Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung

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Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung
1. AUSGABE   DAS MAGAZIN DER

2020         KASSENÄRZTLICHEN
             BUNDESVEREINIGUNG

Künstliche Intelligenz
und Digitalisierung
Wo steht Deutschland?

    Bürokratieindex 2019         Digitalisierung in der Praxis      Gesundheit anderswo
Bürokratieaufwand in Praxen   Hausärztin Dr. Irmgard Landgraf    USA: Krankenversicherung
leicht gesunken               im Interview                       als Luxus
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung
Editorial

    KBV Klartext
    Das Magazin der Kassenärztlichen
    Bundesvereinigung

    Erscheinungsweise:                                                 Liebe Leserin, lieber Leser,
    vierteljährlich

    Herausgeber:                                                       die Digitalisierung kann eine Hilfe sein, ebenso wie die Künstli-
    Kassenärztliche Bundesvereinigung                                  che Intelligenz. Dort, wo es Sinn macht, kann die medizinische
    Dr. Andreas Gassen (Vorstandsvor-
    sitzender der KBV, V.i.S.d.P.)                                     Versorgung von technischen Innovationen profitieren. Doch es
    Redaktion:
                                                                       gibt auch Herausforderungen und Grenzen, wie die Forschun-
    Birte Christophers, Miriam Borchert,                               gen in diesen Bereichen zeigen. Dennoch hat unser Praxis-
    Tom Funke, Sten Beneke
                                                      Barometer Digitalisierung wieder gezeigt: Ärztinnen und Ärzte nutzen vermehrt
    Redaktionsbeirat:                                 digitale Anwendungen im Praxisalltag. Mehr zu den Themen Künstliche Intelli-
    Dr. Roland Stahl
                                                      genz und Digitalisierung – und wo Deutschland steht – erfahren Sie in unserem
    Redaktionsanschrift:                              Titelthema ab Seite 4.
    Kassenärztliche Bundesvereinigung
    Redaktion Klartext
    Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin               Eine, die bereits voll auf Digitalisierung setzt, ist Dr. Irmgard Landgraf. In unse-
    Tel.: 030 4005-2205
    Fax: 030 4005-2290                                rem Interview erzählt die Allgemeinmedizinerin, wie sich durch die technische
    E-Mail: redaktion@kbv.de                          Unterstützung der Praxisalltag positiv verändert hat. Die Hausärztin, die auch
    www.kbv.de
                                                      Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin ist, möchte Kol-
    Gestaltung:                                       leginnen und Kollegen ermutigen, sich auf die Digitalisierung einzulassen. Das
    KloseDetering, Hamburg
                                                      Interview lesen Sie ab Seite 12. Für Veränderungen im Praxisalltag sorgt auch
    Druck:                                            die KBV-Zukunftspraxis. In der Testphase wird bereits untersucht, wie unter-
    Druckerei Kohlhammer, Stuttgart
                                                      schiedliche Anwendungen die Behandlung der Patienten und die Praxisorgani-
    Fotos:                                            sation erleichtern können (mehr ab Seite 18).
    Titel: © Klose Detering; © shutterstock/Go-
    rodenkoff > S. 2: © Lopata/axentis.de
    S. 3: © Miriam Bochert/KBV; © iStock.com/
    upixa > S. 4: © Miriam Bochert/KBV > S. 5: ©
                                                      Auch die Organisation der Notfallversorgung soll verändert werden. Dazu hat
    iStock.com/miriam-doerr > S. 6: © Miriam          Bundesgesundheitsminister Jens Spahn einen Entwurf zur Notfallgesetzgebung
    Bochert/KBV > S. 7: © Miriam Bochert/KBV
     > S. 8: © Birte Christophers/KBV > S. 10: ©
                                                      vorgelegt. Das Ziel: eine bessere Verzahnung der unterschiedlichen Angebote
    iStock.com/artisteer > S. 11: © Bundesregie-      der Akut- und Notfallversorgung (Seite 17).
    rung / Steffen Kugler > S. 12: © Birte Christo-
    phers/KBV > S. 14: © Birte Christophers/KBV
     > S. 15: © agenturfotografin – stock.adobe.      In der Rubrik „Gesundheit anderswo“ blicken wir in die USA: Dort gab es mit
    com; © arttools – stock.adobe.com > S.
    16: © Lopata/axentis.de > S. 17: © picture        „Obamacare“ eine Reform, durch die viele Amerikaner eine Krankenversicherung
    alliance / Holger Hollemann/dpa > S. 18: ©        erhielten. Eine Absicherung im Krankheitsfall ist dort nämlich keine Selbstverständ-
    Copyright Vuzix 2020 > S. 20: © KBV; Aaron
    GmbH > S. 21: © KVWL; iStock.com/Nastasic         lichkeit. Doch nun drängt Präsident Trump auf ein eigenes Gesetz (ab Seite 24).
     > S. 22: © European Union 2019 – EP > S. 23:
    © Alexander Louvet > S. 24: © iStock.com/
    narvikk > S. 25: © KloseDetering > S. 26: ©       Ich wünsche Ihnen eine informative und anregende Lektüre.
    iStock.com/Jeremy_Hogan > S. 27: © KBV

                                                      Ihr Dr. Stephan Hofmeister,
                                                      Stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes

          www.twitter.com/kbv4u                                KBV Klartext
                                                                                                              Die App KBV2GO!
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          www.kbv.de/praxisnachrichten

2   KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung
Inhalt

Titel                                             Themen                                    Gesundheit anderswo
                                                  10   Bürokratieindex: Leichter Rückgang   24   USA: Krankenversicherung
4 Künstliche                                           auf hohem Niveau                          als Luxus

Intelligenz und                                   16   116117 rund um die Uhr
Digitalisierung: Wo
                                                  17   Reform der Notfallversorgung:
steht Deutschland?                                     KBV begrüßt Referentenentwurf        Kurz gefasst
                                                  18   #Zukunftspraxis – KBV testet         15   Meldungen aus dem Bund
                                                       innovative Produkte
                                                                                            21   Meldungen aus den Ländern
                                                  22   Bericht aus Brüssel: Europäische
                                                       Koordinierung gefragt                27   Angeklickt und Aufgeblättert

                                                  Interview
                                                  12   Dr. Irmgard Landgraf:
                                                       „Viele haben unnötige Angst“

        Der vorgelegte Referentenentwurf zur
          Notfallversorgung ist laut KBV „ein
             Schritt in die richtige Richtung“.

                                                                                                          KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020   3
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung
TITEL

    Künstliche Intelligenz: Chancen
    und Herausforderungen
    Von der Diagnostik bis hin zur Untersuchung, von der Behandlung bis zur Patientenverwaltung. Re-
    gelmäßig berichtet die Fachpresse von neuen Innovationen bei der Künstlichen Intelligenz (KI). Die KI
    soll nahende Herzinfarkte erkennen, bereits Tage im Voraus. Sie stellt Diagnosen für die seltensten
    Krankheiten und soll anhand eines Fotos eine Hautkrebsanalyse durchführen können. Doch von der
    Schlagzeile zum Praxisalltag ist es ein weiter Weg.

4   KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung
TITEL

E      in umgebauter Tierstall steht am
       westlichen Ende des Charité Campus
       Mitte. Vor 30 Jahren wurde hier noch
Wirkstoffforschung mit Mäusen und Rat-
ten betrieben (experimentelle Pathologie).
                                               pelt sich die Zahl der KI-Publikationen.
                                               Zeit, diese auf ihren Sachgehalt zu testen,
                                               bleibt häufig jedoch nicht. Ehe Wissen-
                                               schaft und Fachpresse eine Studie geprüft
                                               haben, stehen schon die nächsten Inno-
                                                                                             das Programm seine selbstständige Lernfä-
                                                                                             higkeit – und übertraf alle Erwartungen.

                                                                                             Ein Jahr später allerdings war Schluss
                                                                                             mit „Watson“. Einseitige Stammdaten,
Heute sitzt hier ein Zukunftslabor der Cha-    vationen bereit. Sie bauen auf vorherigen     unbrauchbare Technik, falsche Diagnosen
rité. In Ledersandalen an seinem Schreib-      Annahmen auf, ergänzen diese, oder            – das war das Fazit des DKFZ. Den Vertrag
tisch: Peter Hufnagl, Professor für digitale   verwerfen sie komplett. Ein Wettlauf um       mit IBM ließ man stillschweigend auslau-
Pathologie. Mit seinem Team forscht er         Ergebnisse entsteht. Denn in vielen Fällen    fen. „Watson hat großartig performed bei
im Auftrag des Bundesministeriums an           halten die Aussagen der Studien einer         Jeopardy, aber realer Einsatz im Alltag ist
der Nutzung künstlicher Intelligenz in         genauen Prüfung nicht stand. Präzedenz-       etwas Anderes“, sagt Reinhard Karger,
der Medizin. „KI lässt uns medizinische        fall für diesen Prozess war die künstliche    Unternehmenssprecher des Deutschen
Daten aus verschiedenen Quellen auf neue       Intelligenz „Watson“.                         Forschungszentrums für Künstliche Intelli-
Weise miteinander verknüpfen, so dass                                                        genz (DFKI). „Das Beispiel Watson war ein
ganz andere Sichten auf Diagnose und                                                         Lernprozess. Man erfährt, dass es Aspekte
Behandlung möglich werden. Das bietet                                                        gibt, die man nicht bedacht hat. Für die
unglaubliche Chancen sowohl für neue                                                         Forschung ist jeder dieser Fälle Gelegen-
Behandlungsansätze aber auch für die           Qualität statt Quantität                      heit zur Weiterentwicklung“.
Qualitätssicherung aktueller Behandlun-
gen“, erklärt Hufnagl.                         Das Deutsche Krebsforschungszentrum           Eine künstliche Intelligenz wird zwar
                                               (DKFZ) in Heidelberg und der US-amerika-      durch menschliche Programmierung
Die Medizin entdeckt immer komplexere          nische IT-Konzern IBM wollten in einem        und Rohdaten angelernt, im Verlauf der
Krankheitsbilder und Behandlungsmög-           internationalen Forschungsverbund nach        Nutzung trifft es seine Entscheidungen
lichkeiten. Die Herausforderung an Ärzte,      entscheidenden Mutationen im Erbgut von       dann aber selbstständig. Die ursprünglich
immer mehr Details und Fakten im Kopf          Patienten forschen. Geeignete Therapien       eingegebenen Daten werden um selbst
zu behalten, steigt rapide an. Angesichts      aus weltweiten Datenbanken sollten zu-        geknüpfte Parameter erweitert. Am Ende
solcher Tatsachen könnte die KI in der         sammengeführt werden. IBM stellte dafür       kann sogar der Programmierer nicht mehr
Medizin entscheidende Lücken schließen.        sein Wunderkind „Watson“ zur Verfügung:       alle Entscheidungsketten nachvollziehen.
Und die Branche boomt. Jährlich verdop-        in der Quiz-Show Jeopardy demonstrierte       Zusätzlich geht der Bedarf an Informatio- >

                                                                                                            KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020   5
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung
TITEL

    nen für die sogenannte Big Data über rein
    medizinische Fakten hinaus. Neben Stamm-
    daten braucht es klinische Informationen,
    wie Labordaten, Vitaldaten, genetische
    Daten, um für die künstliche Intelligenz
    verwertbar zu sein. Bisher entscheidet
    jeder Entwickler selbst, welche Zusammen-
    setzung hier die richtige ist. Werden solche
    asymmetrischen Daten in KI-Systeme
    eingespeist, steigt die Wahrscheinlichkeit
    für falsche Ergebnisse. Wie an der Stanford
    Universität im Silicon Valley. Dort lernte
    die KI, dass bei einem Tumor immer auch
    ein Lineal im Bild zu sehen sein muss.
    Die Forscher nutzten das Messgerät auf
    Tumor-positiven Aufnahmen, um deren
    Größe zu bestimmen. Statt an den Hautzellen
    orientierte sich das Programm nur noch an
    dem Lineal. Oder wie bei Googles KI-Projekt
    „DeepMind“, die KI sagte nur jedes dritte
    Nierenversagen richtig vorher. Es wurde mit
    Daten von männlichen Patienten angelernt,
    die Nieren-Werte von Frauen konnte es nicht
    korrekt einordnen. Je mehr Krankheiten,
    Verläufe und Symptome das Programm
    vergleichen kann, desto höher ist die Wahr-
    scheinlichkeit für eine korrekte Analyse.

    In Ländern wie China oder Brasilien
    kommen Firmen vergleichsweise leichter
    an Daten: In China werden Patientendaten
                                                   Roboter, wie dieser aus dem Futurium Berlin, sind bisher noch als Unterhaltungsroboter an der
    schneller weitergegeben, wenn neue Pro-        Berliner Charité im Einsatz – bald auch als Pfleger?
    dukte für den Weltmarkt entstehen sollen,
    in Brasilien gibt es lockere Datenschutz-
    bestimmungen. Auch in Großbritannien           bundeseigenen Big Data lösen. Insgesamt               für eine bessere Gesundheitsversorgung
    sammelt „DeepMind“ mit der Gesundheits-        34 Krankenhäuser und Unikliniken sind                 nutzen können. Zugleich muss ein hohes
    App „Streams“ Millionen von Patientenin-       in verschiedenen Konsortien zusammen-                 Maß an Datenschutz gewährleistet wer-
    formationen. Alles mit Einverständnis des      geschlossen um Patientendaten vergleich-              den. Hierfür setzt sich das BMBF bei der
    britischen National Health Service (NHS)       bar und klinikübergreifend nutzbar zu                 Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedin-
    und ohne Wissen der Patienten. Als der         machen. Jedes dieser Konsortien verfolgt              gungen auf Grundlage der Europäischen
    Skandal aufflog, konnten die Betroffenen       dabei ein Schwerpunktthema, beispiels-                Datenschutz-Grundverordnung wie auch
    der Nutzung nicht einmal mehr widerspre-       weise für die Krebs- oder Sepsisforschung.            im Rahmen seiner Forschungsförderung
    chen. In Deutschland und europaweit gibt                                                             ein“, sagt Svenja Jambo, Pressesprecherin
    jedoch die Datenschutzgrundverordnung          Mit einem neu eingeführten „Broad-                    beim Bundesministerium für Bildung und
    (DSGVO) einen engen Rahmen für die             Consent-Formular“ kann der Patient                    Forschung.
    Datensammlung von Patienten vor.               seine Zustimmung zur kompletten
                                                   Datensammlung direkt zu Behandlungs-                  Damit die Rohdaten nutzbar und vergleich-
                                                   beginn geben. Alle diese Daten stehen                 bar sind, werden Regularien geschaffen,
                                                   dann der Forschung zur Verfügung. „Für                die sich an internationalen Standards wie
                                                   KI-Anwendungen in der Medizin ist die                 etwa LOINC und SNOMED CT orientieren.
    Hohe Datenschutzbestim-                        Verfügbarkeit von qualitativ guten Daten              Mitte 2021 sollen die Ergebnisse in soge-
    mungen in Deutschland                          essentiell. In jedem Fall muss aber die               nannten Datenintegrationszentren zur Ver-
                                                   Datennutzung in verantwortungsvol-                    fügung gestellt werden und können dann
    Die Bundesregierung will „Deutschland          ler Weise erfolgen. Das ist auch für die              von Wissenschaft, Forschung und Medizin
    und Europa zu einem führenden KI-              Akzeptanz in der Bevölkerung elemen-                  genutzt werden. Diese Basis sei gut, um
    Standort machen“, auch um die künftige         tar. Die Rahmenbedingungen für KI mit                 IT-gestützte Diagnosen zu ermöglichen,
    Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Im            Gesundheitsdaten, etwa im Hinblick auf                seltene Krankheiten effektiver zu behan-
    Rahmen einer 160 Millionen Euro schwe-         Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten,                   deln und den Datenaustausch zwischen
    ren „Medizininformatik-Initiative“ will        sollten daher zum einen KI-Anwendungen                Medizinern zu verbessern. Reinhard Karger
    Deutschland das Problem der mangelnden         ermöglichen, damit wir die Potentiale                 vom DFKI spricht sich für einen Wandel

6   KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung
TITEL

aus: „Die Diskussion um die Datensicher-
heit müssen wir so diskutieren, dass wir
unsere Datenkultur nicht gefährden, aber
eben auch nicht die Qualität der Medizin.“
Mit zu geringen Datenmengen laufe man
Gefahr, abhängig von anderswo erhobenen
medizinischen Daten zu werden. Gegebe-
nenfalls träfen diese nicht auf europäische
Patienten zu.

China investiert

In China wurden in den vergangenen
zwölf Jahren hunderttausende Patien-
tenakten gesammelt und in intelligente
Software integriert. Bis 2030 investiert
die Regierung 150 Milliarden US-Dollar
                                               Prof. Dr. Peter Hufnagl in seinem KI-Forschungslabor.
in Künstliche Intelligenz (im Vergleich:
Deutschland drei Milliarden bis 2025). Und
auch Chinas IT-Branche floriert, Technolo-     App verbunden. Auch die chinesische                     erläutert der Berliner KI-Forscher Peter
giefirmen wie Alibaba, Tencent und iFly-       Gesundheitsbranche kämpft mit Proble-                   Hufnagl. Wer vorne mitschwimmen wolle,
tek investieren riesige Summen in neue         men wie überalternder Gesellschaft und                  müsse Geld vor allem in Forschung und
Projekte. Und so kann sich das Second          ansteigendem Ärztemangel, künstliche                    Bildung investieren. „Künstliche Intelli-
Provincial General Hospital in Guangzhou       Intelligenz soll diese Probleme kompen-                 genz ist eine enorm wachsende Technolo-
bereits jetzt auf seinen „AI Doctor“ verlas-   sieren.                                                 gie mit Breitenwirkung, das haben auch die
sen. Er legt Patientenakten selbstständig                                                              Firmen erkannt. Allein im Jahr 2018 haben
an, stellt Diagnosen und empfiehlt Be-         Probleme, die auch in Deutschland allzu                 die fünf größten IT-Plattformen, darunter
handlungen. Die Firma PingAn stellte mit       bekannt sind. Hinzu kommt hier: be-                     Google und Alibaba, 600 Patente mit medi-
„PingAn Good Doctor“ ein bereits von 300       reits die Universitäten stehen in Sachen                zinischen Fokus angemeldet. Deutschland
Millionen Patienten genutztes Netzwerk         Förderung hinten an. In den USA habe die                muss da aufpassen, dass es den Anschluss
auf. Mithilfe intelligenter Software werden    Stanford Universität allein ein größeres                an die KI-Entwicklungen nicht verliert.“
Gesundheitsprofile für Familien, Diagno-       Budget und wissenschaftlichen Output, als
sen und medizinische Einkäufe in einer         die drei Berliner Universitäten zusammen,                  Miriam Borchert und Birte Christophers

    „PATIENTENDATEN-SCHUTZGESETZ SCHAFFT KEIN VERTRAUEN IN DIE DIGITALISIERUNG“

   Der Referentenentwurf zum Patientendaten-Schutzgesetz                  sierung im Gesundheitswesen erfolgreich voranzubringen,
   (PDSG) ist aus Sicht der KBV in dieser Form für die niederge-          ist die Akzeptanz, bei Ärztinnen und Ärzten entscheidend.
   lassenen Ärzte eher eine Belastung.                                    Sie haben schließlich rund einer Milliarde Patientenkontak-
                                                                          ten jedes Jahr. Hierbei sind Vorstellungen, die Arztpraxen
   Die KBV setze sich mit aller Kraft für die Digitalisierung und         als „Lesestube“ für elektronische Patientenakten nutzen
   deren Akzeptanz ein und treibe deshalb „die Entwicklung der            zu wollen, kontraproduktiv. Der erforderliche Aufwand ist
   ersten echten elektronisch nutzbaren Medizinischen Infor-              angesichts der ohnehin schon am Limit arbeitenden Praxen
   mationsobjekte (MIO) wie Impfpass, Mutterpass und U-Heft               nicht zu rechtfertigen.“
   mit Hochdruck voran“, sagte KBV-Vorstandsvorsitzender
   Dr. Andreas Gassen und fügte hinzu: „Aber Digitalisierung              Vorstandmitglied Dr. Thomas Kriedel ergänzte: „Die Verant-
   ist kein Selbstzweck.“ Wichtig sei, wie sie die Versorgung             wortung für die IT-Sicherheit der Komponenten darf nicht
   der Patienten verbessere und Praxen entlaste – ohne dabei              auf die Arztpraxen abgewälzt werden. Das gilt auch für die
   zusätzliche Kosten zu verursachen.                                     Kosten, die ihnen im Zuge der mit der Digitalisierung ver-
                                                                          bundenen strukturellen Veränderungen entstehen werden.
   Deutlich wurde auch Dr. Stephan Hofmeister, stellvertre-               Hier ist der Gesetzgeber aufgefordert, klare Vorgaben zur
   tender Vorstandsvorsitzender. Er erklärte: „Um die Digitali-           Finanzierung der Strukturkosten zu setzen.“

                                                                                                                      KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020   7
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung
TITEL

    Digitalisierung in Praxen
    schreitet voran
    Ärzte und Psychotherapeuten nutzen vermehrt digitale Anwendungen im Praxisalltag: 91 Prozent der
    Vertragsarztpraxen mit digitalen medizinischen Geräten haben diese zumindest teilweise an das
    Praxisverwaltungssystem angebunden, 67 Prozent der Hausärzte nutzen eine digitale Anwendung
    zur Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit.

    Z      um zweiten Mal zeigt die vom IGES
           Institut im Auftrag der KBV durch-
           geführte repräsentative Studie, wie
    weit die Digitalisierung in den Praxen
    vorangeschritten ist. Dazu wurden circa
                                                     vorangeschritten ist. Dies gilt vor allem
                                                     für die Bereiche Praxisorganisation und
                                                     -management sowie Dokumentation. Tat-
                                                     sächlich sind das die Bereiche, in denen
                                                     Ärzte die Digitalisierung am ehesten als
                                                                                                   Versorgung-Gesetzes ist vorgesehen, dass
                                                                                                   die KBV die Möglichkeit zur Erstellung
                                                                                                   einer Richtlinie zur IT-Sicherheit erhält.
                                                                                                   Diese soll Praxen dann unterstützen und
                                                                                                   Sicherheit geben“, ergänzte Kriedel.
    8.900 Praxen kontaktiert, etwa 2.100 Da-         Fortschritt wahrnehmen“, sagte Dr. Andre-
    tensätze von Vertragsärzten und -psycho-         as Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV
    therapeuten konnten ausgewertet werden.          bei der Präsentation der Ergebnisse. „Dort,
    Rund Dreiviertel der Vertragsarztpraxen          wo die Anwendungen weiterhelfen und
    (76 Prozent) nutzen mehrheitlich oder            auch durchdacht sind, macht die Digitali-     Befürchtungen und Hoffnungen
    vollständig die digitalisierte Patienten-        sierung Sinn“, so Gassen weiter.
    dokumentation (2018: 73 Prozent), 59 Pro-                                                      Ärzte und Psychotherapeuten sorgen sich
    zent managen die Terminplanung und                                                             zudem um den direkten Kontakt zum
    Wartezeiten über digitale Anwendungen.                                                         Patienten. So befürchten 43 Prozent eine
    Bei den psychotherapeutischen Praxen                                                           Verschlechterung der Arzt-Patienten-
    läuft bei 44 Prozent die Patientendoku-          Noch viel ungenutztes Potenzial               Beziehung. Eine Fernbehandlung lehnen
    mentation mindestens zur Hälfte digital.                                                       die meisten ohne vorherigen persönlichen
    „Die aktuellen Ergebnisse zeigen, dass die       Doch in vielen Bereichen ist das Potenzial    Erstkontakt ab, im Vergleich zum Vorjahr
    Digitalisierung in den Praxen schon weit         noch nicht ausgeschöpft: Bei 85 Prozent       ist jedoch bei den Psychotherapeuten die
                                                     findet die schriftliche Kommunikation         Bereitschaft für allgemeine Online- und
                                                     mit anderen Ärzten/Psychotherapeuten          Videosprechstunden um 10 Punkte auf
                                                     komplett in Papierform statt, bei der         25 Prozent gestiegen. Rund 50 Prozent der
                                                     Kommunikation mit Krankenhäusern liegt        Praxen erhoffen sich durch die Digitali-
                                                     der Wert sogar bei 93 Prozent. Viele Ärzte    sierung weitere Verbesserungen in den
                                                     und Psychotherapeuten geben Sicherheits-      Bereichen Kommunikation und Praxisma-
                                                     lücken im EDV-System als Grund für die        nagement. „Die Mehrheit der Praxen ist
                                                     Zurückhaltung bei der Digitalisierung an.     bereit für mehr Digitalisierung und erhofft
                                                     Statt 54 Prozent (2018) nennen dies mitt-     sich davon einen Nutzen. Solange aber kei-
                                                     lerweile 60 Prozent der Befragten als stark   ne Verlässliche und nachhaltige Verbesse-
                                                     hemmenden Faktor. „Die Zahlen zeigen,         rung im Praxisalltag spürbar ist, hält sich
                                                     dass viele Ärzte und Psychotherapeuten        der Enthusiasmus noch in Grenzen. Auch
                                                     unsicher sind“, so KBV-Vorstandsmitglied      wir wollen Tempo machen bei der Digita-
                                                     Dr. Thomas Kriedel. „Wir als KBV – und        lisierung. Aber mit Augenmaß. Und mit
                                                     das KV-System insgesamt – nehmen              Mehrwert – vor allem aber mit Sicherheit“,
                                                     die Sorgen der Praxen ernst. Wir setzen       so Kriedel.
                                                     uns ein für eine sensible Gestaltung der
                                                     Digitalisierung im Gesundheitswesen. Es                               Birte Christophers
                                                     bedarf sinnvoller politischer Regelungen.
                                                     Im Gesetzgebungsverfahren des Digitale-
    Dr. Andreas Gassen, KBV-Vorstandsvorsitzender
    und Dr. Thomas Kriedel, KBV-Vorstandsmitglied,
    bei der Präsentation des PraxisBarometer
    Digitalisierung 2019.

8   KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung
91%

                                                                        der Vertragsarztpraxen mit digitalen
                                                                        medizinischen Geräten haben diese
                                                                        mindestens teilweise an ihr PVS
                                                                        angebunden.

                       76%                                                                                                                        67%

  der Vertragsarztpraxen haben die                                                                                               der Hausärzte nutzen eine
  Patientendokumentation mehrheit-                                                                                               digitale Anwendung zur Arznei-
  lich oder vollständig digitalisiert.                                                                                           mitteltherapiesicherheit.

                                                                          staNd dEr
                                                                       digitalisiEruNg
                                                                          iN PraxEN
                     46%                                                                                                                          47%

der Praxen sind bereit, ihre                                                                                                  der Vertragsärzte und -psycho-
Patientendokumentation auf ein-                                                                                               therapeuten haben in den letzten
heitliche Standards umzustellen.                                                                                              3 Jahren an einer Fortbildung zur
                                                                                                                              Digitalisierung teilgenommen.

  ErwartEtEr NutzEN dEr digitalisiEruNg:                                                   HEmmNissE dEr digitalisiEruNg:
  ..............................................................................            ..................................................................................
    59% elektronischer Medikationsplan                                                        85% Sicherheitslücken in der IT
  ..............................................................................            ..................................................................................
   56% Notfalldatensatz                                                                       81% Umstellungsaufwand
  ..............................................................................            ..................................................................................
    51% digitale Verordnungen                                                                 79% ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis
  ..............................................................................            ..................................................................................
   46% digitale Pässe (z.B. Mutterpass, Impfpass etc.)                                        77% Fehleranfälligkeit der IT-Systeme
  ..............................................................................            ..................................................................................
   43% arztverwaltete Patientenakte                                                           69% fehlende Nutzerfreundlichkeit der Anwendungen
  ..............................................................................            ..................................................................................

                                ≥50%                                                                                                    43%

  dEr PraxEN ErwartEN VErbEssEruNgEN bEi:                                                                             dEr PraxEN bEfürcHtEN EiNE
                                                                                                                      VErscHlEcHtEruNg dEr
         > Kommunikation mit Krankenhäusern
                                                                                                                      arzt-PatiENtEN-bEziEHuNg
         > Kommunikation mit Niedergelassenen
         > Praxismanagement

 QuEllE: PraxisBarometer Digitalisierung 2019 der Kassenärztlichen Bundesvereinigung; repräsentative Befragung von 2.099 vertragsärztlichen und
 -psychotherapeutischen Praxen im April und Mai 2019 durch das IGES Institut

                                                                                                                                                   KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020   9
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung - Kassenärztliche Bundesvereinigung
THEMA

     Bürokratieaufwand in Praxen:
     Leichter Rückgang auf hohem
     Niveau
     Erstmals seit 2016 sinkt die Zeit, die Ärzte für Bürokratieaufgaben aufwenden müssen, im Vergleich
     zum Vorjahr um knapp zwei Prozent. Doch noch immer benötigen Praxen im Schnitt rund 60 Tage
     im Jahr für Dokumentationsaufgaben. Das ergab der Bürokratieindex 2019. Bereits zum vierten Mal
     veröffentlichte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) die Studie.

     Ä        rzte und Psychotherapeuten muss-
              ten rund eine Million Stunden
              weniger für Verwaltungstätigkei-
     ten aufwenden als 2018. Das bedeute etwa
     einen Tag weniger Bürokratie pro Praxis,
                                                  Bürokratieaufwand in den Praxen spürbar
                                                  zu senken,“ so Kriedel weiter. Das Kern-
                                                  problem sei, dass die Politik die Digitali-
                                                  sierung bislang nur halbherzig umsetze.
                                                  Denn bisher verursachten viele Gesetze
                                                                                                Viel Bürokratie durch wenige
                                                                                                Pflichten
     Zeit, die den Patienten zugutekomme,         noch mehr Bürokratie. Als Beispiel nannte     Der von der Fachhochschule des Mittel-
     sagte KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas       er die elektronische Arbeitsunfähigkeits-     stands (FHM) erstellte Bürokratieindex
     Kriedel, bei der Vorstellung des Bürokra-    bescheinigung. Bei dieser sei, so Kriedel,    für die vertragsärztliche Versorgung zeigt
     tieindex (BIX).                              neben der digitalen Variante vom Gesetz-      auf, wieviel Zeit die niedergelassenen
                                                  geber zusätzlich noch ein Papierausdruck      Ärzte und Psychotherapeuten im Jahr für
     Kriedel zufolge könnte in Zukunft die        vorgesehen. „Diese unvollständige hybri-      die Erfüllung bürokratischer Pflichten
     Digitalisierung helfen, Bürokratie weiter    de Lösung macht es schwierig, die notwen-     aufbringen müssen. Untersucht wurde
     abzubauen. Darin liege „ein enormes Ent-     dige Akzeptanz für den gesamten Prozess       der Aufwand durch Verwaltungsaufga-
     lastungspotenzial“, betonte er. „Wir haben   der Digitalisierung in den Arztpraxen zu      ben, die durch Vorgaben der Selbstver-
     aber noch viel Wegstrecke vor uns, um den    erreichen“, betonte Kriedel.                  waltung auf Bundesebene entstehen.

10   KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020
Gesetzliche Regelungen fallen nicht            der Archivierung des Berichtsvordrucks
darunter, da diese durch das Statisti-         Gesundheitsuntersuchung (Muster 30) auf-
sche Bundesamt in einem eigenen Index          grund der Änderung der Gesundheitsun-         Bürokratie ist Niederlassungs-
geführt werden.                                tersuchungs-Richtlinie. Dadurch entfielen     hemmnis
                                               pro Jahr etwa 500.000 Stunden.
Wie auch in den Vorjahren machten we-                                                        Die Ergebnisse des Berufsmonitorings
nige Informationspflichten einen Großteil      Zu mehr Aufwand von rund 32.000 Stun-         Medizinstudierende machen regelmäßig
der Belastung aus, sagte Prof. Dr. Volker      den führte wiederum die Dokumentation         deutlich, dass der bürokratische Aufwand
Wittberg von der FHM und Leiter des            beim Hautkrebsscreening. Durch einen          von Medizinstudierenden als wesentli-
Nationalen Zentrums für Bürokratiekos-         entsprechenden Beschluss des Gemeinsa-        ches Argument gegen eine Niederlassung
tenabbau. In Zahlen bedeute das, „dass         men Bundesausschusses müssen insbe-           gesehen wird. Im Rahmen von Fokus-
91 Prozent aller bürokratischen Belastun-      sondere Dermatologen mehr Parameter als       gruppeninterviews wurden daher für den
gen durch nur sechs Prozent der Pflichten      früher dokumentieren.                         aktuellen BIX neu Niedergelassene zu
ausgelöst werden“. Davon müssten im-                                                         ihren Erfahrungen befragt. Als wesent-
merhin knapp zwei Drittel von den Ärzten       Die KBV empfiehlt verschiedene Lösungs-       liche Hemmnisse wurden hier unter
und Psychotherapeuten selbst abgearbei-        strategien für einen weiteren Bürokratie-     anderem bürokratische Hürden beim
tet werden, fügte Kriedel hinzu.               abbau. Dazu zählen eine praxistaugliche       Zulassungsverfahren und die Komplexität
                                               Lösung für die digitale Arztsignatur, die     der Regelungen bei der Abrechnung und
                                               Abschaffung des doppelten Antrags für         bei Verordnungen genannt.
                                               die Kurzzeittherapie, die Verschlankung
                                               des Verfahrens zur Arztzulassung, der                                          Tom Funke
500.000 Stunden gespart                        Verzicht auf die AU-Bescheinigung in
                                               Bagatellfällen sowie eine einfache und
Die größte Erleichterung beim Verwal-          praxistaugliche Umsetzung der elektroni-        Mehr zum Thema Bürokratieindex fin-
tungsaufwand entstand durch den                schen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung          den Sie hier: www.kbv.de/630204
Wegfall sowohl des Ausfüllens als auch         und des elektronischen Rezeptes.

                              DREI FRAGEN AN ... DR. JOHANNES LUDEWIG,
                              VORSITZENDER DES NATIONALEN NORMENKONTROLLRATES

                                               Kritik muss festgehalten werden, dass die     In welchen Bereichen ist die Belastung
                                               Bundesregierung ein in sich konsistentes      besonders hoch?
                                               und schlüssiges Konzept zum Abbau von
                                               Bürokratie und für Bessere Rechtsetzung       Der jährliche Erfüllungsaufwand – Zeitauf-
                                               entwickelt und umgesetzt hat. Ich möchte      wand und Kosten eines Gesetzes – ist seit
                                               zwei Punkte nennen: Um gesetzliche Folge-     seiner Schätzung im Jahr 2011 im Saldo um
Der Nationale Normenkontrollrat (NKR)          kosten effektiv zu begrenzen wurde ein        rund 6,6 Milliarden Euro gestiegen. Der
hat den gesetzlichen Auftrag, die Bun-         25 Prozent-Bürokratie-Abbauziel zwischen      mit Abstand größte Anteil, rund 4,9 Milliar-
desregierung bei der Umsetzung ihrer           2006 und 2011 vereinbart. Zudem wurde         den Euro (74 Prozent des Anstiegs), entfällt
Maßnahmen zu Bürokratieabbau und               2015 eine sogenannte „One in one out“-        auf die Wirtschaft. Der Erfüllungsaufwand
besserer Rechtsetzung zu unterstützen.         Regel eingeführt.                             für die Verwaltung ist in diesem Zeitraum
Wo steht Deutschland in Sachen Bürokra-                                                      um rund 1,5 Milliarden Euro gestiegen.
tieabbau?                                      Jedes Gesetz weist heute die entstehen-       Die Bürgerinnen und Bürger wurden mit
                                               den Kosten für Bürger, Unternehmen und        rund 221 Millionen Euro (drei Prozent) am
Die Bundesregierung hat mit der Einrich-       Verwaltung transparent und nachvollzieh-      wenigsten zusätzlich belastet.
tung des Nationalen Normenkontrollrates        bar aus. Trotz beachtlicher Erfolge zeigt
(NKR) im internationalen Vergleich ein         sich aber: Neue Gesetze sind oft nicht pra-   Wo sehen Sie Verbesserungs-
Alleinstellungsmerkmal geschaffen. Nie-        xistauglich, weil die Perspektive von Bür-    möglichkeiten?
mand sonst beschäftigt sich intensiv und       gern und Unternehmen nicht ausreichend
systematisch mit dem Thema.                    berücksichtigt wird. In der Folge entstehen   Die Digitalisierung eröffnet bisher nicht
                                               Regelungen, deren Vollzug schwierig bis       genutzte Möglichkeiten, Dienstleistungen
In der öffentlichen Wahrnehmung entsteht       unmöglich ist. Dadurch ist die Akzeptanz      im Gesundheitsbereich anzubieten und
gelegentlich der Eindruck, es würden kei-      neuer Regelungen bei den Betroffenen          Bürokratie effizient und wirksam abzu-
ne Fortschritte erzielt. Quantitative Ergeb-   niedrig. Politik muss wesentlich mehr tun,    bauen. Man muss sie nur endlich richtig
nisse der letzten Jahre sagen jedoch etwas     damit staatliche Regulierung und Lebens-      nutzen. Deutschland liegt hier im europäi-
Anderes. Denn bei aller verständlicher         wirklichkeit produktiv ineinandergreifen.     schen Vergleich noch weit zurück.

                                                                                                            KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020   11
INTERVIEW

     „Viele haben unnötige Angst“
     Dr. Irmgard Landgraf ist Hausärztin und Fachärztin für Innere Medizin. In ihrer Praxis setzt sie voll
     auf Digitalisierung. Im Klartext-Interview spricht sie über die Veränderung im Praxisalltag, mögli-
     che Hemmnisse zweifelnder Kollegen und ungenutzte Möglichkeiten der Digitalisierung.

     Frau Dr. Landgraf, Sie halten Vorträge bei   eine Entlastung nicht erkennen können.        Befunde meiner Patienten zur Verfügung.
     Fachtagungen darüber, wie Digitalisie-       Und genau das sollte sich ändern. Ich         Ich muss mir dazu nicht zeitaufwendig die
     rung den Praxisalltag verändern kann.        finde die Digitalstrategie, wie sie nun von   Akte herausgeben lassen, um darin nach
     Warum liegt Ihnen das Thema so am            der Politik gefördert wird, richtig und un-   den Daten zu suchen – und sie vielleicht
     Herzen?                                      verzichtbar, aber sie muss auch wirklich      gar nicht mehr zu finden. Und ich kann
                                                  anwenderorientiert sein.                      Patienten auch von zuhause beraten oder
     Ich erlebe täglich wie uns die Digitali-                                                   im Notfall Ärzten im Krankenhaus alle
     sierung den Arbeitsalltag erleichtert, die   Wo sehen Sie konkret die größte Verän-        notwendigen Befunde per Knopfdruck aus
     Versorgungsqualität verbessert und unse-     derung im Praxisalltag zu „früher“, zur       meiner digitalen Patientenakte schicken.
     re Arbeitszufriedenheit erhöht. Wenn sie     analogen Zeit?                                Außerdem sieht jeder, der im PC die Kar-
     richtig eingesetzt und an unseren Bedarf                                                   teikarte öffnet, sofort alle wichtigen Hin-
     orientiert genutzt werden kann. Viele kla-   Da kann ich viele Beispiele nennen. In        weise zu notwendigen Untersuchungen,
     gen, weil sie durch digitale Anwendungen     meiner Praxis stehen mir immer sehr           Impfungen, erforderlichen Medikamenten
     mehr Arbeit haben und den Nutzen sowie       schnell alle wichtigen Informationen und      oder Allergien.

12   KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020
„Ich bin total froh, solche Möglichkeiten zu haben.“

In der Pflegeheimversorgung sind die           Kommunikation über den PC praktizie-            sind sehr wichtige Instrumente, um die
Vorteile ebenfalls nicht zu übersehen.         ren wir auch in der Praxis während der          Behandlungs- und Patientensicherheit zu
Ich arbeite mit den Pflegekräften digital      Sprechstunde. Keine Mitarbeiterin muss          verbessern.
vernetzt über die elektronische Patien-        in meine Sprechstunde „platzen“, um eine
tenakte zusammen. Das führt zu einem           wichtige Frage zu stellen. Das kann sie         In eingangs erwähnten Vorträgen hatten
kontinuierlichen, niedrigschwelligen und       über den Rechner machen und bekommt             Sie unter anderem auch über die Trans-
zeitnahen Informationsaustausch. Alle          von mir die digitale Antwort, sobald mir        parenz bei Diagnostik, Therapie und
sind gut informiert über die schriftliche      dies möglich ist. Der Patient, der vor mir      Medikamentencontrolling gesprochen.
Kommunikation zwischen uns, es muss            im Sprechzimmer sitzt, merkt das gar            Inwiefern ist der Patient darin eingebun-
nicht mehrmals zum gleichen Thema zwi-         nicht, denn ich antworte zum Beispiel in        den?
schen mir und verschiedenen Pflegekräf-        der Zeit, in der er sich nach einer Untersu-
ten gesprochen werden. Ich erhalte immer       chung wieder anzieht.                           Meine Patienten können nicht nur von
Informationen aus erster Hand von der                                                          mir, sondern auch von jeder Praxismit-
Pflegekraft, der gesundheitliche Probleme      Insbesondere das Medikamentencon-               arbeiterin alle Informationen zu Befun-
beim Heimbewohner aufgefallen sind. Sie        trolling schätze ich sehr. Meine Praxis-        den, geplanter Diagnostik und Therapie
erreicht damit auch wirklich mich, zeitnah     mitarbeiterinnen stellen beispielsweise         erfahren, sich alles ausdrucken lassen,
innerhalb weniger Stunden, und bekommt         Wiederholungsrezepte nur aus dem bei je-        alles einsehen. Das fördert nicht nur das
von mir, schriftlich fixiert, eine Antwort     dem Sprechstundenbesuch aktualisierten          Vertrauen der Patienten in unsere Arbeit,
oder Handlungsanweisung. Vieles kann           Medikationsplan aus. Da sehen sie sofort,       sondern auch die Kompetenz der Patienten
ich zunächst digital und online lösen,         welche Medikamente gebraucht werden             in Bezug auf ihre Gesundheit und den Um-
bevor ich ins Heim fahren muss. Dadurch        und welche noch ausreichend vorhanden           gang mit ihrer Krankheit sowie ihre Com-
gelingt uns hochgradig präventives             sein müssten, oder ob Unverträglichkeiten       pliance. Meine Patienten sind in der Regel
Arbeiten. Und die schnelle Umsetzung           aufgefallen sind – alles unter der Vorga-       gut aufgeklärt über ihre gesundheitliche
notwendiger diagnostischer und thera-          be, dass die Einnahme wie verabredet er-        Situation und übernehmen entsprechend
peutischer Maßnahmen mit dem Resultat,         folgt. Das erhöht die Behandlungssicher-        auch viel Verantwortung für sich. Für
dass Beschwerden schnell beseitigt und         heit ganz enorm und ist sehr entlastend.        mich als Ärztin ist es sehr befriedigend,
dramatische Krankheitsentwicklungen            Unser Impfmanagement ist ebenfalls              mit meinen Patienten auf Augenhöhe Dia-
deutlich reduziert werden.                     digitalisiert und unterstützt hervorra-         gnostik- und Behandlungsentscheidungen
                                               gend. Mir werden auf Knopfdruck nicht           treffen zu können und wertschätzend
Unsere Patienten sind relativ selten im        nur der aktuelle Impfplan, sondern auch         miteinander zu agieren.
Krankenhaus. Die Pflegekräfte haben auf        alle erforderlichen Impfungen mit dem
ihre Fragen immer sehr schnell eine ärzt-      Datum des erforderlichen Impfzeitraumes         Und wie sieht es mit der intersektoralen
liche Reaktion, müssen nicht aufwendig         angezeigt. Und wenn ich noch Reisepläne         Zusammenarbeit aus?
hinter mir her telefonieren und immer wie-     der Patienten eintrage, sehe ich in der Soft-
der versuchen, Kontakt zu mir aufzuneh-        ware auch, welche Reiseimpfungen wann           Die intersektorale Zusammenarbeit pro-
men, um ärztliche Hilfe zu bekommen. Ich       am besten durchgeführt werden.                  fitiert von guter digitaler Unterstützung
habe deutlich weniger unerwartete Anrufe                                                       der Patientenversorgung schon heute.
– und vor allem auch weniger ungeplante        Eine enorme Arbeitserleichterung und            Wenn ich dem Facharzt sehr schnell auf
Hausbesuche.                                   Qualitätsverbesserung haben wir auch            Knopfdruck alle benötigten Informationen
                                               durch die Vernetzung mit dem Labor, in          geben kann, wenn ich seine Anregungen
Nennen Sie bitte Beispiele, wo bei der         dem die Blutuntersuchungen durchgeführt         zuverlässig und rasch umsetze und ihn
Behandlung digitale Anwendungen (in            werden. Sobald von uns ein Laborauftrag         digital an dem weiteren Versorgungspro-
Ihrer Praxis) zum Einsatz kommen.              ausgestellt wird, erfährt das Labor online      zess beteilige, indem ich beispielsweise
                                               davon und kann schon alles für die Un-          alle von mir erhobenen Laborwerte auch
Ganz entscheidend sind für mich die sehr       tersuchung vorbereiten. In meiner Praxis        umgehend vom Labor an ihn weiterleiten
effiziente und zeitsparende Zusammenar-        werden dann die Klebezettel mit Patien-         lasse, dann entlaste ich ihn erheblich.
beit mit meinen Praxismitarbeiterinnen         tenname und dem Hinweis auf das benö-           Das führt dann dazu, dass er für meine
und den Pflegekräften sowie die sehr           tigte Blutabnahmesystem ausgedruckt, in         Patienten im Bedarfsfall auch eher einen
hochwertige Versorgungsqualität. Digital       der Reihenfolge, in der die verschiedenen       Termin zur Verfügung stellen kann. Diese
vernetzt zu arbeiten bedeutet, wir müssen      Blutröhrchen befüllt werden sollen. Und         digital schon verbesserte Zusammenarbeit
uns nicht gegenseitig bei der Arbeit stören,   wenige Stunden nach Eintreffen im Labor         ist aber natürlich noch optimierbar.
um Informationen auszutauschen. Das            kann ich online schon alle fertiggestellten
geht sowohl im Heim als auch in der            Ergebnisse einsehen. Ich bin total froh,        Wo sehen Sie da Chancen?
Praxis asynchron über die Patientenakte.       solche Möglichkeiten zu haben. Für mich
Ich lese die Informationen der Pflegekraft     sind diese verschiedenen digitalen An-          Wenn wir demnächst alle wichtigen Be-
oder der Praxismitarbeiterin, wenn ich mir     wendungen nicht nur arbeitserleichternd         funde über die ePA zur Verfügung gestellt
die Zeit dafür nehmen kann. Diese digitale     und qualitätsunterstützend, sondern sie         bekommen und nicht mehr einander hin- >

                                                                                                              KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020   13
terher telefonieren oder Befunde per Fax      Viele haben unnötige Angst, was das            können uns alle nicht mehr vorstellen,
     zeitaufwendig anfordern müssen, wird          betrifft. Manches kann ich aber sehr gut       herkömmlich papierbasiert zu arbeiten.
     uns das alle sehr entlasten. Wenn wir         verstehen. Viele Praxis-, Pflegeheim- oder
     zusätzlich noch schnell über das sichere      Krankenhausverwaltungssysteme sind             Und wie gehen Sie mit technischen
     Netz der KV miteinander kommunizieren         häufig viel zu kompliziert und nicht anwen-    Problemen um?
     oder uns in Online-Konsilen zu Patienten      derorientiert. Wenn ich fünfmal klicken
     beraten können, wird das die Versorgung       muss, um einen Eintrag an eine Stelle zu       Wir lösen sie. Wenn sie auftreten, versu-
     erheblich verbessern. Vor allem profitieren   bekommen, dann kann ich nur ablehnend          chen wir alle, erst einmal das Problem
     davon immobile multimorbide Patienten,        sein. Denn die Digitalisierung soll uns die    selbst zu beheben. Das gelingt uns immer
     die nicht zum Facharzt gehen können.          Arbeit erleichtern und nicht verkompli-        häufiger. Nur selten brauchen wir zusätzli-
     Wenn ich demnächst den Dermatologen,          zieren. ITler müssten verpflichtend mehr       che Hilfe, in der Regel dann von unserem
     Chirurgen, Kardiologen oder Geriater          darüber wissen, was wir digital unterstützt    Software-Betreuer.
     mit dem Tablett-PC mit ins Heim nehmen        brauchen. Sie müssten unsere Arbeitspro-
     und dort vor Ort mit ihm den Patienten        zesse kennen, damit sie sinnvolle Pro-         Warum glauben Sie, hängt Deutschland
     anschauen und über das weitere ärztliche      grammanwendungen produzieren.                  im internationalen Vergleich zurück?
     Handeln beraten kann, ist das ein enormer
     Fortschritt, von dem nicht nur der Patient,   Ein weiterer Punkt sind die enormen            Sicher spielt eine große Rolle, dass wir
     sondern wir alle profitieren werden.          Kosten, die die Digitalisierung auch ver-      Deutschen Vieles perfekt machen wollen
                                                   ursacht. Aktuell müssen alle Praxen die        und deshalb Probleme identifizieren,
     Aber es gibt auch Zweifler: Inwiefern kön-    Umstellung auf Windows 10 realisieren,         deren Lösung vorab viel Zeit kostet und
     nen Sie Bedenken von Digitalisierungs-        für viel Geld – 20.000 Euro sollen ganz        manchmal auch gar nicht gelingt. Außer-
     gegnern in Bezug auf digitale Abhängig-       üblich sein – und mit hohem zeitlichem         dem verlangen wir Qualitätsnachweise
     keit nachvollziehen?                          Aufwand, in dem die Praxis geschlossen         für digitale Anwendungen, die zum Teil
                                                   bleiben muss. Ein weiterer Faktor sind die     nur mit hohem Zeit- und Geldaufwand
                                                   sehr vielen verschiedenen PVS-Lösungen.        erbracht werden können. Ganz wichtig ist
                                                   Wir haben in Deutschland circa 180 ver-        aber auch, dass wir eine solche Vielfalt
                                                   schiedene zertifizierte PVS-Systeme mit        an digitalen Lösungen haben, die nicht
                                                   unterschiedlichsten Leistungsangeboten,        miteinander kompatibel sind, sodass wir
                                                   die wegen fehlender Schnittstellen nicht       uns auch damit die gemeinsame Entwick-
                                                   miteinander Daten austauschen können,          lung erschweren. Nicht vergessen sollten
                                                   es fehlt die Interoperabilität. Vieles würde   wir auch die mangelnde Netzabdeckung
                                                   leichter werden, wenn IT-Lösungen in der       in unserem Land, die uns sogar in einer
                                                   Gesundheitsversorgung von Leistungs-           Großstadt wie Berlin immer wieder durch
                                                   erbringern und ITlern gemeinsam entwi-         fehlenden Internetzugang oder fehlendes
                                                   ckelt würden.                                  WLAN die digitale Arbeit erschweren.

                                                   Ein weiteres Thema, das viele Ärzte            Gibt es für Sie ethische Grenzen bei der
                                                   und Psychotherapeuten hemmt, ist der           Digitalisierung?
                                                   Datenschutz. Können Sie Zweifel vieler
                                                   Kollegen und vor allem der Patienten ver-      Wir sollten bei den vielen digitalen und
                                                   stehen, die Daten seien nicht sicher?          telemedizinischen Lösungen immer die
     Dr. Irmgard Landgraf (Jahrgang 1952)                                                         Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte
     ist niedergelassene Hausärztin und            Wenn man ganz einfache Regeln einhält,         des Patienten beachten. Die digitale Über-
     Fachärztin für Innere Medizin. Seit           wie beispielsweise mit Praxis-Rechnern         wachung eines Patienten, selbst wenn sie
     1993 führt sie ihre Praxis in Berlin. Sie     nicht im Internet surft, keine unbekann-       gut gemeint ist, darf die Intimsphäre eines
     ist außerdem Lehrärztin der Charité für       ten USB-Sticks an die Praxissoftware           Menschen nicht verletzen. Ein Mensch
     das Fach Allgemeinmedizin und Mit-            anschließt und keine Anhänge öffnet,           muss auch das Recht haben, dass Daten
     glied in zahlreichen Fachgesellschaf-         kann eigentlich bei den üblichen Sicher-       von ihm wieder gelöscht werden – zum
     ten und Verbänden, unter anderem ist          heitsmaßnahmen in der Praxis nichts            Beispiel ein Alkoholexzess oder Drogen-
     sie Vorstandsmitglied der Deutschen           passieren. Ich arbeite bereits seit 1993 mit   problem in jungen Jahren. Jeder Mensch
     Gesellschaft für Telemedizin. Für ihre        digitalen Akten – ich hatte noch nie ein       muss das Recht über seine Daten haben
     telemedizinische Betreuung eines              Sicherheitsproblem.                            und selbst bestimmen können, welche
     Pflegeheims wurde sie mehrfach                                                               Daten wem zur Verfügung gestellt werden.
     ausgezeichnet, unter anderem 2011             Wie geht denn ihr Praxispersonal mit den
     mit dem Innovationspreis von Springer         technischen Anforderungen um, wie lief
     Medizin und dem Telemedizinpreis              die technische Umstellung?                           Die Fragen stellte Birte Christophers.
     2014 der Deutschen Gesellschaft für
     Telemedizin. Für die Evaluation der           Meine Praxismitarbeiterinnen hatten kei-
     von ihr praktizierten digital vernetz-        ne Probleme, sich in die Softwarenutzung
     ten Pflegeheimversorgung erhielt sie          einzuarbeiten. Wir haben uns mit den
     vergangenes Jahr den Deutschen Preis          Jahren eine große Professionalität mit den
     für Patientensicherheit.                      digitalen Anwendungen erarbeitet, freuen
                                                   uns über jede hilfreiche Innovation und

14   KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020
MELDUNGEN AUS DEM BUND

 Organspende neu geregelt
 Der Bundestag hat die Organspende in Deutschland neu
 geregelt. Bei der Abstimmung votierten 432 Abgeordnete
 für den Vorschlag der erweiterten Entscheidungslösung,
 200 dagegen, 20 Abgeordnete enthielten sich. Organ-
 spenden sind auch zukünftig nur mit ausdrücklicher
 Zustimmung erlaubt. Neu hingegen ist ein Online-Regis-
 ter zur schnellen Feststellung der Spendenbereitschaft.        Videosprechstunden öfter
 Zudem soll mindestens alle zehn Jahre beim Abholen
 eines Ausweises auf das Thema Organspende hingewie-
                                                                möglich
 sen werden. Außerdem sollen Hausärzte künftig dafür
 bezahlt werden, dass sie Patienten beraten. Eingebracht        Die Spitzen von Kassenärztlicher Bundesvereinigung
 hat den Entwurf eine Gruppe um Grünen-Chefin Annalena          (KBV) und GKV-Spitzenverband einigten sich auf eine
 Baerbock. Bei den Abgeordneten keine Mehrheit erhielt          Anpassung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes
 die doppelte Widerspruchslösung von Gesundheitsminis-          (EBM) im Bereich der Videosprechstunde. Die neuen
 ter Jens Spahn. Diese Lösung sah vor, dass zunächst alle       Regelungen traten am 1. Oktober 2019 in Kraft. Patienten
 Bundesbürger potentielle Organspender sein sollten, es         können Ärzte auch dann per Video konsultieren, wenn
 sei denn, sie hätten einer Spende widersprochen. (fun)         sie noch nie in deren Praxis in Behandlung waren. Video-
                                                                sprechstunden sind somit auch bei „neuen“ Patienten
                                                                abrechenbar und damit öfter möglich. Neu ist auch, dass
                                                                Psychotherapeuten Videosprechstunden anbieten dür-
                                                                fen. Sie können diese nun einfacher in den Praxisalltag
                                                                integrieren.

                                                                Ebenfalls seit vergangenem Oktober zahlen die gesetz-
                                                                lichen Krankenkassen eine Anschubfinanzierung an
                                                                Ärzte und Psychotherapeuten, die Videosprechstunden
                                                                durchführen. Für bis zu 50 elektronische Visiten im
                                                                Quartal gibt es zehn Euro je Sprechstunde zusätzlich
                                                                – insgesamt bis zu 500 Euro. Die Fördermöglichkeit gilt
                                                                zunächst für zwei Jahre. Voraussetzung für den Zuschlag
                                                                ist, dass die Praxis mindestens 15 Videosprechstunden
                                                                im Quartal durchführt. (fun)

 Kommentierungsphase
 hat begonnen
 Seit dem 16. Januar kann als erstes medizinische Informa-
 tionsobjekt (MIO) der elektronische Impfpass kommen-
 tiert werden. Jeder Interessierte hat die Möglichkeit, seine
 Anmerkungen auf einer extra für dieses Verfahren ein-
 gerichteten Webseite einzureichen. In der ersten Woche
 waren bereits 48 Kommentare zur Definition eingegan-
 gen. Ziel ist es, verfügbare Expertisen und Kompetenzen
 möglichst breit und transparent in den Entstehungspro-
 zess des jeweiligen MIOs einzubinden, bereits vor dem
 Verfahren zur Benehmensherstellung und damit einer
 abschließenden Definition. Nach dem elektronischen
 Impfpass werden im Verlauf dieses Jahres weitere MIOs in
 die Kommentierungsphase starten. Diese ist zunächst für
 jeweils sechs Wochen angesetzt. Die KBV ist gesetzlich
 dafür zuständig, die notwendigen Festlegungen für die
 Inhalte der elektronischen Patientenakte zu erarbeiten,
 muss jedoch mit allen relevanten Akteuren im deutschen
 Gesundheitssystem das Benehmen herstellen. (fun)

                                                                                                 KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020   15
THEMA

     116117 rund um die Uhr
     24 Stunden erreichbar sein – das ist eine der Neuerungen der 116117. Unter der Nummer erhalten
     Patienten nun außerdem eine Ersteinschätzung zu ihren Beschwerden. Die Elfen-Kampagne geht im
     Frühling in die nächste Runde.

     D      ie wachsende Popularität der
            Service-Nummer 116117 zeigt
            sich an zwei Zahlen: Kannten im
     Jahr 2013 erst vier Prozent die Nummer,
     sind es im Jahr 2019 schon 20 Prozent.
                                                         zu niedergelassenen Ärzten umgeleitet,
                                                         die Notrufstellen damit deutlich entlastet.

                                                         Ob die KVen der jeweiligen Bundeslän-
                                                         der die Terminservicestelle selbst, wie in
                                                                                                       Langzeitanalyse, um die künftige Nut-
                                                                                                       zungsintensität genau abschätzen zu kön-
                                                                                                       nen. Aktuell rechnen die Kassenärztlichen
                                                                                                       Vereinigungen mit Ausgaben zwischen
                                                                                                       einer halben und drei Millionen Euro für
     Die Kassenärztliche Bundesvereinigung               Schleswig-Holstein, oder durch externe        das laufende Jahr.
     (KBV) folgt mit dem Ausbau dem Termin-              Dienstleister verwalten lassen, wie etwa
     service- und Versorgungsgesetzes (TSVG),            die KV Bayerns, bleibt ihnen überlassen.      Zu Jahresbeginn brachte die Einführung
     das im Mai 2019 in Kraft getreten ist, den          Die Verfügbarkeit der 116117 liegt bereits    des standardisierten Ersteinschätzungs-
     Forderungen von Gesundheitsminister                 bei 99,97%. Dies bedeutet eine Erreichbar-    verfahrens (SmED) noch kleinere tech-
     Jens Spahn.                                         keit, die der Notrufnummer 110 in nichts      nische Herausforderungen mit sich, was
                                                         nachsteht. „Die KVen haben die Anforde-       auch an der Umsetzung innerhalb kür-
     Der erweiterte Patientenservice stellt die          rungen von Minister Spahn gut gelöst. Das     zester Zeit gelegen hat. Diese sind mittler-
     Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen)               System ist durchdacht und vorbildlich um-     weile behoben. Die nächsten Schritte sind
     jedoch auch vor große Herausforderun-               gesetzt“, so der KBV-Vorstandsvorsitzende     die Weiterentwicklung des SmED-Systems
     gen: Ihre Leitstellen müssen dauerhaft              Dr. Andreas Gassen.                           für Rettungsdienstmitarbeiter im mobilen
     erreichbar sein und geschultes Personal                                                           Einsatz und eine App für Patienten zur
     beschäftigen. Zu den neuen Services                 Durchschnittlich arbeiten zwischen 30         digitalen Selbsteinschätzung.
     gehören neben einer Ersteinschätzung,               und 100 Angestellte in den Call-Centern,
     medizinische Handlungsempfehlungen                  je nach Größe und Bedarf. Die KV Bay-         In einer zweiten Kampagnen-Runde
     oder Weiterleitung zu einer geöffneten              erns unterhält, in Zusammenarbeit mit         werden die zwei Elfen in diesem Jahr die
     Praxis, auch Terminvereinbarungen. Die              Kommunikationsdienstleister Gedikom,          neuen Dienste bewerben.
     Terminvermittlung ist telefonisch oder              mit 300 Mitarbeitern die größte Leitstelle.
     online über den eTerminservice möglich.             Auch die zu erwartenden Unterhaltskosten                               Birte Christophers
     Bereits drei Viertel aller Anrufer werden           fallen unterschiedlich aus. Noch fehle eine

     Im August 2019 startete die bundesweite Kampagne mit den Elfen.

16   KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020
Reform der Notfallversorgung:
KBV begrüßt Referentenentwurf
Der von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vorgelegte Entwurf zur Notfallgesetzgebung wird
von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) grundsätzlich begrüßt. Auch wenn „einzelne
Regelungen einer Überarbeitung“ bedürfen, gehe der Entwurf „in die richtige Richtung“, betont die
KBV in ihrer Stellungnahme.

I  nsbesondere die weiterhin starke Rolle
   des KV-Systems bei der notdienstlichen
   Versorgung der gesetzlich Krankenver-
sicherten in Deutschland, stößt bei der
KBV auf Zustimmung. So bleibt vor allem
der Sicherstellungsauftrag der Kassen-
ärztlichen Vereinigungen (KVen) für die
ambulante notdienstliche Versorgung
erhalten. Eine neue Struktur – mit damit
notwendigerweise verbundenen Schnitt-
stellenproblematiken – werde vermieden.

Die KBV unterstützt zudem das Ziel, die
unterschiedlichen Angebote der Akut- und
Notfallversorgung zu verbinden. Versi-
cherte würden durch die gemeinsamen
Notfallleitsysteme (116117 und 112) und die
integrierten Notfallzentren (INZ) sofort in
die richtige Versorgungsebene gelenkt,
heißt es in der Stellungnahme.

Regionale Angebote erhalten
                                              Stellung bezieht die KBV auch zu mögli-     Gesetzentwurf könnte der KBV zufolge so
Einige Klarstellungen fordert die KBV         chen Einsatzzeiten. Aus Sicht der Körper-   interpretiert werden, dass die notdienstli-
bezüglich des geplanten Versorgungsan-        schaft muss in dem Gesetz klar geregelt     che Versorgung auch durch die Haushalte
gebotes. So müsse es den KVen weiterhin       sein, dass der aufsuchende Bereitschafts-   der KVen und damit über die Verwaltungs-
möglich sein, fachspezifische Leistungen,     dienst nur zu den sprechstundenfreien       kostenbeiträge der Vertragsärzte finanziert
zum Beispiel einen augenärztlichen Bereit-    Zeiten verpflichtend vorzuhalten ist.       werden sollen.
schaftsdienst, anzubieten. Das INZ werde      Vertragsärzte könnten tagsüber nicht in
solche Leistungen nicht erbringen, heißt      ihrer Praxis und in einem INZ tätig sein,   Spahn hatte 2019 einen Diskussionsent-
es in der Stellungnahme weiter. Zudem         zumal Patienten mit akuten Erkrankungen     wurf zur Notfallversorgung präsentiert.
müssten auch Portal- oder Notdienstpra-       zu den Sprechstundenzeiten primär eine      Mit dem Referentenentwurf soll jetzt die
xen weiterbetrieben werden dürfen.            Vertragsarztpraxis aufsuchen sollten.       Umsetzung folgen. Das Gesetz soll bis
                                                                                          Ende 2020 verabschiedet werden. Danach
„Wenn wir eine KV haben, die großstädti-                                                  regelt der Gemeinsame Bundesausschuss
sche Bezirke und ländliche Bereiche hat,                                                  die Details.
dann werden die eine andere Lösungsop-
tion für den ländlichen Raum anbieten         Vollständige Finanzierung noch                                               Tom Funke
müssen als für die Großstadt, und ich         ungeklärt
glaube, dafür muss der Gesetzesentwurf
dann auch die notwendige Beinfreiheit in      Klärungsbedarf besteht aus Sicht der Ärz-      Die Stellungnahme der KBV finden
der Ausgestaltung auch der INZs geben“,       tevertretung vor allem noch im Hinblick        Sie hier: www.kbv.de/462156
sagte der Vorstandsvorsitzende der KBV        „auf eine vollständige Finanzierung der
Dr. Andreas Gassen.                           Leistungsangebote“. Die Formulierung im

                                                                                                         KBV KLARTEXT > 1. AUSGABE 2020   17
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