LAG - MAGAZIN BIOGRAFISCHES LERNEN 22.09.2021 - LERNEN AUS DER GESCHICHTE

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LAG - MAGAZIN BIOGRAFISCHES LERNEN 22.09.2021 - LERNEN AUS DER GESCHICHTE
LaG - Magazin

Biografisches Lernen
    22.09.2021
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Zur Diskussion
Der biografische Ansatz in der Geschichtsvermittlung............................................................4
Biografien der Gewalt im 20. Jahrhundert..............................................................................9
Die Kampagne #StolenMemory und ihre Bildungspotenziale...............................................13
Biografisches Lernen im Anne Frank Zentrum......................................................................18
Geschichte im Dialog – Partizipatives Lernen an NS-Gedenkstätten...................................20

Empfehlung App
„Junger jüdischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus“. Ein Actionbound (multime-
dialer Stadtrundgang) durch Berlins Mitte als Beispiel für Bildungsarbeit gegen Antisemi-
tismus in Zeiten der Covid-Pandemie....................................................................................24

Empfehlung Fachbuch
Franziska Bruder: Das eigene Schicksal selbst bestimmen. Fluchten aus Deportationszügen
der „Aktion Reinhardt“ in Polen.............................................................................................29

Empfehlung Bildungsträger und Lernort
Wechselausstellung NS-Dokumentationszentrum München: Ende der Zeitzeugenschaft?..32
Ihr letzter Weg – ein Audiowalk.............................................................................................36

Empfehlung Comic
Jessica Bab Bonde und Peter Bergting: Bald sind wir wieder zu Hause...............................39

                                                                              Magazin vom 22.09.2021 2
Einleitung

Liebe Leser*innen,
wir begrüßen Sie zur ersten Ausgabe des        Daria Ivasenko stellt im Besprechungs-
LaG-Magazins nach der Sommerpause. Das         teil das didaktische Konzept eines Gedenk-
titelgebende Thema bildet wie stets den        spaziergangs zur Marianne-und-Herbert-
Schwerpunkt des Magazins.                      Baum-Gruppe mit der App Actionbound vor
Veronika Nahm und David Gilles leiten mit      und gibt praktische Hinweise zur Durchfüh-
ihrem Beitrag zum biografischen Ansatz in      rung.
der Geschichtsvermittlung in die Ausgabe       Wir bedanken uns herzlich bei allen
ein. Sie thematisieren die Subjektorientie-    Autor*innen für die Beiträge in diesem LaG-
rung als grundlegendes pädagogisches Prin-     Magazin.
zip und dessen Verhältnis zum strukturge-
schichtlichen Ansatz.                                                  In eigener Sache

Wolfgang Schroeter schreibt über die Ver-      Pascal Beck verstärkt ab dieser Ausgabe als
änderung von in der Regel männlich gepräg-     studentischer Mitarbeiter die Redaktion.
ten und zweifelhaften Heldenbildern infolge    Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit und
des Ersten und Zweiten Weltkriegs.             begrüßen den neuen Kollegen.

Anna Meier-Osiński und Elisabeth Schwa-        Das nächste reguläre LaG-Magazin erscheint
bauer stellen die Kampagne #StolenMemo-        am 27. Oktober. Es befasst sich mit den Stu-
ry der Arolsen Archives vor und gehen auf      dien des Multidimensionalen Erinnerungs-
das dazu entwickelte Bildungsmaterial ein.     monitors (MEMO). Zusätzlich erscheint
                                               zuvor am 13. Oktober eine Sonderausgabe
In einem zweiten Beitrag thematisiert
                                               des Magazins zu „Verschwörungsmythen in
David Gilles biografisch ausgerichtete An-
                                               Geschichte und Gegenwart“ mit Texten aus
gebote des Berliner Anne Frank Zentrums.
                                               einem Seminarprojekt des Zentrums für An-
Mit Geschichte im Dialog wurde ein parti-      tisemitismusforschung.
zipatives Projekt zur Geschichtsvermittlung
                                               Ihre LaG-Redaktion
an NS-Gedenkstätten entwickelt, bei dem
die Haltung von Pädagog*innen eine zent-
rale Rolle spielt. Bei Geschichte im Dialog
geht es nicht ausschließlich und unmittelbar
um Lernen mit Biografien. Der wegweisende
Impuls passt dennoch gut in diese Ausgabe.
Nina Ritz hat als Mitglied der Steuerungs-
gruppe mitgearbeitet und schreibt über die
Konzeptionsphasen.

                                                        Magazin vom 22.09.2021 3
Zur Diskussion

Der biografische Ansatz in der                                  Subjektorientierung als
Geschichtsvermittlung                                            pädagogische Haltung

Von Veronika Nahm und David Gilles              Die Auseinandersetzung mit Nationalsozia-
                                                lismus und Shoah ist eine große Herausfor-
Der biografische Ansatz ist mittlerweile eine
                                                derung sowohl für Pädagog*innen als auch
anerkannte Praxis in der außerschulischen
                                                für Kinder und Jugendliche. Das größte
Geschichtsdidaktik. Gerade in Gedenkstät-
                                                Verbrechen, das die Menschheit je began-
ten wird zunehmend die Geschichte von
                                                gen hat und das von Deutschen geplant und
Verfolger*innen, Verfolgten und (vermeint-
                                                umgesetzt wurde, lässt sich in seiner Gänze
lichen) Zuschauer*innen zum Ausgangs-
                                                weder emotional noch rational begreifen.
punkt gemacht, um dann die Brücke zum
                                                Für junge Menschen liegt die Zeit des Na-
Verständnis der historischen Zusammen-
                                                tionalsozialismus mehr als ein halbes Jahr-
hänge zu schlagen. Die gedenkstättenpäd-
                                                hundert vor ihrer Geburt. Pädagog*innen
agogische Praxis zeigt, dass die Auseinan-
                                                suchen daher nach Wegen, wie sie das Un-
dersetzung mit Biografien bei Jugendlichen
                                                vorstellbare für junge Menschen greifbarer
Türen öffnet für historisches Lernen. Ju-
                                                und verständlicher machen können.
gendliche lernen historische Ereignisse und
Daten aus den persönlichen Erlebnissen          Kinder und Jugendliche haben dagegen
einer Person kennen, dadurch werden sie         zahlreiche gute Gründe, sich nicht mit die-
konkret und verständlich.                       ser Geschichte beschäftigen zu wollen. Sei
                                                es, dass sie aktuelle Probleme – zum Beispiel
Biografisches Lernen ermöglicht auch ein
                                                die Klimakrise – als wichtiger bewerten, sei
Verständnis von Geschichte als dem Ergeb-
                                                es die Angst vor emotionaler Überwältigung,
nis menschlicher Handlungen. Geschicht-
                                                wie sie oft noch im Geschichtsunterricht
liche Ereignisse entstehen durch das ver-
                                                oder an außerschulischen Lernorten prak-
knüpfte Handeln von zahlreichen Menschen.
                                                tiziert wird. Eine erfolgreiche Pädagogik
Durch biografisches Lernen wird deutlich,
                                                muss die Jugendlichen als Persönlichkeiten
dass diese Menschen – in einem mehr oder
                                                ernst nehmen und ihre Interessen, ihr Vor-
weniger engen Rahmen – Entscheidungs-
                                                wissen, ihre Wünsche und Ängste zum Aus-
möglichkeiten haben und dass ihre Hand-
                                                gangspunkt pädagogischer Arbeit machen.
lungen Konsequenzen für andere haben.
                                                Jugendliche suchen nach ihrem Platz im
Dieses Geschichtsverständnis ermöglicht
                                                Leben und bringen daher viele Fragen mit,
eine Diskussion über die Gegenwart: Welche
                                                an sich, an ihre sozialen Gruppen und an die
Optionen haben wir heute? Welche anderen
                                                Gesellschaft. Durch subjektorientiertes his-
Menschen betrifft mein Handeln? Was sind
                                                torisches Lernen erfahren die Jugendlichen,
die Konsequenzen unseres Handelns?
                                                dass sie über, aus und an der Geschichte
                                                lernen können – und zwar nicht, um ein
                                                abstraktes Allgemeinwissen oder eine gute

                                                         Magazin vom 22.09.2021 4
Zur Diskussion

Note in Geschichte zu erhalten, sondern um      Emotionen – sowohl der historischen Objek-
sich, ihr Leben und die Gesellschaft besser     te als auch der lernenden Subjekte – spielten
zu verstehen.                                   hier keine Rolle oder wurden sogar bewusst
Insofern ist die erste Herausforderung im       abgelehnt, weil sie im Verdacht standen,
biografischen Lernen, die Jugendlichen als      den klaren Blick auf die Geschichte zu ver-
Subjekte des Lernens in ihrer Vielfalt und      fälschen und Manipulation und Überwälti-
Diversität wahr und ernst zu nehmen. Damit      gung der Jugendlichen zu ermöglichen. Ge-
müssen Pädagog*innen sich auch von star-        rade für junge Menschen ist es aber schwer,
ren Lernzielen verabschieden. Lernen wird       sich selbst in Beziehung zu Geschichte
als ein Prozess zwischen Pädagog*innen          zu setzen, weil die „große Geschichte“ zu
und Schüler*innen verstanden, in dem die        weit entfernt von der eigenen Lebenswelt
Jugendlichen ihre eigenen Fragen an die         scheint. So können die positiven Effekte des
Geschichte formulieren. Die Aufgabe der         strukturgeschichtlichen Ansatzes – nämlich
Pädagog*innen besteht darin, den Rahmen         ein tieferes Verständnis für historische Zu-
dafür so zu gestalten, dass den Jugendlichen    sammenhänge – nicht erreicht werden, weil
dies bestmöglich gelingt.                       man die Jugendlichen bereits am Anfang
                                                der Auseinandersetzung verliert.
               Strukturgeschichte oder
                                                Auch wenn beide Ansätze zuerst wider-
                    Heldenerzählung?
                                                sprüchlich erscheinen, bildet der struk-
Nach 1945 hat sich die Geschichtswissen-        turgeschichtliche Ansatz die Basis für den
schaft zunehmend von einer personalisier-       biografischen Ansatz. Aus der Auseinander-
ten Geschichtserzählung verabschiedet. Zu       setzung mit der Biografie einer historischen
deutlich war, dass die Heldenerzählungen        Person können Fragen an die Zeit entstehen,
der Taten großer Männer (Frauen kamen in        in der die Person gelebt hat. Was waren das
diesen Erzählungen nicht vor) nicht zu ei-      für gesellschaftliche Verhältnisse damals?
nem Verständnis von Geschichte beitragen,       Nach welchen Regeln funktionierte das Zu-
sondern in erster Linie nationale Mythen be-    sammenleben? Welche Handlungsmöglich-
gründen. Die personalisierte Heldenerzäh-       keiten gab es und was hat die Handlungs-
lung wurde ersetzt durch eine Analyse von       möglichkeiten begrenzt? Die biografischen
Strukturen. Nicht mehr das Handeln ein-         Schilderungen können so in historische,
zelner, sondern gesellschaftliche, politische   gesellschaftliche und politische Zusam-
und wirtschaftliche Möglichkeitsräume,          menhänge eingeordnet werden. Praktisch
Normen, Werte und Strukturen bildeten die       geschieht dies oft durch die Fragen der Ler-
Analysegegenstände der Geschichtsdidak-         nenden. Nachdem die Lernenden eine Per-
tik.                                            son tiefgehend kennengelernt haben, möch-
Der strukturgeschichtliche Ansatz ist voll      ten sie auch die Zeit kennenlernen, in der die
und ganz der Rationalität verpflichtet.         Person gelebt hat. Für die Pädagog*innen

                                                          Magazin vom 22.09.2021 5
Zur Diskussion

ist es wichtig, sich bei der Auswahl der Bio-       Multiperspektivität und Diversität
grafien mit der Strukturgeschichte sehr gut     Es gibt zahlreiche Perspektiven auf Ge-
auszukennen, um zum einen „historisch re-       schichte und das gleiche historische Ereig-
levante“ Biografien auszuwählen und zum         nis kann für unterschiedliche Menschen
anderen die Verknüpfungen zwischen Bio-         ganz verschiedene Auswirkungen haben
grafie und Struktur herstellen zu können.       – je nach gesellschaftlicher Positionierung.
   Emotionen im historischen Lernen             Der biografische Ansatz gibt die Möglich-
                                                keit, eine Vielzahl unterschiedlicher, sich
Emotionen sind Teil eines jeden Lernpro-
                                                womöglich widersprechender Stimmen
zesses – ob beabsichtigt oder nicht. Emo-
                                                anzuhören. In einer diversen Gesellschaft
tionen transportieren das Gelernte ins
                                                braucht es diverse Geschichten, weil gerade
Gedächtnis, sie können zu einer weiteren
                                                die Repräsentation derer, die sonst in der
Beschäftigung mit einem Thema motivieren
                                                Geschichtsschreibung oft nicht vorkommen,
oder sie blockieren. Eine kontraproduktive
                                                wichtig ist. Der biografische Ansatz kann
Emotion ist Scham – wer Scham empfindet,
                                                insbesondere die „vergessenen Geschich-
wird sich verschließen. Andere Emotionen,
                                                ten“ in den Blick holen und damit nicht nur
wie z.B. Empathie, Freude oder Interesse,
                                                die historischen Personen vor dem Verges-
können Verbindungen herstellen zwischen
                                                sen bewahren, sondern auch heutigen jun-
der Lebenswelt der Jugendlichen und der
                                                gen Menschen die Botschaft vermitteln: Du
Lebenswelt der historischen Anderen. Sie
                                                bist wichtig und deine Geschichte ist wich-
können Jugendliche für historisches Lernen
                                                tig.
motivieren und erleichtern ihnen die Aneig-
nung von schwierigem oder fremdem Wis-          Die Auseinandersetzung mit Biografien regt
sen. Prinzipiell müssen die Emotionen und       auch zum Perspektivwechsel an. Sie ermu-
die emotionale Entwicklung der lernenden        tigt, über den eigenen Tellerrand zu schau-
Gruppe im Blick behalten werden und vor         en, andere Perspektiven auf die Welt und
allem Jugendliche vor emotionaler Überfor-      andere Lebensrealitäten kennenzulernen.
derung geschützt werden. Der biografische       Lernende können die biografischen Erleb-
Ansatz nimmt die lernenden Jugendlichen         nisse mit ihrer eigenen Lebenswelt in Bezug
mit ihren Emotionen ernst und schafft ei-       setzen und sowohl Parallelen als auch Un-
nen Rahmen, in dem Jugendliche selbstbe-        terschiede entdecken und so auch viel über
stimmt lernen und forschen können, ohne         sich selbst lernen.
Angst vor emotionaler Überwältigung ha-         Zudem fördert der biografische Ansatz ein
ben zu müssen. Eine bewusste Emotionali-        differenziertes Geschichtsbild, weil er nicht
sierung – also das Hervorrufen bestimmter       nur einen, sondern viele Blickwinkel auf Ge-
Emotionen – ist jedoch sowohl aus ethi-         schichte präsentiert. Menschen neigen dazu,
scher als auch aus pädagogischer Sicht ab-      historische Berichte für allgemeingültig zu
zulehnen.                                       halten – „so war es damals halt“. Von da ist

                                                         Magazin vom 22.09.2021 6
Zur Diskussion

es nur ein kurzer Schritt zu Klischees und      Täter*innen. Das biografische Lernen kann
Stereotypen, denn wer nur eine (oder weni-      daher – gerade bei gut dokumentierten Bio-
ge) Geschichten kennt, kann nicht anders,       grafien – beispielhaft die „Gesellschaft des
als die Menschen in Gruppen einteilen und       Holocaust“ (Matthias Heyl) erläutern.
diesen mehr oder wenige feste Eigenschaf-                     Methodische Anregungen
ten zuschreiben. Doch wenn vielfältige, sich
                                                Das biografische Lernen lebt davon, dass die
genauso widersprechende wie ergänzende
                                                lernenden Subjekte von Anfang bis Ende im
Geschichten nebeneinanderstehen, entsteht
                                                Mittelpunkt stehen. Insofern sollte schon die
ein differenziertes Bild von der Vergangen-
                                                Auswahl der Biografien, die man bearbeiten
heit.
                                                möchte, gemeinsam mit den Jugendlichen
             Handlungsspielräume und            und anhand ihrer Interessen geschehen. Die
                biografische Geflechte          Pädagog*innen sollten jedoch eine Voraus-
Erst aus dieser Vielzahl werden auch Hand-      wahl entsprechend der Lernziele treffen.
lungsspielräume und ihre Grenzen deut-          Jede Art von Quellen ist nutzbar.
lich. Manche Christ*innen haben sich den        Zeitzeug*innengespräche sind sehr beein-
»Deutschen Christen« angeschlossen, man-        druckend, werden jedoch in Zukunft in
che der »Bekennenden Kirche«. Manche            Bezug auf die Geschichte des Nationalso-
Jüdinnen*Juden haben Widerstand gegen           zialismus nicht mehr möglich sein. Für die
die Nazis geleistet, andere nicht. Manche       biografische Arbeit eignen sich aber auch
Menschen haben ihren Nachbar*innen Es-          Ton- und Filmaufnahmen, (auto-)biografi-
sensmarken geschenkt, andere haben sie an       sche Texte und insbesondere Tagebücher,
die Gestapo verraten. Die Gründe, warum         sowie passende historische Quellen wie Zei-
sich eine Person auf die eine oder auf die      tungsartikel, Dokumente und Fotos. Wich-
andere Art entschieden hat, hängen ganz di-     tig ist, dass die Quellen einen Einblick in
rekt mit biografischen Erlebnissen und Prä-     den Alltag der Person ermöglichen. Eine he-
gungen zusammen und können durch Aus-           roisierende oder einseitige Darstellung einer
einandersetzung mit ihrer Biografie besser      Person scheint wenig sinnvoll zu sein, da ge-
verstanden werden.                              rade Brüche, Widersprüche und Schwächen
Eine Biografie erzählt immer viel mehr als      Empathie fördern und zum Nachdenken an-
das Leben einer Person. Biografien sind so-     regen können. Gleichzeitig ist eine Darstel-
ziale Geflechte, die mit den Leben von vielen   lung als handlungsunfähiges Opfer weder
anderen verbunden sind. Über die Auseinan-      realistisch noch sinnvoll. Zusätzlich zu den
dersetzung mit einer Biografie erfahren wir     Quellen braucht es altersgerecht aufgearbei-
auch etwas über die Familie, Nachbar*innen,     tete Informationen über die zeitgeschichtli-
Freund*innen oder Kolleg*innen, über            chen Umstände.
Helfer*innen,       Mitläufer*innen     oder    Anhand der Quellen entsteht gemeinsam

                                                         Magazin vom 22.09.2021 7
Zur Diskussion

mit den Jugendlichen ein Forschungspro-         Anne Frank Zentrum (Hrsg.): Vielfalt loka-
zess. Die Jugendlichen sollen ermutigt wer-     ler Erinnerungen. Projektdokumentation
den, Fragen zu stellen. Der biografische An-    und Praxisempfehlungen zur Umsetzung
satz lebt von den Diskussionen und Fragen,      lokaler Jugendgeschichtsprojekte (2021),
die aus der Auseinandersetzung mit einer        online unter https://www.annefrank.de/
Person entstehen. Dabei braucht es viel         fileadmin/Redaktion/Bildungsarbeit/Do-
Achtsamkeit und Sensibilität für Selbstrefle-   kumente/Vielfalt_lokaler_Erinnerungen_
xion: Wenn die Jugendlichen sich dem Le-        Projektdokumentation.pdf.
ben einer anderen Person annähern, kann
dies auch eigene biografische Erlebnisse ins
Gedächtnis rufen.
Im biografischen Lernen gibt es einen stän-                                   Über die Autor*innen
digen Wechsel zwischen dem Lernen oder              Veronika Nahm ist Historikerin und leitet seit
Erforschen des Lebens einer Person und der          Juni 2021 das Anne Frank Zentrum. Seit 2003
                                                  arbeitete sie hier als freie und seit 2008 als feste
Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte.                                              Mitarbeiterin.
Da das Leben der vorgestellten Personen mit      David Gilles ist Sozialwissenschaftler und Histori-
Zeitgeschichte eng verknüpft ist, werden die     ker. Er arbeitet seit 2019 im Anne Frank Zentrum
                                                       und betreut das Projekt „Erinnern vor Ort“.
Jugendlichen Fragen an die Zeit entwickeln,
um die Biografie besser zu verstehen. So
eignen sie sich nach und nach immer mehr
Wissen über den historischen Rahmen an.
Es kann sinnvoll sein, dieses Wissen immer
wieder zu sortieren und zu strukturieren,
z.B. mit Hilfe eines Zeitstrahls.
                                   Quellen
Peter Gautschi: Vom Nutzen des Biografi-
schen für das historische Lernen. S. 171-179
in: Peter Gautschi et al. (Hrsg.): Menschen
mit Zivilcourage. Mut, Widerstand und ver-
antwortliches Handeln in Geschichte und
Gegenwart. Luzern 2014.
Matthias Heyl: Erziehung nach und über
Auschwitz – dass der Unterricht sich in
Soziologie verwandle. Hamburg 2001. In:
www.fasena.de/download/heyl/Heyl%20
(2001).pdf.

                                                           Magazin vom 22.09.2021 8
Zur Diskussion

Biografien der Gewalt im                      Propaganda und Presse gefeiert. Der be-
20. Jahrhundert                               kannteste Held des Ersten Weltkriegs ist
                                              der Flieger Manfred Freiherr von Richtho-
Von Wolfgang Schroeter                        fen. Nach unerreichten 80 Luftsiegen wurde
                                              Richthofen selbst abgeschossen. Sein Ruhm
       Erster Weltkrieg – Helden oder
                                              wurde in der Weimarer Republik und im
                               Opfer?
                                              „Dritten Reich“ instrumentalisiert. Bis heu-
Früher waren Helden männlich und etwas        te ist der „Red Baron of Germany“ ein Star
Besonderes. Sie setzten ihr Leben für etwas   der internationalen Popkultur.
scheinbar Größeres wie die Ziele der Ge-
                                              Doch als der wahre Held des Ersten Welt-
meinschaft oder des Vaterlandes aufs Spiel.
                                              krieges sollte sich der „namenlose Soldat“
Dieses von den zehn Millionen Opfern des
                                              herausstellen, dessen Denkmäler als leeres
Ersten Weltkriegs entzauberte maskuline
                                              Grab zuerst 1919 in London und dann in
Heldenbild zeigt sich noch in der französi-
                                              Paris errichtet wurden. Ihr Vorbild war der
schen Siegeskathedrale von Verdun, die wie
                                              französische Soldat Octave Monjoin, der
ein Riesenphallus in den Himmel ragt.
                                              Papiere und Gedächtnis verloren hatte und
Im Zeitalter des Nationalismus und der        erst nach jahrzehntelangen Prozessen seine
Industrialisierung wurde aus dem Kampf        Identität wiederfand.
Mann gegen Mann unter dem Dauerfeuer
                                              In Deutschland hatte jedes Dorf Gedenk-
der Maschinengewehre und Geschütze ein
                                              tafeln und Kreuze für „ihre“ Opfer erstellt.
Kampf der Massen im Schützengraben. Der
                                              Der 1919 gegründete Volksbund Deutsche
Erste Weltkrieg war geprägt vom anonymen
                                              Kriegsgräberfürsorge erstellte unter seinem
Sterben in sinnlosen Materialschlachten:
                                              nationalkonservativen Chefarchitekten Ro-
Die Soldaten fühlten sich unter dem tage-
                                              bert Tischler (von 1926-1959) neben schlich-
langen Artilleriefeuer wie Lämmer, die zur
                                              ten Kriegsgräberstätten auch monumentale
Schlachtbank geführt wurden. Nach Kriegs-
                                              wie in Langemarck. Im Nationalsozialismus
ende kehrten die Überlebenden desillusi-
                                              fanden sie mit dem Konzept der „Totenbur-
oniert zurück in die Heimat. Oft hatten sie
                                              gen“ ihren Höhepunkt.
neben Armen und Beinen den Glauben an
Gott, den Kaiser und das Gute im Menschen     Rassistischer NS-Vernichtungskrieg -
verloren.                                              Täterschaft statt Heldentum!
Zur Mobilisierung und Motivation die-         Basis der Ideologie des „Dritten Reiches“
ser unzähligen Opfer wurden vermeintlich      war der sozialdarwinistische Überlebens-
letzte individuelle Helden wie U-Boot-Ka-     kampf der „nordischen Rasse“ gegen das
pitäne, Stoßtrupp-Führer und besonders        „internationale Judentum“ und die „slawi-
die „Ritter der Lüfte“ mit Orden wie dem      schen Untermenschen“. Unter dem Deck-
„Pour Le Mérite“ ausgezeichnet und von        mantel und Gewaltrahmen des Krieges

                                                       Magazin vom 22.09.2021 9
Zur Diskussion

führte dies zum millionenfachen Genozid        Kriegsverbrechergefängnis Landsberg/Lech
im Osten, wo die Einsatzgruppen der SS und     gehenkt. Artur Wilke war bei den Massen-
Polizei-Bataillone unter starker Unterstüt-    morden direkt an der Grube beteiligt. Nach
zung durch die Wehrmacht über zwei Mil-        dem Krieg nahm er die Identität seines ver-
lionen Jüdinnen*Juden und Zivilist*innen       storbenen Bruders an und arbeitete als Leh-
erschossen. Drei Millionen kriegsgefangene     rer, bis er 1961 enttarnt und zu zehn Jahren
Russen starben, meistens an Hunger – ein       Haft verurteilt wurde. Christian Wirth ge-
Schicksal, das im Falle des „Endsiegs“ un-     hörte zur ersten NS-Generation der „alten
ter dem „Generalplan Ost“ 30 Millionen         Kämpfer“ und war maßgeblich am Mord
Sowjetbürger*innen zugedacht war. Weite-       von Behinderten beteiligt. Er wurde Inspek-
re 4,7 Millionen Sowjetbürger*innen wur-       teur der Vernichtungslager Belzec, Treblin-
den zu Zwangsarbeit nach Deutschland ver-      ka und Sobibór und wurde 1944 in Triest
schleppt.                                      getötet. Zu den Täterinnen gehörten auch
In Deutschland wurden bereits seit Kriegs-     viele der etwa 500.000 im „Osten“ einge-
beginn systematisch Behinderte und „Geis-      setzten Krankenschwestern, Sekretärinnen
teskranke“ als „lebensunwertes Leben“ mit      und Partnerinnen von SS-Oberen wie Erna
Todesspritzen und in Gaswagen ermordet.        Petri, die als Verwalterin eines polnisch-
Im Oktober 1941 begann die Deportation         ukrainischen NS-Musterguts eigenhändig
der deutschen und dann der europäischen        mindestens sechs jüdische Kinder erschoss.
Jüdinnen*Juden in die schon 1939 über-         Auch im Zweiten Weltkrieg gab es die von
füllten Ghettos in Polen. Ab Dezember 1941     der NS-Propaganda gefeierten Helden wie
wurde der industrielle Holocaust in den        den Stuka-Piloten Hans-Ulrich Rudel und
Gaskammern der auf ehemals polnischem          Erwin Rommel. Rudel wurde für die Zerstö-
Gebiet errichteten Vernichtungslager wie       rung von über 300 Panzern als einziger mit
Belzec, Sobibór, Treblinka und Auschwitz-      dem goldenen Eichenlaub zum Ritterkreuz
Birkenau begonnen. In ihnen wurden über 4      ausgezeichnet. Nach dem Krieg floh er wie
Millionen Jüdinnen*Juden ermordet, davon       viele Nazis 1948 auf der „Rattenlinie“ nach
etwa drei Millionen polnische und 165.000      Argentinien, arbeitete als Berater für meh-
deutsche.                                      rere südamerikanische Diktatoren und half
Beispielhafte Täter sind der Jurist und Ein-   mit dem „Kameradenwerk“ Kriegsverbre-
satzgruppenchef Otto Ohlendorf, der SS-        chern wie Adolf Eichmann und Josef Men-
Obersturmführer Artur Wilke und der Stan-      gele. Er unterstützte rechtsradikale Organi-
dartenführer Christian Wirth. Ohlendorf        sationen wie die Sozialistische Reichspartei,
gab bei den Nürnberger Prozessen zu, für die   kandidierte für den Bundestag und sorgte
Erschießung von 90.000 Jüdinnen*Juden          bis zu seinem Tod 1982 für politische Skan-
und     Sowjetbürger*innen      verantwort-    dale.
lich gewesen zu sein. 1951 wurde er im         Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der

                                                        Magazin vom 22.09.2021 10
Zur Diskussion

bis heute populärste deutsche Heerführer       erst 1979 lenkte die TV-Serie Holocaust den
des Zweiten Weltkriegs, wurde nach dem ge-     Blick einer neuen Generation auf die Mil-
scheiterten Hitler-Attentat zum Selbstmord     lionen wahren Opfer der NS-Diktatur wie
gezwungen und anschließend prunkvoll           die von ihrer Familie als einzige, mittellos
als Held beerdigt. Bis heute ist umstritten,   überlebende Jüdin Marianne Stern, die sich
wie stark seine Beteiligung am Widerstand      im Kampf gegen deutsche Behörden und als
wirklich war. Er profitierte davon, dass er    Zeitzeugin in Schulen ihre Würde zurückge-
fast ausschließlich im Westen gegen spätere    wann. Inzwischen nimmt die neu etablier-
Verbündete der Bundesrepublik eingesetzt       te Erinnerungskultur die Perspektive der
wurde – und nicht im Vernichtungskrieg im      Opfer wahr und definierte den Begriff der
Osten. Geschichtswerkstätten verweisen auf     Held*innen neu. Auch der Volksbund muss-
von der Waffen-SS begangene Gräueltaten        te sich kritischen Fragen zu seiner Grabdar-
in Italien und an der Invasionsfront sowie     stellung von NS-Tätern wie Wirth in Coster-
auf das Elend der unzähligen dort einge-       mano stellen.
setzten Zwangsarbeiter*innen. Rommel war       Neue Held*innen sind Elfriede Maria Scholz,
verantwortlicher Teil, aber auch Opfer der     die „unbekannte“, 1943 wegen „Wehr-
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft,      kraftzersetzung“ und „Feindbegünstigung“
von der er lange als Held instrumentalisiert   hingerichtete Schwester von Erich Maria
wurde.                                         Remarque, und Rachel Auerbach, Überle-
                                               bende, Widerstandskämpferin und Doku-
    Perspektivwechsel zu den wahren
                                               mentarin des Warschauer Ghettos in Yad
       Opfern und neuen Held*innen
                                               Vashem. Der Wehrmachtsoffizier Wilhelm
Nach 1945 trauerten die Deutschen um den       Hosenfeld rettete 30 polnische und jüdische
verlorenen Krieg und fühlten sich selbst als   Bürger*innen vor dem Tode. Er wurde spä-
Opfer von Bombenkrieg, Flucht und Ver-         ter als „Gerechter unter den Völkern“ eben-
treibung. Vor allem im Westen begrenzten       so geehrt wie Witold Pilecki, der sich 1940
sie die Verantwortung für den Genozid zu-      freiwillig in Auschwitz einschmuggelte, um
nächst auf einzelne sadistische „Exzesstä-     die Alliierten über die dortigen Praktiken zu
ter“ wie Wirth. Erst später wurde sie auf      informieren. Beide wurden Opfer des Stali-
„Schreibtischtäter“ wie Adolf Eichmann, ab     nismus.
den 1980er Jahren auch auf „ganz normale“
                                               60 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten
Mitglieder der Gesellschaft ausgedehnt. Die
                                               Weltkriegs reichten sich Bundeskanzler
DDR definierte sich demgegenüber offiziell
                                               Helmut Kohl und der französische Präsident
als antifaschistisch.
                                               François Mitterrand 1984 die Hände über
Der Jerusalemer Eichmann-Prozess und der       den Gräbern von Verdun. Beim Volksbund
Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963         schuf eine neue Generation landschaftsbe-
führten zu ersten Veränderungen. Doch          zogene, leicht zu pflegende Gräber auch für

                                                        Magazin vom 22.09.2021 11
Zur Diskussion

zivile Opfer und die von NS-Verbrechen.
1985 erklärte Bundespräsident Richard von
Weizsäcker den 8. Mai 1945 zum „Tag der
Befreiung vom menschenverachtenden Sys-
tem der nationalsozialistischen Gewaltherr-
schaft“ und leitete damit eine neue Ära ein,
die ihren Höhepunkt 2005 in der Errichtung
des Holocaustmemorials im Berliner Regie-
rungsviertel fand.
Zwei Weltkriege haben den klassischen Hel-
den entzaubert. Die immer einflussreicheren
Medien feiern stattdessen Fußballer*innen,
Supermodels und Rockstars. Gleichzei-
tig entsteht die Sehnsucht nach neuen
Held*innen des Alltags wie Feuerwehrleu-
ten und Pflegekräften. Sind Aktivist*innen
wie die schwedische Schülerin Greta Thun-
berg die neuen Held*innen des 21. Jahrhun-
derts?

                                   Über den Autor
      Dr. Wolfgang Schroeter promovierte 2017 an
  der Freien Universität Berlin über „Albert Speer.
   Aufstieg und Fall eines Mythos“ und organisier-
   te als Lehrer Gedenkstättenfahrten. Er ist freier
  Mitarbeiter und Kurator der Wanderausstellung
 des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge,
     die ab März 2022 an Schulen und öffentlichen
 Gebäuden gezeigt wird. Sie zeigt anhand von Bio-
  grafien, wie die Begriffe Heldentum, Täterschaft
 und Opfer jeweils drei Perioden des Umgangs mit
 Gewalt geprägt haben. Dabei wandelte sich deren
  Bedeutung bereits während des Geschehens und
                   noch stärker in der Erinnerung.

                                                       Magazin vom 22.09.2021 12
Zur Diskussion

Die Kampagne #StolenMemory                     persönlichen Lebenswege von ehemaligen
und ihre Bildungspotenziale                    NS-Verfolgten in animierten Filmen, Inter-
                                               views mit Angehörigen und Webstories sind
Von Anna Meier-Osiński und Elisabeth
                                               als qualitativ hochwertiges Online-Angebot
Schwabauer
                                               gewertet worden.
Brieftaschen und Portemonnaies mit per-
                                               Diese innovative Form der Auseinander-
sönlichen Papieren, Fotos der Familienan-
                                               setzung mit persönlichen Gegenständen
gehörigen, Ehe- und Verlobungsringe, Arm-
                                               und die Authentizität der Lebenswege ihrer
band- und Taschenuhren, Schmuck, Stifte,
                                               Besitzer*innen bergen spannende Möglich-
Schlüssel, Brillen – diese persönlichen Sa-
                                               keiten für das forschende Lernen über die
chen, die Menschen bei der Inhaftierung im
                                               NS-Verfolgung und deren Folgen sowohl
Konzentrationslager mit sich führten, wur-
                                               im Unterricht als auch in außerschulischen
den ihnen von den Nazis genommen. Das
                                               Projekten. Bildungsmaterialien zum The-
als Effekten bezeichnete persönliche Hab
                                               ma #StolenMemory stehen interessierten
und Gut hatte für die Besitzer*innen einen
                                               Pädagog*innen ergänzend zu weiteren An-
starken emotionalen Wert. Damit waren
                                               geboten auf der Website zur Verfügung.
persönliche Erinnerungen an das Leben vor
der Verfolgung verbunden.                      Das Material besteht aus drei aufeinander
                                               aufbauenden Lerneinheiten. Diesen ist die
Die Arolsen Archives verwahren nicht nur die
                                               Einführung ins Thema vorangestellt, die
weltweit umfassendste Dokumentensamm-
                                               als Grundlage für alle weiteren Lernein-
lung über NS-Verfolgte, sondern mehrere
                                               heiten entwickelt ist. Je nach Lernziel eig-
Tausend Effekten, deren Eigentümer*innen
                                               net sich die Kombination des thematischen
immer noch gesucht werden. Im Rahmen
                                               Einstiegs mit der jeweiligen Lerneinheit für
der Kampagne #StolenMemory unterstüt-
                                               eine Unterrichtsstunde bzw. allen drei Ler-
zen Freiwillige in vielen Ländern Europas
                                               neinheiten für einen Projekttag oder auch
die Arolsen Archives bei der Suche nach Fa-
                                               als Vorbereitung eines Besuchs der Wander-
milien der ehemaligen Verfolgten, um die
                                               ausstellung #StolenMemory.
persönlichen Gegenstände und darin ein-
geschlossenen persönlichen Erinnerungen        Im Mittelpunkt der ersten Lerneinheit ste-
zurückzugeben.                                 hen Biographien von drei ehemaligen NS-
                                               Verfolgten, deren persönliche Gegenstände
    Bildungsmaterial #StolenMemory
                                               den Familienangehörigen bereits zurück-
Die in der Kategorie Wissen und Bildung        gegeben wurden. Über die auf der Website
von Grimme-Institut in 2021 ausgezeich-        angebotenen animierten Kurzfilme zu die-
nete Website      www.stolenmemory.org         sen Personen und die weiteren Informa-
der Arolsen Archives begleitet die Kam-        tionen lernen Schüler*innen die jeweilige
pagne #StolenMemory. Erzählungen der           Lebensgeschichte kennen. Die vertiefende

                                                        Magazin vom 22.09.2021 13
Zur Diskussion

Auseinandersetzung mit den Biographien         stammen, als auch der Inhalt analysiert wer-
geschieht anhand der ausgewählten Fotos        den, um die Täterperspektive zu erkennen
und Dokumente. Deren Analyse sowie die         und zu brechen. Für ein umfassendes Bild
möglichen zusätzlichen Onlinerecherchen        sind ergänzendes Dokumenten- und Foto-
dienen der Herstellung einer Verbindung        material aus der Zeit vor der Verfolgung so-
der biografischen Stationen mit den Verfol-    wie Berichte aus den Familien wichtig. Die-
gungsgeschehnissen und -orten.                 ser Aspekt ist zentral für die Überleitung zu
Die zweite Lerneinheit hat die eigenständige   der dritten Lerneinheit.
vertiefende Beschäftigung mit der NS-Ver-      Aktive Beteiligung an der Suche nach An-
folgung zum Lernziel. 20 Objekte aus dem       gehörigen zwecks Effektenübergabe ist das
Effektenbestand sind im 3-D Format abge-       Hauptthema der dritten Lerneinheit. Die
bildet und können mit einem Viewer unter       Bedeutung der Effekten für die Familien
dem Reiter „Effekten“ betrachtet werden.       der ehemaligen NS-Verfolgten erfahren die
Zu den abgebildeten Objekten sind Dossiers     Schüler*innen anhand einer individuellen
mit ausgewählten Archivdokumenten bzw.         Lebensgeschichte, die als Beispiel für Tau-
Papierdokumenten, die sich in den Briefta-     sende anderen in einem Video festgehalten
schen und Portemonnaies der NS-Verfolg-        ist. Im gleichen Video ist eine interaktive Kar-
ten befanden, vorbereitet. Ausgehend von       te zu den Geburts-, Wohn- und letzten Auf-
den individuell ausgewählten Objekten und      enthaltsorten der Effektenbesitzer*innen
den im Dossier zusammengestellten Archiv-      vorgestellt. Die Nutzung der Karte in Kom-
materialien sowie den persönlichen Doku-       bination mit eigenem Instagram-Account
menten erschließen sich die Schüler*innen      für die aktive Unterstützung der Rückgabe-
eigenständig die jeweilige Biographie. Die     kampagne ist ebenfalls erläutert. Eine noch
beigefügte Europakarte mit Grenzverläufen      nicht zurückgegebene Effekte kann anhand
zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, auf der     der interaktiven Karte nach eigenen Kriteri-
die Herkunftsländer der ehemaligen Ver-        en (z.B. Ort, zu dem man eine Verbindung
folgten gekennzeichnet werden können, soll     hat) ausgewählt werden. Von der Effekte
die Dimensionen der NS-Verfolgung veran-       kann ein Bild/Screenshot angefertigt wer-
schaulichen.                                   den und anhand der vorbereiteten Vorlage
Die vorgeschlagenen Arbeitsimpulse zur Si-     ein Suchaufruf für das Instagram-Posting er-
cherung der Ergebnisse der individuellen       stellt werden. Mit dieser den Schüler*innen
Beschäftigung mit den ausgewählten histo-      geläufigen digitalen Beteiligung unterstüt-
rischen Dokumenten fördern die Sicherung       zen sie aktiv die Suche nach Angehörigen.
der Erkenntnis, dass diese nur Fragmente
einer Biographie überliefern. Hierbei sol-
len sowohl die Herkunft der Dokumente,
die zum größten Teil aus der NS-Bürokratie

                                                         Magazin vom 22.09.2021 14
Zur Diskussion

               Gesucht? Gefunden?             die Auswertung der in den Dokumenten er-
 #StolenMemory als Bildungsprojekt            haltenen Informationen wie des Familien-
        – die praktische Umsetzung            stands, der Geschwister und des Herkunfts-
Bei einem jeden Projekt, das zum Ziel hat,    orts, aber auch Hinweise darüber, ob die
eine Familie von Verfolgten des NS-Regi-      gesuchte Person die NS-Verfolgung über-
mes zwecks Effektenübergabe zu finden, ist    lebt hat, eventuell emigrierte, repatriiert
der Ausgangspunkt der Suche der Regional-     oder ermordet wurde. Gibt es Hinweise zum
bzw. Lokalbezug. Sei es bei der Umsetzung     Geburtsort, ist es immer hilfreich die Lokal-
eines deutsch-polnischen Begegnungspro-       archive, Standesämter und Kirchengemein-
jekts oder bei der Suche von engagierten      den zu konsultieren, ob es Informationen
Freiwilligen europaweit: Ortskenntnis-        wie Geburtsurkunden gibt oder Grabstellen
se und Wissen um die Infrastruktur vor        der Familien existieren. Häufig führte bei
Ort erleichtern die Suche erheblich, auch     verschiedenen Freiwilligen auch der Aufruf
wenn sich zahlreiche nützliche Informati-     über Social Media und in den lokalen Medi-
onen vermehrt online finden lassen. Um        en zum Erfolg. Dies ist vor allem dann von
den Einstieg in die Suche möglichst nied-     Vorteil, wenn es um die Suche in kleinen
rigschwellig zu ermöglichen, entwickelten     Gemeinden und Ortschaften geht und bei-
die Arolsen Archives auf Grundlage der in     spielsweise über Facebook direkt eine histo-
den Dokumenten zum Verfolgungsweg ent-        risch interessierte Community in der Region
nommenen Informationen zu Geburtsorten,       angesprochen werden kann.
Wohnorten, Meldeadressen sowie zusätz-        Ausgehend von der anlässlich des 80. Jah-
lichen Recherchen die oben beschriebene       restags des Überfalls auf Polen eröffneten
interaktive Landkarte. Mithilfe dieser ist    #StolenMemory Ausstellung an der IJBS
es mit zwei Mausklicks möglich, gesuchte      Oświęcim recherchieren drei Jugendgrup-
Effektenbesitzer*innen mit Bezug zum ge-      pen aus Oświęcim die Schicksale der in der
wünschten Ort zu lokalisieren. Der Name       Ausstellung gesuchten polnischen NS-Ver-
der gesuchten Person führt direkt in das      folgten, die aus der Region um Oświęcim
Online-Archiv der Arolsen Archives, in dem    und den Wojewodschaften Kleinpolen und
die Effekten angesehen werden und weitere     Schlesien stammten. Bereits fünfmal sind
Informationen zum Verfolgungsweg recher-      sie dabei fündig geworden. Ein Dokumen-
chiert werden können.                         tarfilmer begleitet die Jugendlichen beim
Bei der Recherche des Verfolgungsweges        Suchen und Finden sowie bei den Überga-
unterstützen die Kolleg*innen der Arolsen     bezeremonien. Die erfolgreichen Überga-
Archives gerne, denn je umfangreicher die     ben der persönlichen Gegenstände an die
Informationen und je genauer die Analyse      Familien, die häufig die einzigen Besitztü-
der Dokumente, desto größer die Aussicht      mer eines geliebten Menschen sind, stellen
auf Erfolg. Grundlage einer jeden Suche ist   die größte Motivation für die Jugendlichen

                                                       Magazin vom 22.09.2021 15
Zur Diskussion

dar. Darüber hinaus ist das Gespräch mit        ist, denn die Verfolgten deren Effekten ver-
der Familie die einzige Möglichkeit einer       wahrt werden, kamen aus über 30 Nationen.
Vervollständigung der Biographie vor der        Die meisten von ihnen, circa 900 kamen aus
Zeit der Verfolgung und gleichzeitig ein Akt    Polen, über 600 aus Deutschland, über 300
aktiven greifbaren Erinnerns für die jungen     aus den Staaten der ehemaligen Sowjetuni-
Erwachsenen. Für die Familien ist es auf der    on. Die Ausstellung, die Suchplakate mit
anderen Seite - in vielen Fällen nach über 75   Fotos der Gegenstände und Informationen
Jahren der Ungewissheit - der Zeitpunkt, zu     zum Verfolgungsweg der Gesuchten zeigt,
dem das Schicksal eines nahen Angehörigen       machte bereits Station im Europäischen
endlich geklärt werden kann und weiße Fle-      Parlament in Brüssel, in Deutschland, Itali-
cken in der Familiengeschichte gefüllt wer-     en, Frankreich und Spanien, an zahlreichen
den können.                                     Standorten in Polen sowie 2021 erstmals in
Im Rahmen einer Kooperation mit dem             Russland in Kooperation mit der Menschen-
Deutsch-Polnischen Jugendwerk (DPJW)            rechtsorganisation Memorial in Moskau.
wird die Kampagne #StolenMemory seit            Begleitend dazu wurden die eingangs be-
zwei Jahren kontinuierlich als deutsch-pol-     schriebenen #StolenMemory Bildungsma-
nisches Bildungsprojekt weiterentwickelt.       terialien ins Polnische und Russische über-
Informative Publikationen zur Kampagne          setzt. Des Weiteren ist #StolenMemory seit
auf Deutsch und Polnisch stellen diese vor      2020 in zwei Überseecontainern in Deutsch-
und geben hilfreiche Tipps zur bi- oder tri-    land unterwegs und kann von Engagierten
lateralen Begegnung und Impulse zur akti-       in den eigenen Ort geholt werden. In 2021
ven Suche im multinationalen Team über          wird ein dritter #StolenMemory Container
Landesgrenzen hinweg. Kürzlich wurde ein        in Polen auf Reisen gehen. Wer mit seinen
Online-Konzept entwickelt, damit auch in        Schüler*innen oder im Rahmen eines au-
Pandemie-Zeiten der Austausch weiter ge-        ßerschulischen Projektes keine Möglichkeit
fördert wird und stattfinden kann. Geför-       hat, in der Nähe eine Ausstellung zu besu-
dert werden diese Begegnungen durch das         chen, ist herzlich eingeladen drei Online-
Förderprogramm Wege zur Erinnerung              Ausstellungen zu besuchen, die in Koope-
des DPJW. Bestandteil der Förderung sind        ration mit der Gedenkstätte Auschwitz und
ebenfalls Dokumentationsprojekte wie Fil-       der Gedenkstätte Stutthof und Memorial
me oder Publikationen, um die Projekte und      Moskau veröffentlicht wurden.
die Schicksale der Gefundenen nachhaltig        Dank des Engagements zahlreicher enga-
festzuhalten.                                   gierter Freiwilliger und Journalist*innen in
Weiterhin wird die Suche nach den über          Spanien, Frankreich, Norwegen, den Nie-
2.500 Familien durch die Plakatausstellung      derlanden und Polen, aber auch durch die
#StolenMemory unterstützt, die in zahlrei-      Unterstützung der lokalen Standesämter
chen Ländern Europas seit 2018 zu sehen         und Rot-Kreuz-Stellen weltweit konnten

                                                         Magazin vom 22.09.2021 16
Zur Diskussion

bisher in fünf Jahren über 540 Familien
gefunden werden. Beispielsweise gelang es
im schlesischen Żory das Schicksal von Wil-
helm Winkler zu klären, dessen über 80- und
90-jährige Schwestern sowie eine 100-jähri-
ge Schwester bis zum Kontakt durch die en-
gagierte Freiwillige nichts vom Verbleib des
Bruders wussten. Die Suche nach ihm hat-
te sie ein Leben lang begleitet. Sie erhielten
neben seiner Taschenuhr auch wichtige In-
formationen zu seinem Verfolgungsweg und
Tod und somit nach 75 Jahren Gewissheit
über den Verbleib des Bruders.

                            Über die Autor*innen
 Elisabeth Schwabauer arbeitet als Wissenschaftli-
 che Mitarbeiterin Forschung und Bildung bei den
                                Arolsen Archives.
 Anna Meier-Osiński ist Outreachmanager Eastern
                Europe bei den Arolsen Archives.

                                                     Magazin vom 22.09.2021 17
Zur Diskussion

Biografisches Lernen im                        auch für Kinder, Jugendliche und Familien
Anne Frank Zentrum                             gut zugänglich.
                                               Mit den Wanderausstellungen »Deine Anne.
Von David Gilles                               Ein Mädchen schreibt Geschichte« und
»Ich frug dann einmal meinen Verleger,         »›Lasst mich ich selbst sein.‹ Anne Franks
was seiner Ansicht nach die Gründe seien,      Lebensgeschichte« ist das Anne Frank
dass das Tagebuch von so vielen gelesen        Zentrum bundesweit aktiv. Auch hier wird
werde. Seiner Meinung nach umfasse das         Zeitgeschichte anhand der Biografie Anne
Tagebuch so viele Bereiche des Lebens, dass    Franks erzählt, beide Ausstellungen sind
jeder Leser darin etwas finde, was ihn per-    dem biografischen Lernen verpflichtet. Zen-
sönlich berühre.« (Otto Frank, Erinnerun-      traler Baustein jedes Ausstellungsprojektes
gen an Anne, 1968)                             ist die aktive Einbindung von Jugendlichen:
Im Anne Frank Zentrum bildet der biogra-       Sie werden zu Peer Guides qualifiziert, die
fische Ansatz schon seit vielen Jahren die     andere Jugendliche durch die Ausstellung
Grundlage der Bildungs- und Erinnerungs-       begleiten. Sie vermitteln Wissen, beantwor-
arbeit an Nationalsozialismus und Shoah.       ten Fragen und regen zum Dialog an. Die
»Die Arbeit an Biografien gehört zu unserer    Ausstellung »Lasst mich ich selbst sein«
DNA«, so die Direktorin Veronika Nahm.         gibt es seit Kurzem auch als Outdoor-Aus-
Die pädagogischen Angebote des Anne            stellung – damit ist eine Präsentation auch
Frank Zentrums sind vielfältig und gehen       unter Corona-Bedingungen problemlos
weit über die Beschäftigung mit Anne Frank     möglich.
und ihrer Lebensgeschichte hinaus.             Neben den Ausstellungen gibt es zahlreiche
In der Berliner Ausstellung »Alles über        frühere und aktuelle Projekte, die mit dem
Anne« steht die Biografie von Anne Frank       biografischen Ansatz arbeiten. Beispielhaft
in ihrem sozialen Umfeld im Mittelpunkt.       sei hier das Projekt »Case Not Closed« ge-
Es werden die Familienmitglieder, die          nannt, in dem Jugendliche aus Deutsch-
Freund*innen,        Klassenkamerad*innen,     land und der Türkei die Biografien von
Helfer*innen, aber auch die Täter vorge-       Jüdinnen*Juden mit türkischer Staatsange-
stellt. Die Ausstellung gibt Antworten auf     hörigkeit aus Berlin erforschen. Die Jugend-
die Frage, was die Geschichte von Anne         lichen wollen gemeinsam mit den anderen
Frank für heute bedeutet. Sie ist interaktiv   Projektbeteiligten die bisher marginalisier-
und lässt sich mit eigenen Ideen und Bei-      ten Geschichten türkischer Jüdinnen*Juden
trägen erweitern und verändern. Ein be-        in Europa wieder sichtbar machen und zum
sonderer Schwerpunkt wurde auf Inklusion       Bestandteil europäischer Erinnerung wer-
gelegt: Alle Menschen sollen diese Ausstel-    den lassen.
lung besuchen und verstehen können. Sie ist    Zudem hat das Anne Frank Zentrum

                                                        Magazin vom 22.09.2021 18
Zur Diskussion

zahlreiche Lernmaterialien für unterschied-
liche Altersgruppen veröffentlicht, die auf                                       Über den Autor
dem biografischen Ansatz basieren. Für         David Gilles ist Sozialwissenschaftler und Histori-
Kinder ab 10 Jahren eignet sich das Lern-      ker. Er arbeitet seit 2019 im Anne Frank Zentrum
                                                     und betreut das Projekt „Erinnern vor Ort“.
material »Nicht in die Schultüte gelegt«, in
dem sieben Schüler*innen, die in der NS-
Zeit verfolgt wurden, porträtiert werden.
Für ältere Jugendliche ab 14 Jahren gibt
es eine große Auswahl: Das Lernmaterial
»Flucht im Lebenslauf« erzählt die Lebens-
geschichten von drei geflüchteten Menschen
aus Geschichte und Gegenwart: Anne Frank
aus Deutschland, Hava aus dem Kosovo und
Marah aus Syrien. »7 Wege. Jüdische Bio-
grafien in Hamburg« zeigt die Geschichten
von sieben Hamburger Juden*Jüdinnen und
erzählt von Selbstbehauptung, Engagement,
Auseinandersetzung mit sich, der eigenen
Religion und Identität. Um den Nahost-
Konflikt anhand von Biografien diskutieren
zu können, wurde »Fluchtpunkte. Bewegte
Lebensgeschichten zwischen Europa und
Nahost« erarbeitet. Die Online-Toolbox
»Stories that Move« regt Jugendliche ab 14
Jahren dazu an, sich mit den Themen Viel-
falt und Diskriminierung auseinanderzuset-
zen, ihre eigenen Positionen und Entschei-
dungsmöglichkeiten zu reflektieren und für
eine plurale Gesellschaft aktiv zu werden.
Zu allen Materialien bietet das Anne Frank
Zentrum Fortbildungen für Lehrkräfte und
Multiplikator*innen an.
Detaillierte Informationen finden sich auf
unserer Website: www.annefrank.de

                                                         Magazin vom 22.09.2021 19
Zur Diskussion

Geschichte im Dialog –                          Fachkräfteaustausch. Mitarbeitende in der
Partizipatives Lernen                           Bildungsarbeit der beteiligten Institutionen
an NS-Gedenkstätten                             besuchten sich gegenseitig und stellten sich
                                                die verschiedenen Formate ihrer Bildungs-
Von Nina Ritz                                   angebote vor: Rundgangskonzepte, ein-
                                                oder mehrtägige Workshops zu Themen wie
Das Projekt Geschichte im Dialog wurde in
                                                zum Beispiel Alltag im Konzentrationslager
mehreren Arbeitsphasen von 2015 bis 2020
                                                oder Jugend im Nationalsozialismus, Mo-
durchgeführt. Die institutionell beteiligten
                                                dule zu Biografien ehemaliger KZ-Häftlin-
Projektpartner waren die KZ-Gedenkstätte
                                                ge, Vor- und Nachbereitungsmethoden von
Flossenbürg, das Max-Mannheimer-Studi-
                                                Gedenkstättenbesuchen und mehr. Dabei
enzentrum in Dachau sowie das Center for
                                                wurde ersichtlich, dass aus dem angenom-
Humanistic Education am Ghetto Fighters‘
                                                menen „Das machen wir genauso oder so
House Museum in Lohamei Haghetaot in Is-
                                                ähnlich“ bei näherer Betrachtung große Un-
rael. Weiter beteiligt waren in der Vermitt-
                                                terschiede in der Herangehensweise zu Tage
lungsarbeit dieser NS-Gedenkstätten und
                                                traten. Dies führte zur Analyse von Details,
Erinnerungsorte freiberuflich Tätige sowie
                                                des Ergründens und Erklärens, warum was
Fachkräfte von verschiedenen Organisati-
                                                wie getan wird und der Erkenntnis von Wi-
onen und aus verschiedenen Disziplinen.
                                                dersprüchen, Ambivalenzen und auch Kon-
Gefördert wurde das Projekt von der Bun-
                                                flikten. Alle Beteiligten waren gezwungen,
deszentrale für politische Bildung. Im Kern
                                                ihre „Komfort-Zone“ zu verlassen und Stel-
haben etwa 15 Personen das Projekt über
                                                lung zu beziehen. Zum Vorschein kamen ne-
weite Strecken seiner Laufzeit begleitet.
                                                ben einer ganzen Reihe von Best-Practice-
Sie kommentierten im Rückblick, die Teil-
                                                Beispielen auch unhinterfragte Praktiken,
nahme an Geschichte im Dialog als großes
                                                Pragmatismus, vermeintliche Zwänge, Un-
Privileg empfunden zu haben. Das Projekt
                                                sicherheiten und sogar Zweifel an Sinn und
habe ihre Sicht auf die Vermittlungstätigkeit
                                                Zweck der Vermittlungstätigkeit an sich so-
an NS-Gedenkstätten nachhaltig bereichert.
                                                wie persönliche und interkulturell beding-
Auch waren sie der Meinung, dass sich die
                                                te Differenzen. Um dies gemeinsam auszu-
Erfahrungen aus dem Projekt positiv auf
                                                handeln, bedurfte es der Gewissheit eines
die Entwicklung ihrer Persönlichkeit ausge-
                                                geschützten Raums, Zeit für Diskussionen
wirkt hätten. Doch worum ging es in diesem
                                                und gegenseitiges Vertrauen – eine der Be-
Projekt und was war das Besondere daran?
                                                sonderheiten des Projekts.
   Wir arbeiten doch alle dialogisch…           Das Ergebnis dieser ersten Projektphase war
Das Projekt kann mit einigem Recht als          der Wunsch, Trennendes zu überwinden
„work in progress“ bezeichnet werden.           und auf Basis des bereits ausgehandelten
Die erste Projektphase fokussierte einen        Konsenses gemeinsam neue Methoden für

                                                         Magazin vom 22.09.2021 20
Zur Diskussion

die Vermittlungsarbeit zu entwickeln. Die-      zwei- oder dreitägige Arbeitssitzung für die
se sollten einerseits die Diversität in einer   gesamte Projektgruppe, das sich detailgenau
Gruppe berücksichtigen und andererseits         mit der Analyse der Erstellung und Durch-
Partizipation ermöglichen. Auch in der da-      führung einer Rundgangsstation befasste:
rauf folgenden zweiten Projektphase stand       Welches konkrete Thema behandelt eine
das Experimentelle im Mittelpunkt und           Rundgangsstation wie etwa die Verortung
es begann ein Prozess des Ausprobierens,        des Lagers in seiner geografischen Umge-
Diskutierens und Herantastens. An dessen        bung, das Sprechen über Täterschaft, Terror
Ende war deutlich, dass es einen sehr spe-      und Gewalt, die Zustände in den Baracken
zifischen gemeinsamen Nenner braucht als        etc.? Welche Situationen werden dabei
Basis für die konkrete Weiterarbeit. Dieser     aus Sicht der Vermittlerin*des Vermittlers
Nenner waren einzelne Stationen in Rund-        als herausfordernd, welche als erfolgreich
gängen an den KZ-Gedenkstätten Dach-            wahrgenommen? Wann und wie findet
au und Flossenbürg. Sie sollten als Erpro-      Kommunikation zwischen Vermittler*in
bungsgegenstand geradezu mikroskopisch          und Gruppe statt? Welche Qualität hat die
genau untersucht werden im Hinblick auf         Kommunikation, was sind zum Beispiel
das, was sich in der Vermittlungssituation      „gute“ Fragen der Vermittler*des Vermitt-
einer Station zwischen Vermittler*in, Teil-     lers an die Gruppe? Aus welchen einzelnen
nehmenden einer Gruppe und dem Thema            Elementen besteht eine Station, wie ist sie
als Vermittlungsgegenstand abspielt. Dazu       methodisch-didaktisch aufgebaut, was dient
war es notwendig, die Projektgruppe für die     als Anschauungsmaterial wie etwa Zita-
nächste, die dritte Phase zu erweitern und      te von Häftlingen oder Propaganda-Foto-
Vermittler*innen der KZ-Gedenkstätten           grafien? Und an welchen Stellschrauben
Dachau und Flossenbürg mit einzubezie-          gibt es Möglichkeiten für Veränderungen,
hen, die über eine breite Praxis an Erfah-      die sich positiv auf die Dynamik auswir-
rungen mit unterschiedlichen Zielgruppen        ken? Nach der Methode „Trial and Error“
verfügten.                                      wurden „alte“ Stationen neu erarbeitet,
                                                Materialien recherchiert, Dynamiken ent-
 Rundgangsstationen unter der Lupe
                                                schlüsselt und reflektiert. Steuerungs- und
Die Projektgruppe teilte sich nun auf in        Vermittler*innengruppe bewegten sich os-
die Steuerungsgruppe, die aus jeweils zwei      zillierend hin und her, Programme wurden
Vertreter*innen pro beteiligter Institution     an Zwischenergebnisse angepasst und nach-
sowie einem externen Koordinator bestand,       justiert, sodass bisweilen dieselben Themen
und die Vermittler*innengruppe. Die wei-        wieder und wieder diskutiert wurden, aber
tere Arbeitsweise kann als „spiralförmig“       immer aus einer anderen Perspektive, mit
beschrieben werden: Die Steuerungsgruppe        neuem Erkenntnisgewinn.
entwickelte jeweils das Programm für eine

                                                         Magazin vom 22.09.2021 21
Zur Diskussion

         Von der Methode zur Haltung            Bedürfnissen im Mittelpunkt. Die Aufgabe
Im Verlauf der vierten und letzten Projekt-     der Vermittlerin*des Vermittlers bestand
phase zeichnete sich ein Paradigmenwech-        jetzt in der Aufforderung an die Gruppe,
sel ab: Der*Die allwissende Vermittler*in,      sich aktiv in den Austausch einzubringen
der*die als Expert*in das Narrativ des Ortes    und eigene Wahrnehmungen zu äußern.
vermittelt und die Gruppe der Teilnehmen-       Diese muss er*sie ernst nehmen und mo-
den dabei überwiegend – gewollt oder nicht      derieren. Die dabei entstehende Dynamik
gewollt – zu passiven Empfänger*innen           trägt die Befürchtung in sich, dass es mög-
macht, wurde abgelöst. An ihre*seine Stel-      licherweise auch zu problematischen Äuße-
le trat ein Verständigungsprozess. Histori-     rungen kommen kann. Trotzdem sind die
sche Ereignisse und ihre Bedeutung für die      Projektbeteiligten optimistisch: Die durch
Gegenwart wurden gemeinsam gedeutet             Geschichte im Dialog gewonnene Haltung
und interpretiert. Wirklicher – und nicht       habe sie in ihrer Souveränität bestärkt. Ein
nur scheinbarer – Dialog konnte stattfin-       Moment von Gelassenheit sei entstanden,
den, der alle an diesem Prozess Teilneh-        nicht immer perfekt sein zu müssen, nicht
menden gleichermaßen aktivierte und am          immer sofort die absolut richtige Antwort
Lernprozess über Nationalsozialismus und        parat haben zu müssen, auch eigene Unsi-
Holocaust beteiligte. Doch nicht nur für die    cherheiten zulassen zu dürfen. Dafür sei ein
Teilnehmenden am Vermittlungsprozess            offener Kommunikationsraum entstanden,
hatte dieser Paradigmenwechsel spürba-          der spannend ist, neue Erkenntnisse bringt
re Folgen, sondern vor allem auch für die       und als Modell für ein inklusives, demokra-
Vermittler*innen selbst. Für sie bildete sich   tisches Miteinander steht.
der nunmehr veränderte Gestaltungspro-                                       Perspektiven
zess nicht nur methodisch ab, sondern er        Während der Projektlaufzeit waren die Be-
ging weit darüber hinaus, er führte zu einer    teiligten mehrfach aufgefordert, Außenste-
neuen Haltung in der eigenen Arbeitspraxis.     henden über das Projekt zu berichten. Dies
Diese Erkenntnis war für die Projektgruppe      wurde zwar in Veranstaltungen und Präsen-
gleichermaßen überraschend und beson-           tationen eingelöst, dabei zeigte sich jedoch
ders. Die Autonomie der Vermittlerin*des        auch die Schwierigkeit, ein solch komplexes,
Vermittlers wurde bis dahin getragen von        prozessorientiertes Projekt, das außerdem
historischer Expertise und Deutungshoheit.      eine ungewöhnlich lange Laufzeit hatte, in
Im Dialog mit der Gruppe wurde sie nun          Kürze gebührend zusammenzufassen. An-
durch etwas Neues, Unbekanntes ersetzt.         dererseits waren die Erfahrungen der Pro-
Viel stärker als zuvor standen nun die          jektbeteiligten so nachhaltig, dass in jeder
Besucher*innen bzw. die am Vermittlungs-        Projektphase der Wunsch nach Fortsetzung
prozess Teilnehmenden einer Gruppe mit          zentral war. Geschichte im Dialog ist vielfäl-
ihren Beobachtungen, Einschätzungen und         tig anschlussfähig. Zum einen knüpft es an

                                                          Magazin vom 22.09.2021 22
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