LAG - MAGAZIN BIOGRAFISCHES LERNEN 22.09.2021 - LERNEN AUS DER GESCHICHTE
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Zur Diskussion Der biografische Ansatz in der Geschichtsvermittlung............................................................4 Biografien der Gewalt im 20. Jahrhundert..............................................................................9 Die Kampagne #StolenMemory und ihre Bildungspotenziale...............................................13 Biografisches Lernen im Anne Frank Zentrum......................................................................18 Geschichte im Dialog – Partizipatives Lernen an NS-Gedenkstätten...................................20 Empfehlung App „Junger jüdischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus“. Ein Actionbound (multime- dialer Stadtrundgang) durch Berlins Mitte als Beispiel für Bildungsarbeit gegen Antisemi- tismus in Zeiten der Covid-Pandemie....................................................................................24 Empfehlung Fachbuch Franziska Bruder: Das eigene Schicksal selbst bestimmen. Fluchten aus Deportationszügen der „Aktion Reinhardt“ in Polen.............................................................................................29 Empfehlung Bildungsträger und Lernort Wechselausstellung NS-Dokumentationszentrum München: Ende der Zeitzeugenschaft?..32 Ihr letzter Weg – ein Audiowalk.............................................................................................36 Empfehlung Comic Jessica Bab Bonde und Peter Bergting: Bald sind wir wieder zu Hause...............................39 Magazin vom 22.09.2021 2
Einleitung Liebe Leser*innen, wir begrüßen Sie zur ersten Ausgabe des Daria Ivasenko stellt im Besprechungs- LaG-Magazins nach der Sommerpause. Das teil das didaktische Konzept eines Gedenk- titelgebende Thema bildet wie stets den spaziergangs zur Marianne-und-Herbert- Schwerpunkt des Magazins. Baum-Gruppe mit der App Actionbound vor Veronika Nahm und David Gilles leiten mit und gibt praktische Hinweise zur Durchfüh- ihrem Beitrag zum biografischen Ansatz in rung. der Geschichtsvermittlung in die Ausgabe Wir bedanken uns herzlich bei allen ein. Sie thematisieren die Subjektorientie- Autor*innen für die Beiträge in diesem LaG- rung als grundlegendes pädagogisches Prin- Magazin. zip und dessen Verhältnis zum strukturge- schichtlichen Ansatz. In eigener Sache Wolfgang Schroeter schreibt über die Ver- Pascal Beck verstärkt ab dieser Ausgabe als änderung von in der Regel männlich gepräg- studentischer Mitarbeiter die Redaktion. ten und zweifelhaften Heldenbildern infolge Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit und des Ersten und Zweiten Weltkriegs. begrüßen den neuen Kollegen. Anna Meier-Osiński und Elisabeth Schwa- Das nächste reguläre LaG-Magazin erscheint bauer stellen die Kampagne #StolenMemo- am 27. Oktober. Es befasst sich mit den Stu- ry der Arolsen Archives vor und gehen auf dien des Multidimensionalen Erinnerungs- das dazu entwickelte Bildungsmaterial ein. monitors (MEMO). Zusätzlich erscheint zuvor am 13. Oktober eine Sonderausgabe In einem zweiten Beitrag thematisiert des Magazins zu „Verschwörungsmythen in David Gilles biografisch ausgerichtete An- Geschichte und Gegenwart“ mit Texten aus gebote des Berliner Anne Frank Zentrums. einem Seminarprojekt des Zentrums für An- Mit Geschichte im Dialog wurde ein parti- tisemitismusforschung. zipatives Projekt zur Geschichtsvermittlung Ihre LaG-Redaktion an NS-Gedenkstätten entwickelt, bei dem die Haltung von Pädagog*innen eine zent- rale Rolle spielt. Bei Geschichte im Dialog geht es nicht ausschließlich und unmittelbar um Lernen mit Biografien. Der wegweisende Impuls passt dennoch gut in diese Ausgabe. Nina Ritz hat als Mitglied der Steuerungs- gruppe mitgearbeitet und schreibt über die Konzeptionsphasen. Magazin vom 22.09.2021 3
Zur Diskussion Der biografische Ansatz in der Subjektorientierung als Geschichtsvermittlung pädagogische Haltung Von Veronika Nahm und David Gilles Die Auseinandersetzung mit Nationalsozia- lismus und Shoah ist eine große Herausfor- Der biografische Ansatz ist mittlerweile eine derung sowohl für Pädagog*innen als auch anerkannte Praxis in der außerschulischen für Kinder und Jugendliche. Das größte Geschichtsdidaktik. Gerade in Gedenkstät- Verbrechen, das die Menschheit je began- ten wird zunehmend die Geschichte von gen hat und das von Deutschen geplant und Verfolger*innen, Verfolgten und (vermeint- umgesetzt wurde, lässt sich in seiner Gänze lichen) Zuschauer*innen zum Ausgangs- weder emotional noch rational begreifen. punkt gemacht, um dann die Brücke zum Für junge Menschen liegt die Zeit des Na- Verständnis der historischen Zusammen- tionalsozialismus mehr als ein halbes Jahr- hänge zu schlagen. Die gedenkstättenpäd- hundert vor ihrer Geburt. Pädagog*innen agogische Praxis zeigt, dass die Auseinan- suchen daher nach Wegen, wie sie das Un- dersetzung mit Biografien bei Jugendlichen vorstellbare für junge Menschen greifbarer Türen öffnet für historisches Lernen. Ju- und verständlicher machen können. gendliche lernen historische Ereignisse und Daten aus den persönlichen Erlebnissen Kinder und Jugendliche haben dagegen einer Person kennen, dadurch werden sie zahlreiche gute Gründe, sich nicht mit die- konkret und verständlich. ser Geschichte beschäftigen zu wollen. Sei es, dass sie aktuelle Probleme – zum Beispiel Biografisches Lernen ermöglicht auch ein die Klimakrise – als wichtiger bewerten, sei Verständnis von Geschichte als dem Ergeb- es die Angst vor emotionaler Überwältigung, nis menschlicher Handlungen. Geschicht- wie sie oft noch im Geschichtsunterricht liche Ereignisse entstehen durch das ver- oder an außerschulischen Lernorten prak- knüpfte Handeln von zahlreichen Menschen. tiziert wird. Eine erfolgreiche Pädagogik Durch biografisches Lernen wird deutlich, muss die Jugendlichen als Persönlichkeiten dass diese Menschen – in einem mehr oder ernst nehmen und ihre Interessen, ihr Vor- weniger engen Rahmen – Entscheidungs- wissen, ihre Wünsche und Ängste zum Aus- möglichkeiten haben und dass ihre Hand- gangspunkt pädagogischer Arbeit machen. lungen Konsequenzen für andere haben. Jugendliche suchen nach ihrem Platz im Dieses Geschichtsverständnis ermöglicht Leben und bringen daher viele Fragen mit, eine Diskussion über die Gegenwart: Welche an sich, an ihre sozialen Gruppen und an die Optionen haben wir heute? Welche anderen Gesellschaft. Durch subjektorientiertes his- Menschen betrifft mein Handeln? Was sind torisches Lernen erfahren die Jugendlichen, die Konsequenzen unseres Handelns? dass sie über, aus und an der Geschichte lernen können – und zwar nicht, um ein abstraktes Allgemeinwissen oder eine gute Magazin vom 22.09.2021 4
Zur Diskussion Note in Geschichte zu erhalten, sondern um Emotionen – sowohl der historischen Objek- sich, ihr Leben und die Gesellschaft besser te als auch der lernenden Subjekte – spielten zu verstehen. hier keine Rolle oder wurden sogar bewusst Insofern ist die erste Herausforderung im abgelehnt, weil sie im Verdacht standen, biografischen Lernen, die Jugendlichen als den klaren Blick auf die Geschichte zu ver- Subjekte des Lernens in ihrer Vielfalt und fälschen und Manipulation und Überwälti- Diversität wahr und ernst zu nehmen. Damit gung der Jugendlichen zu ermöglichen. Ge- müssen Pädagog*innen sich auch von star- rade für junge Menschen ist es aber schwer, ren Lernzielen verabschieden. Lernen wird sich selbst in Beziehung zu Geschichte als ein Prozess zwischen Pädagog*innen zu setzen, weil die „große Geschichte“ zu und Schüler*innen verstanden, in dem die weit entfernt von der eigenen Lebenswelt Jugendlichen ihre eigenen Fragen an die scheint. So können die positiven Effekte des Geschichte formulieren. Die Aufgabe der strukturgeschichtlichen Ansatzes – nämlich Pädagog*innen besteht darin, den Rahmen ein tieferes Verständnis für historische Zu- dafür so zu gestalten, dass den Jugendlichen sammenhänge – nicht erreicht werden, weil dies bestmöglich gelingt. man die Jugendlichen bereits am Anfang der Auseinandersetzung verliert. Strukturgeschichte oder Auch wenn beide Ansätze zuerst wider- Heldenerzählung? sprüchlich erscheinen, bildet der struk- Nach 1945 hat sich die Geschichtswissen- turgeschichtliche Ansatz die Basis für den schaft zunehmend von einer personalisier- biografischen Ansatz. Aus der Auseinander- ten Geschichtserzählung verabschiedet. Zu setzung mit der Biografie einer historischen deutlich war, dass die Heldenerzählungen Person können Fragen an die Zeit entstehen, der Taten großer Männer (Frauen kamen in in der die Person gelebt hat. Was waren das diesen Erzählungen nicht vor) nicht zu ei- für gesellschaftliche Verhältnisse damals? nem Verständnis von Geschichte beitragen, Nach welchen Regeln funktionierte das Zu- sondern in erster Linie nationale Mythen be- sammenleben? Welche Handlungsmöglich- gründen. Die personalisierte Heldenerzäh- keiten gab es und was hat die Handlungs- lung wurde ersetzt durch eine Analyse von möglichkeiten begrenzt? Die biografischen Strukturen. Nicht mehr das Handeln ein- Schilderungen können so in historische, zelner, sondern gesellschaftliche, politische gesellschaftliche und politische Zusam- und wirtschaftliche Möglichkeitsräume, menhänge eingeordnet werden. Praktisch Normen, Werte und Strukturen bildeten die geschieht dies oft durch die Fragen der Ler- Analysegegenstände der Geschichtsdidak- nenden. Nachdem die Lernenden eine Per- tik. son tiefgehend kennengelernt haben, möch- Der strukturgeschichtliche Ansatz ist voll ten sie auch die Zeit kennenlernen, in der die und ganz der Rationalität verpflichtet. Person gelebt hat. Für die Pädagog*innen Magazin vom 22.09.2021 5
Zur Diskussion ist es wichtig, sich bei der Auswahl der Bio- Multiperspektivität und Diversität grafien mit der Strukturgeschichte sehr gut Es gibt zahlreiche Perspektiven auf Ge- auszukennen, um zum einen „historisch re- schichte und das gleiche historische Ereig- levante“ Biografien auszuwählen und zum nis kann für unterschiedliche Menschen anderen die Verknüpfungen zwischen Bio- ganz verschiedene Auswirkungen haben grafie und Struktur herstellen zu können. – je nach gesellschaftlicher Positionierung. Emotionen im historischen Lernen Der biografische Ansatz gibt die Möglich- keit, eine Vielzahl unterschiedlicher, sich Emotionen sind Teil eines jeden Lernpro- womöglich widersprechender Stimmen zesses – ob beabsichtigt oder nicht. Emo- anzuhören. In einer diversen Gesellschaft tionen transportieren das Gelernte ins braucht es diverse Geschichten, weil gerade Gedächtnis, sie können zu einer weiteren die Repräsentation derer, die sonst in der Beschäftigung mit einem Thema motivieren Geschichtsschreibung oft nicht vorkommen, oder sie blockieren. Eine kontraproduktive wichtig ist. Der biografische Ansatz kann Emotion ist Scham – wer Scham empfindet, insbesondere die „vergessenen Geschich- wird sich verschließen. Andere Emotionen, ten“ in den Blick holen und damit nicht nur wie z.B. Empathie, Freude oder Interesse, die historischen Personen vor dem Verges- können Verbindungen herstellen zwischen sen bewahren, sondern auch heutigen jun- der Lebenswelt der Jugendlichen und der gen Menschen die Botschaft vermitteln: Du Lebenswelt der historischen Anderen. Sie bist wichtig und deine Geschichte ist wich- können Jugendliche für historisches Lernen tig. motivieren und erleichtern ihnen die Aneig- nung von schwierigem oder fremdem Wis- Die Auseinandersetzung mit Biografien regt sen. Prinzipiell müssen die Emotionen und auch zum Perspektivwechsel an. Sie ermu- die emotionale Entwicklung der lernenden tigt, über den eigenen Tellerrand zu schau- Gruppe im Blick behalten werden und vor en, andere Perspektiven auf die Welt und allem Jugendliche vor emotionaler Überfor- andere Lebensrealitäten kennenzulernen. derung geschützt werden. Der biografische Lernende können die biografischen Erleb- Ansatz nimmt die lernenden Jugendlichen nisse mit ihrer eigenen Lebenswelt in Bezug mit ihren Emotionen ernst und schafft ei- setzen und sowohl Parallelen als auch Un- nen Rahmen, in dem Jugendliche selbstbe- terschiede entdecken und so auch viel über stimmt lernen und forschen können, ohne sich selbst lernen. Angst vor emotionaler Überwältigung ha- Zudem fördert der biografische Ansatz ein ben zu müssen. Eine bewusste Emotionali- differenziertes Geschichtsbild, weil er nicht sierung – also das Hervorrufen bestimmter nur einen, sondern viele Blickwinkel auf Ge- Emotionen – ist jedoch sowohl aus ethi- schichte präsentiert. Menschen neigen dazu, scher als auch aus pädagogischer Sicht ab- historische Berichte für allgemeingültig zu zulehnen. halten – „so war es damals halt“. Von da ist Magazin vom 22.09.2021 6
Zur Diskussion es nur ein kurzer Schritt zu Klischees und Täter*innen. Das biografische Lernen kann Stereotypen, denn wer nur eine (oder weni- daher – gerade bei gut dokumentierten Bio- ge) Geschichten kennt, kann nicht anders, grafien – beispielhaft die „Gesellschaft des als die Menschen in Gruppen einteilen und Holocaust“ (Matthias Heyl) erläutern. diesen mehr oder wenige feste Eigenschaf- Methodische Anregungen ten zuschreiben. Doch wenn vielfältige, sich Das biografische Lernen lebt davon, dass die genauso widersprechende wie ergänzende lernenden Subjekte von Anfang bis Ende im Geschichten nebeneinanderstehen, entsteht Mittelpunkt stehen. Insofern sollte schon die ein differenziertes Bild von der Vergangen- Auswahl der Biografien, die man bearbeiten heit. möchte, gemeinsam mit den Jugendlichen Handlungsspielräume und und anhand ihrer Interessen geschehen. Die biografische Geflechte Pädagog*innen sollten jedoch eine Voraus- Erst aus dieser Vielzahl werden auch Hand- wahl entsprechend der Lernziele treffen. lungsspielräume und ihre Grenzen deut- Jede Art von Quellen ist nutzbar. lich. Manche Christ*innen haben sich den Zeitzeug*innengespräche sind sehr beein- »Deutschen Christen« angeschlossen, man- druckend, werden jedoch in Zukunft in che der »Bekennenden Kirche«. Manche Bezug auf die Geschichte des Nationalso- Jüdinnen*Juden haben Widerstand gegen zialismus nicht mehr möglich sein. Für die die Nazis geleistet, andere nicht. Manche biografische Arbeit eignen sich aber auch Menschen haben ihren Nachbar*innen Es- Ton- und Filmaufnahmen, (auto-)biografi- sensmarken geschenkt, andere haben sie an sche Texte und insbesondere Tagebücher, die Gestapo verraten. Die Gründe, warum sowie passende historische Quellen wie Zei- sich eine Person auf die eine oder auf die tungsartikel, Dokumente und Fotos. Wich- andere Art entschieden hat, hängen ganz di- tig ist, dass die Quellen einen Einblick in rekt mit biografischen Erlebnissen und Prä- den Alltag der Person ermöglichen. Eine he- gungen zusammen und können durch Aus- roisierende oder einseitige Darstellung einer einandersetzung mit ihrer Biografie besser Person scheint wenig sinnvoll zu sein, da ge- verstanden werden. rade Brüche, Widersprüche und Schwächen Eine Biografie erzählt immer viel mehr als Empathie fördern und zum Nachdenken an- das Leben einer Person. Biografien sind so- regen können. Gleichzeitig ist eine Darstel- ziale Geflechte, die mit den Leben von vielen lung als handlungsunfähiges Opfer weder anderen verbunden sind. Über die Auseinan- realistisch noch sinnvoll. Zusätzlich zu den dersetzung mit einer Biografie erfahren wir Quellen braucht es altersgerecht aufgearbei- auch etwas über die Familie, Nachbar*innen, tete Informationen über die zeitgeschichtli- Freund*innen oder Kolleg*innen, über chen Umstände. Helfer*innen, Mitläufer*innen oder Anhand der Quellen entsteht gemeinsam Magazin vom 22.09.2021 7
Zur Diskussion mit den Jugendlichen ein Forschungspro- Anne Frank Zentrum (Hrsg.): Vielfalt loka- zess. Die Jugendlichen sollen ermutigt wer- ler Erinnerungen. Projektdokumentation den, Fragen zu stellen. Der biografische An- und Praxisempfehlungen zur Umsetzung satz lebt von den Diskussionen und Fragen, lokaler Jugendgeschichtsprojekte (2021), die aus der Auseinandersetzung mit einer online unter https://www.annefrank.de/ Person entstehen. Dabei braucht es viel fileadmin/Redaktion/Bildungsarbeit/Do- Achtsamkeit und Sensibilität für Selbstrefle- kumente/Vielfalt_lokaler_Erinnerungen_ xion: Wenn die Jugendlichen sich dem Le- Projektdokumentation.pdf. ben einer anderen Person annähern, kann dies auch eigene biografische Erlebnisse ins Gedächtnis rufen. Im biografischen Lernen gibt es einen stän- Über die Autor*innen digen Wechsel zwischen dem Lernen oder Veronika Nahm ist Historikerin und leitet seit Erforschen des Lebens einer Person und der Juni 2021 das Anne Frank Zentrum. Seit 2003 arbeitete sie hier als freie und seit 2008 als feste Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte. Mitarbeiterin. Da das Leben der vorgestellten Personen mit David Gilles ist Sozialwissenschaftler und Histori- Zeitgeschichte eng verknüpft ist, werden die ker. Er arbeitet seit 2019 im Anne Frank Zentrum und betreut das Projekt „Erinnern vor Ort“. Jugendlichen Fragen an die Zeit entwickeln, um die Biografie besser zu verstehen. So eignen sie sich nach und nach immer mehr Wissen über den historischen Rahmen an. Es kann sinnvoll sein, dieses Wissen immer wieder zu sortieren und zu strukturieren, z.B. mit Hilfe eines Zeitstrahls. Quellen Peter Gautschi: Vom Nutzen des Biografi- schen für das historische Lernen. S. 171-179 in: Peter Gautschi et al. (Hrsg.): Menschen mit Zivilcourage. Mut, Widerstand und ver- antwortliches Handeln in Geschichte und Gegenwart. Luzern 2014. Matthias Heyl: Erziehung nach und über Auschwitz – dass der Unterricht sich in Soziologie verwandle. Hamburg 2001. In: www.fasena.de/download/heyl/Heyl%20 (2001).pdf. Magazin vom 22.09.2021 8
Zur Diskussion Biografien der Gewalt im Propaganda und Presse gefeiert. Der be- 20. Jahrhundert kannteste Held des Ersten Weltkriegs ist der Flieger Manfred Freiherr von Richtho- Von Wolfgang Schroeter fen. Nach unerreichten 80 Luftsiegen wurde Richthofen selbst abgeschossen. Sein Ruhm Erster Weltkrieg – Helden oder wurde in der Weimarer Republik und im Opfer? „Dritten Reich“ instrumentalisiert. Bis heu- Früher waren Helden männlich und etwas te ist der „Red Baron of Germany“ ein Star Besonderes. Sie setzten ihr Leben für etwas der internationalen Popkultur. scheinbar Größeres wie die Ziele der Ge- Doch als der wahre Held des Ersten Welt- meinschaft oder des Vaterlandes aufs Spiel. krieges sollte sich der „namenlose Soldat“ Dieses von den zehn Millionen Opfern des herausstellen, dessen Denkmäler als leeres Ersten Weltkriegs entzauberte maskuline Grab zuerst 1919 in London und dann in Heldenbild zeigt sich noch in der französi- Paris errichtet wurden. Ihr Vorbild war der schen Siegeskathedrale von Verdun, die wie französische Soldat Octave Monjoin, der ein Riesenphallus in den Himmel ragt. Papiere und Gedächtnis verloren hatte und Im Zeitalter des Nationalismus und der erst nach jahrzehntelangen Prozessen seine Industrialisierung wurde aus dem Kampf Identität wiederfand. Mann gegen Mann unter dem Dauerfeuer In Deutschland hatte jedes Dorf Gedenk- der Maschinengewehre und Geschütze ein tafeln und Kreuze für „ihre“ Opfer erstellt. Kampf der Massen im Schützengraben. Der Der 1919 gegründete Volksbund Deutsche Erste Weltkrieg war geprägt vom anonymen Kriegsgräberfürsorge erstellte unter seinem Sterben in sinnlosen Materialschlachten: nationalkonservativen Chefarchitekten Ro- Die Soldaten fühlten sich unter dem tage- bert Tischler (von 1926-1959) neben schlich- langen Artilleriefeuer wie Lämmer, die zur ten Kriegsgräberstätten auch monumentale Schlachtbank geführt wurden. Nach Kriegs- wie in Langemarck. Im Nationalsozialismus ende kehrten die Überlebenden desillusi- fanden sie mit dem Konzept der „Totenbur- oniert zurück in die Heimat. Oft hatten sie gen“ ihren Höhepunkt. neben Armen und Beinen den Glauben an Gott, den Kaiser und das Gute im Menschen Rassistischer NS-Vernichtungskrieg - verloren. Täterschaft statt Heldentum! Zur Mobilisierung und Motivation die- Basis der Ideologie des „Dritten Reiches“ ser unzähligen Opfer wurden vermeintlich war der sozialdarwinistische Überlebens- letzte individuelle Helden wie U-Boot-Ka- kampf der „nordischen Rasse“ gegen das pitäne, Stoßtrupp-Führer und besonders „internationale Judentum“ und die „slawi- die „Ritter der Lüfte“ mit Orden wie dem schen Untermenschen“. Unter dem Deck- „Pour Le Mérite“ ausgezeichnet und von mantel und Gewaltrahmen des Krieges Magazin vom 22.09.2021 9
Zur Diskussion führte dies zum millionenfachen Genozid Kriegsverbrechergefängnis Landsberg/Lech im Osten, wo die Einsatzgruppen der SS und gehenkt. Artur Wilke war bei den Massen- Polizei-Bataillone unter starker Unterstüt- morden direkt an der Grube beteiligt. Nach zung durch die Wehrmacht über zwei Mil- dem Krieg nahm er die Identität seines ver- lionen Jüdinnen*Juden und Zivilist*innen storbenen Bruders an und arbeitete als Leh- erschossen. Drei Millionen kriegsgefangene rer, bis er 1961 enttarnt und zu zehn Jahren Russen starben, meistens an Hunger – ein Haft verurteilt wurde. Christian Wirth ge- Schicksal, das im Falle des „Endsiegs“ un- hörte zur ersten NS-Generation der „alten ter dem „Generalplan Ost“ 30 Millionen Kämpfer“ und war maßgeblich am Mord Sowjetbürger*innen zugedacht war. Weite- von Behinderten beteiligt. Er wurde Inspek- re 4,7 Millionen Sowjetbürger*innen wur- teur der Vernichtungslager Belzec, Treblin- den zu Zwangsarbeit nach Deutschland ver- ka und Sobibór und wurde 1944 in Triest schleppt. getötet. Zu den Täterinnen gehörten auch In Deutschland wurden bereits seit Kriegs- viele der etwa 500.000 im „Osten“ einge- beginn systematisch Behinderte und „Geis- setzten Krankenschwestern, Sekretärinnen teskranke“ als „lebensunwertes Leben“ mit und Partnerinnen von SS-Oberen wie Erna Todesspritzen und in Gaswagen ermordet. Petri, die als Verwalterin eines polnisch- Im Oktober 1941 begann die Deportation ukrainischen NS-Musterguts eigenhändig der deutschen und dann der europäischen mindestens sechs jüdische Kinder erschoss. Jüdinnen*Juden in die schon 1939 über- Auch im Zweiten Weltkrieg gab es die von füllten Ghettos in Polen. Ab Dezember 1941 der NS-Propaganda gefeierten Helden wie wurde der industrielle Holocaust in den den Stuka-Piloten Hans-Ulrich Rudel und Gaskammern der auf ehemals polnischem Erwin Rommel. Rudel wurde für die Zerstö- Gebiet errichteten Vernichtungslager wie rung von über 300 Panzern als einziger mit Belzec, Sobibór, Treblinka und Auschwitz- dem goldenen Eichenlaub zum Ritterkreuz Birkenau begonnen. In ihnen wurden über 4 ausgezeichnet. Nach dem Krieg floh er wie Millionen Jüdinnen*Juden ermordet, davon viele Nazis 1948 auf der „Rattenlinie“ nach etwa drei Millionen polnische und 165.000 Argentinien, arbeitete als Berater für meh- deutsche. rere südamerikanische Diktatoren und half Beispielhafte Täter sind der Jurist und Ein- mit dem „Kameradenwerk“ Kriegsverbre- satzgruppenchef Otto Ohlendorf, der SS- chern wie Adolf Eichmann und Josef Men- Obersturmführer Artur Wilke und der Stan- gele. Er unterstützte rechtsradikale Organi- dartenführer Christian Wirth. Ohlendorf sationen wie die Sozialistische Reichspartei, gab bei den Nürnberger Prozessen zu, für die kandidierte für den Bundestag und sorgte Erschießung von 90.000 Jüdinnen*Juden bis zu seinem Tod 1982 für politische Skan- und Sowjetbürger*innen verantwort- dale. lich gewesen zu sein. 1951 wurde er im Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der Magazin vom 22.09.2021 10
Zur Diskussion bis heute populärste deutsche Heerführer erst 1979 lenkte die TV-Serie Holocaust den des Zweiten Weltkriegs, wurde nach dem ge- Blick einer neuen Generation auf die Mil- scheiterten Hitler-Attentat zum Selbstmord lionen wahren Opfer der NS-Diktatur wie gezwungen und anschließend prunkvoll die von ihrer Familie als einzige, mittellos als Held beerdigt. Bis heute ist umstritten, überlebende Jüdin Marianne Stern, die sich wie stark seine Beteiligung am Widerstand im Kampf gegen deutsche Behörden und als wirklich war. Er profitierte davon, dass er Zeitzeugin in Schulen ihre Würde zurückge- fast ausschließlich im Westen gegen spätere wann. Inzwischen nimmt die neu etablier- Verbündete der Bundesrepublik eingesetzt te Erinnerungskultur die Perspektive der wurde – und nicht im Vernichtungskrieg im Opfer wahr und definierte den Begriff der Osten. Geschichtswerkstätten verweisen auf Held*innen neu. Auch der Volksbund muss- von der Waffen-SS begangene Gräueltaten te sich kritischen Fragen zu seiner Grabdar- in Italien und an der Invasionsfront sowie stellung von NS-Tätern wie Wirth in Coster- auf das Elend der unzähligen dort einge- mano stellen. setzten Zwangsarbeiter*innen. Rommel war Neue Held*innen sind Elfriede Maria Scholz, verantwortlicher Teil, aber auch Opfer der die „unbekannte“, 1943 wegen „Wehr- nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, kraftzersetzung“ und „Feindbegünstigung“ von der er lange als Held instrumentalisiert hingerichtete Schwester von Erich Maria wurde. Remarque, und Rachel Auerbach, Überle- bende, Widerstandskämpferin und Doku- Perspektivwechsel zu den wahren mentarin des Warschauer Ghettos in Yad Opfern und neuen Held*innen Vashem. Der Wehrmachtsoffizier Wilhelm Nach 1945 trauerten die Deutschen um den Hosenfeld rettete 30 polnische und jüdische verlorenen Krieg und fühlten sich selbst als Bürger*innen vor dem Tode. Er wurde spä- Opfer von Bombenkrieg, Flucht und Ver- ter als „Gerechter unter den Völkern“ eben- treibung. Vor allem im Westen begrenzten so geehrt wie Witold Pilecki, der sich 1940 sie die Verantwortung für den Genozid zu- freiwillig in Auschwitz einschmuggelte, um nächst auf einzelne sadistische „Exzesstä- die Alliierten über die dortigen Praktiken zu ter“ wie Wirth. Erst später wurde sie auf informieren. Beide wurden Opfer des Stali- „Schreibtischtäter“ wie Adolf Eichmann, ab nismus. den 1980er Jahren auch auf „ganz normale“ 60 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Mitglieder der Gesellschaft ausgedehnt. Die Weltkriegs reichten sich Bundeskanzler DDR definierte sich demgegenüber offiziell Helmut Kohl und der französische Präsident als antifaschistisch. François Mitterrand 1984 die Hände über Der Jerusalemer Eichmann-Prozess und der den Gräbern von Verdun. Beim Volksbund Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 schuf eine neue Generation landschaftsbe- führten zu ersten Veränderungen. Doch zogene, leicht zu pflegende Gräber auch für Magazin vom 22.09.2021 11
Zur Diskussion zivile Opfer und die von NS-Verbrechen. 1985 erklärte Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai 1945 zum „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden Sys- tem der nationalsozialistischen Gewaltherr- schaft“ und leitete damit eine neue Ära ein, die ihren Höhepunkt 2005 in der Errichtung des Holocaustmemorials im Berliner Regie- rungsviertel fand. Zwei Weltkriege haben den klassischen Hel- den entzaubert. Die immer einflussreicheren Medien feiern stattdessen Fußballer*innen, Supermodels und Rockstars. Gleichzei- tig entsteht die Sehnsucht nach neuen Held*innen des Alltags wie Feuerwehrleu- ten und Pflegekräften. Sind Aktivist*innen wie die schwedische Schülerin Greta Thun- berg die neuen Held*innen des 21. Jahrhun- derts? Über den Autor Dr. Wolfgang Schroeter promovierte 2017 an der Freien Universität Berlin über „Albert Speer. Aufstieg und Fall eines Mythos“ und organisier- te als Lehrer Gedenkstättenfahrten. Er ist freier Mitarbeiter und Kurator der Wanderausstellung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, die ab März 2022 an Schulen und öffentlichen Gebäuden gezeigt wird. Sie zeigt anhand von Bio- grafien, wie die Begriffe Heldentum, Täterschaft und Opfer jeweils drei Perioden des Umgangs mit Gewalt geprägt haben. Dabei wandelte sich deren Bedeutung bereits während des Geschehens und noch stärker in der Erinnerung. Magazin vom 22.09.2021 12
Zur Diskussion Die Kampagne #StolenMemory persönlichen Lebenswege von ehemaligen und ihre Bildungspotenziale NS-Verfolgten in animierten Filmen, Inter- views mit Angehörigen und Webstories sind Von Anna Meier-Osiński und Elisabeth als qualitativ hochwertiges Online-Angebot Schwabauer gewertet worden. Brieftaschen und Portemonnaies mit per- Diese innovative Form der Auseinander- sönlichen Papieren, Fotos der Familienan- setzung mit persönlichen Gegenständen gehörigen, Ehe- und Verlobungsringe, Arm- und die Authentizität der Lebenswege ihrer band- und Taschenuhren, Schmuck, Stifte, Besitzer*innen bergen spannende Möglich- Schlüssel, Brillen – diese persönlichen Sa- keiten für das forschende Lernen über die chen, die Menschen bei der Inhaftierung im NS-Verfolgung und deren Folgen sowohl Konzentrationslager mit sich führten, wur- im Unterricht als auch in außerschulischen den ihnen von den Nazis genommen. Das Projekten. Bildungsmaterialien zum The- als Effekten bezeichnete persönliche Hab ma #StolenMemory stehen interessierten und Gut hatte für die Besitzer*innen einen Pädagog*innen ergänzend zu weiteren An- starken emotionalen Wert. Damit waren geboten auf der Website zur Verfügung. persönliche Erinnerungen an das Leben vor der Verfolgung verbunden. Das Material besteht aus drei aufeinander aufbauenden Lerneinheiten. Diesen ist die Die Arolsen Archives verwahren nicht nur die Einführung ins Thema vorangestellt, die weltweit umfassendste Dokumentensamm- als Grundlage für alle weiteren Lernein- lung über NS-Verfolgte, sondern mehrere heiten entwickelt ist. Je nach Lernziel eig- Tausend Effekten, deren Eigentümer*innen net sich die Kombination des thematischen immer noch gesucht werden. Im Rahmen Einstiegs mit der jeweiligen Lerneinheit für der Kampagne #StolenMemory unterstüt- eine Unterrichtsstunde bzw. allen drei Ler- zen Freiwillige in vielen Ländern Europas neinheiten für einen Projekttag oder auch die Arolsen Archives bei der Suche nach Fa- als Vorbereitung eines Besuchs der Wander- milien der ehemaligen Verfolgten, um die ausstellung #StolenMemory. persönlichen Gegenstände und darin ein- geschlossenen persönlichen Erinnerungen Im Mittelpunkt der ersten Lerneinheit ste- zurückzugeben. hen Biographien von drei ehemaligen NS- Verfolgten, deren persönliche Gegenstände Bildungsmaterial #StolenMemory den Familienangehörigen bereits zurück- Die in der Kategorie Wissen und Bildung gegeben wurden. Über die auf der Website von Grimme-Institut in 2021 ausgezeich- angebotenen animierten Kurzfilme zu die- nete Website www.stolenmemory.org sen Personen und die weiteren Informa- der Arolsen Archives begleitet die Kam- tionen lernen Schüler*innen die jeweilige pagne #StolenMemory. Erzählungen der Lebensgeschichte kennen. Die vertiefende Magazin vom 22.09.2021 13
Zur Diskussion Auseinandersetzung mit den Biographien stammen, als auch der Inhalt analysiert wer- geschieht anhand der ausgewählten Fotos den, um die Täterperspektive zu erkennen und Dokumente. Deren Analyse sowie die und zu brechen. Für ein umfassendes Bild möglichen zusätzlichen Onlinerecherchen sind ergänzendes Dokumenten- und Foto- dienen der Herstellung einer Verbindung material aus der Zeit vor der Verfolgung so- der biografischen Stationen mit den Verfol- wie Berichte aus den Familien wichtig. Die- gungsgeschehnissen und -orten. ser Aspekt ist zentral für die Überleitung zu Die zweite Lerneinheit hat die eigenständige der dritten Lerneinheit. vertiefende Beschäftigung mit der NS-Ver- Aktive Beteiligung an der Suche nach An- folgung zum Lernziel. 20 Objekte aus dem gehörigen zwecks Effektenübergabe ist das Effektenbestand sind im 3-D Format abge- Hauptthema der dritten Lerneinheit. Die bildet und können mit einem Viewer unter Bedeutung der Effekten für die Familien dem Reiter „Effekten“ betrachtet werden. der ehemaligen NS-Verfolgten erfahren die Zu den abgebildeten Objekten sind Dossiers Schüler*innen anhand einer individuellen mit ausgewählten Archivdokumenten bzw. Lebensgeschichte, die als Beispiel für Tau- Papierdokumenten, die sich in den Briefta- sende anderen in einem Video festgehalten schen und Portemonnaies der NS-Verfolg- ist. Im gleichen Video ist eine interaktive Kar- ten befanden, vorbereitet. Ausgehend von te zu den Geburts-, Wohn- und letzten Auf- den individuell ausgewählten Objekten und enthaltsorten der Effektenbesitzer*innen den im Dossier zusammengestellten Archiv- vorgestellt. Die Nutzung der Karte in Kom- materialien sowie den persönlichen Doku- bination mit eigenem Instagram-Account menten erschließen sich die Schüler*innen für die aktive Unterstützung der Rückgabe- eigenständig die jeweilige Biographie. Die kampagne ist ebenfalls erläutert. Eine noch beigefügte Europakarte mit Grenzverläufen nicht zurückgegebene Effekte kann anhand zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, auf der der interaktiven Karte nach eigenen Kriteri- die Herkunftsländer der ehemaligen Ver- en (z.B. Ort, zu dem man eine Verbindung folgten gekennzeichnet werden können, soll hat) ausgewählt werden. Von der Effekte die Dimensionen der NS-Verfolgung veran- kann ein Bild/Screenshot angefertigt wer- schaulichen. den und anhand der vorbereiteten Vorlage Die vorgeschlagenen Arbeitsimpulse zur Si- ein Suchaufruf für das Instagram-Posting er- cherung der Ergebnisse der individuellen stellt werden. Mit dieser den Schüler*innen Beschäftigung mit den ausgewählten histo- geläufigen digitalen Beteiligung unterstüt- rischen Dokumenten fördern die Sicherung zen sie aktiv die Suche nach Angehörigen. der Erkenntnis, dass diese nur Fragmente einer Biographie überliefern. Hierbei sol- len sowohl die Herkunft der Dokumente, die zum größten Teil aus der NS-Bürokratie Magazin vom 22.09.2021 14
Zur Diskussion Gesucht? Gefunden? die Auswertung der in den Dokumenten er- #StolenMemory als Bildungsprojekt haltenen Informationen wie des Familien- – die praktische Umsetzung stands, der Geschwister und des Herkunfts- Bei einem jeden Projekt, das zum Ziel hat, orts, aber auch Hinweise darüber, ob die eine Familie von Verfolgten des NS-Regi- gesuchte Person die NS-Verfolgung über- mes zwecks Effektenübergabe zu finden, ist lebt hat, eventuell emigrierte, repatriiert der Ausgangspunkt der Suche der Regional- oder ermordet wurde. Gibt es Hinweise zum bzw. Lokalbezug. Sei es bei der Umsetzung Geburtsort, ist es immer hilfreich die Lokal- eines deutsch-polnischen Begegnungspro- archive, Standesämter und Kirchengemein- jekts oder bei der Suche von engagierten den zu konsultieren, ob es Informationen Freiwilligen europaweit: Ortskenntnis- wie Geburtsurkunden gibt oder Grabstellen se und Wissen um die Infrastruktur vor der Familien existieren. Häufig führte bei Ort erleichtern die Suche erheblich, auch verschiedenen Freiwilligen auch der Aufruf wenn sich zahlreiche nützliche Informati- über Social Media und in den lokalen Medi- onen vermehrt online finden lassen. Um en zum Erfolg. Dies ist vor allem dann von den Einstieg in die Suche möglichst nied- Vorteil, wenn es um die Suche in kleinen rigschwellig zu ermöglichen, entwickelten Gemeinden und Ortschaften geht und bei- die Arolsen Archives auf Grundlage der in spielsweise über Facebook direkt eine histo- den Dokumenten zum Verfolgungsweg ent- risch interessierte Community in der Region nommenen Informationen zu Geburtsorten, angesprochen werden kann. Wohnorten, Meldeadressen sowie zusätz- Ausgehend von der anlässlich des 80. Jah- lichen Recherchen die oben beschriebene restags des Überfalls auf Polen eröffneten interaktive Landkarte. Mithilfe dieser ist #StolenMemory Ausstellung an der IJBS es mit zwei Mausklicks möglich, gesuchte Oświęcim recherchieren drei Jugendgrup- Effektenbesitzer*innen mit Bezug zum ge- pen aus Oświęcim die Schicksale der in der wünschten Ort zu lokalisieren. Der Name Ausstellung gesuchten polnischen NS-Ver- der gesuchten Person führt direkt in das folgten, die aus der Region um Oświęcim Online-Archiv der Arolsen Archives, in dem und den Wojewodschaften Kleinpolen und die Effekten angesehen werden und weitere Schlesien stammten. Bereits fünfmal sind Informationen zum Verfolgungsweg recher- sie dabei fündig geworden. Ein Dokumen- chiert werden können. tarfilmer begleitet die Jugendlichen beim Bei der Recherche des Verfolgungsweges Suchen und Finden sowie bei den Überga- unterstützen die Kolleg*innen der Arolsen bezeremonien. Die erfolgreichen Überga- Archives gerne, denn je umfangreicher die ben der persönlichen Gegenstände an die Informationen und je genauer die Analyse Familien, die häufig die einzigen Besitztü- der Dokumente, desto größer die Aussicht mer eines geliebten Menschen sind, stellen auf Erfolg. Grundlage einer jeden Suche ist die größte Motivation für die Jugendlichen Magazin vom 22.09.2021 15
Zur Diskussion dar. Darüber hinaus ist das Gespräch mit ist, denn die Verfolgten deren Effekten ver- der Familie die einzige Möglichkeit einer wahrt werden, kamen aus über 30 Nationen. Vervollständigung der Biographie vor der Die meisten von ihnen, circa 900 kamen aus Zeit der Verfolgung und gleichzeitig ein Akt Polen, über 600 aus Deutschland, über 300 aktiven greifbaren Erinnerns für die jungen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetuni- Erwachsenen. Für die Familien ist es auf der on. Die Ausstellung, die Suchplakate mit anderen Seite - in vielen Fällen nach über 75 Fotos der Gegenstände und Informationen Jahren der Ungewissheit - der Zeitpunkt, zu zum Verfolgungsweg der Gesuchten zeigt, dem das Schicksal eines nahen Angehörigen machte bereits Station im Europäischen endlich geklärt werden kann und weiße Fle- Parlament in Brüssel, in Deutschland, Itali- cken in der Familiengeschichte gefüllt wer- en, Frankreich und Spanien, an zahlreichen den können. Standorten in Polen sowie 2021 erstmals in Im Rahmen einer Kooperation mit dem Russland in Kooperation mit der Menschen- Deutsch-Polnischen Jugendwerk (DPJW) rechtsorganisation Memorial in Moskau. wird die Kampagne #StolenMemory seit Begleitend dazu wurden die eingangs be- zwei Jahren kontinuierlich als deutsch-pol- schriebenen #StolenMemory Bildungsma- nisches Bildungsprojekt weiterentwickelt. terialien ins Polnische und Russische über- Informative Publikationen zur Kampagne setzt. Des Weiteren ist #StolenMemory seit auf Deutsch und Polnisch stellen diese vor 2020 in zwei Überseecontainern in Deutsch- und geben hilfreiche Tipps zur bi- oder tri- land unterwegs und kann von Engagierten lateralen Begegnung und Impulse zur akti- in den eigenen Ort geholt werden. In 2021 ven Suche im multinationalen Team über wird ein dritter #StolenMemory Container Landesgrenzen hinweg. Kürzlich wurde ein in Polen auf Reisen gehen. Wer mit seinen Online-Konzept entwickelt, damit auch in Schüler*innen oder im Rahmen eines au- Pandemie-Zeiten der Austausch weiter ge- ßerschulischen Projektes keine Möglichkeit fördert wird und stattfinden kann. Geför- hat, in der Nähe eine Ausstellung zu besu- dert werden diese Begegnungen durch das chen, ist herzlich eingeladen drei Online- Förderprogramm Wege zur Erinnerung Ausstellungen zu besuchen, die in Koope- des DPJW. Bestandteil der Förderung sind ration mit der Gedenkstätte Auschwitz und ebenfalls Dokumentationsprojekte wie Fil- der Gedenkstätte Stutthof und Memorial me oder Publikationen, um die Projekte und Moskau veröffentlicht wurden. die Schicksale der Gefundenen nachhaltig Dank des Engagements zahlreicher enga- festzuhalten. gierter Freiwilliger und Journalist*innen in Weiterhin wird die Suche nach den über Spanien, Frankreich, Norwegen, den Nie- 2.500 Familien durch die Plakatausstellung derlanden und Polen, aber auch durch die #StolenMemory unterstützt, die in zahlrei- Unterstützung der lokalen Standesämter chen Ländern Europas seit 2018 zu sehen und Rot-Kreuz-Stellen weltweit konnten Magazin vom 22.09.2021 16
Zur Diskussion bisher in fünf Jahren über 540 Familien gefunden werden. Beispielsweise gelang es im schlesischen Żory das Schicksal von Wil- helm Winkler zu klären, dessen über 80- und 90-jährige Schwestern sowie eine 100-jähri- ge Schwester bis zum Kontakt durch die en- gagierte Freiwillige nichts vom Verbleib des Bruders wussten. Die Suche nach ihm hat- te sie ein Leben lang begleitet. Sie erhielten neben seiner Taschenuhr auch wichtige In- formationen zu seinem Verfolgungsweg und Tod und somit nach 75 Jahren Gewissheit über den Verbleib des Bruders. Über die Autor*innen Elisabeth Schwabauer arbeitet als Wissenschaftli- che Mitarbeiterin Forschung und Bildung bei den Arolsen Archives. Anna Meier-Osiński ist Outreachmanager Eastern Europe bei den Arolsen Archives. Magazin vom 22.09.2021 17
Zur Diskussion Biografisches Lernen im auch für Kinder, Jugendliche und Familien Anne Frank Zentrum gut zugänglich. Mit den Wanderausstellungen »Deine Anne. Von David Gilles Ein Mädchen schreibt Geschichte« und »Ich frug dann einmal meinen Verleger, »›Lasst mich ich selbst sein.‹ Anne Franks was seiner Ansicht nach die Gründe seien, Lebensgeschichte« ist das Anne Frank dass das Tagebuch von so vielen gelesen Zentrum bundesweit aktiv. Auch hier wird werde. Seiner Meinung nach umfasse das Zeitgeschichte anhand der Biografie Anne Tagebuch so viele Bereiche des Lebens, dass Franks erzählt, beide Ausstellungen sind jeder Leser darin etwas finde, was ihn per- dem biografischen Lernen verpflichtet. Zen- sönlich berühre.« (Otto Frank, Erinnerun- traler Baustein jedes Ausstellungsprojektes gen an Anne, 1968) ist die aktive Einbindung von Jugendlichen: Im Anne Frank Zentrum bildet der biogra- Sie werden zu Peer Guides qualifiziert, die fische Ansatz schon seit vielen Jahren die andere Jugendliche durch die Ausstellung Grundlage der Bildungs- und Erinnerungs- begleiten. Sie vermitteln Wissen, beantwor- arbeit an Nationalsozialismus und Shoah. ten Fragen und regen zum Dialog an. Die »Die Arbeit an Biografien gehört zu unserer Ausstellung »Lasst mich ich selbst sein« DNA«, so die Direktorin Veronika Nahm. gibt es seit Kurzem auch als Outdoor-Aus- Die pädagogischen Angebote des Anne stellung – damit ist eine Präsentation auch Frank Zentrums sind vielfältig und gehen unter Corona-Bedingungen problemlos weit über die Beschäftigung mit Anne Frank möglich. und ihrer Lebensgeschichte hinaus. Neben den Ausstellungen gibt es zahlreiche In der Berliner Ausstellung »Alles über frühere und aktuelle Projekte, die mit dem Anne« steht die Biografie von Anne Frank biografischen Ansatz arbeiten. Beispielhaft in ihrem sozialen Umfeld im Mittelpunkt. sei hier das Projekt »Case Not Closed« ge- Es werden die Familienmitglieder, die nannt, in dem Jugendliche aus Deutsch- Freund*innen, Klassenkamerad*innen, land und der Türkei die Biografien von Helfer*innen, aber auch die Täter vorge- Jüdinnen*Juden mit türkischer Staatsange- stellt. Die Ausstellung gibt Antworten auf hörigkeit aus Berlin erforschen. Die Jugend- die Frage, was die Geschichte von Anne lichen wollen gemeinsam mit den anderen Frank für heute bedeutet. Sie ist interaktiv Projektbeteiligten die bisher marginalisier- und lässt sich mit eigenen Ideen und Bei- ten Geschichten türkischer Jüdinnen*Juden trägen erweitern und verändern. Ein be- in Europa wieder sichtbar machen und zum sonderer Schwerpunkt wurde auf Inklusion Bestandteil europäischer Erinnerung wer- gelegt: Alle Menschen sollen diese Ausstel- den lassen. lung besuchen und verstehen können. Sie ist Zudem hat das Anne Frank Zentrum Magazin vom 22.09.2021 18
Zur Diskussion zahlreiche Lernmaterialien für unterschied- liche Altersgruppen veröffentlicht, die auf Über den Autor dem biografischen Ansatz basieren. Für David Gilles ist Sozialwissenschaftler und Histori- Kinder ab 10 Jahren eignet sich das Lern- ker. Er arbeitet seit 2019 im Anne Frank Zentrum und betreut das Projekt „Erinnern vor Ort“. material »Nicht in die Schultüte gelegt«, in dem sieben Schüler*innen, die in der NS- Zeit verfolgt wurden, porträtiert werden. Für ältere Jugendliche ab 14 Jahren gibt es eine große Auswahl: Das Lernmaterial »Flucht im Lebenslauf« erzählt die Lebens- geschichten von drei geflüchteten Menschen aus Geschichte und Gegenwart: Anne Frank aus Deutschland, Hava aus dem Kosovo und Marah aus Syrien. »7 Wege. Jüdische Bio- grafien in Hamburg« zeigt die Geschichten von sieben Hamburger Juden*Jüdinnen und erzählt von Selbstbehauptung, Engagement, Auseinandersetzung mit sich, der eigenen Religion und Identität. Um den Nahost- Konflikt anhand von Biografien diskutieren zu können, wurde »Fluchtpunkte. Bewegte Lebensgeschichten zwischen Europa und Nahost« erarbeitet. Die Online-Toolbox »Stories that Move« regt Jugendliche ab 14 Jahren dazu an, sich mit den Themen Viel- falt und Diskriminierung auseinanderzuset- zen, ihre eigenen Positionen und Entschei- dungsmöglichkeiten zu reflektieren und für eine plurale Gesellschaft aktiv zu werden. Zu allen Materialien bietet das Anne Frank Zentrum Fortbildungen für Lehrkräfte und Multiplikator*innen an. Detaillierte Informationen finden sich auf unserer Website: www.annefrank.de Magazin vom 22.09.2021 19
Zur Diskussion Geschichte im Dialog – Fachkräfteaustausch. Mitarbeitende in der Partizipatives Lernen Bildungsarbeit der beteiligten Institutionen an NS-Gedenkstätten besuchten sich gegenseitig und stellten sich die verschiedenen Formate ihrer Bildungs- Von Nina Ritz angebote vor: Rundgangskonzepte, ein- oder mehrtägige Workshops zu Themen wie Das Projekt Geschichte im Dialog wurde in zum Beispiel Alltag im Konzentrationslager mehreren Arbeitsphasen von 2015 bis 2020 oder Jugend im Nationalsozialismus, Mo- durchgeführt. Die institutionell beteiligten dule zu Biografien ehemaliger KZ-Häftlin- Projektpartner waren die KZ-Gedenkstätte ge, Vor- und Nachbereitungsmethoden von Flossenbürg, das Max-Mannheimer-Studi- Gedenkstättenbesuchen und mehr. Dabei enzentrum in Dachau sowie das Center for wurde ersichtlich, dass aus dem angenom- Humanistic Education am Ghetto Fighters‘ menen „Das machen wir genauso oder so House Museum in Lohamei Haghetaot in Is- ähnlich“ bei näherer Betrachtung große Un- rael. Weiter beteiligt waren in der Vermitt- terschiede in der Herangehensweise zu Tage lungsarbeit dieser NS-Gedenkstätten und traten. Dies führte zur Analyse von Details, Erinnerungsorte freiberuflich Tätige sowie des Ergründens und Erklärens, warum was Fachkräfte von verschiedenen Organisati- wie getan wird und der Erkenntnis von Wi- onen und aus verschiedenen Disziplinen. dersprüchen, Ambivalenzen und auch Kon- Gefördert wurde das Projekt von der Bun- flikten. Alle Beteiligten waren gezwungen, deszentrale für politische Bildung. Im Kern ihre „Komfort-Zone“ zu verlassen und Stel- haben etwa 15 Personen das Projekt über lung zu beziehen. Zum Vorschein kamen ne- weite Strecken seiner Laufzeit begleitet. ben einer ganzen Reihe von Best-Practice- Sie kommentierten im Rückblick, die Teil- Beispielen auch unhinterfragte Praktiken, nahme an Geschichte im Dialog als großes Pragmatismus, vermeintliche Zwänge, Un- Privileg empfunden zu haben. Das Projekt sicherheiten und sogar Zweifel an Sinn und habe ihre Sicht auf die Vermittlungstätigkeit Zweck der Vermittlungstätigkeit an sich so- an NS-Gedenkstätten nachhaltig bereichert. wie persönliche und interkulturell beding- Auch waren sie der Meinung, dass sich die te Differenzen. Um dies gemeinsam auszu- Erfahrungen aus dem Projekt positiv auf handeln, bedurfte es der Gewissheit eines die Entwicklung ihrer Persönlichkeit ausge- geschützten Raums, Zeit für Diskussionen wirkt hätten. Doch worum ging es in diesem und gegenseitiges Vertrauen – eine der Be- Projekt und was war das Besondere daran? sonderheiten des Projekts. Wir arbeiten doch alle dialogisch… Das Ergebnis dieser ersten Projektphase war Das Projekt kann mit einigem Recht als der Wunsch, Trennendes zu überwinden „work in progress“ bezeichnet werden. und auf Basis des bereits ausgehandelten Die erste Projektphase fokussierte einen Konsenses gemeinsam neue Methoden für Magazin vom 22.09.2021 20
Zur Diskussion die Vermittlungsarbeit zu entwickeln. Die- zwei- oder dreitägige Arbeitssitzung für die se sollten einerseits die Diversität in einer gesamte Projektgruppe, das sich detailgenau Gruppe berücksichtigen und andererseits mit der Analyse der Erstellung und Durch- Partizipation ermöglichen. Auch in der da- führung einer Rundgangsstation befasste: rauf folgenden zweiten Projektphase stand Welches konkrete Thema behandelt eine das Experimentelle im Mittelpunkt und Rundgangsstation wie etwa die Verortung es begann ein Prozess des Ausprobierens, des Lagers in seiner geografischen Umge- Diskutierens und Herantastens. An dessen bung, das Sprechen über Täterschaft, Terror Ende war deutlich, dass es einen sehr spe- und Gewalt, die Zustände in den Baracken zifischen gemeinsamen Nenner braucht als etc.? Welche Situationen werden dabei Basis für die konkrete Weiterarbeit. Dieser aus Sicht der Vermittlerin*des Vermittlers Nenner waren einzelne Stationen in Rund- als herausfordernd, welche als erfolgreich gängen an den KZ-Gedenkstätten Dach- wahrgenommen? Wann und wie findet au und Flossenbürg. Sie sollten als Erpro- Kommunikation zwischen Vermittler*in bungsgegenstand geradezu mikroskopisch und Gruppe statt? Welche Qualität hat die genau untersucht werden im Hinblick auf Kommunikation, was sind zum Beispiel das, was sich in der Vermittlungssituation „gute“ Fragen der Vermittler*des Vermitt- einer Station zwischen Vermittler*in, Teil- lers an die Gruppe? Aus welchen einzelnen nehmenden einer Gruppe und dem Thema Elementen besteht eine Station, wie ist sie als Vermittlungsgegenstand abspielt. Dazu methodisch-didaktisch aufgebaut, was dient war es notwendig, die Projektgruppe für die als Anschauungsmaterial wie etwa Zita- nächste, die dritte Phase zu erweitern und te von Häftlingen oder Propaganda-Foto- Vermittler*innen der KZ-Gedenkstätten grafien? Und an welchen Stellschrauben Dachau und Flossenbürg mit einzubezie- gibt es Möglichkeiten für Veränderungen, hen, die über eine breite Praxis an Erfah- die sich positiv auf die Dynamik auswir- rungen mit unterschiedlichen Zielgruppen ken? Nach der Methode „Trial and Error“ verfügten. wurden „alte“ Stationen neu erarbeitet, Materialien recherchiert, Dynamiken ent- Rundgangsstationen unter der Lupe schlüsselt und reflektiert. Steuerungs- und Die Projektgruppe teilte sich nun auf in Vermittler*innengruppe bewegten sich os- die Steuerungsgruppe, die aus jeweils zwei zillierend hin und her, Programme wurden Vertreter*innen pro beteiligter Institution an Zwischenergebnisse angepasst und nach- sowie einem externen Koordinator bestand, justiert, sodass bisweilen dieselben Themen und die Vermittler*innengruppe. Die wei- wieder und wieder diskutiert wurden, aber tere Arbeitsweise kann als „spiralförmig“ immer aus einer anderen Perspektive, mit beschrieben werden: Die Steuerungsgruppe neuem Erkenntnisgewinn. entwickelte jeweils das Programm für eine Magazin vom 22.09.2021 21
Zur Diskussion Von der Methode zur Haltung Bedürfnissen im Mittelpunkt. Die Aufgabe Im Verlauf der vierten und letzten Projekt- der Vermittlerin*des Vermittlers bestand phase zeichnete sich ein Paradigmenwech- jetzt in der Aufforderung an die Gruppe, sel ab: Der*Die allwissende Vermittler*in, sich aktiv in den Austausch einzubringen der*die als Expert*in das Narrativ des Ortes und eigene Wahrnehmungen zu äußern. vermittelt und die Gruppe der Teilnehmen- Diese muss er*sie ernst nehmen und mo- den dabei überwiegend – gewollt oder nicht derieren. Die dabei entstehende Dynamik gewollt – zu passiven Empfänger*innen trägt die Befürchtung in sich, dass es mög- macht, wurde abgelöst. An ihre*seine Stel- licherweise auch zu problematischen Äuße- le trat ein Verständigungsprozess. Histori- rungen kommen kann. Trotzdem sind die sche Ereignisse und ihre Bedeutung für die Projektbeteiligten optimistisch: Die durch Gegenwart wurden gemeinsam gedeutet Geschichte im Dialog gewonnene Haltung und interpretiert. Wirklicher – und nicht habe sie in ihrer Souveränität bestärkt. Ein nur scheinbarer – Dialog konnte stattfin- Moment von Gelassenheit sei entstanden, den, der alle an diesem Prozess Teilneh- nicht immer perfekt sein zu müssen, nicht menden gleichermaßen aktivierte und am immer sofort die absolut richtige Antwort Lernprozess über Nationalsozialismus und parat haben zu müssen, auch eigene Unsi- Holocaust beteiligte. Doch nicht nur für die cherheiten zulassen zu dürfen. Dafür sei ein Teilnehmenden am Vermittlungsprozess offener Kommunikationsraum entstanden, hatte dieser Paradigmenwechsel spürba- der spannend ist, neue Erkenntnisse bringt re Folgen, sondern vor allem auch für die und als Modell für ein inklusives, demokra- Vermittler*innen selbst. Für sie bildete sich tisches Miteinander steht. der nunmehr veränderte Gestaltungspro- Perspektiven zess nicht nur methodisch ab, sondern er Während der Projektlaufzeit waren die Be- ging weit darüber hinaus, er führte zu einer teiligten mehrfach aufgefordert, Außenste- neuen Haltung in der eigenen Arbeitspraxis. henden über das Projekt zu berichten. Dies Diese Erkenntnis war für die Projektgruppe wurde zwar in Veranstaltungen und Präsen- gleichermaßen überraschend und beson- tationen eingelöst, dabei zeigte sich jedoch ders. Die Autonomie der Vermittlerin*des auch die Schwierigkeit, ein solch komplexes, Vermittlers wurde bis dahin getragen von prozessorientiertes Projekt, das außerdem historischer Expertise und Deutungshoheit. eine ungewöhnlich lange Laufzeit hatte, in Im Dialog mit der Gruppe wurde sie nun Kürze gebührend zusammenzufassen. An- durch etwas Neues, Unbekanntes ersetzt. dererseits waren die Erfahrungen der Pro- Viel stärker als zuvor standen nun die jektbeteiligten so nachhaltig, dass in jeder Besucher*innen bzw. die am Vermittlungs- Projektphase der Wunsch nach Fortsetzung prozess Teilnehmenden einer Gruppe mit zentral war. Geschichte im Dialog ist vielfäl- ihren Beobachtungen, Einschätzungen und tig anschlussfähig. Zum einen knüpft es an Magazin vom 22.09.2021 22
Sie können auch lesen