KURIER SOMMER 2021 - Shalom - Friede sei mit dir - Evangelische Kirchengemeinde ...

 
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KURIER SOMMER 2021 - Shalom - Friede sei mit dir - Evangelische Kirchengemeinde ...
2021_Kurier_SOMMER   26.05.2021   23:17 Uhr   Seite 1

  E VA N G E L I S C H E K I R C H E N G E M E I N D E   HENNEF

  KURIER                               SOMMER 2021

            Shalom – Friede sei mit dir
KURIER SOMMER 2021 - Shalom - Friede sei mit dir - Evangelische Kirchengemeinde ...
2021_Kurier_SOMMER         26.05.2021          23:17 Uhr         Seite 2

       Inhaltsverzeichnis
       Kurier Sommer 2021, gilt vom 15. Juni bis 15. September 2021

        Aufgezeigt & Angedacht
           Liebe Gemeinde: Antisemitismus entschieden entgegentreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
        Titelthema: Shalom – Friede sei mit dir
            WDR-Projekt – App für Stolpersteine . . . . . . . . . . .                 .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .    6
            Interview mit Roman Kovar . . . . . . . . . . . . . . . . . .             .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   10
            Interview mit Schulamith Weil und Dr. Inna Goudz                          .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   14
            Jüdisches Leben in Boston . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   18
        Gottesdienste
           Gottesdienstplan Juni bis September . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
           Gute Worte am Telefon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
        Evangelisch in Hennef
           Erste Konfirmationen und Jubelkonfirmanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
           Zertifizierung „klecks“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
        Angesagt und Vorgemerkt
           Sommerferien für Jugendliche im „klecks“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
        Über den Tellerrand
           Tanken und Rasten anders: Autobahnkirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
           So geht Zukunft: Anna-Nicole Heinrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
        Glaube im Gespräch
           Webtipp: Checker Tobi und das Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
       und vieles mehr …

           Unsere regelmäßigen Gruppen und Kreise durften bei Redaktionsschluss pandemiebedingt
           noch nicht wieder stattfinden. Daher entfallen auch in dieser Ausgabe die Hinweise
           „Regelmäßige Gruppen“. Die Gruppenleitenden kommen zu gegebener Zeit auf die
           bisherigen Teilnehmenden zu. Aktuelle Informationen finden Sie auf unserer Homepage
           www.evangelisch-in-hennef.de.

           IMPRESSUM
           Für den Inhalt namentlich gekennzeichneter Artikel ist die Autorin / der Autor verantwortlich.
           Herausgeber:      Evangelische Kirchengemeinde Hennef
           Redaktion:        Dorothee Akstinat, Petra Biesenthal, Wolfgang Brettschneider,
                             Claudia Heider, Martin Heiermann, Stefan Heinemann
           Anschrift:        Redaktion Kurier, Ev. Kirchengemeinde Hennef
                             Beethovenstraße 44, 53773 Hennef · kurier.hennef@ekir.de
           Bankverbindung: Evgl. Kirchengemeinde Hennef,
                             IBAN: DE17 3705 0299 0000 2001 21, Kreissparkasse Köln
           Die nächste Ausgabe erscheint zum 16. 9. 2021 · Redaktionsschluss ist der 13. 8. 2021 · Auflagenhöhe 5800
           Das Redaktionsteam behält sich vor, eingereichte Beiträge gekürzt oder überarbeitet abzudrucken.
           Gesamtherstellung: Ingo Hoffmann | Verlag und Printservice · E-Mail: i.hoffmann@zeitmag.de

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      Liebe Gemeinde
      Am 11. Mai 2021 wurde auf die Synagoge in
      Bonn ein Anschlag verübt: Das Eingangsportal
      wurde mit Steinen beworfen und eine israeli-
      tische Flagge wurde verbrannt.
          Der Anschlag steht in Verbindung zu den
      Ereignissen im Nahen Osten: Seit Anfang Mai
      werden in Israel Raketen abgeschossen und
      Luftangriffe geflogen.

      Konflikt im Nahen Osten
      Der Staat Israel wurde im Jahr 1948 gegründet.
      Von Anfang an gab es Konflikte, Spannungen,         „Stuhlwache“ halten
      gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen            Ein Bonner Bürger hat sich nach dem Anschlag
      Israelis und Palästinensern. In über 70 Jahren      auf die Synagoge zu einer „Stuhlwache“ ge-
      wird seitdem gerungen, um Völkerrecht, gesell-      genüber des Haupteingangs zur Synagoge plat-
      schaftliche und politische Gleichbehandlung,        ziert. Er wollte seine Solidarität mit den Men-
      friedliche Lösungen und die Abwehr von Ter-         schen jüdischen Glaubens in Bonn zeigen und
      rorismus. Das Zusammenleben im „Heiligen            hat mit Holzstuhl, Proviant und Regenjacke
      Land“ ist vielfach belastet. Im Mai sind die po-    vor dem Gebäude ausgeharrt, bis er abgelöst
      litischen Konflikte nun erneut eskaliert und es     wurde.
      kommt zu terroristischen und kriegerischen             Über die sozialen Medien hat sich diese Ak-
      Handlungen, bei denen Zivilisten auf beiden         tion schnell verbreitet und andere Bonner Bür-
      Seiten in Angst und Schrecken versetzt werden       ger haben ihn unterstützt. Christen, Atheisten
      und ums Leben kommen.                               und Muslime – über 30 Personen haben sich
                                                          gemeldet, um ihn bei der Wache abzulösen.
      Kritik am Staat Israel                                 Die Polizei hat ihre Präsenz rund um die Sy-
      Die politischen Entscheidungen des Staates Israel   nagoge seit dem Anschlag erhöht; die Aktion
      können natürlich diskutiert und kritisiert wer-     der Bonner Bürger macht jedoch deutlich, dass
      den, ebenso wie die Angriffe der militanten         wir den Schutz der jüdischen Gemeinde nicht
      Palästinenser. Die Israelis leben in einer Demo-    delegieren dürfen.
      kratie, in einer offenen Gesellschaft und führen
      die kritische Debatte auch im eigenen Land.         Solidarität zeigen
         Es ist jedoch unzulässig und antisemitisch,      Wir alle sind aufgerufen, Menschen, die von
      aufgrund des politischen Konflikts in Israel, die   Gewalt bedroht sind, nicht alleine zu lassen.
      jüdische Religion weltweit zu diskreditieren           Als Deutsche haben wir eine besondere
      und gar jüdische Bürger und Einrichtungen in        Verantwortung gegenüber den Juden und Jü-
      Deutschland anzugreifen.                            dinnen in unserem Land: wir müssen jeder
                                                          Form von Antisemitismus entschieden entge-
      Das jüdische Volk                                   gentreten. Als christliche Gemeinde sind wir
      60 Prozent der Jüdinnen und Juden weltweit          im Glauben und in der Geschichte Israels ver-
      leben nicht in Israel. Sie sind amerikanische       wurzelt (Röm 11), zusammen mit der jüdischen
      oder deutsche Staatsbürger, Franzosen oder          Gemeinde warten wir auf „einen neuen
      Kanadier, Argentinier oder Russen. Und so wie       Himmel und eine neue Erde, nach Gottes
      nicht alle Christinnen und Christen in Kirchen-     Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt“.
      gemeinden engagiert sind, halten sich auch          (2. Petr. 3,13) Wir sind gerufen an Frieden und
      nicht alle Jüdinnen und Juden zu den Synago-        Gerechtigkeit mitzuwirken mit unserem Beten
      gengemeinden an ihren Wohnorten. Sie sind           und Handeln, unserem Widersprechen und in
      Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten        Schutz nehmen, unserer Wertschätzung und
      und jeder Form von Gewalt gegenüber Juden           Friedfertigkeit.
      muss entschieden entgegengetreten werden.                                            Antje Bertenrath

       AUFGEZEIGT & ANGEDACHT                                                                           3
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       Was Christen mit Juden verbindet
       „Das christlich-jüdische Verhältnis war nie so           grundlegend
       gut wie heute“, betonte kürzlich der Präsident           unterscheidet.
       des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef          Die Synode
       Schuster. Der Antijudaismus, der „jahrhunderte-          unserer rhei-
       lang in Kirchen gepredigt“ worden sei, sei               nischen Lan-
       „lange überwunden“, und die Kirchen seien                deskirche for-
       „Partner im Kampf gegen den Antisemitis-                 mulierte es vor
       mus“, sagte Schuster. Was Christen und Juden             41 Jahren so – das
       seit langem verbindet, skizziert Stefan Heine-           galt damals als revo-
       mann.                                                    lutionär: Christen und
                                                                Juden, „wir bekennen
       Der Wanderprediger kam in seine eigene Heimat-           beide Gott als den
       stadt, erzählt der Evangelist Lukas. Man kannte ihn      Schöpfer des Himmels
       dort: Er war ja der Sohn von Josef, dem Zimmer-          und der Erde und wissen,
       mann. Selbstverständlich nahm er am Gottesdienst         dass wir als von demsel-
       teil und als es an Jesus ist, den Lektorendienst zu      ben Gott durch den Aaronitischen Segen Aus-
       übernehmen und aus der Schriftrolle des Propheten        gezeichnete im Alltag der Welt leben. Wir be-
       Jesaja vorzulesen – da steht er selbstverständlich auf   kennen die gemeinsame Hoffnung eines neuen
       und liest in der Synagoge von Nazareth aus der           Himmels und einer neuen Erde und die Kraft
       Heiligen Schrift in hebräischer Sprache. (Lukas          dieser messianischen Hoffnung für das Zeugnis
       4,16-30)                                                 und das Handeln von Christen und Juden für
           Denn Jesus, den Christen als den Sohn                Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.“ (Syno-
       Gottes bekennen, lebte in der jüdischen Tradi-           dalbeschluss zur Erneuerung des Verhältnisses
       tion. Er verstand sich als Jude und hat sich nie         von Christen und Juden, EKiR, 1980)
       von seinem eigenen Volk losgesagt. Der Wan-
       derprediger von Nazareth kannte die heiligen             Wenn Christen das Vaterunser beten …
       Schriften des Judentums und legte sie aus, wie           Irgendwo unterwegs hatten sie Rast gemacht: Jesus
       es jüdische Lehrer seiner Zeit eben taten.               und seine Jünger. Da kommen sie plötzlich zu ihm.
                                                                „Lehrer, bring uns bei, wie wir zu Gott reden sollen.
                                                                Lehre uns beten!“ bitten sie ihn. Und Jesus findet für
                                                                sie Worte, die bis heute gesprochen werden: „Vater
                                                                unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name …“
                                                                (Lukas 11,1-4)
                                                                    Wenn Christinnen und Christen dieses Gebet
                                                                sprechen, von dem die Evangelisten glaubwür-
                                                                dig berichten, dass es auf Jesus selbst zurück-
                                                                geht – dann treten sie ein in ein Gespräch mit
                                                                dem Gott, der sich zuerst dem Volk Israel of-
                                                                fenbarte. Diese Liebesbeziehung zwischen
                                                                Gott und den Menschen begann lange vor
                                                                dem Auftreten Jesu. Nichts davon hat der
                                                                Mann aus Nazareth zurückgenommen.
                                                                    Wenn also Christinnen und Christen ihre
                                                                Bibel lesen, begegnen sie im Alten Testament
                                                                auch der Heiligen Schrift von Jüdinnen und
          Schon durch ihr Bekenntnis zu Jesus Chris-            Juden. Die Erzählungen von der Schöpfung,
       tus sind Christinnen und Christen mit dem Ju-            von Abraham und Sara, Mose und Aaron,
       dentum in einer Weise verbunden, die sich von            David, den Propheten, Hiob … all diese Schrif-
       ihrem Verhältnis zu allen anderen Religionen             ten teilt das Christentum mit dem Judentum.

       4                                               TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir
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      Jesus legt Hebräische Bibel aus                        rin. Mit ihren Gemeinden
      Der Mann aus Nazareth ist weit über sein Heimat-       beten sie die Psalmen, sin-
      dorf hinaus bekannt geworden. Wenn er spricht,         gen Halleluja und als die
      kommen Hunderte. Die sprichwörtliche Bergpredigt       Feier zu Ende geht, da tritt
      sei so gehalten worden, berichtet der Evangelist       die Rabbinerin noch ein-
      Matthäus: Auf einem Berg vor Hunderten von             mal nach vorne. Sie
      Menschen legte Jesus die Hebräische Bibel aus: „Ihr    schaut in die Ge-
      wisst, dass es dort heißt: Auge um Auge, Zahn um       meinde, hebt die
      Zahn. Und ich sage euch … – Ihr wisst, dass es         Arme und sagt:
      dort heißt: Du sollst deine Mitmenschen lieben und     „Der Herr segne
      deine Feinde hassen. Und ich sage euch: Liebet         dich und behüte
      auch eure Feinde …“                                    dich …“
         Jesus versteht sich als Jude. Er legt die Glau-         Nicht nur der
      benszeugnisse seines Volkes aus. Er beein-             Schlusssegen ist
      druckt dabei Menschen mit seiner wortmäch-             oft gleich, denn im evangelischen Gottesdienst
      tigen Autorität. Aber er steht im Kontext des          wie im Synagogengottesdienst ist der Aaroniti-
      damaligen Judentums – er ist ein Teil davon.           sche Segen Standard. Der christliche Gottes-
         Genauso verstehen sich auch die Menschen,           dienst weist viele weitere Verbindungen zum
                           die Jahrzehnte später über        Gottesdienst in der Synagoge auf. Christinnen
                                sein Leben berichten, als    und Christen beten seit dem 1. Jahrhundert die
                                  Juden: Die Evangelisten    Psalmen Israels. Sie singen auf Hebräisch »Hal-
                                   zitieren    aus   dem     leluja«, »Hosianna« und »Amen«. Mit dem
                                   Tanach – das sind Tora,   priesterlichen Segen aus dem 4. Buch Mose be-
                                  Propheten und übrige       schließen sie jeden Sonntag ihren Gottesdienst.
                                   Schriften. Es ist wort-
                                  gleich das Alte Testa-     Verbundenheit mit dem jüdischen Volk
                                  ment der Christen.         Alle evangelischen Landeskirchen in Deutsch-
                                 Damit wollen sie zeigen,    land bekennen heute die bleibende Erwählung
                                 dass Jesus innerhalb der    des Volkes Israel. Im Grundsatzartikel der Kir-
                               jüdischen Tradition steht.    chenordnung unserer rheinischen Landeskir-
                                  Und auch der Apostel       che steht: „Unsere Kirche bezeugt die Treue
                             Paulus, nach Jesus von Na-      Gottes, der an der Erwählung seines Volkes
                            zareth die wirkmächtigste        Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen
                            Gestalt im frühen Christen-      neuen Himmel und eine neue Erde.“
                            tum, spricht von sich selber         Vor diesem Hintergrund bekennen Christin-
      als Juden. Den Christen in Rom schreibt Pau-           nen und Christen heute, dass sie mit dem jüdi-
      lus, als Nicht-Juden seien sie auch nur dazu er-       schen Volk verbun-
      wählt zum ersten Volk Gottes: „Du bist wie der         den sind – und sich
      Zweig eines wilden Ölbaums, der eingepfropft           darin Gottes Ver-
      wurde und jetzt wie die anderen Zweige vom Saft        heißung an Abraham er-
      aus der Wurzel des edlen Ölbaums genährt wird.         füllt: „Ich will dich seg-
      Doch das ist kein Grund, verächtlich auf die ande-     nen … und du sollst
      ren Zweige herabzusehen. Wenn Du meinst, Du            ein Segen sein. Ich
      hättest das Recht dazu, dann lass Dir gesagt sein:     will segnen, die
      Nicht Du trägst die Wurzel, die Wurzel trägt Dich.“    dich segnen, und ver-
      (Römer 11,17f)                                         fluchen, die dich verflu-
                                                             chen; und in dir sol-
      Viele Parallelen im Gottesdienst                       len gesegnet wer-
      Ein Sprung in die Gegenwart: Da stehen zwei            den alle Geschlech-
      Geistliche in ihren Gotteshäusern. Sie halten Got-     ter auf Erden.“
      tesdienst – zwei Straßenecken voneinander entfernt:    (1 Mose 12,1-3)
      Der evangelische Pfarrer und die jüdische Rabbine-

       TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir                                                           5
KURIER SOMMER 2021 - Shalom - Friede sei mit dir - Evangelische Kirchengemeinde ...
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       Smartphone-App für Stolpersteine
       Der Kölner Bildhauer Gunter Demnig
       erinnert an die Opfer der Zeit des Na-
       tionalsozialismus, indem er vor ihrem
       letzten selbst gewählten Wohnort Ge-
       denktafeln aus Messing in den Bürger-
       steig einlässt.

       Projekt des WDR
       Ein Projektteam des Westdeutschen
       Rundfunks arbeitet derzeit an einer
       technisch innovativen App, durch die
       das Kunstprojekt von Gunter Demnig
       digital erweitert wird. So können die
       bewegenden Geschichten zu den Stol-
                                                Foto: Therese Mueller, Hennef

       persteinen in ganz Nordrhein-Westfa-
       len erlebbar werden. Ziel des Projek-
       tes ist es, eine Ortsgrenzen übergrei-
       fende, moderne Form des Erinnerns
       zu schaffen. Die App wird konzipiert
       für die mobile Nutzung auf dem Smartphone                                      Stolpersteine in Hennef
       und als Webseite für den heimischen PC.                                        In Hennef wurden seit 2005 bisher 28 Stol-
          Mit Fotos, Audios, Videos, Texten und auch                                  persteine verlegt. 20 Stolpersteine werden der-
       mit Augmented Reality-Anwendungen werden                                       zeit in der Christuskirche verwahrt, bis zu dem
       die Geschichten der Stolperstein-Opfer vor Ort                                 Zeitpunkt, wo sie im Rahmen einer öffentli-
       erzählt – also dort, wo die über 13 000 Stolper-                               chen Veranstaltung in die Bürgersteige einge-
       steine jeweils liegen und der Betrachter sich                                  lassen werden können – voraussichtlich wird
       fragt: Wer war dieser Mensch, wie hat er gelebt                                das Ende Juni 2021 sein.
       und was ist ihm widerfahren?                                                      In Geistingen, Rott und Stadt Blankenberg,
          „Stolpersteine NRW“ soll eine völlig neue                                   in der Bonner Straße und in der Frankfurter
       Art der inhaltlichen Auseinandersetzung mit                                    Straße erinnern die Stolpersteine an die Hen-
       dem Thema Nationalsozialismus bieten und im                                    nefer Bürgerinnen und Bürger, die einst hier
       Oktober 2021 veröffentlicht werden.                                            wohnten. Mit Hilfe der App können dann vor
                                                                                      Ort auch die Lebensgeschichten recherchiert
                                                                                      werden.

                                                                                      Zeitzeugen-App
                                                                                      Bereits im Jahr 2019 wurde die kostenfreie
                                                                                      App „WDR AR 1933–1945“ veröffentlicht.
                                                                                      Mithilfe von Augmented Reality lässt die App
                                                                                      Zeitzeugen ähnlich wie Hologramme mitten
                                                                                      im Wohnzimmer erscheinen. Eine Zeitzeugin
                                                                                      erzählt z. B. von ihrer Freundin Anne Frank, ein
                                                                                      Wehrmachtsoldat, der mit 18 Jahren an die
                                                                                      Front geschickt wurde, berichtet von seinen
                                                                                      Kriegserfahrungen.
                                                                                         Da die Zeitzeugen verschwinden, werden
                                                                                      so die persönlichen Erinnerungen und Ge-
                                                                                      schichten der Überlebenden an die nächsten
                                                                                      Generationen weitergegeben.
                                                                                                                       Antje Bertenrath

       6                                                                        TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir
KURIER SOMMER 2021 - Shalom - Friede sei mit dir - Evangelische Kirchengemeinde ...
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      Die Jüdische Gemeinde in Hennef-Geistingen
      Mitte des 19. Jahrhunderts lebten in Geistingen         In den folgenden Jahren hat die Gemeinde
      68 jüdische Bürger und Bürgerinnen. In den           einen eigenen Begräbnisplatz in der Hermann-
      drei Bürgermeistereien Hennef, Lauthausen            Levy-Straße erworben, auf dem die jüdischen
      und Uckerath insgesamt lebten rund 150 Per-          Gemeindeglieder beerdigt wurden. Heute be-
      sonen mit jüdischer Religionszugehörigkeit.          finden sich dort noch 55 Grabsteine, die letzte
      Die Mehrzahl der jüdischen Bürger waren              Beerdigung fand 1978 auf dem Friedhof statt.
      Klein- und Viehhändler oder Trödler und
      gehörten zur armen Bevölkerungsschicht. Ab           Konfessioneller Friede
      1847 durften nach preußischem Gesetz Syna-           Die Jüdische Gemeinde Geistingen war ortho-
      gogengemeinden gegründet werden und die              dox, besaß jedoch keinen eigenen Rabbiner.
      Spezialsynagogengemeinde Geistingen traf sich        Gemeindevorsteher leiteten die Gemeinde
      in einem angemieteten Raum in der Gastwirt-          und den Gottesdienst und übernahmen die
      schaft Müller zum Gottesdienst.                      religiöse Unterweisung der Jugend. Anlässlich
                                                           des 50-jährigen Bestehens wurde die Synagoge
      Errichtung der Synagoge                              1912 grundlegend renoviert und erhielt Male-
      Über Bürgermeister Strunk (1834–1881) konnte         reien „im maurischen Styl“, das Jubiläum wur-
      finanzielle Unterstützung der Jüdischen Ge-          de mit einem Festakt gefeiert, bei dem Bürger-
      meinde in Berlin organisiert werden, so dass         meister Oskar Ungermann in seiner Festrede
      ein Grundstück zwischen Bergstraße und Söve-         den „herrschenden konfessionellen Frieden(s)“
      ner Straße erworben werden konnte. Im Au-            hervorhebt. Vertreter der katholischen und der
      gust 1862 fand die feierliche Einweihung des         evangelischen Gemeinden waren ebenso an-
      Neubaus der Synagoge Geistingen statt, „der          wesend, wie die Lehrerschaft von Hennef und
      durch seine Solidität und innere Schönheit die Be-   viele nichtjüdische Bürgerinnen und Bürger.
      wunderung aller erregt und dem Dorfe zur wahren
      Zierde gereicht“ (Zeitschrift „Der Israelit“ vom     Hoch angesehene Bürger
      3. 9. 1862).                                         Anfang des 20. Jahrhunderts beteiligten sich
                                                           die jüdischen Bürger und Bürgerinnen am ge-
                                                           sellschaftlich-sozialen Leben der Stadt.
                                                               Hermann Levy (1860 –1936) etwa war
                                                           viele Jahre Vorsteher der Synagogengemeinde
                                                           und war gleichzeitig seit 1884 Mitglied der
                                                           Feuerwehr Hennef, ab 1926 Ehrenvorsitzender
                                                           im Kameradschaftlichen Verein „Mit Gott für
                                                           König und Vaterland“ und Mitglied des
                                                           Männergesangvereins „Concordia“ seit 1932.
                                                           Herr Levy war Inhaber einer Kohlehandlung in
                                                           der Frankfurter Straße, er war verheiratet mit
                                                           Emilie Dreyfuss und Vater von zwei Töchtern.

                                                           Machtergreifung der Nationalsozialisten
                                                           Sie brachte ab 1933 nach und nach einschnei-
                                                           dende Veränderungen im gesellschaftlichen
                                                           Klima. Die antisemitische Hetze und menschen-
                                                           verachtende Gesetzgebung führten dazu, dass
                                                           Hermann Levy sich schon 1936 selbst das
                                                           Leben nahm.

                                                           Verfolgung der Gemeinde ab 1938
                                                           Am 10. November 1938 wurde die Synagoge
                                                           Geistingen niedergebrannt. Nachdem die Hen-

       TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir                                                         7
KURIER SOMMER 2021 - Shalom - Friede sei mit dir - Evangelische Kirchengemeinde ...
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                                                                                 viele Familien gerieten so
                                                                                 in große materielle Not.
                                                                                 Mit Kriegsbeginn wurden
                                                                                 ihnen Lebensmittel- und
                                                                                 Kleiderzuteilungen gekürzt
                                                                                 oder verweigert.

                                                                                  Deportation
                                                                                  der jüdischen Bürger
                                                                                  1941 wurden 14 meist
                                                                                  ältere Mitglieder der jüdi-
                                                                                  schen Gemeinde in das
                                                                                  ehemalige Arbeitslager in
                                                                                  Much „umgesiedelt“, wo
                                                                                  sie    unter     unsagbar
                                                                                  schlechten Bedingungen
                                                                                  lebten und von wo sie
                                                                                  etwa ein Jahr später in
                                                                                  das Konzentrationslager
       nefer SA dem reichsweiten Aufruf am 9. No-         Theresienstadt gebracht wurden.
       vember nicht nachgekommen war, hatte der              Sieben jüdische Familien wurden zum
       Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter          Umzug in sogenannte „Judenhäuser“ gezwun-
       Heinz Naas gemeinsam mit SS-Angehörigen            gen, so dass alle verbliebenen Geistinger Juden,
       aus Siegburg die Brandstiftung am 10. Novem-       rund 50 Personen, in vier Häusern in der
       ber durchgeführt. Am gleichen Tag wurden           Bergstraße, Sövener Straße und im Talweg
       zwölf jüdische Männer aus Hennef festgenom-        unter äußerst beengten Verhältnissen wohnen
       men und über Brauweiler ins Konzentrations-        mussten. Im Juli 1942 wurden alle Mitglieder
       lager Dachau gebracht. Die sogenannte              der jüdischen Gemeinde in die Konzentrations-
       „Schutzhaft“ dauerte mehrere Wochen, zum           lager Theresienstadt und Litzmannstadt und
       Teil kamen die Männer erst 1939 aus Dachau         weiter nach Auschwitz deportiert und fast alle
       zurück. Ab dem 12. November 1938 wurde             ermordet. Zwei Personen überlebten die Ver-
       Juden das Betreiben von Geschäften und eines       folgung.                          Antje Bertenrath

       „Diese Vielfalt ist ein Festjahr wert!“
          Wolfgang Hüllstrung ist seit 2019 Landespfarrer für das christlich-jüdische Gespräch.
        In der Evangelischen Kirche im Rheinland gestaltet er die Beziehungen zu den jüdischen
              Gemeinden maßgeblich mit. Mit dem 57jährigen sprach Stefan Heinemann.

       Herr Hüllstrung, wieso feiern wir                  Stadtverwaltung zu sorgen – nicht zuletzt auch
       gerade jetzt 1.700 Jahre jüdisches Leben           finanziell. Aber es wird klar, sie galten als
       in Deutschland?                                    gleichwertiger und wichtiger Bestandteil der
       Der Anlass ist eine antike Urkunde, die als äl-    Stadtgesellschaft. Konstantins Dekret wurde
       tester Beleg für jüdisches Leben im deutsch-       reichsweites Gesetz.
       sprachigen Raum gilt. 321 erlaubte der römi-
       sche Kaiser Konstantin auf Anfrage dem Köl-        Was genau feiern wir denn da?
       ner Stadtrat, auch jüdische Bürger zur Mitglied-   Welche Tonlage hat dieses Jubiläum?
       schaft im Stadtrat verpflichten zu dürfen.         Ich finde es schön, dass die ersten Impulse
       Dabei ging es allerdings weniger um Toleranz       dazu aus der jüdischen ‚Community‘ kamen:
       als um die Pflichten, für eine funktionierende     Jüdische Menschen v. a. aus Köln wollten diese

       8                                          TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir
KURIER SOMMER 2021 - Shalom - Friede sei mit dir - Evangelische Kirchengemeinde ...
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      lange Geschichte als Grund zum Feiern anse-         Vielfalt an Dialogprojekten – von Synagogen-
      hen. Wir wissen, diese Geschichte hatte auch        besuchen kirchlicher Gruppen, über gemein-
      unglaublich dunkle Kapitel.                         same Bibelgespräche, Fortbildungs- und Studi-
         Aber das Jubiläumsjahr soll den Blick weiten     entagungen mit Rabbinern, Kooperationen in
      auf verschiedene Phasen des Zusammenlebens.         den Gesellschaften für christlich-jüdische Zu-
      Es ist ein Festjahr wert, dass es das Judentum      sammenarbeit bis hin zu Jugendaustauschpro-
      heute in Vielfalt in unserem Land gibt – und        grammen nach Israel.
      dass wir trotz des schlimmen 20. Jahrhunderts          Reibungspunkte gibt es an interkulturellen
      mit jüdischen Menschen darin eine Kontinuität       Grenzen. Nach 1989 haben die jüdischen Ge-
      sehen dürfen.                                       meinden einen großen Zuzug von Menschen
                                                          aus Osteuropa erlebt: Diese stellen heute vie-
      Wieso ist dieses Jubiläum für uns als               lerorts die Mehrheit der Mitglieder. Darüber
      Evangelische Kirche im Rheinland                    sind modern-orthodoxe Frömmigkeitsformen
      von Interesse?                                      zum Mainstream geworden.
      Unsere Landeskirche ist in Bezug auf die jü-
      disch-christlichen Beziehungen eine der profi-
      liertesten: Ab Mitte der 60er Jahre wurde im
      Rheinland viel getan für das gestaltete, dialogi-
      sche Zusammenleben.
          Seitdem ist die Kontaktpflege und der Aus-
      tausch mit den jüdischen Gemeinden ein Her-
      zensanliegen für uns, weil wir Christentum
      nicht mehr grundsätzlich getrennt verstehen
      können vom Judentum. Unsere Glaubensge-
      meinschaften leben seit zwei Jahrtausenden in
      einem Verhältnis der gegenseitigen Wahrneh-
      mung. Sie sind „Zwei Völker in Deinem Leib“
      – so der Titel eines wichtigen Buchs des Histo-
      rikers Israel Yuval.

                                                                                                     Foto: privat
      Unsere Landeskirche hat eine
      besondere Geschichte mit den
      jüdischchristlichen Beziehungen?                        Unsere Dialogpartner sind andere als die
      Ja, 2020 haben wir das 40jährige Jubiläum des       ‚liberalen Aushängeschilder‘ in den 70er und
      wegweisenden Synodalbeschlusses „Zur Er-            80er Jahren. Hier im Rheinland, wo wir eine
      neuerung des Verhältnisses von Christen und         der höchsten Dichte an Synagogengemeinden
      Juden“ gefeiert. 1980 ging unsere Landeskirche      in Europa haben, kann es schwieriger und kon-
      weit über das hinaus, was in Deutschland Kon-       fliktreicher sein, die Beziehungen und den Dia-
      sens war.                                           log konstruktiv zu gestalten.
          Unter Bezug auf die Geschichte der Schoah
      wurden jahrhundertelange antisemitische Ten-        Juden und Christen – was hält sie
      denzen in ihren theologischen Zusammenhang          in aller Verschiedenheit zusammen?
      gestellt. Angemahnt wurde, dass wir eine            Die Tür zum Judentum ist der Glaube an Jesus
      christliche Theologie brauchen, die ohne anti-      Christus. Wenn wir uns – mit dem Apostel
      judaistische Polemik auskommt. Eine Folge           Paulus – verstehen als ‚Gemeinde aus den Völ-
      war, dass zahlreiche Formen des christlich-jüdi-    kern‘, dann nimmt uns dieser Glaube mit hin-
      schen Dialogs auf vielen kirchlichen Ebenen         ein in den Glauben, den der Jude Jesus verkör-
      fest etabliert wurden.                              pert. Glaube und Wirken des Völkerapostels
                                                          Paulus haben zwar eine Entwicklung in Gang
      Wie sieht die gelebte Gegenwart                     gesetzt, die uns aus dem Judentum herausge-
      der jüdisch-christlichen Beziehungen aus?           führt hat. Aber der Glaube an Jesus als Messias
      In den letzten 40 Jahren ist viel gewachsen.        ist erwachsen aus Wurzeln, die wir mit dem Ju-
      Auf örtlicher und regionaler Ebene gibt es eine     dentum teilen.

       TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir                                                                9
KURIER SOMMER 2021 - Shalom - Friede sei mit dir - Evangelische Kirchengemeinde ...
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       „Ich fühle mich hier (fast) wie in Jerusalem!“
          Roman Kovar ist Hennefer Bürger. In seinem Verlag veröffentlicht er Publikationen
         zum Judentum und andere besondere Bücher. Außerdem importiert er koschere Weine
         und leitet das Matrix-Zentrum für geistliches Heilen. Mit ihm sprach Antje Bertenrath.

       Wie lange leben Sie in Hennef?
       Ich lebe seit elf Jahren in Auel und fühle mich
       hier im Rheinland sehr wohl und wie ein Ein-
       heimischer.

       Sie tragen in der Öffentlichkeit Ihre Kippa
       – welche Erfahrungen machen Sie damit?
       Im Rheinland trage ich vom ersten Tag an
       meine Kippa und ich bekomme viele positive
       Reaktionen: Menschen sprechen mich freund-
       lich auf dem Parkplatz an oder rufen mir „Sha-
       lom“ zu, wenn sie mit dem Fahrrad an meinem

                                                                                                                Foto: Marie-Louise W.J. Jung
       Haus vorbeifahren und mich im Garten arbei-
       ten sehen. Im Blick auf das Tragen der Kippa
       fühle ich mich wie in Jerusalem, dort ist es ganz
       selbstverständlich, dass die Kippa getragen
       wird.                                               Welcher Synagogengemeinde
                                                           fühlen Sie sich zugehörig?
       Haben Sie da auch schon                             Ich gehöre zur Synagogengemeinde Bonn, die
       andere Erfahrungen gemacht?                         mit Köln zusammenarbeitet. In Bonn gibt es
       Oh ja! Ich bin in Prag geboren, habe aber deut-     zum Beispiel kein rituelles Bad. Wenn ich in die
       sche Vorfahren. 1966 bin ich nach Deutsch-          Mikwe möchte, muss ich nach Köln fahren.
       land gezogen und habe 45 Jahre in Bayern ge-        Köln ist eine der größten jüdischen Gemeinden
       lebt – dort hatte ich die Kippa immer in der        in Deutschland und die älteste nördlich der
       Hosentasche und habe sie nur in der Synagoge        Alpen.
       aufgesetzt.
                                                           In diesem Jahr feiern wir 1.700 Jahre
       Sind Sie denn dort wegen                            jüdisches Leben nördlich der Alpen –
       Ihrer Religion angefeindet worden?                  was halten Sie von diesem Festjahr?
       Ja, in Bayern habe ich viele Anfeindungen er-       Das ist eine tolle Sache! Ich bin Mitglied in die-
       lebt. Ich habe im Schuldienst gearbeitet, 1985      sem Verein „321 – 2021: 1700 Jahre jüdisches
       stellte mich der Rektor dem Kollegium als           Leben in Deutschland e.V.“ – wir Juden sind
       neuen Kollege vor und fragt mich dabei, ob ich      mit den Römern über die Alpen gekommen
       evangelisch oder katholisch sei. Ich antwortete,    und uns gibt es hier schon immer. Im Jahr 321
       dass ich Jude sei und darauf fragte mich der        sind wir erstmals in einem offiziellen Doku-
       Rektor „Und wie können Sie damit leben, dass        ment, einem Edikt von Kaiser Konstantin er-
       Sie unseren Herrn Jesus umgebracht haben?“          wähnt, das belegt, dass auch Juden in die Ämter
           Ich habe dann geantwortet, dass Jesus Jude      der Kurie und der Stadtverwaltung berufen
       war und damit „unser“ Glaubensgenosse, au-          werden und ganz selbstverständlicher Teil der
       ßerdem hätten ihn die Römer zum Tode ver-           Gesellschaft sind.
       urteilt und hingerichtet und ich fragte den Rek-
       tor, wie er damit klarkommt, dass er sechs Mil-     Jüdische Gemeinden haben
       lionen Juden ermordet hat. – Der Mann hat           unsere Kultur, Kunst und Wissenschaft
       mich von da an nicht mehr gegrüßt.                  wesentlich geprägt.
           Solche unglaublichen Angriffe und Kom-          60 Prozent der Juden weltweit leben auch
       mentare haben ich mehrfach erlebt.                  heute nicht in Israel, sondern in der Zerstreu-

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2021_Kurier_SOMMER     27.05.2021     0:32 Uhr     Seite 11

      ung. Juden haben als sogenanntes „auserwähl-
      tes“ Volk eine besondere Gnade und Verpflich-         Schma Israel (5. Mose 6,4-9*)
      tung. Wir sind verantwortlich dafür, glaubwür-        Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der
      dige Vertreter unseres Glaubens zu sein und           HERR ist einer. Und du sollst den
      die Gesellschaften mit zu gestalten. Viele Jüdin-     HERRN, deinen Gott, lieb haben von
      nen und Juden engagieren sich in Bildung und          ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit
      Forschung und bringen mit herausragenden              all deiner Kraft.
      Leistungen die Wissenschaften voran – da              Und diese Worte, die ich dir heute gebiete,
      braucht man nur auf die Liste der Nobel-              sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie
      preisträger zu schauen.                               deinen Kindern einschärfen und davon
                                                            reden, wenn du in deinem Hause sitzt
      Welcher jüdischen Konfession                          oder unterwegs bist, wenn du dich nieder-
      sind Sie zugehörig?                                   legst oder aufstehst. Und du sollst sie bin-
      Und wie bestimmt das Ihren Alltag?                    den zum Zeichen auf deine Hand, und sie
      Ich bin konservativer Jude. Das bedeutet für          sollen dir ein Merkzeichen zwischen dei-
      mich, dass ich jeden Morgen und jeden Abend           nen Augen sein, und du sollst sie schreiben
      das „Schma Israel“ bete, morgens lege ich dazu        auf die Pfosten deines Hauses und an die
      die Gebetsriemen an. In meinem Haus findet            Tore. Amén!
      sich an jeder Tür eine Mesusa, die mich an das
      höchste Gebot erinnert (5. Mose 6,4). Den
      Schabbat eröffne ich am Freitagabend genau          Was können die christlichen Kirchen
      um 18 Minuten vor Sonnenuntergang: Dann             von der jüdischen Gemeinde lernen?
      werden die Kerzen angezündet, der Segen ge-         Spontan würde ich sagen: Das Bejahen des Le-
      sprochen und es gibt Challa Challot Barches.        bens! Im jüdischen Glauben ist das Leben hei-
      Das koschere Brot backe ich selber oder kaufe       lig. Chai! Der Mensch darf sich am Leben
      es in einer koscheren Bäckerei in Köln.             freuen, feiern und genießen. Auch die Natur
         Jeder Schabbat ist wie Heiligabend: Es wird      steckt voller Leben und Freude. In der christ-
      aufgeräumt, das schönste Geschirr und Besteck       lichen Kirche – vielleicht besonders bei den
      kommt auf den Tisch und es wird gefeiert, 52        Evangelischen – erscheint das Leben als ein
      mal im Jahr. Und da ich schon über 70 Jahre alt     „Jammertal“ und ein „Leidensweg“. In vielen
      bin, habe ich schon mehr als zehn Jahre meines      Diskussionen mit einem evangelischen Pfarrer
      Lebens Sabbat gefeiert!                             in meinem Bekanntenkreis hat er mir jedenfalls
                                                          diesen Eindruck vermittelt.
      Sind die Speisevorschriften                             Zum Jubiläumsjahr ist auch eine Sondermarke
      für orthodoxe Juden kompliziert?                    erschienen: „LECHAIM – AUF DAS LEBEN!“
      Ich bin damit aufgewachsen und in Köln oder         So prostet man sich zu, wenn man feiert und
      in Antwerpen kann ich alles bekommen, was           darin ist etwas vom jüdischen Lebensgefühl
      ich für eine koschere Ernährung brauche. Mit        ausgedrückt.
      koscherem Wein handele ich selber. Dieser
      Wein ist vegan, wird nach strengen Regeln ge-       Welchen biblischen Text
      erntet und gekeltert. Beim Keltern dürfen nur       lieben Sie besonders?
      gläubige Personen im Raum anwesend sein             Es gibt so viele schöne Geschichten in der
      und zwei Prozent der Ernte müssen zugunsten         Bibel. Ich mag das Buch Ester, das zu Purim ge-
      der Armen gespendet werden. Außerdem esse           lesen wird. Im persischen Reich im 3. Jahrhun-
      ich nur koscheres Fleisch und das bedeutet,         dert vor der üblichen Zeitrechnung war das jü-
      dass die Tiere von Rabbinern mit zweijähriger       dische Volk durch den hohen Regierungsbe-
      Zusatzausbildung geschlachtet werden. Die           amten der Perser Haman bedroht. Die schöne
      Geistlichen lernen, wie die Tiere schmerzfrei       Ester setzt sich beim König mutig für ihr Volk
      getötet werden und sie beten für die Seele des      ein; er heiratet sie und führt die Rettung durch
      Tieres und segnen es. Tiere sind im Judentum        Fasten und Beten herbei. Das jüdische Volk
      als Mitgeschöpfe geachtet, sie sollen etwa auch     verteidigt sich gegen seine Feinde und dann
      den Sabbat halten – so steht es ausdrücklich in     wurde ausgeruht, gegessen und getrunken und
      den Geboten.                                        gefeiert!

       TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir                                                        11
2021_Kurier_SOMMER     26.05.2021     23:19 Uhr     Seite 12

       Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“
       Sie will die Erinnerung und das Wissen um          letzte gemeinsame Foto von Max und Maria
       das verheerendste Kapitel der deutschen Ge-        Seligmann mit ihrer Tochter und den vier Söh-
       schichte weitertragen und für Gegenwart wie        nen. Der älteste Sohn Alfred emigrierte im glei-
       Zukunft ein mahnendes Zeichen setzen: Die          chen Jahr mit seiner Frau Hilde nach Argenti-
       Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“. Wer-         nien. Seine Geschwister und ihre Ehepartner
       den und Wirken skizziert ihre Leiterin, Dr.        und Kinder wurden Opfer des nationalsozialis-
       Claudia Arndt.                                     tischen Terrors. Ende der 1950er Jahre kehrte
                                                          Alfreds Familie aus Argentinien nach Deutsch-
       Die Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“ in        land zurück – zunächst nach Rosbach, wo
       Windeck-Rosbach ist untrennbar verbunden           seine Eltern noch in dem Haus an der Berg-
       mit der Geschichte der Familie Seligmann: Sie      straße lebten.
       hat über mehrere Generationen in dem Haus
       an der Bergstraße in Rosbach gelebt, und Hilde     Authentizität der Gedenkstätte berührt
       Seligmann hat Anfang der 1980er Jahre im           Nachdem Ende 2015 am historischen Fach-
       Kontext mit der Ausstellung „Juden an Rhein        werkgebäude der Gedenkstätte größere Schä-
       und Sieg“ den Kontakt zum Kreisarchiv aufge-       den an der Bausubstanz festgestellt wurden,
       nommen und diesem zahlreiche Fotos und Ge-         begann eine aufwändige Sanierung des Ge-
       genstände aus Familienbesitz überlassen. Diese     bäudes, in deren Zuge auch eine Neugestal-
       und das Haus bildeten eine Grundlage zur           tung der in die Jahre gekommenen Daueraus-
       Schaffung dieser Einrichtung, die 1994 ihre        stellung beschlossen wurde. Bei dieser werden
       Pforten öffnete.                                   nun die Familiengeschichte und der authenti-
                                                                  sche Ort im Zentrum stehen. Diese
                                                                  Authentizität ist das, was Besucher –
                                                                  insbesondere die jungen Menschen –
                                                                  erfahrungsgemäß berührt und Empa-
                                                                  thie fürs Thema erzeugt. Am individuel-
                                                                  len Beispiel der Familie können auch
                                                                  sehr gut allgemeine historische Entwick-
                                                                  lungen erklärt und nachvollzogen wer-
                                                                  den, die dadurch nicht abstrakt wirken.
                                                                  Im Fokus der Neukonzeption stehen
                                                                  zudem vor allem Schüler*innen ab etwa
                                                                  zehn Jahren und aller Schulformen. In
                                                                  jedem Raum befinden sich daher Mög-
                                                                  lichkeiten der Interaktion, so dass sie
                                                                  selbst die Geschichte sozusagen erfor-
                                                                  schen bzw. zu dem Gesehenen Stellung
                                                                  nehmen können.

       Geschichte der Hausbesitzerfamilie                 Nach Sanierung wieder öffnen
       Seit Beginn des 19. Jahrhunderts lebten Mitglie-   Nachdem die Gebäudesanierung bereits abge-
       der der Familie Seligmann in Rosbach. Moses        schlossen ist, soll in diesem Jahr auch die Dau-
       Seligmann war 1888 maßgeblichen an der             erausstellung fertiggestellt werden und die
       Gründung der Rosbacher Synagogengemeinde           Gedenkstätte wieder ihre Pforten für die Be-
       beteiligt. 1919 kaufte er für seinen Sohn Max      sucher*innen öffnen. Damit wird dann eine
       und dessen Ehefrau Maria das Haus in der           mehrjährige Schließungsphase zu Ende gehen
       Bergstraße. Max hatte als Soldat im Ersten         und sich die Gedenkstätte mit neuer Konzep-
       Weltkrieg (1914–1918) gekämpft und verdiente       tion am alten Standort als moderner Lern- und
       nun den Lebensunterhalt für sich und seine Fa-     Forschungsort sowie als Ort der Begegnung
       milie als Altwarenhändler. 1938 entstand das       und des Gedenkens präsentieren können.

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      Was jeder übers Judentum wissen sollte
      Viel kann man über jüdisches Leben
      und Glauben nachlesen. Antje Ber-
      tenrath und Petra Biesenthal be-
      leuchten einige zentrale Begriffe
      näher.

      Das Judentum ist die älteste Religion
      der Welt, die nur einen Gott verehrt.
      Den jüdischen Glauben gibt es seit
      über 3500 Jahren. Aktuell leben
      weltweit rund 14,5 Millionen Men-
      schen jüdischen Glaubens, die meis-
      ten davon in den USA (6,9 Mio.) und
      Israel (6,7 Mio.). In Deutschland sind
      geschätzt 200 000 Jüdinnen und
      Juden ansässig.
          Die Religionsvorschriften definie-
      ren eine Person als jüdisch, wenn sie
      eine jüdische Mutter hat, unabhängig
      davon, ob oder wie sehr sie die jüdi-
      schen Glaubensvorschriften befolgt.
      Dabei ist Bedingung, dass die Mutter
      bei der Empfängnis Jüdin war. Außer-
      dem gilt als Jude, wer formell die Konversion    Jüdische Feiertage im September 2021
      (Giur) zum Judentum vollzogen hat.               Rosch Haschana 5782
                                                       fällt in diesem Jahr auf den 7. und 8. Septem-
      Jüdisches Leben in der Presse                    ber. Es ist das Neujahrsfest. Die jüdische Zeit-
      Interessante Informationen zum aktuellen Jüdi-   rechnung zählt nicht ab der Geburt Jesu, son-
      schen Leben in Deutschland und der Welt gibt     dern richtet sich nach der Weltschöpfung bzw.
      es auf den Websites der Zeitungen                der Erschaffung Adams. Das neue Jahr wird
         https://juedischerundschau.de/ und            mit zehn ehrfurchtsvollen Tagen begonnen, in
         https://www.juedische-allgemeine.de/          denen die Gläubigen sich besinnen, wie sie ihr
                                                       Leben gestalten und (neu) nach dem Willen
      Ausgewählte Begriffe aus dem Judentum:           Gottes ausrichten wollen. Diese Zeit endet mit
      Chasan       Vorbeter, Kantor                    dem Jom Kippur am 16. September. Dieser
                                                       Versöhnungstag ist der höchste jüdische Feier-
      Dawenen      Lobpreisungen sagen, ugs. Beten     tag, er wird als strenger Ruhe- und Fastentag
      Giur         Übertritt zum Judentum              begangen.
      HaSchem      „Der Name“ (für Gott)
                                                       Sukkot
      Kaddisch     Heiligkeitsgebet                    Das Laubhüttenfest, wird kurz darauf gefeiert,
      Jeschiwa     Talmudhochschule für Männer         vom 21.–27. September. Das Fest erinnert an
      Sem          Talmudhochschule für Frauen         den Auszug des Volkes Israels aus Ägypten und
                                                       das unsichere Leben in der Wüste. Sicherheit
      Scheitel     Kopftuch für Frauen ab Hochzeit     gibt es nicht durch materiellen Wohlstand, son-
      Schma Israel Höre, Israel, Höre                  dern durch das Mitsein Gottes. Unmittelbar im
      Schul        Synagoge                            Anschluss an Sukkot wird am 29. September
                                                       Simchat Tora gefeiert, die Freude an der Tora,
      Siddur       Ordnung der Gebete                  am Gebot Gottes, schließt die Reihe der
      Tallit       Gebetsmantel                        herbstlichen Feste ab.

       TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir                                                     13
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       Einheitsgemeinden mit großer Vielfalt
       Wie sieht die Situation der Jüdischen Gemein-      zu einer Schicksalsgemeinschaft zu gehören.
       den in Deutschland heute aus? Welche Chan-         Das sei ein Teil ihrer Identität. „Ebenso bin ich
       cen und Herausforderungen gibt es? Dazu            aber Deutsche, Linke, Frau, Rheinländerin und
       geben einige Eindrücke Dr. Inna Goudz vom          vieles mehr“, betont sie. Das Jüdischsein und
       Landesverband der Jüdischen Gemeinden              das Deutschsein widersprechen sich in ihren
       Nordrhein und Schulamith Weil, Gemeinde-           Augen nicht. Doch das sei ihre Sicht der Dinge.
       mitglied in Bonn.
                                                          Einheitsgemeinde als Konzept
       „Man geht davon aus, dass in ganz Deutsch-         Darüber hinaus gebe es insgesamt in der jüdi-
       land etwa 200 000 jüdische Menschen leben“,        schen Community in Deutschland eine große
       sagt Dr. Inna Goudz. Sie ist Geschäftsführerin     Bandbreite jüdischer Identitäten. Um diese
       des Landesverbandes der Jüdischen Gemein-          unter einem Dach zu vereinen, seien die meis-
       den von Nordrhein und kennt sich mit den           ten Jüdischen Gemeinden in Deutschland heute
       entsprechenden Zahlen aus. Von diesen Men-         so genannte Einheitsgemeinden, beschreibt Inna
       schen seien rund die Hälfte in Jüdischen Ge-       Goudz die derzeitige Situation. „Das heißt, sie
       meinden organisiert. In Nordrhein-Westfalen sind   sind für alle Strömungen des Judentums offen“,
       es 22 Gemeinden mit rund 27 000 Mitglie-           so Goudz weiter. Das Konzept der Einheitsge-
       dern. „Der Landesverband Nordrhein ist mit         meinden existiere bereits seit dem 19. Jahrhun-
       über 15 500 Mitgliedern der mitgliedsstärkste      dert und habe auch rechtliche Gründe. „Nach
       der insgesamt vier jüdischen Landesverbände        der Shoa war die Zahl der Mitglieder in den
       in Nordrhein-Westfalen“, ergänzt sie. Zum Ver-     Gemeinden so gering, dass die Trennung in
       band zählen die Gemeinden in Aachen, Duis-         Gemeinden verschiedener Richtungen keinen
       burg-Mülheim / Ruhr-Oberhausen, Düsseldorf,        Sinn machte“, beschreibt sie die damalige
       Essen, Krefeld, Mönchengladbach und Wup-           Situation. So führte die Einheitsgemeinde als
       pertal. Und auch die Gemeinde in Bonn gehört       Konzept erneut jüdische Menschen zusam-
       dazu.                                              men. „Heute leben in Deutschland sehr viele
                                                          Jüdinnen und Juden mit unterschiedlichsten
       Jüdin, Deutsche, Linke, Frau und viel mehr         Lebensgeschichten, Herkünften, Lebensent-
       In dieser Gemeinde ist Schulamith Weil soziali-    würfen und Ansichten auf die Religion und das
       siert worden. Ihre Mutter Alisa Weil pflegte       Leben im Allgemeinen. Viele leben säkular.
       einen engen Kontakt zur jüdischen Gemeinde         Manche bringt das aber nicht davon ab, sich in
       der damaligen Bundeshauptstadt. „Alisas Vater      den Gemeinden ebenfalls ehrenamtlich für die
       war Jude und sie verstand sich ebenfalls als       jüdische Gemeinschaft zu engagieren. Aber
       Jüdin“, berichtet Schulamith über ihre verstor-    auch die Religion und der Glaube werden ge-
       bene Mutter. Allerdings habe sich Alisas jüdi-     lebt und auch von Jüngeren mit neuem Leben
       sche Identität auch aus der Shoa, der Verfol-      gefüllt“, sagt die Geschäftsführerin des Landes-
       gung und der Flucht nach Palästina ergeben.        verbandes.
       Formell musste sie nach jüdischem Gesetz, weil
       sie keine jüdische Mutter hatte, konvertieren,     Zuwanderung aus Osteuropa
       was sie erst nach dem Krieg erfuhr und dann        Schulamith Weil hat die Entwicklung in der
       auch tat.                                          Bonner Einheitsgemeinde miterlebt. „Sie wäre
          Schulamith selbst ist als Jüdin aufgewachsen:   heute deutlich kleiner, wenn es nicht die kon-
       „Ich habe am Religionsunterricht in der Syna-      tinuierliche Zuwanderung jüdischer Menschen
       goge teilgenommen und in Köln meine Bat-           aus Osteuropa in den vergangenen Jahrzehn-
       Mizwa gefeiert.“ Ihr Ziehvater Manfred Weil        ten gegeben hätte“, sagt sie. Das präge die
       sei nur zu hohen religiösen Feiertagen mit in      Gemeinde zurzeit und wirke sich auf das Ge-
       die Synagoge gegangen, „wohl auch meiner           meindeleben aus. Während der mehrsprachige
       Mutter zur liebe“. Insgesamt sei ihre Familie      Chor eine schöne Bereicherung darstelle,
       aber nie orthodox geprägt gewesen. Das Jü-         stimme die Tendenz der Zugewanderten zu
       dischsein bedeutet für Schulamith Weil auch,       strengerer Religiosität nicht immer mit ihren ei-

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      genen, nicht orthodoxen Überzeugungen über-                 aussetzung“, meint Weil. Die eigentliche Funk-
      ein. Im Gottesdienst der Gemeinde in Bonn                   tion eines Rabbiners sei die eines Lehrer. Viele
      würden im Wesentlichen alle religiösen Ge-                  Gemeinden hätten auch aus finanziellen Grün-
      setze eingehalten, der Fokus liege jedoch mehr              den keinen. In Bonn gebe es derzeit keinen
      auf dem Gemeindeleben als auf einer ortho-                  Rabbiner. „Vor einigen Jahren wurde ein Rab-
      doxen Lebensführung. Für einen Gottesdienst                 biner engagiert, der an einer streng orthodoxen
      müssen mindestens zehn Männer zusammen-                     Schule ausgebildet wurde. Wegen einiger un-
      kommen. Die Frauen sind von den Männern                     terschiedlicher Ansichten war er aber nicht
      getrennt und sitzen während der Tora-Lesung                 allzu lange in der Gemeinde“, erzählt Weil.
      auf der Empore.                                                 Für die Zukunft wünscht sich Geschäftsfüh-
         Dies ist durchgängige Praxis: „Grundsätzlich             rerin Inna Goudz, „dass die Jüdischen Gemein-
      orientiert sich die Einheitsgemeinde in ihrer               den vor Ort als fester Bestandteil der Stadtge-
      Liturgie an der orthodoxen Richtung“, bestätigt             sellschaft wahrgenommen werden“. Denn
      Inna Goudz. Der Grund dafür sei, dass man                   genau das seien sie. Alle Jüdischen Gemeinden
      davon ausgehe, die Anhängerinnen und An-                    seien in zahlreichen Gremien der Kommunen
      hänger des liberalen Judentums wären eher in                vertreten und rege am interreligiösen Dialog
      der Lage Kompromisse einzugehen als die or-                 beteiligt. Darüber hinaus engagierten sie sich
      thodox Gläubigen. „Ob dies heute noch zeit-                 im Sozialbereich.

      Inna Goudz                               Foto: Ilja Kagan   Schulamith Weil                   Foto: Martin Heiermann

      gemäß ist und wie viel Raum die unterschied-                Gemeinsame Schritte gehen
      lichen Prägungen unter dem Dach der Ein-                    Das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in
      heitsgemeinde zur Entfaltung benötigen, ist si-             Deutschland“ kann vielleicht dazu beitragen,
      cherlich eine der aktuellen Fragen, der sich die            dem Wunsch von Inna Gooudz näherzukom-
      jüdische Gemeinschaft derzeit widmet“, be-                  men. Schulamith Weil sieht in diesem, für sie
      stätigt sie.                                                eher willkürlich gewählten Anlass eine Mög-
                                                                  lichkeit, die Vielfalt jüdischen Lebens in
      Ohne Rabbiner                                               Deutschland aufzuzeigen. Der Blick könne
      Gerade auch wegen ihrer religiösen Vielfalt                 über alte Klischees und Verlautbarungen der
      sind die Einheitsgemeinden in Deutschland de-               jüdischen Institutionen hinaus geweitet wer-
      mokratisch verfasst und werden von einem ge-                den. Jüdisches Leben sei so vielfältig, wie das
      wählten Vorstand geleitet. In Bonn heißt die                Leben aller Menschen in Deutschland. Kontakt
      langjährige Vorsitzende Margaret Traub. An                  zu christlichen Gemeinden um „gemeinsam
      ihrer Seite steht, als ihr Stellvertreter, Leo Ka-          etwas zu entwickeln oder zu unternehmen“,
      minski. Anders als in christlichen Gemeinden,               empfiehlt Inna Goudz. Die Pandemie er-
      wo die Leitung unter anderem bei einem Pfar-                schwere das kulturelle Leben derzeit enorm,
      rer oder Priester liegt, steht der Rabbiner nicht           aber auch hier gebe es zahlreiche Ideen:
      selbstverständlich an der Gemeindespitze.                   „Gehen Sie nicht nur aufeinander zu, sondern
      „Notwendig ist es für eine jüdische Gemeinde,               laufen Sie gemeinsam ein paar Schritte“, so ihr
      einen Kantor zu haben, der den Gottesdienst                 Appell.
      gestaltet. Ein Rabbiner ist nicht unbedingt Vor-                       Martin Heiermann / Sebastian Schmidt

       TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir                                                                     15
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       In der Region wird Jubiläum gefeiert
       Auf der offiziellen Website zum Jüdischen Leben in                            und junge Erwachsene richtet. Auf 21 Stelltafeln
       Deutschland https://2021jlid.de/ werden neben                                 werden Beispiele aus unterschiedlichen Lebens-
       vielen Hintergrundinformationen bundesweit rund                               bereichen gezeigt. Antisemitismus ist bis heute
       1.3000 Veranstaltungen in unterschiedlichen For-                              weit verbreitet, hat sogar in den letzten Jahren
       maten angeboten. Petra Biesenthal stellt eine Aus-                            zugenommen. Ein Fünftel der Bevölkerung ist
       wahl in unserer Region vor.                                                   zumindest latent antisemitisch eingestellt. Die
                                                                                     Wanderausstellung ist vom 20. August bis zum
       Spuren jüdischen Lebens in Bonn                                               11. September im Dietrich-Bonhoeffer-Haus
       Zu insgesamt zwölf Stadtrundgängen lädt die                                   der Ev. Kirchengemeinde Sankt Augustin Nie-
       Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammen-                                derpleis und Mülldorf zu sehen.
       arbeit in Bonn e.V. in diesem Jahr ein. Am 11.                                Weitere Infos unter Telefon 0 22 41/2 52 15 11
       Juli findet der sechste Rundgang dieser Reihe
       statt und beschäftigt sich mit der jüdischen Be-                              Was macht jüdisches Leben heute aus?
       völkerung in der NS-Zeit in Bonn. Die Rund-                                   Der in Tel Aviv geborene Künstler Boaz Kaiz-
       gänge 7–12 waren zu Redaktionsschluss noch                                    man geht in einer begehbaren Medieninstalla-
       nicht veröffentlicht.                                                         tion im Kölner Museum Ludwig vom 3. Sep-
       https://bonn.deutscher-koordinierungsrat.de                                   tember 2021 bis 8. Januar 2022 der Frage
                                                                                     nach, was jüdisches Leben heute ausmacht. Für
       Musikalischer Einblick in jüdische Liturgie                                   seine Installation hat Kaizman mehr als 20 un-
       Am Abend des 18. August 2021 geben Olga                                       terschiedliche Videosequenzen erarbeitet. Sie
       Proujanskaia am Klavier und Aron Proujanski                                   alle erzählen davon, was jüdisches Leben ge-
       als Tenor im Rahmen eines Konzerts in der An-                                 genwärtig und in der Vergangenheit sein kann
       toniterkirche Köln musikalische Einblicke in die                              beziehungsweise war, in Köln und Tel Aviv.
       jüdische Liturgie. Im Herbst werden die Hohen                                 https://2021jlid.de/kalender/post-94/
       Jüdischen Feiertage begangen. Auf die zwei
       Feiertage von Rosch ha-Schana folgen die Tage                                 „Die Fischers, die Hamburgers
       der Buße und Einkehr. Zu deren Abschluss fin-                                 und die Bánds“
       det Jom Kippur statt, ein Ganztagesfasttag im                                 Am 27. Oktober 2021 liest Katalin Fischer im
       jüdischen Jahr. Darauf nimmt das Konzert                                      Festsaal der Universität Bonn aus ihrem Fami-
       Bezug.                                                                        lienepos. 1897 und danach: Der Budapester
       https://miqua.blog/veranstaltungen-und-vortrage/                              Brotfabrikant heiratet die hübsche Dienstmagd,
                                                                                     der Hausierer in Zenta, Südungarn, sieht von
       Wanderausstellung „Du Jude“                                                   seinem Sessel aus zu, wie sein Haus abbrennt,
       Alltäglicher Antisemitismus ist das Thema die-                                die Kinder des Berliner Bankiers tanzen sich
       ser Wanderausstellung, die sich an Jugendliche                                durch das losröhrende zwanzigste Jahrhundert.
                                                                                     Unterschiedliche Lebenswelten fließen zusam-
                                                                                     men, jüdische Schicksale aller Art.
                                                                                     https://miqua.blog/veranstaltungen-und-vortrage/

                                                                                     Meet a Jew
                                                                                     Bei diesem Projekt des Zentralrats der Juden in
                                                                                     Deutschland haben Jugendliche und andere
                                                                                     Interessierte die Gelegenheit, mit jüdischen Ju-
                                                                                     gendlichen und Erwachsenen, die sich ehren-
                                                                                     amtlich im Projekt engagieren, über das aktu-
                                                                                     elle jüdische Leben in Deutschland zu spre-
                                                            Foto: Adobe Photostock

                                                                                     chen. Eine Begegnung dauert 90 Minuten und
                                                                                     kann entweder in Präsenz oder online stattfin-
                                                                                     den.
                                                                                     www.meetajew.de

       16                                           TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir
2021_Kurier_SOMMER     26.05.2021                23:19 Uhr     Seite 17

      Blick in die Zukunft nicht ohne Sorgen
      „Wie fühlen sich junge jüdi-
      sche Erwachsene heute in
      Deutschland?“ Diese Frage
      stellte Dorothee Akstinat
      einer Studentin in Berlin
      und erhielt eine bedenkens-
      werte Antwort.

      Michal stammt aus Lübeck.
      Dort gab es keine spezielle
      jüdische Schule wie etwa in
      Berlin. So war Michael in der
      Grundschule vom Religions-
      unterricht befreit.
                                      Foto: Adobe Photostock

         Sie kann sich daran erin-
      nern, dass sie in der 4. Klasse
      einmal sogar körperlich
      attackiert wurde, weil ein
      Mitschüler sie als Jüdin nicht
      akzeptieren konnte.                                             Auch „aus der linken Ecke“ spürten viele
         Auf dem Gymnasium nahm sie am allge-                      Juden eine unterschwellige Antihaltung ge-
      meinen Religionsunterricht teil und lernte dort              genüber Israel – es würden vielfach nur „die
      manches über die christliche Bibel – ihre Leis-              armen Palästinenser“ gesehen.
      tungen wurden allerdings auf ihren Wunsch                       Wenn man sich zu Israel bekennte, käme
      und dem ihrer Eltern hin nicht bewertet.                     das bei manchen Deutschen gar nicht gut an.
                                                                      In Studentengesellschaften könne man man-
      Eigene Religion nicht sichtbar machen                        che Ressentiments gegen Israel erkennen – also
      Als sie älter wurde, wollte sie ihr Jüdischsein              „mehr Antizionismus als Antisemitismus“.
      „nicht an die große Glocke hängen“ und trägt                    So könne man inzwischen im Vergleich
      deshalb auch kein sichtbares Zeichen ihrer Re-               etwa zu 1999 wesentlich mehr Angriffe und
      ligionszugehörigkeit wie eine Kette mit Davids-              Beleidigungen in Deutschland gegenüber Juden
      stern – abgesehen von sehr kleinen Ohr-                      feststellen. Wenn in Israel „etwas passiert“,
      steckern, auf denen man diese Symbole kaum                   spüre man hier in Deutschland auch mehr
      erkennen kann.                                               Anti-Israel-Haltung.
          Ihr Freundeskreis in Berlin ist gemischt – sie              Nach ihrer und anderer Leute Kenntnis leb-
      merkt aber, dass man sich „auf gleicher Wel-                 ten Juden und Nichtjuden in den USA mit viel
      lenlänge“ besser versteht, wenn also Juden                   größerer Selbstverständlichkeit miteinander –
      unter sich sind.                                             besonders in Großstädten.

      Viele Jüngere wollen auswandern                              Ist das nicht erschütternd?
      Michals Blick in die Zukunft ist leider nicht                Viele, die Wert auf ein freies jüdisches Leben
      ohne Sorge. Sie berichtet, dass viele jüngere                legen, wollen also lieber weg aus Deutschland.
      Juden auswandern oder ihre Auswanderung                         Ich finde das so erschütternd, dass ich mich
      planen. In anderen Ländern Europas oder in                   wirklich frage, wo wir heute stehen und wie es
      den USA scheinen sie ein sichereres Leben zu                 so weit kommen konnte. Wie können wir un-
      erwarten.                                                    seren jüdischen Mitbürgern in dieser Lage hel-
         Sie beklagt, dass manche Muslime ihre anti-               fen?
      semitischen Feindbilder aus ihren Heimatlän-
      dern mit nach Deutschland bringen und teil-
      weise sogar die Nazizeit glorifizieren.

       TITELTHEMA: Shalom – Friede sei mit dir                                                                17
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