ganzem.6 Und diese nennt das Coronavirus
morphe Kraft sich heute bildet, äussert, rekonfiguriert, auswirkt und    ganz sicherlich beim Namen.

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