EINE STIMME HABEN - null41
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www.null41.ch Oktober 2020 SFr. 9.– 50 JAHRE NACH DEM JA ZUM FRAUENSTIMMRECHT IM KANTON LUZERN EINE STIMME HABEN … … UND SIE FÜR MEHR GLEICHSTELLUNG ERHEBEN … OBWOHL MAN MEHR SPINNE ALS RAMPENSAU IST … ALS FRISCH ZUGEZOGENE KULTURSCHAFFENDE AUSSERDEM 07:60 PM: DA MACHT DIE MUSIK ECHTES THEATER 100 JAHRE KAMPF FÜR FRAUENRECHTE IN LUZERN 2 ZENTRALSCHWEIZER BLICKE AUF DAS IMPERIAL VALLEY
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EDITORIAL STIMM- GEWALTIG Liebe Leserinnen und Leser Dann also auch die Frauen: Seit fünfzig Jahren dürfen sie im Kanton Luzern abstimmen, wählen und sich wählen lassen. Die Abstimmung im konservativen Zentralschweizer Kanton war ein wichtiger Pulsmesser für die wenige Monate später anbe- raumte Entscheidung über das Frau- enstimmrecht auf nationaler Ebene. Diesen Schritt feiern wir mit unserer Oktober-Ausgabe und erinnern an all jene Menschen, die sich dafür einge- setzt haben. Feiern bedeutet für uns vor allem: weiter- dabei sind. «Wen repräsentieren unsere Par- denken. Wir reden einerseits mit zwei Gleich- lamente genau?», fragen wir am 20. Oktober stellungsaktivistinnen darüber, was in den und denken das Thema unseres Magazins in Plakat «Ziit isch da», 1970, Werbeagentur BSR, Hans und Urs Hilfiker, Luzern, 1970 vergangenen fünfzig Jahren alles erreicht einer 45-minütigen Gesprächsrunde noch wurde, wo es noch weiterzukämpfen gilt und weiter – kurzweilig, urban, mit Bier. Es wie man was am besten anpackt. würde mich sehr freuen, Sie dort persönlich Anderseits zeigen wir auf, welche Stimmen begrüssen zu dürfen. heute noch ungehört bleiben: sowohl auf poli- Schliessen möchte ich mit ein paar per- tischer Ebene als auch in der Kulturförde- sönlichen Worten. Keinesfalls will ich mich rung. Dritterseits stellen wir die Veranstal- darüber beklagen, aber: Ich bin als Frau ge- tungstechnikerin Franzisca «d’Franz» Rüedi boren, und dann auch noch in Prag. Dass ich ins Rampenlicht, die für Künstlerinnen und eine Stimme habe in unserer Gesellschaft, ist Künstler die perfekte Stimmung auf der deshalb für mich alles andere als selbstver- Bühne schafft, und porträtieren die Singer- ständlich. Darum liegt mir dieses Magazin Staatsarchiv Luzern, StALU PLB 13/13 Songwriterin Valerie Koloszar alias Pink noch ein bisschen mehr am Herzen als an- Spider. Dazu kommt eine ganze Reihe von dere Ausgaben. Ich wünsche Ihnen eine an- Hinweisen auf Zentralschweizer Kultur auf regende Lektüre und hoffe, das Magazin Bühnen, zwischen Buchdeckeln und auf inspiriert Sie dazu, sich für Anliegen einzu- Vinyl. setzen, die wirklich wichtig sind. Zu entdecken gibt es zudem noch ein neues Format. Wobei: Neu ist vor allem, dass Herzlich, wir als Kulturmagazin beim (seit Jahren Anna Chudozilov bewährten) Neubad Talk als Gastgeberin mit Redaktionsleiterin Oktober 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 3
INHALTSVERZEICHNIS Der Kampf für Gleichstellung ist mit dem Stimmrecht noch nicht Simon Hafner, Annina Polivka und Stoph Ruckli sorgen für eine gewonnen: Beim Frauenstreik von 1991 werden weitere Forderungen glückliche Bühnen-Ehe der Genres im Südpol. > Seite 38 gestellt. > Seite 32 Editorial > Seite 3 MEHR GLEICH- Guten Tag > Seite 5 Stadt – Land STELLUNG Franziska Lingg und Dinah Knuchel diskutieren mit Jana Avanzini über Blick durch die Linse aus Luzern und Willisau > Seite 6 Poliamourös Von unheimlichen Masken und Maskenmuffeln > Seite 8 Prioritäten, Methoden und Ziele der Gleichstellungsbewegung > Seite 12 Kosmopolitour Warum selbst die Londoner jetzt nicht calm keepen > Seite 9 MEHR AKTUALITÄT Kulturförderung setzt in der Schweiz Geburt oder Sesshaftigkeit Nachschlag Wo man Altbewährtes mit Neuem kombiniert > Seite 10 voraus - Emilia Roza Sulek schildert, was diese Förderkriterien verhindern > Seite 20 Fotodok Extrem faszinierende, ganz normale alte Fotos > Seite 11 Anno41 MEHR DEMOKRATIE Nur Zypern schneidet punkto politischer Integration von Migrantinnen Wie die Albert Koechlin Stiftung die Gunst der Kulturakteure errang. > Seite 30 und Migranten schlechter ab als die Schweiz – warum das so ist und Ausgefragt wie das mit dem Frauenstimmrecht zusammenhängt > Seite 23 Adina Friis bringt Rolf Lyssys neuen Film zum Klingen > Seite 37 Käptn Steffis Rätsel > Seite 66 Gezeichnet > Seite 67 Titelbild: Erste Stimmabgabe Luzern 1971. Hanni Zosso wirft am 7. Februar ihren Stimmzettel ein. Fotograf: unbekannt, Stadtarchiv Luzern, N1.5/95:1 KULTURKALENDER Bau > Seite 44 Kinder > Seite 46 OKTOBER 2020 IG Kultur > Seite 48 Kunst > Seite 32 Veranstaltungen > Seite 49 Musik > Seite 35 Ausstellungen > Seite 59 Film > Seite 36 Impressum > Seite 63 Bühne > Seite 38 Adressen A-Z > Seite 63 Wort > Seite 40 Ausschreibungen > Seite 64 4 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2020
GUTEN TAG GUTEN TAG, GRAND HOTEL NATIONAL Böden aus italienischem Marmor, Wände mit exklusiven Seidentapeten, hand- gewebte Teppiche: Die Aufzählung auf Deiner Webseite lässt ein absolutes Luxus- GUTEN TAG, KAMPUS SÜDPOL haus vermuten. Ziemlich schäbig finden wir Da wird’s einem ganz schwindlig mit all hingegen, dass Du live Musik spielen lassen diesen Namen: Da ist die Blackbox, die eigent- willst für kein Geld. Was klingt wie ein An- lich Kosmos heisst, aber grundsätzlich irgend- gebot von vor 150 Jahren, haben wir kürzlich wie die lang ersehnte Salle Modulable sein soll. auf Deiner Facebook-Seite entdeckt: «Du bist Die wiederum ja eigentlich eine Erweiterung Solokünstler/in oder Teil eines Duos, Trios der Salle Blanche ist – black, white, Wortspiel oder Quartetts? (...) Überzeuge unsere Fach- gefällig? Wo wir wieder beim Kampus (kann jury mit Deinem Demoband (...) und gewinne man Kulturcampus kuuler abkürzen?!) wären, einen oder mehrere Auftritte inkl. Übernach- dessen unterirdischer (baulich, nicht klanglich) tung und Verpflegung im Doppelzimmer für Konzertsaal die «dunkle Schwester» wiederum zwei Personen pro Künstler und Auftritt- der Salle Blanche ist, aber eigentlich Salquin stag.» Du verkaufst das ganze ohne Scham als heisst. Vom Knox-Club (oder doch Club Knox) Wettbewerb, lässt Menschen um die Wette und dann all den Räumen im Orchesterhaus antreten um die Möglichkeit, ohne Gage bei des LSO (das ja – um gewappnet zu sein für den Dir aufzuspielen. Bietest Du solche Deals definitiven internationalen Durchbruch – die auch für Reinigungskräfte, Servicepersonal Abkürzung nicht mehr verwendet!) und vom oder Mitarbeitende Deiner PR-Abteilung? Südpol (ohne Kampus, neu aber mit Buvette) Oder hat sich da die Vorstellung durchgesetzt, mit seinen ganz eigenen «Herzstücken», «heim- dass diese Leute für ihren Job ein ordentli- lichen Stars» und «Schwestern» haben wir noch ches Gehalt bekommen, über das sie autonom gar nicht gesprochen. Hauptsache ist doch, verfügen dürfen? Viele Musikerinnen und dass es gut klingt! Musiker wissen heute kaum, wie sie die nächste Miete bezahlen können – aber wer Voll verwirrt, 041 – Das Kulturmagazin weiss, vielleicht ist Euch das ja durchaus bewusst und die Auserwählten dürfen Über- nachtung und Verpflegung auch an ihre Vermieter abtreten. Tauschhandel 2021. Lohn statt Luxus fordernd, GUTEN TAG, NEUBAD TALK 041 – Das Kulturmagazin FEAT. 041 Du machst es möglich, dass unsere Lese- rinnen und Leser unsere Themen nun auch mit uns diskutieren können. Am 20. Oktober geht’s los: «Wen repräsentieren unsere Parlamente genau?» Diese Frage macht uns ab 20.15 Uhr im Neubad heisse Ohren. Dafür sorgen Ylfete Fanaj, Kantonsratspräsidentin (SP) und Christof Schwenkel, Politik- und Verwaltungs- wissenschaftler bei Interface Politikstudien und (einigermassen) frisch gebackener Schweizer Bürger. Moderiert wird das Ganze von Anna Chudozilov, der Redaktionsleiterin von «041 – Das Kulturmagazin». Wir hoffen, Du wirst uns viele neue Inputs bringen und allen reichlich Spass machen. Die rhetorischen Waffen wetzend, 041 – Das Kulturmagazin Oktober 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 5
STADT 9. SEPTEMBER, KAFFEE KIND, BASELSTRASSE, LUZERN «Die Welt ist keine Scheibe, wer Pizza isst, tut niemandem was zu leide.» Bild & Wort: Caroline Schnider 6 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2020
LAND 11. SEPTEMBER, KATHOLISCHE PFARRKIRCHE ST. PETER UND PAUL, WILLISAU, 12. WILLISAUER MUSIKNACHT «Kerzenlicht im Kirchenraum – Priska Zettel-Arnet und Stephan Schrag auf der Empore – Klang im Raum.» Bild & Wort: Sarah Rüssli Oktober 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 7
POLIAMOURÖS Kulisse noch Schminke nötig sei, Mann rasiert sich seltener, beide las- sen die Nasenhaare stehen und auf Dauer könnten die untrainierten Muskeln leiden und der Menschheit die Gesichtszüge gänzlich entgleiten. Nur sieht das halt niemand. Zugleich verwandelt die Maske Über Kulturtechniken die Trägerin in etwas anderes, etwas jenseits des homogenen äusseren Scheins, denn diese Verhüllung ist Neben den traditionellen Kulturtech- Identitätswechsels werden spassbe- mehr als ein Stück Aus-Was-auch- niken Lesen, Schreiben und Rechnen freite 365 Tage. Dabei ist das doch immer-Masken-sind, sie ist Signal und ist momentan eine gefragt, die ohren- endlich mal ein echtes Ding, ein Botschaft der Solidarität. Und wer scheinlich recht gelitten hat: deutli- sinnlich erfahrbarer Gegenstand, der keine trägt, entlarvt sich als Solidari- ches Sprechen. Hinter das Unfassbare sicht- und am Bänd- tätsmuffel. Text: Rayk Sprecher den Masken wird so chen fassbar macht und uns ganz Dionysos, der berüchtigte grie- Illustration: Anja Wicki gemurmelt und genu- nebenbei den eigenen Atem näher- chische Feiergott, trägt eine Men- schelt, gehaucht und bringt! schenmaske. Wir könnten diesen Trick gesäuselt, dass auch bestgespitzte Aber klar, das Antlitz als Eben- umkehren und uns vermittels Ge- Ohren keinen Sinn zu erhaschen bild Gottes ist so nicht mehr zu sehen. sichtsbedeckung in etwas Über-, weil vermögen und sich ein bislang unge- Stattdessen wirkt die Maske auf uns Mitmenschliches verwandeln. Die ahntes Potenzial für Sprechausbildung un-heimlich im Sinne Heideggers, sie Maske als Kulturtechnik. manifestiert. zeigt uns, dass wir in dieser Welt nie An der Verständlichkeit müssen Die Maske selbst ist, glaubt man ganz zu Hause und keineswegs allein wir noch ein bisschen arbeiten. Wikipedia sowie kreuzwortraetsel- sind. Das Virus stellt sich als reniten- hilfe.com, selbst auch eine Kulturtech- ter Mitbewohner heraus. Ausserdem nik, an der wir aktuell gesichtsverlust- bleiben hinter der Maske Emotionen bedingt und um Atem ringend leiden. verborgen, Mundwinkelausrichtun- Aus sechs Tagen im Jahr mit Maske gen sind unsichtbar, Freundlichkeit Wenn Rayk Sprecher nicht gerade die zum Zwecke des augenzwinkernden ist diesseits eines herzhaften Lachens Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät kaum auszumachen. Wechselseitiges der Universität Luzern managt, ist er Erkennen wird erschwert, fehlen doch freischaffender Philosoph, Dozent, Berater und Kabarettist, zum Beispiel wesentliche Merkmale zur Identifi- im Kleintheater Luzern mit der Philo- kation. Frau fragt sich, ob hinter der Kabarett-Reihe «standup philosophy». 8 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2020
KOSMOPOLITOUR Über die Jahre in London habe ich mit der britischen Hauptstadt und ihren Menschen vieles durchlebt; ich wurde Teil der Stadt, sie von mir und ich fand in ihr ein Zuhause. Ob- Text und Bild: David Kilian Beck wohl etwas abgegriffen, die Devise KEEP CALM KEEP CALM & & CARRY ON wird mit der Zeit in die DNA der Londoner ge- ätzt; stoisch und unerbittlich gehen sie CARRY ON dem eigenen Leben nach, unbehelligt Ruhig bleiben ist den Londonern in die DNA geätzt. von Grossereignissen und Tragödien. Doch die Pandemie bringt selbst die stoischsten Mit einer globalen Pandemie wurde aber auch in London nicht gerechnet Metropolitinnen aus dem Tritt. und zum ersten Mal erlebe ich die pagne mit Kulturpostkarten und wie Metropole betäubt. alle anderen Institutionen und Kultur- Die Kulturabteilung der Schwei- schaffenden buhlten wir um das zu zerischen Botschaft sah 2020 BC (Befo- Hause eingesperrte Publikum. Die re Covid) einem dichten Programm Londoner Kulturszene ist aus der Bahn entgegen. Wir hatten den Kammermu- geworfen worden: Balletttänzer von sikpreis Swiss Ambassador’s Award Weltklasse komprimierten komplexe neu konzipiert, in der Royal Academy Choreografien für ein Instagram-Pu- hätte eine Angelika-Kauffmann-Re- blikum auf wenige Minuten; visuelle trospektive stattfinden sollen und im Künstlerinnen verkauften ihre Kunst Sommer hätte Pro Helvetia am Edin- mit dem Versprechen, ab einem gewis- burgh Fringe zum zweiten Mal einen sen Gewinn die Kunst anderer abzu- Schweizer Theater-Fokus geplant; das kaufen (#artistsupportpledge); eine der nur einige Höhepunkte neben vielen besten Bratschistinnen des Landes füllt kleineren Kulturprojekten mit Schwei- Regale im Supermarkt und frisch dip- zer Bezug. Allgemein kümmern wir lomierte Kunst- und Musikschulabgän- uns um den interkulturellen Austausch ger suchen verzweifelt nach einer zwischen der Schweiz und dem Verei- Chance in der Berufswelt. Zwar zeigte nigten Königreich, erweitern Netzwer- sich die konservative Regierung gross- ke, initiieren eigene Kulturprojekte und zügiger als erwartet mit einem Hilfs- stärken so das Bild der Schweiz im paket für den Kultursektor, doch kon- Gastland. zentriert sich dieses auf Institutionen Noch wird gebaut in London. Unter Ugo Rondinones Baum- und kaum auf die Kunstschaffenden. skulptur, an einer Vernissage der Hay- Zögerlich kehren die Londoner, kann die Ausgaben nicht decken. Auf ward Gallery im März, gab ich einer die noch einen Job haben, zu ihren Ar- meinem Arbeitsweg sehe ich im Mor- Kollegin zum letzten Mal einen Begrüs- beitsplätzen zurück – viele nur Teilzeit, gendunst die Wolkenkratzer der Ban- sungskuss und fragte mich zugleich, ob man will das U-Bahn-Netz nicht ken in Canary Wharf und vor mir wir das noch tun sollten. Eine Woche überbelasten. Grossraumbüros wirken Kräne, die neben dem Olympischen später gingen wir in den Lockdown. plötzlich veraltet, fahrlässig. Staatliche Park ein neues Museum und Tanzthe- Ausser meinem Mann habe ich wäh- Massnahmen versuchen die äusseren ater bauen. In gewohnter Manier macht rend dreieinhalb Monaten Familie, Kapillaren der Wirtschaft zu reanimie- und baut man weiter, stoisch, so gut es Freunde und Arbeitskolleginnen nur ren, doch vieles bleibt ungewiss. Leere geht. Doch die Frage stellt sich, wie durch Scheiben gesehen; am Computer, Cafés, Büroflächen und Ladenlokale zukunftstauglich die Institutionen, wie am Telefon, vereinzelt wurde aus dem deuten darauf hin, dass sich schon wir sie kennen, noch sind. Oder aber ob Vorgarten zugewinkt. Unser Jahrespro- vieles verändert hat. Die antiviralen Arbeits-, Lebens- und Kulturräume neu gramm kollabierte. Als man die im Handgels und die Maskenpflicht in definiert werden müssen. Spätherbst angesetzte Klimakonferenz Restaurants, Pubs, Geschäften und in Glasgow schon früh aufs nächste Museen vermögen das Publikum nicht Jahr verschob, wurde klar: 2020 is can- zu beruhigen, die Besucherzahlen sind David Kilian Beck lebt seit 13 Jahren in celled. geschrumpft. Theater bleiben bis auf London. Er studierte Fotografie an der University of Westminster und leitet seit Wir hievten unsere Projekte on- Weiteres geschlossen, das kleine Pub- ein paar Jahren die Kulturabteilung der line, initiierten eine Solidaritätskam- likum, das in Auditorien erlaubt ist, Schweizerischen Botschaft in London. Oktober 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 9
NACHSCHLAG ist mit Zubereitung und Präsentation zufrieden. Ich fühle mich verpflichtet, Runter vom die Kutteln in Champagnersauce zu nehmen. Sie sind gut, sie sind mild und hohen Rössli durch den Schaumwein mit einer säuerlichen Note versehen, die aber vom Sbrinz stark im Zaum gehalten wird. Fast schon zu brav für Innereien. Direkt beim Kreisel findet sich in Root das Wir schliessen unseren Schmaus mit neu renovierte Rössli hü. Da wird Neues einem schön angerichteten, aber gäh- gekonnt mit Altem verbunden und der nend langweiligen Schoggichüechli ab, Städter mit ländlichem Charme um den zu dessen Ehrenrettung hausgemach- Finger gewickelt. te Sauerrahmglace gereicht wird. Bei der zitronigen Pannacotta mit Chriesi- Landschaftlich unspezifisch, steuerlich haften Anbau in schwarzem Holz und kompott kommt nun der haustypische ungünstig, wirtschaftlich pulsierend: soll wohl schon nach aussen hin erkenn- «konservierende» Stil von anno dazu- das Rontal. An seinem Ende in Root bar machen, dass man hier Altes mit mal zur Entfaltung. Haltbar gekochte haben Samuel Vörös und Simone Neuem verbindet. Entsprechend ist Chriesi, sorgfältig gearbeitet, nicht Hafner-Meyer eine denn auch das Rindstatar nonkonfor- unnötig übergeliert. Text: Michal Niezborala alte Dorf beiz res- mistisch: mit vielen Kapern (vielleicht Wie auf dem Teller verfolgt man tauriert und bewir- auch Oliven) und einer ölig angebacke- auch bei der Einrichtung die Strategie, ten seit Januar 2019 die Einzugsbereiche nen Focaccia. Der mediterrane Ein- Altbewährtes und Neues zu verbinden. der Kantonsstrasse 4 und der S1 von schlag konterkariert meine Erwartun- Eine violette Decke prägt den licht- Sursee nach Baar. Was als soziales gen eines langweilig-landläufigen durchfluteten Gastraum. Schieferti- Dorfzentrum nicht mehr funktioniert Tatars. Anderseits wäre es nicht Vörös’ sche aus den Vorgängerbeizen und hat, mag nun vielleicht nach einer Art, sich beim Tatar zu blamieren. Sein mehrere Séparées mit Holzvertäfelung Transformation den entwurzelten Name steht für mutige Konzepte, die und Kachelofen erwecken den Geist Arbeiterinnen des D4 oder gar der entsprechend Angriffsfläche bieten, des alten Rösslis zum Leben. Für etwas Suurstoffi in Risch-Rotkreuz neue weil sie sich von der Sättigungskonkur- längere Wartezeiten mache ich die kulinarische Heimat sein. renz absetzen. Da weiss man, was man Architektur verantwortlich: Der Pass Von Luzern aus treffe ich an ei- hat – als Gast und als Kolumnist. dieser einsehbaren Küche ist hinter der nem Mittwochabend am S-Bahn-Halt Zurück zum Essen. Parallel zum Bar. Wer kümmert sich schon um Ge- « Gisikon-Root » (Ba hnhof w äre Tatar vermag der hausgemachte Schin- tränke, wenn die Köche böse zum übertrieben) ein und warte auf meine ken vom Milchsäuli meine Begleitung Service schauen (können)? Als man Begleitung. Meine Lektüre rettet mich nicht zu überzeugen: Aufschnitt, eine uns aber tatsächlich fragt, ob wir nach davor, zu lang darüber nachzudenken, Vinaigrette, ein paar Kräuter. Doch dem Weisswein neue Gläser für den ob der Steinmetz Emilio Stecher auch während sie an der Einfachheit und der Rotwein haben wollen, fühle ich mich Grabsteine macht. Denn ausser Nicht-Zubereitung Anstoss nimmt, gänzlich von meinem snobistischen Emilio Stecher findet sich in «Gisikon- lobe ich die zarte Konsistenz und die hohen Ross heruntergeholt und in die Root» nichts Sehens- oder Nachden- geschmacklichen Vorzüge des Schin- Unkompliziertheit einer Dorfbeiz in- kenswertes. kens. Bei den Hauptgängen geht es tegriert. Nach zehn Gehminuten errei- fleischig, jedoch auch «verwertend» chen wir das Rössli hü an einem rontal- weiter: Wie schwarze Schokoladen- typischen Drei-Ausfahrten-Kreisel. würfel mit eingerammten, knöchernen Michal Niezborala isst sich für 041 – Das Kulturmagazin durch die Zentralschweiz. Das denkmalgeschützte, mächtige Glacestielen kommen die geschmorten Für diese Ausgabe war er im Rössli hü an Haus hat einen modernen zwillings- Rindsrippli daher. Meine Begleitung der Luzernerstrasse 7 in Root. Anzeigen 10 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2020
FOTODOK Strasse statt Street Heute ist gestern – einfach erst morgen. Das gilt in verschiedenen Hinsichten, ganz besonders aber in der Fotografie. Denn diese vermag das Heute so lange fest- zuhalten, bis es ein Gestern ist. Im Kontakt mit Kundinnen und Kunden der Fotodok fällt oft auf, dass alten Fotos viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als neuzeit- Text: Simon Meyer lichen. Das gilt nicht nur für Foto-Interessierte, sondern gerade auch für Fotografinnen und Fotografen. Die Frage an die Fotodok, ob wir «alte Fotos» sammeln, irritiert mich noch immer, denn es ist ja klar, dass ein heute gemachtes Foto der Weggisgasse in vierzig Jahren ebenso alt sein wird wie heute ein Bild von 1980. Daher wären ja eigentlich beide zu sammeln. Es gibt aber leider immer weniger Fotografinnen und Fotogra- fen, die sich am Feierabend ihre Kame- ra über die Schulter hängen und einfach durch die Stadt oder die Landschaft ziehen, um Häuser, Strassen und Menschen zu fotografieren. Da sei kein Kick dabei, sagte mal einer. Wäre der Fotograf Mondo An- noni ebenfalls dieser Meinung gewe- sen, dann hätten wir heute Tausende Bilder nicht, die gerade wegen der all- täglichen Belanglosigkeit, die er foto- grafisch festhielt, von so hohem doku- mentarischem Wert sind. Diese Bilder kannt, dann kann man auch gleich Fotodok daher wünschenswert, wenn zeigen mehr als andere, dass es wichtig beide wegwerfen: Das Bild, das man etwas weniger Street-Fotografie ge- ist, sich mit dem Thema «Auswahl und behalten würde, ist nicht tatsächlich macht, dafür wieder mehr auf der Beurteilung» von Bildern zu befassen. wichtiger. Es ist bloss das Bild, das der Strasse fotografiert würde. Die Frage, welches Bild in einem entscheidenden Person gerade wichti- Bestand bleiben soll und welches ger scheint. Natürlich sprechen wir hier weggeworfen wird, ist von unserer nicht von Serien gleicher Objekte oder Die Stiftung Fotodokumentation Kanton Luzern Seite her klar mit «beide» zu beantwor- Dubletten. Und auch bei zehn Fotos (Fotodok) besteht seit 1992 und hat ihren Sitz in ten: Behalte beide oder wirf beide weg. des blauen Himmels verhält es sich Luzern. Sie schützt, kuratiert und vermittelt das Kulturgut Fotografie in den Arbeiten und Werken Wenn anerkannt wird, dass es auf die anders. Sondern wir reden hier von von Fotografinnen und Fotografen aus der Zentral- Fragestellung ankommt, die einem Bild ganz normalen Fotos, die ganz norma- schweiz. In dieser Serie stellt die Stiftung Fotodok einen dokumentarischen Wert verleiht, le Dinge zeigen: einen Parkplatz, einen in einer Kooperation mit dem Kulturmagazin Foto- grafien und die Geschichten dahinter vor. Simon dann müssen beide aufbewahrt wer- Kindergarten, einen Hund, der an einen Meyer ist Geschäftsleiter der Fotodok. Foto: den. Wird dieser Umstand nicht aner- Baum pinkelt. Es wäre vonseiten der Mondo Annoni, FDOK_007_013, ©Stiftung Fotodok Oktober 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 11
FOKUS: EINE STIMME HABEN BEWEGTE 12 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2020
FOKUS: EINE STIMME HABEN Die tatsächliche Gleichstel- lung von Frauen und Männern ist noch nicht erreicht. Welche Probleme noch bestehen und wie Lösungsansätze ausse- hen können, diskutieren hier engagierte Kämpferinnen für Gleichberechtigung über Generationsgrenzen hinweg. FRAUEN EIN INTERVIEW NACH 50 JAHREN FRAUENSTIMMRECHT IN LUZERN Text: Jana Avanzini Bilder: Franca Pedrazzetti Oktober 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 13
FOKUS: EINE STIMME HABEN Die Frauenbewegung hat in den vergangenen Doch was, wenn man keine gemeinsame Form Jahren wieder Schwung aufgenommen: Mit findet? Liegt das allenfalls daran, dass man #metoo, dem Frauen*streik und einer neuen nicht DIE Inhalte hat, auf die man sich einigen Generation Feministinnen. Dieses Jahr feiern kann? Wir gehen auf die Strasse für Elternzeit, wir im Kanton Luzern 50 Jahre Frauenstimm- gegen sexuelle Gewalt, etwas mit Militär und recht. Was haben wir seither erreicht? viel mit Care-Arbeit, wegen der Renten oder der Dinah Knuchel: Rechtlich haben wir zwischen der Luxussteuer auf Tampons. Wir stellen Ge- Einführung des Frauenstimmrechts und heute riesige schlechterrollen radikal infrage oder feiern die Schritte gemacht. Die Gleichstellung von Mann und Weiblichkeit. Perlen neben Fäusten. Wo finden Frau wurde in der Verfassung verankert, die Fristenrege- wir uns heute? lung eingeführt, dann der Mutterschaftsurlaub, wir F. L.: Offenbar schafft man es kaum noch, Prioritä- haben das Gleichstellungsgesetz und rechtlich Anspruch ten zu setzen. Man muss sich darauf einigen, was das auf gleichen Lohn. Doch die grosse Herausforderung un- dringendste Anliegen darstellt. serer Generation wird es sein, unsere Gesellschaft zu ver- Und was ist das? Was muss jetzt in Angriff ändern. Gerade was Geschlechterstereotypen oder genommen werden? Ganz subjektiv. Themen wie sexuelle Gewalt betrifft. F. L.: Es braucht den Schulterschluss mit der Klima- Franziska Lingg: Die Gesellschaft verändern ist bewegung. Denn dort brennt es. Und neben diesen schnell gesagt. Aber wer ist diese Gesellschaft? Wir sind Themen sind teure Tampons lediglich Luxusprobleme. sie! Nur sind in unserer gerade sehr satten und D. K.: Selbstverständlich. Damit meine ich vor kuschlig eingepackten Gesellschaft Dringlich- allem, dass wir bei der nächsten Generation ansetzen keiten doch oft abstrakt. Weshalb sollten wir und sie gleichberechtigter erziehen müssen. Ich habe überhaupt für etwas kämpfen? Letztendlich zum Beispiel sehr oft, sei’s beruflich oder ehrenamtlich, mit älteren Herren zu tun – viele immer ganz Gentleman. Aber sie nehmen dich als Frau, besonders als junge Frau, nicht im Geringsten ernst. Das sind keine bösen Men- schen, aber die kannst du nicht mehr ändern. F. L.: Sowieso muss man sich, um etwas zu verän- dern, Methoden und Strategien zurechtlegen. Darüber, wie man verhandelt, wie man taktiert. Die Grundvoraus- setzung jedoch, ohne die man gar nicht erst zu diskutie- ren beginnen muss: eine felsenfeste Überzeugung. Es spricht: Dinah Knuchel. Die 34-Jährige arbeitet als Archivarin im Luzerner Staatsarchiv und schmeisst die Du, Franziska, hast bereits beim ersten Frauen- Gastro im Theater Pavillon. Sie waltet im Vorstand der streik 1991 in Luzern ganz vorne mitgekämpft. Luzerner Spielleute und der Historischen Gesellschaft Wie kamst du überhaupt dazu? Luzern und ist aktiv im Vollgas Theater von Insieme, im Historischen Verein Zentralschweiz, beim Frauenstadt- F. L.: Es war erst nur ein schlichter Flyer, der mich rundgang und beim Frauen*streik-Komitee Luzern. auf den geplanten Streik aufmerksam machte. Die ersten Zudem führt sie regelmässig durch das Luzerner Regie- Treffen fanden dann bei Agatha Fausch am Küchentisch rungsgebäude. statt. Doch als wir schnell mehr wurden, zogen wir über dem Parterre in das sogenannte Frauenzimmer. Schnell Es spricht: Franziska Lingg (70). Die freischaffende begannen wir dann auch damit, Strukturen und Kompe- Soundkünstlerin und Komponistin war bis zu ihrer Pen- sion auch als Dozentin an der Hochschule Luzern – tenzgruppen zu bilden. Wer kümmert sich um die PR, Design & Kunst tätig. Sie war Schweisserin, Betreuerin wer ums Netzwerk, Budget … Ich habe mit meiner Gruppe in der Stiftung Brändi und Primar- und Zeichnungsleh- die beweglichen Plakat-Installationen geschaffen. rerin. Sie studierte englische Literatur in Oxford, war an der Hochschule der Künste in Berlin. Zahlreiche Werk- Das erinnert mich an dein Plädoyer im Vorfeld stipendien führten sie unter anderem auch nach Hol- des Streiks 2019 für ein professionelles Auftre- land, Südafrika und die USA. Immer wieder engagierte sie sich in politischen Bewegungen, auch beim Luzerner ten und gegen eine gebastelte Ästhetik. Ich hatte Frauenstreik im Jahr 1991. das Gefühl, dass dir das oft sauer aufstösst bei den Aktionen und Demonstrationen. Es spricht und hat aufnotiert: Jana Avanzini (33). Die F. L.: Ich habe meinen Hintergrund als Künstlerin, freischaffende Journalistin und Texterin ist Teil der den kann ich nicht zur Seite stellen. Aus dem Blickwinkel externen 041-Redaktion. Neben dem Journalismus ist sehe ich das Handicap oft in der Form. Wenn etwas un- die studierte Theaterwissenschaftlerin auch als Pro- duktionsleiterin und Theaterschaffende im Zentral- präzis ist. Mit Hingepinseltem, Handglismetem, damit schweizer Volkstheater und in der freien Theaterszene habe ich Mühe. Willst du mir etwas mitteilen? Dann tätig. Sie ist Teil des Frauen*streik-Komitees Luzern. drück dich verständlich aus, stell dich gerade hin. Finde eine klare Form! 14 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2020
FOKUS: EINE STIMME HABEN «Sowieso muss man sich, um etwas zu verändern, Methoden und Strategien zurechtlegen.» Franziska Lingg sind es prozentual auch nicht viele, die sich Bei tieferem Lohn? Ich leider nicht. aktiv einsetzen. Sei es fürs Klima oder für F. L.: Und weshalb nicht? Gleichstellung. Ich habe es erst später erfahren. Während D. K.: Gerade deshalb ist sicher wichtig, Kräfte zu meiner Anstellung ging ich natürlich davon aus, bündeln. Ich kämpfe ja nicht nur für mich. Aber auch für dass wir gleich viel verdienen. mich sind Gleichstellungsthemen nicht abstrakt, son- F. L.: Na. Dann warst du aber schlicht naiv. dern sehr direkt spürbar. Wenn wir von Übergriffen spre- Offensichtlich. chen zum Beispiel. Oder dass man sich als Frau oft als D. K.: Aber es geht ja auch nicht nur um die Lohnar- Mensch zweiter Klasse fühlt. Man wird weniger ernst ge- beit. Nehmen wir die Wertschätzung der unbezahlten nommen, muss mehr bieten, muss mehr Krankenkasse Care-Arbeit. Mein Grosi zum Beispiel hat die kleinste zahlen, verdient weniger. AHV, keine Pensionskasse. Sie hat aber ihr Leben lang F. L.: Und entweder du nimmst das hin, mit dem erst die Kinder betreut, dann die Grosseltern, schliesslich Lohn zum Beispiel – dann brauchst du dich auch nicht zu Eltern und Schwiegereltern gepflegt. Und so geht es beschweren –, oder du handelst. Ich persönlich habe vielen Frauen. sowas einmal erlebt, mich wahnsinnig aufgeregt und F. L.: Die Pensionierung ist ein grosses Thema – auch sofort und mit Erfolg gefordert, dass diese Ungleich- auch in der Kultur. So viele meiner Freundinnen aus dem heit behoben wird. Kunstbereich haben bei den AHV-Einzahlungen Löcher. Oktober 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 15
FOKUS: EINE STIMME HABEN «Aber es geht ja auch nicht nur um die Lohnarbeit. Nehmen wir die Wertschätzung der unbe- zahlten Care-Arbeit. Mein Grosi zum Beispiel hat die kleinste AHV, keine Pensionskasse.» Dinah Knuchel Mir geht es nicht anders. Wichtig aber finde ich auch, D. K.: Es ist deshalb auch so wichtig, dass im Vor- nicht zu vergessen, dass Gleichberechtigung vor allem feld des Streiks 2019 der Zusammenschluss mit verschie- ein Klassenthema ist. Dort bin ich sehr empfindlich. Weil denen, bereits sehr aktiven Migrantinnen-Gruppen pas- eben meist die, die es am stärksten betrifft, keine Zeit siert ist. Dieser Austausch und das gemeinsame Arbeiten und Kraft dafür haben, zu kämpfen, sich politisch zu or- in den Arbeitsgemeinschaften ist extrem wertvoll. ganisieren. So hatten wir ja 1991 leider auch keine Mig- Wir konnten uns sicher nochmals breiter rantinnen dabei, die Teil der Bewegung waren. vernetzen und zusätzliche Verbindungen Aber da hat die Frauenbewegung auch in der schaffen. Das liegt aber auch daran, dass der Schweiz sicher einen Sprung gemacht. Wenn Feminismus in den vergangenen Jahren massen- man im Feminismus heute von Sexismus tauglicher geworden ist. Auch wenn es dabei spricht, ist die Kumulierung mit Rassismus oft zum Teil seltsame Auswüchse gibt. Gerade ebenfalls Thema – Stichwort Intersektionalität. kürzlich hat sich in einer TV-Sendung ein Typ Doch dass ich als weisse, heterosexuelle als Feminist bezeichnet, dessen Vorstellung Schweizerin nur einen Bruchteil der Diskrimi- davon war, dass er Frauen total schön findet, sie nierung erlebe, die zum Alltag einer schwarzen, auf Händen trägt, auf sie aufpasst, damit ihnen lesbischen Frau gehören, war mir früher nichts passiert, und ihnen all ihre Wünsche von tatsächlich kaum bewusst. den Augen abliest. Mir haben die Worte gefehlt … 16 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2020
FOKUS: EINE STIMME HABEN F. L.: Mir stellt sich da aber auch die Frage: Braucht schiefer Ansatz, dass wir bei den potenziellen es diese Deklaration? Feminist*in! Was bringt’s? Eine Be- Opfern ansetzen. Wir schulen Mädchen, wie wegung muss über Bezeichnungen und vor allem auch sie sich anzuziehen haben, wo und zu welcher über eine Betroffenheit hinausgehen. Es braucht erst mal Nachtzeit sie unterwegs sein dürfen und wie Überzeugung für eine Sache und dann die Frage: Wo sie sich schliesslich verteidigen, wenn es zum müssen und können wir Einfluss nehmen, um unsere Äussersten kommt … Anstatt bei den Typen Ziele zu erreichen? Brauchen wir Petitionen, Initiativen, anzusetzen, wo der Schaden eigentlich zu Öffentlichkeitsarbeit? Zusätzlich muss man Entwick- verorten ist. lungen im Auge behalten. Ich habe in meinen jungen D. K.: Das war tatsächlich einer der Punkte, die mir Jahren in den USA haufenweise englische politische und bereits in der Jugend hängen geblieben sind. Es war voll- historische Literatur gelesen und dabei andere Modelle kommen normal, dass mein Papa mich und meine und Theorien entdeckt, die neue Wege aufzeigten. Und Schwester selbst tief in der Nacht von jeder Hundsverlo- sobald man sich etwas damit auseinandersetzt, wird chete abgeholt hat. Uns wurde eingebläut: Achtet aufein- auch klar, dass es in zahlreichen Bereichen sehr relevante ander! Bei den Jungs hingegen war das alles kein Thema. Vorreiterinnen gab, deren Namen uns vollkommen un- Mir blieb damals die Frage hängen, weshalb sich die Ge- bekannt sind. Aber in der Geschichtsschreibung werden sellschaft um mich mehr Sorgen machen muss als um sie schlichtweg ignoriert. meinen Kollegen. Ein Thema, bei dem doch die Archivarin Und so läuft es immer noch. Es ist doch ein einhaken muss … strukturelles Problem, dass man nur bei den D. K.: (Lacht.) Der Punkt ist: Geschichtsschreibung Mädchen ansetzt. Da ist das Thema allgegen- ist immer subjektiv. Und Geschichtsschreibung bis dato wärtig. Ich kenne auch kaum eine Frau, die noch wird in erster Linie – etwas plakativ gesagt – vom Patriar- nie ungefragt angefasst wurde – oder sehr viel chat geschrieben. Es gab auch in Luzern wahnsinnig Heftigeres. Bei den Männern jedoch fehlt mir spannende und relevante Frauen durch die Jahrhunder- die Auseinandersetzung damit sehr, dass viele te. Sie kommen kaum vor. Nehmen wir Anna Maria Rüti- von ihnen übergriffig sind. Das können ja nicht maa, die am Mühleplatz lebte und die mit ihren Brief- alles die zwei, drei gleichen Typen verbrochen wechseln nach Bern und Genf im frühen 19. Jahrhundert haben. massgeblich daran beteiligt war, die Schweiz vorzuberei- D. K.: Mir wurde schon gesagt, dass ich immer ten, wie wir sie heute kennen. Sie kommt schlicht nir- wieder mit diesem Thema komme. Und so ist es auch. gends vor. Oder die Pfefferfrauen beim Zurgilgenhaus an Aber solange Männer untereinander nicht darüber spre- der Reuss sind auch kaum jemandem ein Begriff. Sie fi- chen, werde ich damit weitermachen. chierten und sabotierten politische Gegner im 17. Jahr- F. L.: Es gibt ja schon Angebote wie Agredis. Das hundert. finde ich ein grossartiges Angebot. Hier wird eine Brücke F. L.: Da braucht es Historikerinnen, Vertreterin- gebaut und Männer lernen, über solche Themen zu spre- nen der Kulturgeschichte, die solche Menschen und ihre chen. Geschichten für die Öffentlichkeit zugänglich machen. D. K.: Das finde ich auch super, aber da wird aus Damit sind wir zurück beim Thema: Was muss meiner Sicht schon spät angesetzt. Erst wenn es um hef- in den nächsten 50 Jahren passieren, um der tige körperliche Gewalt geht, dann wird empfohlen: Gleichstellung aller Geschlechter näherzukom- Mann, such dir Hilfe! Die «kleineren» Übergriffe sind men? eher selten Thema. D. K.: Natürlich muss man beim Militärersatz, der F. L.: Ich bin aber auch nicht dafür, dass der Ball an Krankenkasse oder der Pension politisch noch einiges die Täter zurückgeht. Aus meiner Sicht müsste man sich optimieren. Aber das Umdenken muss besonders auch ohne Opfer- und Täterstatus wieder begegnen können. im Kleinen stattfinden – zum Beispiel beim übergriffi- D. K.: Da müssen wir aber auch in der Bildung und gen Verhalten von Männern. Ihr glaubt nicht, wie viele bei der Vermittlung ansetzen. Bereits in der Schule oder Dick-Pics mir nach dem Streik 2019 aufs Natel geschickt in Vereinen sollte – wie mit dem Ansatz «Gewalttrai- wurden. Einfach das Letzte. ning» – gelernt werden, wo eine Grenze überschritten F. L.: (Stösst entrüstet den Rauch aus.) Das ist wie wird. Und wo ein Eingreifen gefragt ist. dieses Grapschen. Ich habe sehr früh mit Selbstverteidi- gungskursen begonnen. Noch heute habe ich viele der Handgriffe und Reflexe verinnerlicht. Das ist schlicht wichtig, dass wir uns als Frauen auch zu verteidigen wissen. Ich hatte mit 14 mit dem Kickboxen angefan- gen – aus demselben Grund. Und ich bin auch froh darüber. Aber trotzdem ist es doch ein Oktober 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 17
«HAUPTSACHE, AM SCHLUSS DES ABENDS SIND ALLE ZUFRIEDEN!» Franzisca «d’Franz» Rüedi ist eine der ersten Veran- staltungstechnikerinnen Luzerns. In ihrem Job hat sie unzähligen Menschen zu einem grossartigen Sound auf der Bühne und einer ebensolchen Stimmung im Publikum verholfen. Text: Stoph Ruckli Bild: Mo Henzmann 18 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2020
FOKUS: EINE STIMME HABEN «Ganz ehrlich, ich war sicher fünf Mal kurz davor, das Ge- spräch abzusagen – ich stehe überhaupt nicht gerne im «Was hatte ich zu verlieren? Wenn’s Mittelpunkt», begrüsst Franzisca «d’Franz» Rüedi gleich nicht geklappt hätte, hätte ich auch zu Beginn des Gesprächs. Ganz die Veranstaltungstech- wieder gehen können.» nikerin, hat sie automatisch den Platz mit der gefühlt ein- zigen Steckdose im Restaurant ausgewählt, damit der hier Schreibende sich keine Sorge um Strom für sein heute noch an mich als Coffee-Girl erinnert», führt sie Gerät machen muss. Und noch bevor der Computer auf- aus. Franz im falschen Moment zu erwischen, konnte geklappt oder die erste Frage gestellt ist, sprudelt die dabei sogar zu einer physischen Angelegenheit werden: Luzernerin schon los. Der Satz «Das ist noch mal eine «Kurz vor Show musste niemand zu mir ans Pult andere Geschichte» wird zum ständig auftauchenden Be- kommen. Das hätte ein blaues Auge gegeben.» gleiter eines hochspannenden Gesprächs mit einer der ersten Veranstaltungstechnikerinnen Luzerns. Einschüchtern als Mittel gegen Geboren 1974 in Luzern, wuchs «d’Franz» zwi- Nervosität schen Kulturzentrum Sedel und Reussbühl auf. Nach der Im Nachhinein ist sie nicht stolz auf dieses Verhal- Ausbildung zur Schreinerin und mehreren Zwischensta- ten. «Ich behaupte, dass ich mich zum Eigenschutz so tionen – unter anderem in einem Kibbuz, im Theater verhalten habe. Vor jeder Show war ich furchtbar nervös Bern und in einer Bäckerei – lebte die Luzernerin fünf und mir fehlte das Selbstvertrauen», sagt sie und fährt Tage die Woche vom Schreinern und Zimmern und arbei- fort: «Seit Kindheit bin ich depressiv veranlagt, hatte tete am Wochenende im Musikzentrum Sedel hinter der immer Zweifel. Durch das Einschüchtern anderer Bar. Zusätzlich wirkte sie dort an der legendären Jahres- wurde ich unnahbar. Dabei war ich eigentlich einfach hitparade als Bühnentechnikerin und wurde in dieser nur froh, wenn am Schluss des Abends alle zufrieden Funktion von Alan Benz angesprochen, dem Techniker waren.» Festzuhalten gilt: Rüedi konnte ebenso austei- des Konzerthauses Schüür: «Er ging auf Weltreise und len wie einstecken, ohne dass der Job darunter litt. fragte, ob ich nicht in der Schüür arbeiten wolle», schil- Knapp 15 Jahre Schüür, langjährige Engagements bei dert Rüedi die Begegnung: «Was hatte ich zu verlieren? wichtigen Anlässen wie dem Blue Balls Festival oder Wenn’s nicht geklappt hätte, hätte ich auch wieder gehen Funk am See und viele Tourneen mit Projekten aller Art können.» sprechen für ihre Qualität. Trotzdem kam für sie der Moment, sich neu zu ori- Von der Schüür auf Europatournee entieren: «Der Job machte mir Spass, aber nach dieser Im Herbst 2003 startete sie denn knapp 30-jährig langen Zeit hatte ich irgendwann nicht mehr die Nerven. im bekannten Luzerner Konzerthaus. Zwei Momente Ausserdem wollte ich einer jüngeren Person Platz bezeichnet sie dabei als zentral. Einerseits war das ein machen.» Nach Zwischenstationen bei Auviso und dem Konzert von Christian Kjellvander, das sie unerwartet KKL arbeitet die Luzernerin inzwischen Teilzeit für die mischen musste: «Der hatte Instrumente wie Banjo und junge Amuel AG, die im Bereich Audiovisuelle Montage- Sitar dabei; ich wusste nicht mal, wie die mikrofoniert und Eventtechnik tätig ist. Dort hat sie neben handwerk- werden! Zusammen haben wir das Boot aber mehr als or- lichen Tätigkeiten neu auch Büroarbeiten übernommen. dentlich geschaukelt.» Anderseits verantwortete sie den Ihre Erfahrung, ihre Neugier und viele Weisheiten, die in Bühnen-Mix von Kyuss Lives! (heute Vista Chino), ihrer Menge diesen Artikel sprengen würden, begleiten einem Nachfolgeprojekt von Kyuss, der wichtigsten Sto- sie dabei weiter. Und machen klar: Die Geschichten ner-Rock-Formation der Musikgeschichte, die zugleich gehen Franzisca Rüedi nie aus. Oder wie sie selbst sagt: zu Rüedis Lieblingsbands gehört. Die amerikanisch-hol- «Auch mit 46 bin ich noch lange nicht fertig mit Lernen – ländische Truppe war derart beeindruckt von ihrer und das, obwohl ich doch zugleich ein Kindskopf geblie- Arbeit, dass sie die Luzernerin direkt von der Schüür aus ben bin.» auf Europatournee mitnahm. Ein ausschlaggebender Punkt nebst dem technischen Können für das Engage- Hier gibt’s Diversität! ment: «Ich sah Bandmitglieder stets als Menschen, nie als Die Vernetzungsplattform Helvetiarockt sorgt ab Oktober dafür, Stars, habe mich nicht aufgedrängt und bin stets ehrlich dass künftig alle eine Frau finden – fürs Podium, eine Publikation geblieben.» oder ihren Event. In der Datenbank «Music Directory» können sich Für ihre stellenweise grobe, zickige Art war Rüedi Frauen, inter-, trans- und non-binäre Menschen registrieren, die der Schweizer Musikbranche angehören. Willkommen sind Leute in in diesem Kontext berühmt-berüchtigt. Dabei machte sie verschiedensten Funktionen – ob sie nun singen, verkabeln oder keinen Unterschied zwischen Weltstar und Lokalstern- über Musik berichten. Die Datenbank soll zudem die Sichtbarkeit chen. «Ich habe auch schon Till Lindemann von erhöhen, Vorbilder zeigen und die Community stärken. Rammstein oder Dave Wyndorf, den Monster-Magnet- www.femalemusicdirectory.ch Frontmann, angefahren, wobei letzterer sich deshalb bis Oktober 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 19
FOKUS: EINE STIMME HABEN KEIN GELD FÜR KULTURNOMADEN In der Schweiz legt der Kantönligeist Kunst- und Kulturschaffenden mit Migrationshintergrund und Bewegungsfreude unnötig Steine in den Weg. Dabei könnten diese Menschen wertvolle Perspektiven in das hiesige Kulturwesen einbringen. Vor drei Jahren wollte ich ein Buch schreiben. Über die ten Arbeitsplatz. In der Freizeit geht man wandern und Schweiz. Das Land war so faszinierend anders als alle erklimmt Berge. Plötzlich jedoch scheint in dieser mobilen anderen, in denen ich bisher gelebt hatte. Die ersten Kapi- Welt Mobilität ein Nachteil zu sein. Und das ausgerechnet tel schrieb ich wie im Rausch. Dann legte ich das Projekt im Kulturbereich. auf Eis. Die Faszination ist noch da, aber Dabei sind die Kulturschaffenden doch eigentlich Text: Emilia Roza Sulek der richtige Zeitpunkt zum Schreiben ist genau das: mobil. «Sie essen Brot aus vielen Öfen», wird Illustration: Marina Lutz verflogen. Was dies mit der hiesigen För- in meiner Muttersprache über zeitgenössische Nomaden derung von Kulturschaffenden zu tun hat, und Abenteurer gesagt. Auf dem Arbeitsmarkt wird die nicht hierzulande geboren und nicht für immer am Mobilität als Zeichen für Dynamik und Flexibilität ge- gleichen Ort zu leben beschlossen haben? Hier die Antwort. schätzt. Sie zeigt Bereitschaft, neue Herausforderungen Das 041 lese ich immer vom Ende her, also fast vom anzunehmen. Sind diese Kriterien für den kantonalen Ende. Ich fange an mit der Seite mit den Ausschreibungen. Kulturbetrieb nicht relevant? Als ich nach Luzern gezogen bin und das lokale Kultur- magazin zu lesen begann, wollte ich mich überall bewer- Die magischen drei Jahre ben. Ich fühlte mich wie eine Sprinterin in den Startblöcken. Jede Kulturinstitution hat das Recht, ihre Türe Gerade mit einem Studium des Kulturmanagements an aufzureissen oder nur einen Spalt weit zu öffnen, die der HSLU begonnen, war ich voller Tatendrang. Hürde auf diese oder jene Ebene zu stellen und zu beob- Eine genauere Lektüre der Teilnahmekriterien liess achten, wer springen kann und wer sich die Beine bricht. meine Begeisterung jedoch rasch schwinden. Die Dusche Ich hinterfrage dieses Recht nicht. Als Ethnologin frage war eiskalt. Ich bin nicht förderungsfähig, musste ich ich aber, was dahintersteckt: Warum sollen gerade drei feststellen. Weil ich nicht «von hier» bin. Auf den ersten Jahre jemanden «einheimisch» und somit förderungswür- Schock folgten einige kritische Gedanken: Ist die Gnade dig machen? Ist diese Zeit notwendig, um den Kantönligeist der Geburt ein Organisationsprinzip der Schweizer Kul- hervorzurufen? Setzt ein qualitativer Wandel ein? Findet turpolitik? Ich dachte, Kulturschaffende seien Weltbürger, eine Initiation statt? die nicht in diesen engen Rahmen passen müssen. Ich Stellen wir uns eine andere Situation vor. Sagen wir, erkannte: Wer nicht mit der «richtigen» Geburtsurkunde ich möchte meine Forschungsprojekte in der Schweiz gesegnet ist, kann durch einen örtlichen Wohnsitz begna- fortsetzen. Eine Förderstelle weist mich aber ab: «Es tut digt werden. Drei Jahre Ortsansässigkeit lautet oft das uns leid, wir fördern nur lokal geborene Forschende. Sie alternative Förderkriterium. Ich rechnete. Im Februar bin können sich aber in drei Jahren bewerben.» Unvorstellbar, ich nach Luzern gezogen. 2020 + 3 = oder? Bis dahin kann das Forschungsthema seine Aktua- Im Jahr 2023 werde ich förderungswürdig sein! Bis lität verlieren! Die Förderung der Wissenschaft erkennt dahin bleibe ich in Kulturquarantäne. Gemeinsam mit das und funktioniert darum anders. Kulturförderung ist mir sitzen dort noch andere «Förderungsunwürdige». Wir aber kantonal geregelt, ja oft genug sogar auf der Ebene sind «Kantonsfremde». Menschen also, die zugezogen der Gemeinden. Die Gründe dafür bleiben mir ein Rätsel. sind. Ausnahmsweise geht es dabei nicht um Landesgren- zen. In puncto Kulturförderung scheint alles ausserhalb des Das berüchtigte Wort «Bezug» Kantons bereits als Fremdland zu gelten. Jetzt aber die gute Nachricht: Es gibt ein Seitentür- In jeder Gesellschaft gibt es Widersprüche. Mobili- chen. Für diejenigen, die sich in einem Kanton um Kultur- tät ist das, was die Schweiz prägt: Tausende pendeln zur gelder bewerben wollen, in dem sie weder geboren sind Arbeit oder ziehen gleich an ihren viele Kilometer entfern- noch drei Jahre lang leben. Es ist mit dem Schild «BEZUG» 20 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2020
Die verflixten Kantönligeister verkomplizieren die Kulturförderung. Oktober 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 21
FOKUS: EINE STIMME HABEN Fähigkeit, Selbstverständliches zu hinterfragen und bereits Der neutrale Status der Schweiz Verinnerlichtes noch einmal sichtbar zu machen. Das kann zog Wissenschaftlerinnen, Frei- irritierend sein, aber es erlaubt auch einen Blick über den heitskämpfer, Künstlerinnen und Tellerrand. Wenn man «neu» ist, nimmt man alles sehr intensiv wahr. Geht man davon aus, dann können die Entdecker aus aller Welt an. «Kantonsfremden» durchaus zur lokalen Kultur beitragen. Und man sollte nicht warten, bis der neugierige Glanz aus ihren Augen verschwunden ist. Besteht das Ziel der Kul- turpolitik tatsächlich darin (und darin sollte es doch be- stehen), nach klugen Köpfen mit frischen Ideen zu suchen, sollte man diese auch entsprechend fördern. Die Schweiz hat auf diesem Gebiet eine gute Bilanz. Ihr neutraler Status zog Wissenschaftlerinnen, Freiheits- kämpfer, Künstlerinnen und Entdecker aus aller Welt an. gekennzeichnet. Bis vor Kurzem verwendete ich «Bezug» Niemand zweifelt heute an ihrem Beitrag. Warum nicht nur in Amtssprache. Jetzt muss ich mich mit diesem Wort so weitermachen? Wäre ich eine Entscheidungsträgerin im Alltag anfreunden: Hätte mein Kulturprojekt nämlich in einer Kulturinstitution, würde ich die Hürde niedriger «Bezug zur kantonalen Kultur», wäre ich eventuell förde- setzen oder ein massgeschneidertes Programm für jene rungswürdig. Doch schon wieder eine Frage, die ich nicht ins Leben rufen, die noch nicht so richtig «von hier» sind. beantworten kann: Was bedeutet «kantonale Kultur»? Denn kulturelle Entwicklung findet nicht durch Ausgren- Wird sie symbolisch durch das Blut der hier Gebo- zung, sondern durch Öffnung statt. renen definiert? Das wäre ein aufregender Anachronismus! Aber ich bin keine Entscheidungsträgerin. Ich bin Geht es um gesetzlichen Wohnsitz? Dann wäre die ein Mensch in Kulturquarantäne. Drei Jahre warten. Drei «kantonale Kultur» eine rein bürokratische Kategorie. Jahre, in denen sich die Welt komplett verändern kann. Wird sie als Summe bestehender Kulturinstitutionen «Einen Finger am Puls der Ereignisse halten», heisst es verstanden? Dann wäre sie ein Sammelbegriff. Oder geht im Polnischen, meiner Muttersprache. In drei Jahren wird es um bevorzugte künstlerische Formen und Themen? die Welt anders pulsieren. Wie wirkt sich die Kulturqua- Ich wandte mich mit meinen Fragen an Instanzen, die es rantäne auf Ideen aus? Wie ein Brutkasten, denken nun eigentlich wissen müssten: zwei Gastredner, die ich im vielleicht manche. Oder ein Gefrierschrank. Ein Schred- Rahmen meines Kulturmanagementstudiums kennen- der. Das mit dem Buch über die Schweiz ist jetzt passé. lernte. Der eine war in der Kulturverwaltung in Aarau Was aus meinen anderen Ideen wird, zeigt sich dann im tätig, der andere im gleichen Bereich in Zug. Bei der Defi- Februar 2023. nition der «kantonalen Kultur» stiessen sie allerdings auf Schwierigkeiten. Mit entwaffnender Ehrlichkeit nannten sie zwei eher verlegene Beispiele: die (Aargauer) Rüebli- und (Zuger) Kirschtorte. Zweifellos gibt es in beiden Kantonen mehr Kultur als jene aus Konditoreien. Die Antworten wichen der Frage aus, eben weil sie nicht einfach zu klären ist. Es sei denn, wir sprechen von rein kommerziellen Kulturprodukten. Die inhaltliche Definition ist schwierig. Emilia Roza Sulek ist eine Die «kantonale Kultur» scheint eine bürokratische Nomadin. Ihr bewegtes Leben führte sie immer wieder in Illusion zu sein, die ins Leben gerufen wurde, weil die unterschiedliche Welten: Kultur kantonal verwaltet wird. Illusionen im Leben sind Geboren ist sie in Warschau, wichtig, aber sie zu hinterfragen und manchmal aufzuge- wo sie Ethnologie und Kultur- wissenschaften studiert hat. ben, kann auch Gutes bewirken. Das föderale Denken in Promoviert wurde sie in Ber- Bezug (sic!) auf Kultur scheint fragwürdige künstliche lin. Geforscht hat sie unter Kategorien zu reproduzieren, was wiederum zur bürokra- Nomaden in Tibet. Ein Buch darüber publiziert hat sie in tischen Ausgrenzung beiträgt. Amsterdam. Inzwischen lebt sie in Kriens und unterrichtet Kantonsfremde als Ressource an den Universitäten Bern und Zürich. Derzeit forscht sie Es ist ein Privileg von Neuankömmlingen (egal zur Neuen Seidenstrasse woher sie kommen), ihr neues Umfeld mit Neugierde zu in Zentralasien und Europa, schreibt und entwickelt beobachten und bewusst zu erfahren. Und genau das Kulturprojekte in der Schweiz. faszinierend zu finden, was für Alteingesessene «normal» ist. Kulturschaffende und Ethnologinnen teilen die 22 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Oktober 2020
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