Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird

 
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Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird
1. QUARTAL   DAS MAGAZIN DER

2019         KASSENÄRZTLICHEN
             BUNDESVEREINIGUNG

Die Zeit
verrinnt
Warum die
ärztliche Arbeitszeit
weniger wird

                                                                   KBV-Vors
                                                                  positionie tand
                                                                            rt sic
                                                                    zum TSVG h

   Medizinstudierende              gematik                      Gesundheit anderswo
Allgemeinmedizin wieder          Geschäftsführer Alexander   Schweden: Warten auf
beliebter                        Beyer im Interview          den Facharzt
Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird
Editorial

    KBV Klartext
    Das Magazin der Kassenärztlichen
    Bundesvereinigung

    Erscheinungsweise:                                              Liebe Leserin, lieber Leser,
    vierteljährlich

    Herausgeber:                                                     nach monatelanger Debatte ist es nun beschlossene Sache:
    Kassenärztliche Bundesvereinigung                                Der Bundestag hat am 14. März das Terminservice- und Ver-
    Dr. Andreas Gassen (Vorstandsvor-
    sitzender der KBV, V.i.S.d.P.)                                   sorgungsgesetz (TSVG) verabschiedet. Gesundheitsminister
                                                                     Spahn hat mit diesem legislativen Koloss seinen Ehrgeiz unter
    Redaktion:
    Alexandra Bodemer (Chefredakteurin),                             Beweis gestellt. Immerhin: Er ist der erste Minister, der den
    Birte Christophers, Tabea Breidenbach,
    Tom Funke, Filip Lassahn
                                                   Grundsatz „mehr Geld für mehr ärztliche Leistungen“ in einem Gesetz verankert
                                                   und sogar mit konkreten Zahlen hinterlegt. Abgesehen davon liegen jedoch
    Redaktionsbeirat:
    Dr. Roland Stahl
                                                   – wie so oft – Licht und Schatten eng beieinander, wie Sie ab Seite 8 lesen
                                                   können.
    Redaktionsanschrift:
    Kassenärztliche Bundesvereinigung
    Redaktion Klartext                             Eine Tatsache kann auch das TSVG nicht ändern: Die Zeit, die Ärzten insgesamt
    Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin
    Tel.: 030 4005-2205                            für ihre Arbeit zur Verfügung steht, nimmt stetig ab – wie auch die Arztzeituhr
    Fax: 030 4005-2290                             der KBV zeigt. Warum das so ist und was dagegen unternommen werden müss-
    E-Mail: redaktion@kbv.de
    www.kbv.de                                     te, lesen Sie in unserem Titelthema (ab Seite 4).
    Gestaltung:
    KloseDetering, Hamburg                         Ein Grund für die schwindende Arztzeit ist, dass immer mehr Ärzte in einem
                                                   zeitlich geregelten Anstellungsverhältnis arbeiten wollen, statt 50 Stunden und
    Druck:
    Druckerei Kohlhammer, Stuttgart                mehr, wie es insbesondere ältere Praxisinhaber und -inhaberinnen noch tun.
                                                   Die kommende Ärztegeneration legt Wert auf Work-Life-Balance, wie unser ak-
    Fotos:
    Titel: © shutterstock/koya979/LightField       tuelles Berufsmonitoring Medizinstudierende einmal mehr zeigt. Erfreulich ist:
    Studios/KloseDetering > S. 2: © Lopata/        Das Interesse an der Allgemeinmedizin steigt wieder (ab Seite 12).
    axentis.de > S. 3: © shutterstock/Evellean/
    KloseDetering; Tabea Breidenbach/KBV >
    S. 4: © shutterstock/Evellean/KloseDete-
    ring > S. 7: © Tabea Breidenbach/KBV > S. 8:
                                                   Schweden gilt für viele Ärzte gerade in Bezug auf die Arbeitszeiten als Schla-
    © Amber Media > S. 9: © picture alliance/      raffenland. Dass in einem der Pionierländer der Telemedizin jedoch nicht alles
    Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/dpa
    > S. 10: © Tabea Breidenbach/KBV > S. 11: ©
                                                   rosig ist, lesen Sie in unserer Rubrik „Gesundheit anderswo“ (ab Seite 24).
    BMG/Schinkel > S. 13: © rogerphoto/stock.      Wartezeiten auf einen Facharzttermin von drei Monaten bis zu einem halben
    adobe.com > S. 14: © Tabea Breidenbach/
    KBV > S. 16: © gematik > S. 17: © KVWL >       Jahr sind im hohen Norden völlig normal!
    S. 18: © iStock.com/iMrSquid > S. 19: ©
    iStock.com/KatarzynaBialasiewicz > S.
    20: © iStock.com/SeventyFour > S. 21: ©        Ich wünsche Ihnen eine informative und anregende Lektüre.
    picture alliance/Waltraud Grubitzsch/dpa-
    Zentralbild/ZB > S. 22: © Liese; Häusling >
    S. 23: © Wölken; Montag > S. 24: © iStock.     Ihr Dr. Stephan Hofmeister,
    com/Rawf8 > S. 25: © KloseDetering > S. 26:    Stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes
    © picture alliance/TT NEWS AGENCY; iStock.
    com/Alexander Farnsworth > S. 27: © KBV

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2   KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019
Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird
Inhalt

Titel                                        Themen                                 Interview
                                             8    TSVG: Neues Gesetz kommt als      14   Alexander Beyer:
4 Die Zeit verrinnt:                              „Omnibus mit Anhänger“                 „Wir leisten Pionierarbeit“

Warum die ärztliche                          12   Studierendenbefragung:
Arbeitszeit weniger                               Medizinischer Nachwuchs weiß,
                                                  was er will
wird                                                                                Gesundheit anderswo
                                             18   Neue Reform: Psychotherapie
                                                  wird Studienfach                  24   Schweden: Lange Wege
                                                                                         zum Spezialisten
                                             21   Masterplan Medizinstudium 2020:
                                                  KBV fordert schnelle Umsetzung

                                             22   Bericht aus Brüssel: Positionen
                                                  vor der Europawahl                Kurz gefasst
                                                                                    11   Meldungen aus dem Bund

                                                                                    17   Meldungen aus den Ländern

                                                                                    27   Angeklickt und Aufgeblättert

                KBV-Vorstandsvorsitzender
            Dr. Andreas Gassen (links) und
               Bundesgesundheitsminister
        Jens Spahn bei einer Veranstaltung
                                zum TSVG.

                                                                                                   KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019   3
Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird
TITEL

    Die Zeit wird knapp
    Eine der großen Herausforderungen in der gesundheitlichen Versorgung
    ist der Fachkräftemangel. Doch nicht nur das medizinische Fachpersonal fehlt,
    vor allem die Zeit, die ein Arzt für seine Patienten zur Verfügung hat, wird weniger.
    Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) will der Gesetzgeber Lösungen schaffen.
    Doch das Vorhaben könnte die Lage zusätzlich verschlimmern.

4   KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019
Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird
S       eit Jahren nimmt die Arztzeit, also
        die Stunden, die niedergelassenen
        Ärzten für ihre Arbeit zur Verfü-
gung stehen, ab. Die Ursachen dafür sind
vielfältig: Neben der wachsenden Bürokra-
                                               hestand gehen. Die Nachfolge für die Praxen
                                               gestaltet sich oft schwierig.

                                               Gerade die ältere Generation der Nieder-
                                               gelassenen arbeitet mehr Stunden als ihre
                                                                                             insbesondere die Tätigkeit in eigener Praxis
                                                                                             zu fördern. „Ein Problem bleibt jedoch
                                                                                             bestehen: Selbst wenn wir ab sofort die Zahl
                                                                                             der Studienplätze in der Humanmedizin
                                                                                             signifikant erhöhen, kommen die jungen
tie in den Praxen spielen auch veränderte      jüngeren Kollegen. Scheiden die Älteren       Ärzte frühestens in zwölf Jahren in den
Arbeitszeitmodelle eine entscheidende          aus der Versorgung aus, gehen dem System      Praxen an“, betont Dr. Stephan Hofmeister,
Rolle. Die Work-Life-Balance gewinnt auch      vor allem jene Ärzte verloren, die deutlich   stellvertretender Vorsitzender der KBV.
bei Ärzten zunehmend an Bedeutung –            über 50 Stunden pro Woche arbeiten. Die       Die aktuelle Studierendenbefragung (siehe
immer mehr Mediziner arbeiten angestellt       nachfolgende Generation kann nur einen        auch Seite 12/13) zeigt, dass viele junge Me-
und in Teilzeit. Und auch der demogra-         Teil der bisherigen Ärzteschaft ersetzen –    diziner durch – tatsächliche oder vermeint-
fische Wandel schließt die Ärzte mit ein:      das Versorgungsangebot nimmt insgesamt        liche – negative Rahmenbedingungen von
Der Anteil der Niedergelassenen über 65        ab. Die Absolventenzahl in der Medizin        einer Niederlassung abgeschreckt werden.
Jahre steigt – und hat zur Folge, dass in      steigt zwar seit Jahren, neue Studienplätze   Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und
den kommenden Jahren zahlreiche Praxen         kommen hinzu – vor allem durch private        eine Tätigkeit als Angestellte stehen hinge-
einen Nachfolger suchen werden.                Hochschulgründungen. Das Studienplatzan-      gen hoch im Kurs. „Diese gesellschaftlichen
                                               gebot kann aber mit der oben beschriebenen    Trends machen auch vor den jungen Medizi-
Die Versorgung müsse deshalb so orga-          Entwicklung nicht mithalten. Hier bedarf es   nern nicht halt. Wir müssen alles dafür tun,
nisiert werden, dass die verbleibenden         weitreichender Maßnahmen in der medizi-       ihnen attraktive Rahmenbedingungen auch
Kräfte und deren Zeit so effizient wie mög-    nischen Aus- und Weiterbildung sowie in       und gerade als potenzielle Praxisinhaber zu
lich eingesetzt werden können, sagt Dr.        der späteren Berufsausübung mit dem Ziel,     schaffen“, betont Hofmeister.               >
Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
(KBV). „Wir sehen heute schon, dass der
                                                  ENTWICKLUNG DER ANZAHL ANGESTELLTER ÄRZTE
Fachkräftemangel auch in der ambulanten
Versorgung voll durchschlägt. Und das be-
trifft nicht nur die Ärzte, sondern ebenso
                                                   35.000
alle anderen Fachberufe: Praxispersonal,                                                                                    31.477
Kranken- und Altenpflege, Rettungssanitä-          30.000
ter, Dispatcher in den Notrufzentralen und
so weiter. Wir müssen mit den personellen          25.000
Ressourcen sehr bewusst umgehen“, so
Gassen.                                            20.000

Die Vorgaben des TSVG in der bisherigen            15.000
Form würden dieses Ziel aber nur mit
                                                   10.000
einem erheblichen Kollateralschaden
erreichen, mahnt der KBV-Vorstand. Es
                                                    5.000
werde die Rahmenbedingungen für nie-                          5.623
dergelassene Ärzte immer unattraktiver                   0
machen, weil es massiv in Praxisabläufe                      2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
eingreift und damit in die freiheitliche Be-
rufsausübung der niedergelassenen selbst-
ständigen Ärzte. Das Gesetz werde keine
zusätzliche Arbeitszeit schaffen, sondern
                                                  ENTWICKLUNG DER ANZAHL DER PRAXEN (EINZEL- UND GEMEINSCHAFTSPRAXEN)
– auch durch mehr Bürokratie – die Zeit
sogar weiter künstlich verknappen. Im
schlimmsten Falle könnte es dazu führen,
dass sich ältere Praxisinhaber früher als          95.000
geplant aus der Versorgung zurückziehen.                         92.213
                                                   90.000

                                                   85.000
Alternde Ärzteschaft
                                                   80.000
In den vergangenen Jahren wuchs der Anteil
                                                                                                                            79.049
der Ärzte über 65 stetig an, 2017 lag er bei
10,3 Prozent. Vor allem ländliche Regionen         75.000
sind stark von der Entwicklung betroffen:
In über der Hälfte der Planungsbereiche ist        70.000
bereits mehr als jeder dritte Hausarzt über                  2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
60 Jahre alt. Ein Großteil der Ärzteschaft
wird in den kommenden Jahren in den Ru-

                                                                                                              KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019   5
Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird
TITEL

                                                           psychotherapeuten sind das Rückgrat
                                                           der Versorgung. Denn sie sind es, die
    Mehr angestellte Ärzte                                 als Selbstständige auch dann noch eine                  Digitalisierung ist nicht die
                                                           Schippe mehr drauflegen, wenn sie längst                Lösung
    Der Trend zur Anstellung gerade bei                    am Limit arbeiten. Sie sind diejenigen, die
    jüngeren Ärzten ist offensichtlich: Waren              auch noch die letzten Effizienzreserven                 Oft sind es die Rahmenbedingungen, die
    im Jahr 2017 nur rund 5.600 Ärzte in der               des Systems aktivieren können. Und sie                  Ärzte von einer Niederlassung abhalten:
    vertragsärztlichen Versorgung angestellt,              sind vor allem diejenigen, an denen jede                Bürokratielast, Angst vor drohenden
    so waren es zehn Jahre später fast sechs               Änderung des Sozialgesetzbuches ansetzt.                Regressforderungen oder finanzielle
    Mal so viele, nämlich 31.477. „Für junge               Nur sie können die Vorgaben des Gesetzge-               Unsicherheit. Vor allem die steigende
    Mediziner, die frisch von der Uni kommen,              bers überhaupt adäquat umsetzen. Ohne                   Bürokratie kostet die Ärzte viel Zeit. Laut
    ist die Anstellung ein guter Einstieg. Und             die selbstständigen Vertragsärzte geht es               Bürokratieindex 2018 bringen Ärzte und
    wir brauchen angestellte Ärzte auch drin-              nicht. Wer sie vergrault, führt die Versor-             Psychotherapeuten in der Woche 7,4
    gend. Aber wir sollten schauen, dass wir               gung in den Kollaps“, warnt Hofmeister.                 Stunden für Verwaltungstätigkeiten auf.
    die Selbstständigkeit wieder als attraktives                                                                   Zeit, die für die Behandlung der Patienten
    Ziel ausgestalten und den Nachwuchs wie-               Die jüngste Erhebung des ZI-Praxis-Panels               wegfällt. Potenzial, um die Bürokratielast
    der mehr für die Niederlassung gewinnen“,              unterstreicht dies. So lag im Jahr 2017 die             zu verringern, liegt in der Digitalisierung.
    so Gassen. Die Zahl der Arztpraxen ist                 durchschnittliche Arbeitszeit der angestell-            „Doch Digitalisierung allein kann das Pro-
    in den vergangenen zehn Jahren um 14,3                 ten Ärzte bei rund 23 Stunden pro Woche                 blem der zurückgehenden Arztzeit nicht
    Prozent zurückgegangen. Dies führt dazu,               – etwas weniger als die Hälfte der durch-               lösen und den Mangel an Ärzten nicht
    dass an weniger Standorten eine ambulan-               schnittlichen Arbeitszeit eines selbststän-             auffangen“, betont Dr. Thomas Kriedel,
    te Versorgung angeboten wird. Im Bereich               digen Arztes (siehe Grafik unten). Selbst               Vorstandsmitglied der KBV. Für Menschen
    der hausärztlichen Versorgung ist die Zahl             in Vollzeit angestellte Ärzte erbringen nur             mit komplexen chronischen Erkrankun-
    der Niederlassungen in den vergangenen                 etwa 80 Prozent der Leistung eines selbst-              gen sei das persönliche Gespräch mit dem
    zehn Jahren um etwa acht Prozent zurück-               ständigen Vertragsarztes. Im Klartext: Die              Arzt sowieso weitaus wichtiger als jede
    gegangen.                                              derzeit rund 31.500 Angestellten können                 schicke App auf dem Smartphone.
                                                           maximal 25.000 Vertragsärzte mit einem
    Dabei sind es gerade die Selbstständigen,              vollen Versorgungsauftrag ersetzen. Durch                                         Birte Christophers
    die in der medizinischen Versorgung                    den Trend zur Anstellung – vor allem auch
    fehlen: „Die in eigener Praxis niederge-               in Teilzeit – verringert sich die Arztzeit
    lassenen Vertragsärzte und Vertrags-                   rapide.

        ARBEITSZEIT: DEUTLICHE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN ANGESTELLTEN UND SELBSTSTÄNDIGEN ÄRZTEN

                    25%
                                                                                                                                           angestellte Ärzte

                                                                                                                                           Inhaber
                    20%

                    15%
           Anteil

                    10%

                    5%

                    0%
                                                                                                                                 Stunden pro Woche
                          5
                               10

                                        5

                                                   0

                                                   5

                                                   0

                                                   5

                                                   0

                                                   5

                                                   0

                                                   5

                                                   0

                                                   5

                                                                                                                        5
                       0-

                                      -1

                                                -2

                                                -3

                                                -4

                                                -5

                                                -6

                                                                                                                     >6
                                                -2

                                                -3

                                                -4

                                                -5

                                                -6
                             5-
                                    10

                                             50
                                             30

                                             40
                                             20

                                             45
                                             25

                                             60
                                             35
                                           15

                                             55

    Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi): Verteilung der ärztlichen Tätigkeiten (Wochenarbeitsstunden)
    von Inhabern und angestellten Ärzten im Jahr 2016. Quelle: Zi-Praxis-Panel 2017, ungewichtete Ergebnisse.

6   KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019
Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird
DIE UHR TICKT …

Seit Ende Januar steht die Arztzeituhr im Foyer des KBV-          Zwischen 2010 bis 2017 lag der Rückgang der Arztzeit bei
Gebäudes in Berlin. Die 3 x 2,5 Meter große Uhr veranschau-       11,8 Prozent. Wenn sich diese Entwicklung von 2017 auf 2025
licht das Problem der sinkenden verfügbaren jährlichen            linear fortsetzt, führt das zu einer Jahresarbeitszeit von
Arztzeit. Sie ist auch ein deutliches Zeichen Richtung Politik:   16.763.822.912 Minuten im Jahr 2025. Das ist ein Minus von
Die Zeit läuft langsam, aber stetig ab. Diese Botschaft möch-     2.243.865.898 Minuten und entspricht einem Verlust von
te die KBV durch den Countdown veranschaulichen und zu-           21.249 VZÄ.
gleich vor der anhaltenden negativen Entwicklung warnen.
                                                                  Das heißt: Pro Sekunde gehen 7,9 Minuten Arztzeit auf der
So funktioniert die Arztzeituhr                                   Arztzeituhr verloren. Jede Minute verschwinden somit 474
                                                                  Minuten auf der Uhr, die ein Arzt an Arbeitszeit aufbringt.
2017 gab es 162.878 niedergelassene Ärzte und Psycho-             Etwa alle 4 Stunden verliert die Versorgung somit ein VZÄ
therapeuten (ohne für die ambulante Versorgung ermächtig-         eines Arztes oder Psychotherapeuten.
te sowie sonstige Ärzte und Psychotherapeuten) in Teil- und
Vollzeit. Selbstständig tätige Ärzte in Vollzeit arbeiten im      Wie tickt die Arztzeituhr?
Schnitt 52 Stunden pro Woche, bei angestellten geht die KBV
von 38,5 Stunden pro Woche aus.                                   Annahme:
                                                                  › Die Arztzahlen (Köpfe) von 2025 entsprechen
Beruhend auf der Annahme, dass eine Person 40 Stunden in            denen von 2017.
der Woche arbeitet (Vollzeitäquivalent, VZÄ), lag die Anzahl
der VZÄ Anfang 2017 bei 179.997.                                  › Die Entwicklung des Teilnahmeumfangs von 2017
                                                                    auf 2025 entspricht der Entwicklung von 2010 auf 2017
2017 lag damit die verfügbare Jahresarbeitszeit der                 in Prozentpunkten (hier Rückgang um 11,8 %;
niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten bei                    konservative Rechnung).
19.007.688.810 Minuten. Die Entwicklung geht in eine Rich-
tung: Der Zuwachs an teilzeittätigen Ärzten und die Abnah-        › Der mögliche Ruhestand von Ärzten über 65 Jahren und
me der selbstständigen Ärzte führen zu einer sinkenden              Mehrbedarf durch demografische Veränderung der
Produktivität. Diesen Rückgang zeigt die Arztzeituhr auf.           Bevölkerung sind nicht einbezogen.

                                                                                                        KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019   7
Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird
TITEL

       INFO-AKTION ZUM TSVG

                                                                         Anlässlich der öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Ge-
                                                                         sundheit zum Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG)
                                                                         am 16. Januar hatte die KBV eine Informationsaktion gestar-
                                                                         tet. Diese sollte im Vorfeld der Anhörung über die Probleme
                                                                         informieren, die das neue Gesetz mit sich bringen würde.

                                                                         Zwei Trucks mit LED-Leinwänden, auf denen unterschiedliche
                                                                         Botschaften aufleuchteten, fuhren durch das Regierungsviertel.

                                                                         Hintergrund der Aktion: Die immer unattraktiver werdenden
                                                                         Rahmenbedingungen für niedergelassene Ärzte und die
                                                                         Eingriffe in die Praxisabläufe. Mit dem TSVG greift die Politik
                                                                         massiv in die Praxisstrukturen und -abläufe ein – und damit
                                                                         in die freiheitliche Berufsausübung der niedergelassenen
                                                                         selbstständigen Ärzte. Durch das Gesetz wird keine zusätz-
                                                                         liche Arbeitszeit geschaffen, sondern es verknappt diese
                                                                         künstlich, auch durch mehr Bürokratie. Schon jetzt zeigen
                                                                         verschiedene Studien, dass Ärztinnen und Ärzte im Durch-
                                                                         schnitt 60 Tage pro Jahr für Bürokratie aufbringen müssen.
                                                                         Zeit, die für die Patientenbehandlung fehlt.

    Omnibus mit Anhänger
    Nun ist es da: Das Terminservice- und Versorgungsgesetz, kurz TSVG. Das Prestigeprojekt
    von Bundesgesundheitsminister Spahn war lange umstritten – und ist es teilweise immer
    noch. Am Tag nach der Verabschiedung durch den Bundestag zog der KBV-Vorstand auf der
    Vertreterversammlung seiner Organisation ein Fazit zu dem monatelangen Ringen.

    A       m 14. März um etwa 10:15 Uhr war
            es vollbracht. Aus dem Plenarsaal
            des Deutschen Bundestages stieg
    sprichwörtlich weißer Rauch: Die Ab-
    geordneten hatten mit der Mehrheit der
                                                  Minister Jens Spahn in den vergangenen
                                                  Monaten nicht müde wurde zu behaupten,
                                                  wird sich erst noch zeigen müssen. Am
                                                  Ende jedenfalls war das Werk so umfang-
                                                  reich und kleinteilig, dass Dr. Andreas
                                                                                                Jugendärzten vermitteln. Ebenfalls mit
                                                                                                Inkrafttreten des TSVG wird die Mindest-
                                                                                                sprechstundenzeit für gesetzlich Versi-
                                                                                                cherte von 20 auf 25 Stunden angehoben.
                                                                                                Hausbesuche werden angerechnet.
    Regierungskoalition das TSVG in zweiter       Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, es     Spätestens zum 1. Januar 2020 soll die
    und dritter Lesung verabschiedet. Dem         als „Omnibus mit Anhänger“ bezeichnete.       heutige bundesweite Rufnummer des ärzt-
    Beschluss vorausgegangen waren mona-                                                        lichen Bereitschaftsdienstes, 116117, rund
    telange, teils hitzige Debatten in Politik,                                                 um die Uhr erreichbar sein. Patienten mit
    Ärzteverbänden und Selbstverwaltung.                                                        akuten Beschwerden sollen mithilfe eines
    In Rom verkündet der weiße Rauch die          Was passiert wann?                            standardisierten Ersteinschätzungsver-
    erfolgreiche Wahl eines neuen Papstes,                                                      fahrens in die richtige Versorgungsebene
    begleitet von dem lateinischen Ausruf         Ende April soll das Gesetz in Kraft treten,   vermittelt werden. Also entweder in eine
    „habemus Papam“ – wir haben einen Papst.      für bestimmte Regelungen in Bezug auf         Praxis, zum Bereitschaftsdienst, in eine
    Nun also „habemus TSVG“. Der offizielle       die ambulante Versorgung gelten spezielle     Notfallambulanz im Krankenhaus oder an
    Name des Gesetzes lautet „Gesetz für          Fristen. So sollen etwa die Terminservice-    den Rettungsdienst. Unter der 116117 sollen
    schnellere Termine und bessere Ver-           stellen der Kassenärztlichen Vereinigun-      auch die Terminservicestellen erreichbar
    sorgung“. Ob es allerdings wirklich so        gen (KVen) bereits ab Inkrafttreten des       sein und Arzttermine innerhalb von vier
    segensreich für die Gesundheitsver-           Gesetzes neben fachärztlichen Terminen        Wochen vermitteln.
    sorgung in Deutschland sein wird, wie         auch solche bei Haus- sowie Kinder- und

8   KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019
Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird
Alle Behandlungsfälle, welche über die
Terminservicestelle zustande kommen,
erhalten die Ärzte künftig extrabudgetär
vergütet. Dies gilt ab Ende April. Zusätz-
lich erhalten die Ärzte für entsprechend
vermittelte Patienten Zuschläge, gestaffelt
je nach Wartezeit. Diese Regelung soll ab
August gelten. Ebenfalls ab August wird
die „offene Sprechstunde“ bei grund-
versorgenden Fachärzten verpflichtend
eingeführt. Welche Fachgruppen genau
dies betrifft, müssen die KBV und der
Spitzenverband der gesetzlichen Kranken-
versicherung noch festlegen. Für Patienten,
die erstmalig in eine Praxis kommen be-
ziehungsweise zwei Jahre lang nicht dort
waren, werden die Leistungen ebenfalls
extrabudgetär bezahlt. Auch das wird
jedoch nur für bestimmte Arztgruppen
gelten.

                                                                                 Am 14. März und damit später als geplant stimmte der Bundestag
                                                                                      für das Terminservice- und Versorgungsgesetz (Archivbild).

Legislativer Kraftakt

Ursprünglich sollte das Gesetz bereits im     In den folgenden Wochen zeigte sich, dass       echte Entbudgetierung. „Bisher waren die
März 2019 in Kraft treten. Doch der Gegen-    nicht nur die niedergelassenen Ärzte und        Budgets und die Leistungsbegrenzung
wind, vor allem aus der Ärzteschaft, gegen    Psychotherapeuten Diskussionsbedarf             siamesische Zwillinge. Jetzt sind mehr
den Referentenentwurf war so groß, dass       hatten. Allein in den Gesetzesentwürfen         Leistungen ausdrücklich gewünscht, aber
der Minister schließlich ein Angebot          vom 25. auf den 28. Februar gab es mehr         das Budget bleibt“, monierte Gassen.
machte. Ende Januar fand in Berlin eine       als 850 Einzeländerungen. Am 14. März
Dialogveranstaltung statt, bei der Spahn      fand der legislative Kraftakt nun sein          Der KBV-Chef betonte jedoch auch, dass
den Vertretern der KVen, Ärzte und Psy-       vorläufiges Ende.                               das Gesetz durchaus Möglichkeiten biete.
chotherapeuten Rede und Antwort stand.                                                        So sei die geplante Koordinierung der Ruf-
Die rund zweistündige Veranstaltung,                                                          nummer 116117 mit den Terminservicestel-
organisiert von der KBV, stieß auf reges                                                      len und einem System zur medizinischen
Interesse. In einer lebhaften Diskussion      Weichenstellung für die Zukunft                 Ersteinschätzung die Chance, in einem
ging es um Themen wie Budgetierung und                                                        ersten Bereich eine medizinisch sachge-
Regulierung, aber auch Digitalisierung und    Einen Tag nach der Verabschiedung durch         rechte Patientensteuerung zu etablieren.
die Telematikinfrastruktur. Die Eingriffe     das Parlament tagte die Vertreterver-           Auch gebe das TSVG dem KV-System
in den Praxisalltag und die gesetzlichen      sammlung der KBV. Dort zog der KBV-             Mittel an die Hand, „einen innovativen
Vorgaben, wie Ärzte zu arbeiten hätten,       Vorstand sein Fazit zum TSVG. Vorstands-        Gegenentwurf zu schaffen zu global
beschäftigten die Teilnehmer sehr. Auch       vorsitzender Dr. Andreas Gassen stellte         agierenden Digitalkonzernen“. Es werde
die Sorge um den Ärztemangel und die          fest, die KBV habe in vielen Gesprächen         sich in den nächsten Jahren entscheiden,
zurückgehende Zahl der Praxen wurde           erreichen können, dass manche „Chaos-           wohin die Versorgung sich entwickelt: ob
thematisiert. Der Beruf des Arztes müsse      regel“ wieder gestrichen wurde. Der             es bei einer zuwendungsintensiven Versor-
attraktiver gestaltet werden, zudem die       größte Aufreger des Gesetzes aus Sicht der      gung durch inhabergeführte Praxen blei-
sogenannte offene Sprechstunde freiwillig     niedergelassenen Ärzte seien nach wie vor       be oder ob es zu einer „kapitalgesteuerten
sein und nicht erzwungen werden, hieß es      die 25 Stunden verbindliche Sprechstun-         Versorgung mit Fokus auf ertragsgünstige
aus dem Plenum.                               denzeit statt wie bisher 20: „Das ist eine      Bereiche“ käme und damit zu einem
                                              ebenso übergriffige wie blödsinnige Rege-       Wegbrechen der Versorgung sogenannter
Der Gesundheitsminister zeigte sich offen     lung. Würden die Kollegen wirklich nur 20       schlechter Risiken. Letzteres könne nur
für Anregungen aus der Basis, machte aber     oder 25 Stunden Sprechstunden anbieten,         vermieden werden, wenn das Modell der
auch Grenzen deutlich. Ärzte träfen eine      dann gäbe es ein echtes Terminproblem           inhabergeführten Praxis auch für die
bewusste Entscheidung, wenn sie sich für      und nicht nur ein gefühltes.“ Immerhin:         kommende Ärztegeneration attraktiver sei
die Versorgung gesetzlich Versicherter ent-   Minister Spahn habe mit dem Gesetz              als die Anstellung in einem Konzern-MVZ.
schieden, die nun einmal gewissen Regulie-    dafür gesorgt, dass mehr Leistungen auch        „Das ist kein Prestigeprojekt der KBV, son-
rungen unterliege, erklärte Spahn, gestand    mehr Geld für die Ärzte bringen müssen.         dern eine entscheidende Weichenstellung,
aber zu: „Wir müssen die Anforderungen so     Leider sei der nächste logische Schritt         wer in Zukunft die Versorgung organi-
gestalten, dass die Lust dazu bleibt.“        nicht erfolgt, nämlich der Einstieg in eine     siert“, betonte Gassen.                  >

                                                                                                                 KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019    9
Die Zeit verrinnt Warum die ärztliche Arbeitszeit weniger wird
THEMA

                                                         sichtigt worden: „Das große Thema der               „Mit den MIOs setzen wir einen Standard
                                                         Versorgung, die unabdingbar notwendige              für den strukturierten Datentransfer
     Bankrotterklärung der Politik                       Steuerung unter verantwortlicher Beteili-           unserer Mitglieder untereinander sowie zu
                                                         gung der Patientinnen und Patienten, wird           Kliniken, zu Apotheken oder zu anderen
     Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender           ignoriert! Eine Bankrotterklärung!“ Die             medizinischen Fachberufen. Allein diese
     Vorstandsvorsitzender der KBV, ging in              Devise „schneller, mehr und immer“ sei              Aufzählung gibt einen Eindruck vom
     seiner Analyse an den Anfang des TSVG               auf Dauer nicht durchzuhalten, auch nicht           Umfang der Aufgabe. Das ist Grundlagen-
     zurück. Dessen Genese, nämlich die                  mit mehr Geld, betonte Hofmeister. Das              arbeit für das gesamte Gesundheitswesen.
     Absicht, dass jeder Bürger in diesem Land           Verhältnis von angestellten zu selbststän-          Und ja – die KBV stellt sich dieser Aufga-
     so schnell wie möglich einen Arzttermin             digen Ärzten – und damit die zur Verfü-             be!“, betonte Kriedel. Diese Entscheidung
     erhalten soll, sei aus dem Versuch der              gung stehende Arbeitszeit – verschiebe              sei auch folgerichtig: „Im ambulanten
     Unionsparteien entstanden, die Bürger-              sich täglich: „Ein dramatischer Struktur-           Bereich haben wir pro Jahr mehr als 650
     versicherung abzuwehren. Es handele                 wandel steht uns bevor. Darauf müssen               Millionen Behandlungsfälle. Eine Milli-
     sich also um ein klassisches politisches            wir reagieren – und zwar als Gesellschaft           arde Arzt-Patienten-Kontakte resultieren
     Kompromissprodukt. „Das Problem ist:                insgesamt.“                                         daraus – und damit die meisten Daten im
     Auf eine Fehldiagnose folgt zwangsläufig                                                                Gesundheitssystem."
     eine falsche Therapie!“, so Hofmeister.
     Nicht mangelnde Servicebereitschaft der                                                                 Kriedel ergänzte, die KBV werde dieses
     Ärzte, sondern eine steigende und unge-             Große Aufgabe für die KBV                           Vorhaben nicht als Closed Shop betreiben:
     steuerte Inanspruchnahme medizinischer                                                                  „Im Gegenteil, wir beziehen selbstver-
     Leistungen, die wachsende Morbidität, die           KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas                    ständlich die maßgeblichen Akteure mit
     abnehmende ärztliche Arbeitszeit und der            Kriedel hob in seiner Rede die Bedeutung            ein und suchen mit ihnen das Benehmen.
     Fachkräftemangel sowie eine leistungs-              der elektronischen Patientenakte hervor,            Es wäre widersinnig, wenn wir die vorhan-
     feindliche Budgetierung seien die größten           welche die Krankenkassen nun bis 2021               dene Kompetenz nicht einbinden wollten.
     Herausforderungen in der Versorgung.                ihren Versicherten zur Verfügung stellen            Aber irgendwann muss einer die Entschei-
                                                         müssen. Wesentlich dafür sei die Standar-           dung treffen. Dafür hat die KBV jetzt das
     Eine Kernforderung der KBV, nämlich                 disierung der medizinischen Inhalte (der            Mandat.“
     ein einheitlicher hausarztzentrierter               sogenannten medizinischen Informati-                                       Alexandra Bodemer
     Steuerungstarif auch im Kollektivvertrag,           onsobjekte, kurz MIOs), eine Aufgabe, die
     sei leider nicht von der Politik berück-            der Gesetzgeber der KBV übertragen hat.

     Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (links) bei der Dialogveranstaltung der KBV zum TSVG mit Moderator Wolfgang van den Bergh

10   KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019
MELDUNGEN AUS DEM BUND

 Information über
 Schwangerschaftsabbrüche
 neu geregelt
 Ärzte dürfen künftig öffentlich darauf hinweisen, dass
 sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Das hat der
 Bundestag am 21. Februar in namentlicher Abstimmung           Sachverständigenrat nimmt
 beschlossen. Das Parlament stimmte mehrheitlich für
 eine entsprechende Ergänzung des Paragrafen 219a
                                                               Arbeit auf
 Strafgesetzbuch. Danach dürfen Ärztinnen und Ärzte,
 Krankenhäuser und Einrichtungen zukünftig ohne Risiko         Ende Februar hat der neu zusammengesetzte „Sach-
 der Strafverfolgung darüber informieren, dass sie ent-        verständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im
 sprechende Eingriffe durchführen. Neutrale Stellen, die       Gesundheitswesen“ (SVR) seine Arbeit aufgenommen.
 im Gesetz benannt werden, sollen weitere Informationen        Der Allgemeinmediziner Prof. Ferdinand Gerlach von der
 über das Thema Schwangerschaftsabbruch anbieten.              Universität Frankfurt (Main) wurde erneut zum Vorsit-
 Ärzte dürfen auf diese Informationsangebote verweisen,        zenden gewählt, zu seinem Stellvertreter wählten die
 etwa durch eine Verlinkung auf der Praxiswebsite. Die         Ratsmitglieder erstmals den Bielefelder Gesundheits-
 Bundesärztekammer (BÄK) soll künftig eine Liste mit           ökonomen Prof. Wolfgang Greiner. Bereits am 1. Februar
 Praxen und Einrichtungen führen, die Schwangerschafts-        hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zwei neue
 abbrüche vornehmen. Dort sollen auch die jeweils              Mitglieder in den Rat berufen: die Berliner Ökonomin Prof.
 angewendeten Methoden verzeichnet sein. Die BÄK soll          Beate Jochimsen und den Heidelberger Mediziner Prof.
 die Liste monatlich aktualisieren und im Internet veröf-      Christof von Kalle. Sie lösen die Medizinerin Prof. Marion
 fentlichen. (abo)                                             Haubitz und den Ökonomen Prof. Eberhard Wille ab,
                                                               der langjährig den Vorsitz des Rates innehatte. Weitere
                                                               Mitglieder des SVR sind Prof. Gabriele Meyer von der
                                                               Universität Halle (Saale), Prof. Jonas Schreyögg von der
                                                               Universität Hamburg und Prof. Petra Thürmann von der
                                                               Universität Witten/Herdecke. Die Amtszeit beträgt vier
 Influenza bremst höhere                                       Jahre. In seinem nächsten Gutachten will sich der Rat
 Lebenserwartung aus                                           dem Thema Digitalisierung widmen. (tab)

 Das Robert-Koch-Institut (RKI) kommt in neuen Analysen
 zu dem Schluss, dass schwere Grippewellen mögli-
 cherweise einen Einfluss auf den Anstieg der Lebens-
 erwartung haben. In den vergangenen Grippe-Saisons           Neue Regeln zur Zweitmeinung
 2012/2013, 2014/2015 und 2016/2017 gab es jeweils
 mehr als 20.000 geschätzte Todesfälle, das entspricht        Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat neue
 gut zwei Prozent der jährlichen Todesfälle. Die Todesfälle   Verfahrensregeln zur ärztlichen Zweitmeinung be-
 treten dabei jeweils nach der Jahreswende auf, bei diesen    schlossen. Bei Eingriffen an den Gaumen- und/oder
 Grippewellen also in den Jahren 2013, 2015 und 2017 –        Rachenmandeln (Tonsillektomie, Tonsillotomie) sowie
 das waren exakt die Jahre, in denen sich der Anstieg der     bei Gebärmutterentfernungen (Hysterektomien) ha-
 Lebenserwartung verlangsamt hat. Das RKI veröffent-          ben Patientinnen und Patienten nun einen rechtlichen
 lichte die Ergebnisse im „Journal of Health Monitoring“.     Zweitmeinungsanspruch. Er gilt unabhängig davon, bei
 Ein Grund für die hohen Todesraten sind die teilweise        welcher gesetzlichen Krankenkasse die Patientin oder
 niedrigen Impfraten. Untersuchungen aus den vergange-        der Patient versichert ist. Ärztinnen und Ärzte können bei
 nen Jahren ergaben, dass die Influenzaimpfbereitschaft       ihrer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) eine Genehmi-
 regional stark schwankt. Auswertungen des Versor-            gung beantragen, Zweitmeinungsleistungen abrechnen
 gungsatlas' des Zentralinstituts für die kassenärztliche     zu dürfen. Dazu müssen sie die vom G-BA festgelegten
 Versorgung ergaben, dass 2013/14 waren in den östli-         Anforderungen an die besondere, eingriffsspezifische
 chen Bundesländern durchschnittlich knapp 53,8 Prozent       Qualifikation erfüllen. Die KVen sollen Patienten auf
 der über 60- jährigen geimpft, im Westen lag die Quote       ihren Internetseiten informieren, welche Ärzte Zweitmei-
 lediglich bei 32,8 Prozent. Aufklärungskampagnen, auch       nungen anbieten. (fun)
 von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, versuchen
 die Impfquote zu erhöhen. (fun)

                                                                                                  KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019   11
THEMA

     „Junge Ärztinnen und Ärzte
     wissen, was sie wert sind“
     Angehende Ärztinnen und Ärzte wissen genau, was sie wollen: Die Vereinbarkeit von Familie
     und Beruf steht für sie an erster Stelle. Die hausärztliche Tätigkeit hat für Studierende an
     Attraktivität gewonnen. Das ergab die Umfrage „Berufsmonitoring Medizinstudierende“.

     D       er ambulante Sektor hat an
             Attraktivität gewonnen“, diag-
             nostiziert Dr. Andreas Gassen,
     Vorstandsvorsitzender der KBV. Das zeigen
     die Ergebnisse des Berufsmonitorings
                                                           Die meisten Nachwuchsmediziner wün-
                                                           schen sich nach wie vor, in Anstellung
                                                           zu arbeiten (90,2 Prozent). Doch mehr
                                                           als die Hälfte der Befragten kann sich
                                                           ebenfalls vorstellen, sich niederzulassen.
                                                                                                                  lung, Job-Sharing, Einzel- oder Gemein-
                                                                                                                  schaftspraxis, Stadt oder Land, lokal
                                                                                                                  oder standortübergreifend – kein anderer
                                                                                                                  Bereich bietet so viele Möglichkeiten für
                                                                                                                  Ärzte, sich beruflich zu verwirklichen und
     Medizinstudierende 2018, einer bundes-                Dies passe gut zum Wunsch nach Verein-                 gleichzeitig private Bedürfnisse, je nach
     weiten Online-Umfrage unter fast 14.000               barkeit von Familie und Beruf, machte                  Lebensabschnitt, zu berücksichtigen.“
     Studierenden. Diese hat die Universität               Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender              Flexible Arbeitszeitmodelle ließen sich in
     Trier im Juni und Juli vergangenen Jahres             Vorstandsvorsitzender der KBV, deutlich:               der ambulanten Versorgung gut umsetzen.
     zum dritten Mal im Auftrag der KBV                    „Der ambulante Sektor bietet alle Optio-               Diese Erkenntnis sei mittlerweile auch
     durchgeführt.                                         nen, welche die Studierenden sich für ihre             bei den Studierenden angekommen, so
                                                           berufliche Zukunft wünschen. Ob Anstel-                Hofmeister. Die Gründe, die von einer
                                                                                                                  Niederlassung abhalten, sind hingegen
                                                                                                                  weiterhin konstant: Neben einer großen
         ERWARTUNGEN AN DEN BERUF: WICHTIGKEIT VERSCHIEDENER FAKTOREN
                                                                                                                  Bürokratielast und einem hohen finan-
                                                                                                                  ziellen Risiko ist es auch die Angst vor
                                                                                                                  drohenden Regressforderungen. „Hier
                                                                                                                  müssen wir aufpassen: Die Politik sollte
         Vereinbarkeit von Familie und Beruf
                                                                                                                  den Nachwuchs nicht mit immer neuen
         Geregelte Arbeitszeiten                                                                                  gesetzlichen Vorgaben und Eingriffen von
                                                                                                                  einer Niederlassung abschrecken“, warnt
         Flexible Arbeitszeiten                                                                                   Gassen. „Die jungen Ärztinnen und Ärzte
         Eigene Praxis                                                                                            wissen, was sie wert sind“, betont auch
                                                                                                                  Prof. Rüdiger Jacob von der Universität
                                                                                                                  Trier.

         FÜR WELCHE FACHARZTWEITERBILDUNG WÜRDEN SIE SICH JETZT ENTSCHEIDEN?

             20%                                                                                                                Innere Medizin

             15%

             1o%                                                                                                                Allgemeinmedizin

                                                                                                                                Ortho/Unfall
               5%                                                                                                               Chirurgie
                                                                                                                                Psychiatrie
               0%                                                                                                               Psychosomatik
                       Vorklinik                                          Klinik                                           PJ
                      Einfachauswahl – Basis: 13.295 Antworten

     Die Vorliebe für ein Fach ändert sich im Lauf der Ausbildung. (Quelle: Berufsmonitoring Medizinstudierende 2018)

12   KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019
Allgemeinmedizin:
Beliebtheit steigt
Ein weiteres Ergebnis: Das Interesse an der
Allgemeinmedizin steigt, je weiter die Aus-
bildung voranschreitet. Dies gilt sowohl für
Männer als auch für Frauen. Dagegen haben
die Fachrichtungen Chirurgie und Orthopä-
die an Popularität eingebüßt, obwohl sie im
Studium dominieren. „Hier sind wir offen
für einen Dialog mit den Fachgesellschaften,
denn es zeigt sich: Die Quantität von Fächern
im Studium sagt nichts darüber aus, welche
Richtung Studierende anschließend ein-
schlagen“, so Peter Jan Chabiera, Vizepräsi-
dent 2018 der Bundesvertretung der Medizin-
studierenden in Deutschland (bvmd).

Entscheidend für die Berufswahl sei die
qualitative Vermittlung von Inhalten, sagt
der stellvertretende KBV-Chef Hofmeis-
ter. Das sehe man gerade im Bereich der         Insgesamt hat die Mobilität der Studieren-       Die Delegation ärztlicher Aufgaben an nicht-
hausärztlichen Tätigkeit. „Der persönliche      den innerhalb Deutschlands, der Europä-          ärztliches Personal spielt zunehmend eine
Kontakt mit den Ausbildern sowie prakti-        ischen Union und weltweit abgenommen.            Rolle im Arbeitsalltag. Rund 77,2 Prozent der
sche Erfahrungen mit dem großen Aufga-          „Die Bedingungen hierzulande sind                Befragten im Praktischen Jahr befürworten
ben- und Patientenspektrum tragen dazu          besser geworden. Ins Ausland wollen nur          eine verstärkte Aufgabenübertragung an
bei, dass die Studierenden ihr Fach in der      noch 43,6 Prozent der Studierenden – das         entsprechend qualifiziertes medizinisches
ambulanten Versorgung als das erleben           sind 20 Prozent weniger als bei der ersten       Personal. Das stellt eine Zunahme um 17,6
können, was es tatsächlich ist, nämlich         Befragung 2010“, so Gassen.                      Prozentpunkte im Vergleich zur vorher-
vielseitig, spannend und sehr erfüllend.                                                         gehenden Befragung von 2014 dar. Die
Die Patienten haben nicht nur Schnupfen,                                                         Studierenden selbst wünschen sich schon
Husten, Heiserkeit!“ Auch Kampagnen wie                                                          während des Studiums mehr interprofes-
„Lass dich nieder“ (siehe Kasten) hätten                                                         sionelle Zusammenarbeit und Ausbildung.
zu einem besseren Bild der Allgemeinme-         Manko Digitalisierung                            Jana Aulenkamp, Präsidentin 2018 des
dizin beigetragen , so Hofmeister.                                                               bvmd, sagte dazu: „Wir machen später
                                                Erstmalig wurden die Studierenden 2018           zusammen die Versorgung, dann sollten wir
                                                auch zum Thema Digitalisierung befragt.          auch zusammen lernen.“
                                                Einen guten subjektiven Kenntnisstand
                                                zur Digitalisierung geben gut zehn Prozent                                Tabea Breidenbach
Arbeitsplatz?                                   der Studierenden an, im Hinblick auf die
Am liebsten in der Heimat                       Telemedizin attestieren sich nur knapp vier
                                                Prozent gute Kenntnisse. Mit „Informations-
                                                                                                     LASS DICH NIEDER
Die Studie gibt auch Auskunft, wo die           und Wissensmanagement“ fühlen sich 11,5
angehenden Ärztinnen und Ärzte bevor-           Prozent der Studierenden vertraut, die Zahl
zugt arbeiten möchten. Heimatbundesland         liegt im Praktischen Jahr bei 12,7 Prozent.         2014 startete die KBV gemeinsam
und -region stehen hoch im Kurs. In dem         „Hier müssen wir besser werden“, äußert             mit den Kassenärztlichen Vereini-
Wunsch nach Heimatnähe liegen auch              sich Dr. Frank Wissing, Generalsekretär             gungen die Kampagne „Lass dich
Chancen für die Versorgung im ländlichen        des Medizinischen Fakultätentags (MFT).             nieder“.
Bereich. Der Landarztmangel ist dadurch         „Wir sehen den Auftrag, die Ergebnisse der
allerdings nicht zu beheben, denn: „Land        Studie einzubringen: Zurzeit arbeiten wir           Auf der Website können sich
ist nicht gleich Land“, meint Jacob. Dem        an der Weiterentwicklung des Nationalen             interessierte Medizinstudierende
stimmt Gassen zu: „Am Starnberger See           Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs in der          sowie junge Ärztinnen und Ärzte
werden Sie immer jemanden finden, der sich      Medizin. Dabei stellen wir die Frage: Was           über die Arbeit im ambulanten
dort niederlassen möchte, aber es gibt auch     bedeutet Digitalisierung für die Rolle und          Bereich informieren. Ob Weiter-
unattraktive ländliche Regionen. Nicht nur      das Selbstverständnis des Arztes?“ Es sei           bildung, Niederlassungsoptionen
Ärzte wollen da nicht hin, die Bevölkerung      jedoch schwierig, klare Inhalte für das Curri-      oder Förderungen – viele Fragen
verlässt diese Gegenden ja selbst.“ Auch        culum festzulegen. Flexibilität im Lehrplan         werden direkt online beantwortet
spielen Familie und der Beruf des Partners      sei wichtig, um dem Thema Digitalisierung           unter
eine Rolle. „Wenn der Partner Physiker ist,     mit all seiner Dynamik gerecht werden zu            www.lass-dich-nieder.de/home.html.
findet er auf dem Land keine Anstellung,        können. Dies ginge am ehesten, wenn Ziele
anders als seine Frau, die als Hausärztin       definiert, Inhalte aber nicht zu kleinteilig
arbeiten möchte“, veranschaulicht Jacob.        geregelt würden.

                                                                                                                  KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019   13
INTERVIEW

     „Wir leisten Pionierarbeit“
     Alexander Beyer ist Geschäftsführer der gematik, der Betreibergesellschaft der Telematikinfra-
     struktur im Gesundheitswesen. Im Klartext-Interview spricht er über die Erfolgsaussichten der
     digitalen Vernetzung, Eingriffe der Politik und über Vergleiche mit dem Berliner Flughafen BER.

     Herr Beyer, würden Sie bitte kurz skiz-    Wie ist Ihre Einschätzung: Gelingt die        ren an. Die Industrie muss jetzt „rund um
     zieren, wie der aktuelle Stand in Sachen   Ausstattung der Praxen bis zur gesetz-        die Uhr“ im Rahmen ihrer Kapazitäten
     Telematikinfrastruktur (TI) ist, etwa      lichen Frist am 30. Juni 2019?                anbinden. Ich glaube, wenn alle zusam-
     bei der Anbindung der Praxen und dem                                                     menwirken, dann ist es möglich, die Frist
     Versichertenstammdaten-Management          Das kann klappen, aber es bestehen na-        einzuhalten.
     (VSDM)?                                    türlich Risiken. Wenn wir uns anschauen,
                                                in welchem Tempo die Anbindungen in           Es gibt viele Ärzte, die das Verhältnis
     Im Jahr 2018 wurde angefangen, die         den letzten Monaten erfolgt sind und das      von Aufwand und Nutzen der TI für ihre
     Arztpraxen anzubinden. Zuständig dafür     hochrechnen bis zum Ende der Frist, dann      Praxis kritisch sehen. Wie überzeugen
     sind die Hersteller der technischen Kom-   wird es nicht gelingen. Das liegt auch dar-   sie diese?
     ponenten, etwa der Konnektoren, welche     an, dass es Ärzte gibt, die das Thema noch
     die Zulassung für die TI von uns bekom-    nicht auf der Agenda haben, die aber jetzt    Ich verstehe, dass das kritisch gesehen
     men haben. Es sind jetzt etwas mehr als    (bis Ende März, Anm. d. Red.) die techni-     wird, weil dies einen Eingriff in den Pra-
     50.000 angebundene Praxen (Stand Feb-      schen Komponenten bestellen müssen. Die       xisablauf bedeutet. Wir wissen aber auch,
     ruar 2019, Anm. d. Red.). Dort wird auch   Praxen müssen außerdem Termine finden,        dass sowohl die Versicherten als auch die
     das VSDM genutzt, also die Versicherten-   an denen ein Servicetechniker verfügbar       Ärzte die Idee, die hinter der Vernetzung
     stammdaten werden abgefragt und            ist, der den Anschluss vornimmt. Vier         steht, sinnvoll finden. Nämlich, dass medi-
     aktualisiert.                              Hersteller bieten mittlerweile Konnekto-      zinische Daten und Informationen immer

14   KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019
„Minister Spahn würde nicht
die Verantwortung für das Projekt übernehmen,
wenn er an dessen Erfolg zweifeln würde.“

dann auf Wunsch des Patienten bereitge-         Versorgungsgesetz werden die Kranken-           Ja, ich komme gerne ins Büro (lacht). Ich
stellt werden können, wenn sie benötigt         kassen verpflichtet, ab dem 1. Dezember         finde die Aufgabe nach wie vor spannend.
werden. Ich kenne es von meiner Oma, die        2019 solche Karten auszugeben. Daneben          Das Ziel, dem Patienten seine medizini-
sehr viele verschiedene Medikamente von         wird die gematik Festlegungen für Au-           schen Daten digital an die Hand zu geben,
unterschiedlichen Ärzten genommen hat.          thentisierungsverfahren ohne eGK bis Mai        ist immer noch so sinnvoll wie vor 15 Jah-
Wenn das irgendwo zusammengetragen              2019 treffen. Allerdings sind diese Authen-     ren. Wir haben alle Fristen eingehalten, wir
wird und bewertet werden kann, sei es           tisierungsverfahren heute noch nicht so         haben ein super Team. Ich bin überzeugt
vom Hausarzt oder in einer Notfallsitua-        sicher wie andere. Die Krankenkassen sind       von der Leistungsfähigkeit der gematik.
tion, dann überzeugt das alle. Oder auch,       aufgefordert, die Versicherten darüber zu
dass Ärzte sicher miteinander kommu-            informieren. Am Ende muss der Patient die       Gesundheitsminister Spahn will die ge-
nizieren können. Es gab gute Gründe,            Entscheidung treffen, ob er die Funktion        matik umbauen und sein Ministerium zum
weshalb wir mit dem VSDM angefangen             nutzen möchte.                                  Mehrheitsgesellschafter machen. Damit
haben, um überhaupt technisch in die                                                            hätte die Politik die direkte Entschei-
Breite zu vernetzen. Aber es ist natürlich      Wird es diese Möglichkeit auch für Ärzte        dungsgewalt, nicht mehr die Selbstver-
keine Anwendung, welche die Ärzte davon         geben?                                          waltung. Wie finden Sie das?
überzeugt, dass ihnen diese Infrastruktur
auch wirklich bei ihrer Arbeit hilft.           Natürlich müssen wir vorsehen, dass auch        Wir haben in den letzten Jahren bewiesen,
                                                Ärzte mit mobilen Endgeräten auf Daten          dass wir sehr gut mit den Gesellschaftern
Wie geht es weiter mit den medizinischen        zugreifen können, etwa bei einem Hausbe-        zusammenarbeiten. Ich verstehe aber,
Anwendungen?                                    such. Da sind wir in Abstimmung mit dem         dass die Ergebnisse in der Praxis noch
                                                Bundesamt für Sicherheit in der Informati-      nicht spürbar sind und dass eine gewisse
In der nächsten Stufe soll es das Not-          onstechnik. Weil es um die medizinischen        Ungeduld herrscht bei den Versicherten,
falldaten-Management geben und den              Daten des Patienten geht, muss ein hohes        weshalb das Ministerium die Verantwor-
elektronischen Medikationsplan. Die             Sicherheitsniveau beim Zugriff des Arztes       tung übernehmen möchte. Ich sehe das
entsprechenden Spezifikationen liegen vor,      gewährleistet werden. Die Entscheidung          erst mal als Kompliment. Ich gehe nicht
wir haben die Festlegungen getroffen für        über das Sicherheitsniveau kann der Pati-       davon aus, dass Minister Spahn die Verant-
die Sicherheit und für die Interoperabilität.   ent treffen, wie gesagt, nicht aber der Arzt.   wortung für zwei Jahre – wenn man bis
Diese Anwendungen müssen nun von den                                                            zum Ende der Legislaturperiode denkt
Herstellern erprobt und dann von uns final      Die aktuelle eGK hat landläufig einen           – für dieses Projekt übernehmen würde,
zugelassen werden. Wir gehen davon aus,         ähnlichen sprichwörtlichen Status wie der       wenn er nicht an einen nachweisbaren
dass die Versicherten noch im laufenden         Berliner Flughafen BER, wenn es um Zeit,        Erfolg dieses Projekts glauben würde. Auf
Jahr diese Anwendungen nutzen können.           Kosten und technologischen Stand geht.          der anderen Seite klingt ein achter Gesell-
Der nächste Schritt ist dann die elektroni-     Regt Sie das auf oder perlt das an Ihnen        schafter für mich zunächst einmal nicht
sche Patientenakte (ePA). Auch da haben         ab?                                             nach Beschleunigung. Da habe ich noch
wir Ende letzten Jahres die Festlegung                                                          einen weiteren Gesellschafter abzuholen.
getroffen, wie wir uns eine ePA im ersten       Bei unserem „Flughafen“ Telematikinf-           Deshalb müssen wir bei der konkreten
Schritt vorstellen. Laut Gesetz müssen die      rastruktur heben ja tagtäglich schon jetzt      Ausgestaltung sehen, dass wir tatsächlich
Krankenkassen als Anbieter der ePA diese        50.000 Maschinen ab. Ich glaube, dass           schneller werden. Wobei ich auch daran
bis Ende nächsten Jahres umsetzen.              dieser Vergleich hinkt und der Komple-          erinnern muss, dass wir sehr viele Festle-
                                                xität, die hinter den einzelnen Aufgaben        gungen schon getroffen haben, die jetzt in
Gesundheitsminister Spahn will, dass            steckt, nicht gerecht wird. Von daher gibt      der Umsetzung sind. Diesen Prozess kann
Versicherte auch mobil, etwa mit dem            es schon Momente, wo mich das emotional         ich nicht dadurch beschleunigen, dass ich
Smartphone und gegebenenfalls ohne              anfasst oder peinlich berührt, wenn ich         immer mehr Festlegungen treffe.
elektronische Gesundheitskarte (eGK) auf        merke, dass man versucht, mit solchen
ihre Daten zugreifen können. Wie sieht es       Stammtischparolen das Projekt zu diskre-        Sehen Sie denn reelle Chancen schneller
damit aus?                                      ditieren. Es ist ein Pionierprojekt, das wir    zu werden ohne Qualität zu verlieren?
                                                da machen, mit speziellen Anforderungen.
Theoretisch ist es heute schon möglich,         Das kann man meiner Ansicht nach nicht          Die TI ist da, erste Festlegungen für die
kontaktlos mit einem mobilen Endgerät auf       mit einem Flughafen vergleichen.                Inhalte sind getroffen. Jetzt können wir
Daten zuzugreifen. Die Spezifikationen der                                                      als gematik mit allen Beteiligten in die
eGK sehen Kontaktlos-Schnittstellen vor,        Die gematik musste in den letzten Mona-         Diskussion gehen. Ich glaube, das hilft
so dass man kein Kartenterminal braucht,        ten viel Kritik einstecken, etwa bezüglich      uns, Lösungen, die mit der Industrie,
sondern sich gegenüber dem mobilen              ihrer Geschwindigkeit. Kommen Sie               aber auch mit den Nutzern abgestimmt
Endgerät authentisiert. Solche Karten gibt      morgens noch gerne ins Büro?                    sind, schnell umzusetzen. Ob das durch
es aber noch nicht. Im Terminservice- und                                                       eine Änderung der Governance der          >

                                                                                                                KBV KLARTEXT > 1. QUARTAL 2019   15
gematik erfolgt, wird die Zukunft              Daten überwachen. Das wäre ein konkre-          gen mehr werden, dadurch gewinnen
     zeigen.                                        tes Beispiel, wie die Infrastruktur selbst      wir wieder neue Teilnehmer. Das ist ein
                                                    als Plattform fungieren kann.                   Prozess, der nie so richtig zu Ende sein
     Einige Krankenkassen sind schon sehr           Im November haben wir die Verfahrens-           wird. Wir werden uns immer damit aus-
     weit bei der Installation eigener elektro-     beschreibungen für die Bestätigung              einandersetzen müssen, wie man diese
     nischer Akten und Anwendungen. Helfen          „weiterer Anwendungen“ veröffentlicht,          Plattform weiterentwickeln kann. Es gibt
     Ihnen diese Parallelentwicklungen oder         wodurch jeder, der etwas mit Gesundheit         viele potenzielle Nutzer, die bislang nicht
     verkomplizieren sie die Sache?                 oder Gesundheitsforschung zu tun hat,           eingebunden sind, etwa die Pflege oder
                                                    Anträge stellen kann, um die TI zu nutzen.      der Reha-Bereich. Ein weiteres Thema ist,
     Es ist auf jeden Fall gut, Erfahrungen         Je nachdem, welche Leistungsmerkmale            wie man die Forschung sinnvoll integrie-
     zu sammeln, was die Kommunikation              derjenige nutzen möchte, muss er be-            ren kann. Auch Europa wird ein Thema
     zwischen Arzt und Patient angeht. Das          stimmte Kriterien erfüllen. Wir prüfen al-      sein, also die Frage, wie man eine solche
     sind wir in der Form ja bislang nicht ge-      lerdings nicht, ob das jeweilige Vorhaben       Infrastruktur grenzüberschreitend nutzen
     wohnt, dass der Arzt dem Patienten seine       Sinn macht oder ob die entsprechenden           kann. Ich gehe davon aus, dass wir noch
     medizinischen Daten gibt. Ich glaube, da       Anwendungen funktionieren, sondern wir          viele Jahre über das Thema TI, ihre An-
     muss auch „kulturell“ noch ein Umdenken        überprüfen, dass die Sicherheit der Infra-      wendungen und ihre Teilnehmer diskutie-
     stattfinden. Durch Gesundheitsakten wie        struktur als solcher nicht gefährdet ist.       ren werden.
     von der Techniker Krankenkasse oder von
     Vivy fangen wir damit an, solche Dis-          Auch die ePA selbst wird eine Art Platt-            Die Fragen stellte Alexandra Bodemer.
     kussionen zu führen. Das hilft uns. Uns        form werden, in die strukturierte Daten
     hilft auch, dass die Krankenkassen große       hochgeladen werden können. Strukturiert
     Begeisterung für das Thema ePA haben. Es       heißt in einem festgelegten Format, das
     ist nicht mehr so wie vor vier, fünf Jahren,   andere Teilnehmer im System, in diesem
     als wir sehr viele Beteiligte noch davon       Fall die Ärzte, weiterverarbeiten können.
     überzeugen mussten, dass das Ganze Sinn        Das betrifft bislang den Notfalldatensatz
     macht und dass es Geld kostet. Wir sind        und den elektronischen Medikationsplan.
     dabei, mit den Krankenkassen in einem          Das kann man aber auch für Mutterpässe,
     geregelten Prozess in Form einer Arbeits-      Röntgenpässe, Bonushefte und derglei-
     gruppe alles zusammenzuführen. Das Ziel        chen machen. Die KBV hat jetzt den
     ist, dass wir Akten haben, die sicher und      Auftrag, die semantische und syntaktische
     interoperabel sind, in dem Sinne, dass         Interoperabilität der Inhalte der ePA zu
     Ärzte mehrere Akten mit einem System           gewährleisten.
     bedienen können. Ich denke, es haben
     alle verstanden, wie wichtig es ist, dass      An dieser Aufgabenübertragung auf die
     alle miteinander kommunizieren können          KBV gab es ja auch Kritik, etwa seitens
     auf Basis einheitlicher Regelungen. Diese      der Industrie. Können Sie diese nachvoll-
     Regelungen hat die gematik zur Patienten-      ziehen?
     akte getroffen, die Kassen müssen sie jetzt                                                         Alexander Beyer (Jahrgang 1973) ist
     umsetzen.                                      Ich verstehe, was die Vertreter der Indus-           seit 1. Juli 2015 Geschäftsführer der
                                                    trie meinen. Sie fürchten, dass die KBV              gematik Gesellschaft für Telematik-
     Die TI soll in der Zukunft nicht nur als       Festlegungen trifft, ohne auf die Vorarbei-          anwendungen der Gesundheitskarte
     Datenautobahn fungieren, auf der Infor-        ten der Hersteller, der Fachgesellschaften           mbH. Zuvor leitete der Volljurist
     mationen von A nach B fließen, sondern         oder der Standardisierungsorganisatio-               und Rechtsanwalt dort zehn Jahre
     sie soll eine Plattform für den generellen     nen zurückzugreifen. Aber wenn ich die               lang den Bereich Recht. Der gebür-
     Austausch von Daten im Gesundheits-            Aussagen der KBV richtig verstehe, will              tige Hamburger hat neben seinem
     wesen werden. Wie könnte das konkret           sie sehr wohl auf das Knowhow dieser                 Staatsexamen einen Master of Law in
     aussehen?                                      Interessengruppen aufsetzen. Was in der              Rechtsinformatik und einen Master of
                                                    Vergangenheit gefehlt hat, ist jemand, der           Arts in Ökonomie & Management.
     Die jetzige Infrastruktur zeichnet sich        am Ende eine Entscheidung trifft. Mir ist
     unter anderem dadurch aus, dass alle           es letztendlich egal, wer die Entscheidun-
     Beteiligten registriert und bekannt sind,      gen trifft, Hauptsache, es macht jemand.
     von daher ist diese Kommunikation              Deshalb begrüße ich, dass die KBV hier
     untereinander vertrauenswürdig. Dieses         die Hand gehoben hat.
     Leistungsmerkmal macht die TI für den
     Austausch vieler Daten im Gesundheits-         Noch mal zurück zur TI als Plattform für
     wesen interessant. Nehmen wir etwa das         den generellen Datenaustausch: Wann
     Implantateregister. Dieses soll nach Plä-      wird dieses Ziel erreicht sein?
     nen des Bundesgesundheitsministeriums
     vom Deutschen Institut für Medizinische        Wir sind jetzt in der spannenden Phase, in
     Dokumentation und Information errichtet        der diese Plattform entsteht. Das betrifft ja
     und betrieben werden. Eine beim Robert-        zwei Seiten: Einerseits müssen Sie sehen,
     Koch-Institut angesiedelte Vertrauensstel-     dass die Teilnehmerzahl wächst. Auf der
     le soll die Nutzung der pseudonymisierten      anderen Seite müssen die Anwendun-

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