LAG - MAGAZIN FRAUEN IN ERINNERUNGSKULTUREN 24. FEBRUAR 2021 - LERNEN AUS DER GESCHICHTE
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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Zur Diskussion Vielfältige Geschichten ergeben erst die große Geschichte – Frauen in den Weltkriegen......4 Frauen in Ravensbrück – geschlechterhistorische Perspektiven............................................11 Detailliert, vielfältig und unmittelbar: Vergessene, frühe Zeugnisse weiblicher Überlebender...........................................................................................................................15 Rotarmistin, Kriegsgefangene, Widerständlerin – und Aktivistin: die Ärztin Antonina Konjakina-Trofimowa (1914-2004).......................................................................................20 Frauen als Kriegsopfer? Was ist mit ihrem Mut oder ihren Verbrechen?.............................25 Empfehlung Fachbuch Erinnerung. Medien. Geschlecht............................................................................................28 Frauen in Konzentrationslagern. Konzeption eines Führungstages unter geschlechtsspezifischem Aspekt in der Gedenkstätte Bergen-Belsen....................................31 Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids..................................................................................................................................34 Empfehlung Web Blogparade #femaleheritage...................................................................................................38 Magazin vom 24.02.2021 2
Einleitung Liebe Leser*innen, und dem französischen Nationalen Amt der wir begrüßen Sie zum ersten LaG-Maga- Kriegsveteranen und Kriegsopfer ausge- zin im neuen Jahr, das erst im Februar er- schrieben wird. scheint. Das Fehlen der Januarausgabe Wir bedanken uns bei den Autor*innen für erklärt sich aus einer Lücke in den Förde- die uns zur Verfügung gestellten Texte. rungen, die wir für die einzelnen Nummern In eigener Sache akquirieren müssen. Für die Mitarbeit bei „Lernen aus der Das Magazin nimmt sich der anhaltenden Geschichte“ suchen wir derzeit eine*n Unterrepräsentation der Erinnerung an studentische*n Mitarbeiter*in. Zur Aus- Frauen im Ersten und Zweiten Weltkrieg schreibung geht es hier. an. Die Fachaufsätze zeigen dabei, dass die- se Lücke nicht allein dem Forschungsstand geschuldet ist. Das nächste LaG-Magazin erscheint am 31. März 2021. Es entsteht in Zusammenarbeit Mehr als im Forschungsbereich zu den bei- mit der Landeszentrale für politische Bil- den Weltkriege macht Constanze Jaiser eine dung Baden-Württemberg und thematisiert anhaltende Skepsis in der pädagogischen die „Gedenkstättenlandschaft“ in dem süd- Vermittlung über die Geschichte aus, sich westlichen Bundesland. mit Geschlecht zu befassen. Die Autorin legt mögliche Aspekte einer Erinnerungskultur an Frauen im Krieg dar. Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre. Insa Eschebach schreibt über den für Ra- vensbrück in mehrfacher Hinsicht zentralen Ihre LaG-Redaktion Charakter der Kategorie Geschlecht. Zeugnisse von Überlebenden der NS-Ver- nichtungspolitik existierten bereits früh. Am Beispiel von Anna Haas zeigt Andrea Rudorff ihre Bedeutung auf. Am Beispiel der Biografie von Antonina Konjakina-Trofimowa gehen Ruth Preusse und Katja Seybold auf die Online-Ausstel- lung "An Unrecht erinnern" ein. Vasco Kretschmann stellt einen deutsch- französischen Comic-Wettbewerb für Ju- gendliche zu Frauen im Krieg vor, der vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge Magazin vom 24.02.2021 3
Zur Diskussion Vielfältige Geschichten allerdings zu kurz. Vielmehr wäre es ziel- ergeben erst die führender, die jeweiligen Handlungsspiel- große Geschichte – räume im „privaten“ und im „öffentlichen“ Frauen in den Weltkriegen Raum zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Freilich entgeht man auch mit Von Constanze Jaiser einer solchen Einteilung nicht zwangsläufig Erinnerungskultur zu verknüpfen mit den einer beklagenswerten Bewertung in wich- Ereignissen während der beiden Weltkriege tige (=männliche) und weniger wichtige scheint noch immer häufig nur die Erinne- (=weibliche) Aspekte in der Geschichtsver- rung an männliche Protagonisten und an mittlung zum Thema. weibliche Opfer hervorzubringen. Was also tun? Entscheidend scheint mir Natürlich ist insbesondere in der Frauen- zunächst die Einsicht, dass dichotome Ana- und Geschlechterforschung in den vergan- lysemodelle den Blick auf geschichtliche genen Jahrzehnten Vieles untersucht und Realitäten geradezu verstellen. Denn die ins Blickfeld gerückt worden. Längst ver- Beschäftigung mit Frauen im Krieg ist in bindet man mit Frauen und Weltkrieg nicht Wirklichkeit eine Auseinandersetzung mit mehr nur die sogenannten „Trümmerfrau- Genderfragen, die keineswegs auf ein biolo- en“, das „Mutterverdienstkreuz“ oder die gisches Geschlecht bezogen sind. Vielmehr caritativ tätige Frau an der Heimatfront. waren und sind das Beziehungsgeflecht Dennoch, zumindest in der pädagogischen zwischen Frauen und Männern und das Vermittlung (und nicht nur dort!) geht eine Aushandeln von geschlechtsspezifischen Hinwendung auf Frauen noch immer mit Handlungsräumen die Prämissen einer der Skepsis einher, ob man denn dann auch fruchtbaren Auseinandersetzung mit dem das „Eigentliche“ und „Wichtige“ vermitteln Themenfeld. würde, oder ob man damit nicht lediglich Das notwendige Aufgeben einer dichotomen einen zusätzlichen, mehr oder weniger in- Sichtweise erstreckt sich im Weiteren auch teressanten Aspekt in den Unterrichtsstoff auf die Verflechtung von Kriegsfront und hineinbringe.1 Heimatfront; sie lässt sich in wirtschaftli- Allein von Frauen und Männern zu spre- che und soziale Aspekte auffächern, spiegelt chen, greift dabei aus meiner Sicht sich aber auch – betrachtet man zum Bei- 1 Dieser Beitrag basiert auf einem Workshop im Rahmen der Ta- spiel Plakate oder autobiographische Äu- gung „Geschichte und Geschichtsbilder“ 2015, den ich für den ßerungen – in Propaganda und Atmosphä- Volksbund in Hessen gestaltet habe. Darüber berichtet wurde re wider. Unter Extrembedingungen, wie erstmals in Polis 57, Analysen – Meinungen – Debatten, hrsg. v. Diktatur und Krieg, weicht die in der Regel Monika Hölscher, Viola Krause, Thomas Lutz (Geschichte und Ge- weiblich und männlich konnotierte Grenz- schichtsbilder. Der Erste und Zweite Weltkrieg im internationalen ziehung zwischen „privaten“ und „öffent- Vergleich), Wiesbaden 2016. lichen“ Räumen auf. Und der Verlauf des Magazin vom 24.02.2021 4
Zur Diskussion jeweiligen kriegerischen Konfliktes hat, wie weitere Tätigkeitsfelder immer mehr in den die Geschichte zeigt, erhebliche Auswirkun- Vordergrund, die mit der demographischen gen auf Selbstbilder, Rollenverständnis und und wirtschaftlichen Situation der Kriegs- Handlungsspielräume. länder zu tun hatte. So wurden Frauen mehr Im Folgenden möchte ich kursorisch auf ei- und mehr in typischen Männerberufen ak- nige Beispiele eingehen, die belegen sollen, zeptiert, ja massiv angeworben. Ein typi- wie vielfältig die Erinnerung an Frauen im sches Sujet auf Tausenden von Bildpostkar- Krieg aussehen könnte. Welche Rollen und ten, wie sie im Wien-Museum gesammelt Aufgaben füllten Frauen aus? Inwieweit wurden, waren Frauen als Briefträgerinnen, deckten diese sich mit Geschlechterordnun- Straßenkehrerinnen, Schaffnerinnen, Ge- gen der jeweiligen Zeit, oder eben nicht? müsebäuerinnen in den städtischen Park- anlagen oder als „Tramwayschienen-Reini- Aspekte einer Erinnerungskultur gerin“. an Frauen im Ersten Weltkrieg „Während den Männern eingetrichtert wur- Beginnen wir mit Beispielen aus dem Ersten de, sie müssten Frauen und Kinder ‚in der Weltkrieg. Frauen erschienen bereits früh Heimat’ mit ihrem Leben schützen, quasi auf Bildpostkarten als Symbol der „Waffen- die bedrohte heile Welt daheim verteidigen, brüderschaft“ und „Vaterlandstreue“.2 bekamen die Frauen vermittelt, dass sie ih- Eine ihrer konkreten Aufgaben bestand – ren Beitrag zu leisten hatten. Das Kriegsleis- unter dem Begriff „Labedienst“ – darin, tungsgesetz, bereits 1912 eingeführt, ver- Dienst an den Nächsten zu verrichten, sei pflichtete alle Untertanen des Kaisers zur es das millionenfache Herstellen und Ver- Dienstleistung im Kriegsfall. Verbrämt war senden von diversen „Liebesgaben“ für die das noch mit der reaktionären Botschaft, Soldaten, sei es bei der Unterstützung von der Krieg werde ‚tiefer, echter Weiblichkeit’ kriegsbedingt arbeitslos gewordenen Frau- erst zum Durchbruch verhelfen.“4 en, der Sammlung von Geld und Materiali- Doch auch der steigende Bedarf von Ar- en oder der Armen-, Mütter- und Kinderfür- beitskräften in der Rüstungsindustrie öff- sorge.3 nete Zugänge für Frauen. Waren Frauen vor Im Verlauf des Krieges traten jedoch dem Krieg allenfalls in der firmeneigenen 2 Vgl. hierzu Christa Hämmerle: „Heimat/Front- Kantine beschäftigt, so stellten sie zum Bei- Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich- spiel im saarländischen Eisenwerk St. Ing- Ungarn“, Böhlau Verlag, 2014. bert/Differdingen im Ersten Weltkrieg 1917 3 Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftler*innen aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Welt- 4 Petra Stuiber, Alltag und der Kampf der Frauen an der Hei- krieges vor 100 Jahren, http://www.bmeia.gv.at/fileadmin/ matfront, in: Der Standard, 29.11.2013, http://derstandard. user_upload/Zentrale/Kultur/Schwerpunkte/Grundlagenpa- at/1385169370487/-von-einem-Weib-heimflennen- (letzter Zu- pier_1914_-_2014.pdf (letzter Zugriff: 19.12.2020). griff: 19.12.2020), darin auch eine Beispielpostkarte. Magazin vom 24.02.2021 5
Zur Diskussion 22 Prozent der Belegschaft.5 ist die Rede von 30.000 bis 50.000 „weib- In der Ausgabe vom 30. Dezember 1915 des lichen Hilfskräfte der Armee im Felde“, die englischen Kriegsmagazins „The War Bud- durch ihren Einsatz die Soldaten für den get“ erschien ein bebilderter Artikel über Fronteinsatz freistellen sollten.6 Frauen in der Kriegsindustrie. Unter dem Bekannt sind auch Frauen, die, freilich als Titel Mann verkleidet, im Krieg als Soldatinnen „The Girl behind the Gun“ sieht man Frau- kämpften. Viktoria Savs zum Beispiel war en, die Sprengkapseln an Geschossen an- als Hans Savs im Krieg. Sie war 16 Jah- bringen resp. ein ganzes Fließband, an dem re alt. Man ließ sie in Männerkleidern und Frauen in Reih und Glied stehen, um die fer- unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu. tigen Kartuschen zu montieren und zu kon- Erst als sie, inzwischen mit Medaillen deko- trollieren. riert, eine schwere Verletzung erlitt, flog der Schwindel auf.7 Als Rote-Kreuz-Schwestern waren Frau- en sowohl an der Heimat- als auch an der Dorothy Lawrence, eine englische Reporte- Kriegsfront im Einsatz. Wurde die Figur rin, schlich sich im Ersten Weltkrieg an die des Soldaten als Idealbild von Männlich- Front, um zu kämpfen und als Journalis- keit propagiert, so war besonders die Figur tin über ihr Abenteuer zu berichten. In die der Kriegskrankenschwester sein weibliches Schlacht zog die selbsternannte Reporterin Äquivalent. per Fahrrad und verkleidet als Mann.8 Auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1915 Schließlich sind auch Frauen zu nennen, die sticht aus einer Gruppe von sechzehn Frau- nicht im oder für den Krieg tätig waren, son- en interessanterweise lediglich eine deut- dern als politische Aktivistinnen gegen den lich erkennbar als Kriegskrankenschwester Krieg kämpften. So hatten die bürgerlichen hervor; alle anderen stecken in Ganzkörper- Frauenrechtlerinnen Anita Augspurg und Schutzanzügen, in denen sie im Epidemie- Lida Gustava Heymann mit einigen gleich spital in Troppau Dienst tun, und sind nicht gesinnten bürgerlichen Frauenrechtlerin- mehr auf Anhieb als Frauen zu erkennen. nen aus Holland und England einen Inter- Die von ihnen verrichtete Arbeit lediglich nationalen Frauenkongress für Frieden in als weiblichen Hilfsdienst zu sehen, würde Den Haag geplant. Über 1.100 Frauen aus ihren lebensgefährlichen Kriegseinsatz völ- 6 Grundlagenpapier http://www.bmeia.gv.at/fileadmin/ lig falsch einordnen. user_upload/Zentrale/Kultur/Schwerpunkte/Grundlagenpa- Darüber hinaus waren weibliche Kräfte auch pier_1914_-_2014.pdf (letzter Zugriff: 19.12.2020). in der Armee gefragt und damit direkt in die 7 Vgl. http://www.dreizinnen.info/historisches/soldatin-viktoria- Kriegsführung einbezogen. Für Österreich savs.asp (letzter Zugriff: 19.12.2020). 5 Vgl. http://alte-schmelz.org/chronik/ (letzter Zugriff: 8 http://www.spiegel.de/einestages/erster-weltkrieg-soldatin- 19.12.2020). dorothy-lawrence-a-951366.html (letzter Zugriff: 19.12.2020). Magazin vom 24.02.2021 6
Zur Diskussion zwölf Nationen, Europa und den USA tra- Ausnahme waren, so gestalteten sie doch fen sich im April 1915 in Den Haag, zum die nationalsozialistische Gewaltherrschaft Teil reisten sie unter widrigsten Umständen maßgeblich mit, wie ein Blick auf die traditi- durch Kriegsgebiete an. onell weiblich konnotierten Aufgaben zeigt. Sie forderten u.a. allgemeine Abrüstung, Beispielsweise war die Rolle der Fürsorge- dem Recht die Herrschaft über die Gewalt rinnen alles andere als ein „unpolitisches zu verschaffen, die Gleichberechtigung der Helfen“, sondern ihre Arbeit nahm eine Frau und einen internationalen Strafge- Schlüsselfunktion für die nationalsozialisti- richtshof. Außerdem gründeten sie die „In- sche Diskriminierungs- und Ausmerzpolitik ternationale Frauenliga für Frieden und ein.10 Überhaupt erfüllte die Sozialarbeit in Freiheit“ und sandten im Anschluss Delega- der NS-Zeit wichtige Funktionen, sei es bei tionen mit ihren Forderungen zu den einzel- der Erhebung von Lebensumständen und nen europäischen Regierungen.9 Vier Jahre politischer Einstellung und der davon ab- später, auf dem 2. Internationalen Frauen- hängigen Gewährung von Unterstützungen friedenskongress in Zürich, benannten sie wie Ehestandsdarlehen oder Kinderbeihil- das Internationale Frauenkomitee für dau- fen, sei es bei der Anwendung eugenischer ernden Frieden in „Internationale Frauenli- Prinzipien und rassistischer Ideologie.11 ga für Frieden und Freiheit“ (IFFF) um. Auch überwiegend von Frauen ausgeüb- Handlungsräume von Frauen im te Bürotätigkeiten feiten keineswegs da- Zweiten Weltkrieg vor, unmittelbar in die Vernichtungsma- schinerie einbezogen zu sein und hierin Bezogen auf die NS-Zeit und den Zweiten eine aktive Rolle zu übernehmen. Am Bei- Weltkrieg ist das Thema Frauen als Täterin- spiel des weiblichen Büropersonal, wie es nen und Mittäterinnen inzwischen gut do- in den Heil- und Pflegeanstalten an den kumentiert. Die Handlungsspielräume von NS-„Euthanasie“-Morden beteiligt war, Frauen waren dabei häufig eingeschränkt zeigt sich wie die Frauen vor Ort nicht resp. konnten sie die Karriereleiter nicht in nur einen sicheren Arbeitsplatz, sondern derselben Weise erklimmen wie Männer. 10 Esther Lehnert, Die Beteiligung von Fürsorgerinnen an der Bil- Auch wenn die oberen Hierarchieränge für dung und Umsetzung der Kategorie „minderwertig“ im National- Frauen und Mädchen in der Regel eher die sozialismus, Frankfurt am Main 2003. 9 Imogen Rhia Herrad, Frauenkongress. Ein Radiofeature des SWR 11 Vgl. z. B. Stefan Schnurr, Sozialpädagogen im Nationalsozia- (2015), http://www.swr.de/-/id=15214204/property=download/ lismus, Weinheim und München 1997. In dem Zusammenhang nid=660374/18pfvv1/swr2-wissen-20150428.pdf (letzter Zugriff: verweise ich auch auf meine Vorlesung „Soziale Arbeit im Natio- 14.05.2016). Vgl. auch das Unterrichtsmaterial von Ute Kätzel, nalsozialismus“, die ich im Oktober für Studierende an der Fach- Es waren nur wenige, doch der Staat fühlte sich bedroht. Frauen- hochschule Neubrandenburg (angesichts der Covid19-Pandemie friedensbewegung von 1899 bis 1933, in: Praxis Geschichte, Heft im virtuellen Raum) abhielt; sie ist mit diesem Link auf YouTube 3/97, S. 9–13, (letzter Zugriff: 19.12.2020). zugänglich: https://youtu.be/EiX8T0fXdE4. Magazin vom 24.02.2021 7
Zur Diskussion offenbar auch gute Bedingungen vorfanden, den SS-Ehefrauen) wäre das Morden, aber den richtigen Mann für eine Eheschließung auch das Streben nach Karriere und Aner- zu finden.12 kennung für Männer ganz anders ausgefal- Zumindest auf den zweiten Blick pädago- len. gisch vielversprechend ist auch die Einbe- Aus der Perspektive der Verfolgten gilt es ziehung von Frauen als Repräsentantin- natürlich ebenso, die verschiedenen mögli- nen des NS-Staats, so zum Beispiel Magda chen Erfahrungsräume von Frauen sehen zu Goebbels, die nicht nur als Vorzeigemutter, lernen. Dabei wäre es wünschenswert, wenn sondern auch als enge Vertraute Hitlers und der Diskurs internationaler geführt werden als eigenständig der nationalsozialistischen würde. Gerade sexuelle Gewalt und sexu- Ideologie folgenden Täterin aktiv war.13 alisierte Gewalt ist ein zentrales Struktur- Durch den Film „Der Untergang“, der in vie- merkmal von Kriegsverbrechen, und diese len Schulen zum gängigen Unterrichtsma- traf nicht nur Jüdinnen, Romnja und Sintize terial gehört, kann sehr leicht an Vorwissen oder politisch Widerständige, sondern spiel- angeknüpft werden, um dies dann multiper- te in großem Stil auch eine Rolle in asiatisch- spektivisch zu vertiefen. pazifischen Ländern.14 Die Herausforderung Durch die Berücksichtigung der weiblichen bei diesem Thema freilich ist in der pädago- Erfahrungswelt und Handlungsspielräume gischen Praxis nicht nur, Jugendliche nicht kann es gelingen, die Alltagswirklichkeit zu überwältigen und ausreichend Raum für von Krieg näher zu bringen; der Zugang Diskussion und Verarbeitung zu lassen, son- ermöglicht eher eine Vorstellung als der dern auch wieder die Gefahr der Reproduk- „ferne“ Krieg. Darüber hinaus kann nur so tion üblicher Viktimisierungsdiskurse.15 das Beziehungsgeflecht wahrgenommen 14 Vgl. Rheinischen JournalistInnenbüro in Köln, Die Dritte Welt werden, das immer eine Rolle spielt, zuge- im Zweiten Weltkrieg, 2. Auflage vom November 2012, zum Be- spitzt bis hin zu etwas, dass die Historikerin stellen oder als frei zugängliches PDF (unter „Didaktisches/Un- Lerke Gravenhorst einst als „Verbrechens- terrichtmaterialien) auf der Webseite der Herausgeber, http:// verbund Ehe“ bezeichnet hat. Ohne „die www.3www2.de. Frau an seiner Seite“ (so ein Buchtitel zu 15 Vgl. z.B. Helga Amesberger, Katrin Auer, Brigitte Halbmayr, 12 Die Untersuchung der Personalakten sowie Vernehmungspro- Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in Konzentrations- tokollen führte zu dieser, auch mich überraschenden Erkenntnis, lagern Wien 2004; Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle vgl. meinen Beitrag „Das Büropersonal in der Euthanasie-Mord- Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der anstalt Bernburg. Möglichkeiten der Umsetzung des Themas Sowjetunion 1941–1945, Hamburg 2010; zum Thema „Sexualität ‚Frauen als Täterinnen im NS’ in der Bildungsarbeit“, in: Doku- im Gewaltverhältnis KZ“ vgl. auch meine Forschung zu „Reprä- mentation der Tagung „Frauen als Täterinnen“ in der Gedenkstät- sentationen von Sexualität und Gewalt in Zeugnissen jüdischer te Bernburg, Halle 2007, S. 26–55. und nichtjüdischer Überlebender“, in: Gisela Bock (Hrsg.), Geno- 13 Vgl. z. B. Anja Klabunde, Magda Goebbels – Annäherung an ein zid und Geschlecht im System der nationalsozialistischen Lager, Leben, München 1999. Frankfurt a. M. 2005, S. 123–148. Magazin vom 24.02.2021 8
Zur Diskussion Fällt die Entscheidung auf den nach wie vor 5,7 Millionen. Ein Drittel davon waren Frau- gewinnbringenden biographischen Ansatz, en, die in überwiegender Zahl aus Osteuro- um Geschichte zu vermitteln, so wäre es pa kamen (87 %, bei den Männern waren beim Thema Frauen und Mädchen als Op- es 62 %).17 Die von den Nationalsozialisten fer nationalsozialistischer Verfolgung auch vorgenommene rassistische und politisch- gut, über die, wenn auch noch so geringen ideologische Einteilung der einzelnen Aus- Handlungsspielräume der Verfolgten und ländergruppen korrespondierte mit dem Geschundenen zu erzählen; die Person ge- wachsenden Frauenanteil. Bei den zivilen rade nicht einfach als „Jüdin“, „Zigeunerin“, Kräften aus der damaligen Sowjetunion lag „Asoziale“ zu klassifizieren (und damit die der Frauenanteil bei über 50 Prozent, beim Stigmatisierung der Nazis gewissermaßen Bündnispartner Ungarn bei lediglich 3 % – unfreiwillig mit zu reproduzieren). Vielmehr ein Phänomen, das, nach Cordula Tollmien, könnte es in der Erinnerung darum gehen, mit dem rassistischen Menschenbild der sie soweit wie möglich in einem Beziehungs- Nationalsozialisten und den behaupteten geflecht darzustellen (Familie, Freunde, Hierarchien in der Wertigkeit korrespon- Helfende, Verfolger, Profiteure, etc.). [vgl. dierte. z.B. hier die Online-Ausstellung www.dubi- Ein spezielles, bis heute nur wenig beachte- standers.de,16] tes Thema ist das der „Kinder von Zwangs- Pädagogisch ist neben einem biographischen arbeiterinnen“. Im Internet existiert eine Ansatz auch eine regionalgeschichtliche An- Datenbank mit über 400 Einträgen wo Ent- bindung sinnvoll. Welche Orte kennen Sie bindungs- oder Säuglingslager bestanden, in ihrer Gegend, in denen auch Frauen und bzw. mit Spuren zu Säuglingsgräbern oder Mädchen eine Rolle spielten? Meist genügt Zeitzeuginnenberichte, die eine weitere Er- heutzutage eine erste Recherche im Inter- forschung erfordern.18 net, um Hinweise und sogar Materialien zu Die Beispiele von Handlungsräumen von erhalten. Frauen während des Ersten und des Zweiten Zum Beispiel lassen sich beim Thema Weltkriegs mögen genügen, um deutlich zu „Frauen und Zwangsarbeit“ ¬noch viele un- machen, wie vielfältig die Rollen von Frauen terbelichtete Aspekte ortsbezogen vermit- und damit auch die Verflechtungsgeschichte teln und erforschen. Nach Ulrich Herberts 17 Vgl. Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Aus- Studien zum Thema „Fremdarbeiter“ und länder-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, „Ausländer-Einsatz“ in der Kriegswirtschaft, Dietz-Verlag Berlin-Bonn 1985, S. 271. lag die Zahl der registrierten ausländischen 18 Vgl. http://www.krieggegenkinder.de; weitere Informationen Zivilarbeiter*innen im August 1944 bei zu Zwangsarbeiterinnen und ihren Kindern finden sich auf der 16 Hrsg. Von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Eu- Webseite der Historikerin Cordula Tollmien unter http://www. ropas, Redaktion: Nadja Grintzewitsch, Constanze Jaiser, Julia cordula-tollmien.de/zwangsarbeiterinnen.html (letzter Zugriff: Radtke, vgl. www.dubistanders.de. 19.12.2020). Magazin vom 24.02.2021 9
Zur Diskussion von Kriegs- und Heimatfront waren. Mit Fotos, Dokumenten, Zeug*innen- aussagen oder eigenen Entdeckungen in Über die Autorin Stadt- und Firmenarchiven lässt sich die Er- Dr. Constanze Jaiser arbeitet als Leiterin innerungskultur da sicherlich noch um inte- des Projekts zeitlupe. Stadt. Geschichte & ressante Aspekte bereichern. Biographische Erinnerung bei der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) und regionalgeschichtliche Ansätze sind aus Mecklenburg-Vorpommern. meiner Sicht nach wie vor gut geeignet, um in ein Thema zu führen. Bedeutsam scheint mir daneben aber auch, methodisch-didak- tische Wege zu gehen, bei denen einerseits „Geschichte spannend erzählt wird“, ande- rerseits ausreichend Möglichkeiten gegeben werden, verschiedene Perspektiven kennen- zulernen und eine eigene Werteklärung zu erreichen. Die Neigung zu Heroisierung (= männlich) und Viktimisierung (= weiblich), die in der Erinnerung an Kriege auch auf internatio- naler Ebene zu beobachten ist, gilt es immer wieder neu zu unterwandern. Solchen (ste- reo)typisierenden geschlechtsspezifischen Geschichtsbildern sollte mit Gegen-Bildern begegnet werden, um eine Reflexion anzure- gen über Fragen nach dem Wie und Warum dieser Art von Erinnerungen. Magazin vom 24.02.2021 10
Zur Diskussion Frauen in Ravensbrück – Zentrum der Frauenforschung. (vgl. Sachse geschlechterhistorische 1997:31 sowie Lanwerd & Stoehr 2007: 47) Perspektiven In der Tat hat die Ravensbrück-Forschung Anfang der 1990er Jahre einen Höhenflug Von Insa Eschebach begonnen und vieles ist seither geschehen. Annika Bremell, Überlebende des Frauen- Diese Entwicklung ist wesentlich von der Konzentrationslagers Ravensbrück, berich- historischen Frauen- und Geschlechterfor- tet 2006 rückblickend Folgendes: Im April schung befördert worden. Sie wurde aber 1945, als sie zum letzten Mal Appell stehen auch begünstigt von der nationalen wie in- musste, öffnete sich plötzlich das Lagertor ternationalen Historiographie, die Konzen- und „wunderschöne junge Männer“ kamen trationslager jahrzehntelang als randstän- herein, gekleidet in Uniformen des Schwe- diges Phänomen betrachtet hatte, sich aber dischen Roten Kreuzes. Es handelte sich um seit den 1990er Jahren zunehmend auch der die Busfahrer, die die Frauen nach Skandi- nationalsozialistischen Lagerwelt zuwendet. navien evakuieren würden. Annika Bremell, Gleichwohl bleibt es im Grunde erstaunlich, wie viele ihrer Mithäftlinge mehrfach kahl- dass sich bei der Frage nach dem Geschlecht geschoren, beschrieb, wie in diesem Augen- der Blick stets erneut auf Ravensbrück rich- blick ihre Hand spontan „nach oben ging“, tet. Als ob das Frauen-Konzentrationsla- um zu kontrollieren, ob ihre Haare säßen. ger an sich schon auf die Existenz von Ge- Und als sie diese Geste selbst bemerkte, schlechterverhältnissen verweise, während habe sie gedacht, sie sei eben doch immer Lager für Männer für das Menschlich-Allge- noch eine Frau, der es wichtig sei, wie sie für meine zu stehen scheinen. Diese Asymme- diese Männer aussehe. trie hatte Simone de Beauvoir im Blick, als Matthias Heyl, pädagogischer Leiter der Ge- sie – wie später auch beispielsweise Pierre denkstätte Ravensbrück, erzählt diese Ge- Bourdieu, George L. Mosse, Judith Butler schichte gelegentlich bei Führungen, wenn – 1949 argumentierte: Die männliche Ge- die Gruppen den ehemaligen Appellplatz, schlechtsidentität gehe mit der Vorstellung das Lagertor in Sichtweite, erreicht haben. des Allgemeinen oder auch Universalen Es geschieht, dass ihm beim Erzählen nun einher, während das Weibliche, wenn über- seinerseits seine Hand illustrierend „nach haupt, dann stets explizit charakterisiert oben“ geht. Gelingt ihm diese feminine Ges- werden müsse (de Beauvoir 1972: 12): „Wie te gut, berichtet er (Heyl 2015), kann es sein, kommt es,“ schreibt sie, „dass zwischen den dass er bei manchen Jungen auf eine gewis- Geschlechtern […] Wechselseitigkeit nicht se Abwehr trifft. Spontane Kommentare wie hergestellt worden ist, dass der eine der bei- „voll schwul“ seien aus dem Off zu hören. den Begriffe sich als der allein wesentliche Seit der deutschen Vereinigung steht das behauptet hat und mit Bezug auf seinen Ge- Konzentrationslager Ravensbrück im genbegriff jede Relativität ablehnt, indem Magazin vom 24.02.2021 11
Zur Diskussion er diesen schlechthin als ‚das Andere’ defi- dem Zweiten Weltkrieg Geborenen. Schon niert?“ die Überlebenden versuchten mit ihrer Ver- bandspolitik nach 1945, mit dem auf ein Noch in der Kennzeichnung der Konzent- reines Frauenlager verkürzten Ravensbrück rationslager zeigt sich der Bedarf expliziter „eines der wenigen Terrains zu behaupten, Charakterisierung: Als „FKL“, so die histori- in dem sie ohne männliche Dominanz tätig sche Abkürzung, unterschied sich das „Frau- sein konnten“. Susan Hogervorst weist dar- en-Konzentrationslager“ von den „KL“, den auf hin, dass die Frauen „ihr“ Ravensbrück Konzentrationslagern, die keines weiteren hatten, während sich die Männer unter den geschlechtsspezifischen Ergänzungsbuch- Namen anderer Lager organisierten (Ho- stabens bedurften, weil sie für Männer gervorst 2008: 214). Auch die Gedenkstätte waren. Während mit der männlichen Ge- Ravensbrück heute wird immer wieder als schlechtsidentität das Allgemeine par ex- „Ort der Frauen“ wahrgenommen und ist in cellence angesprochen ist, sind Frauen im dieser Bedeutung zentraler Referenzpunkt Wesentlichen mittels ihres Geschlechts de- geschlechterhistorischer und feministischer finiert. So bleibt auch Ravensbrück ein Son- Initiativen. derfall im System nationalsozialistischer Konzentrationslager wie auch im bundes- Für das Frauen-Konzentrationslager Ra- deutschen Netz der KZ-Gedenkstätten: Ein vensbrück als ein Schauplatz des Ausschlus- Zusatz, ein Außerdem, ein Die-gibt-es-ja- ses, extremer sozialer Kontrolle und Gewalt auch-noch. ist die Kategorie Geschlecht in mehrfacher Hinsicht von zentraler Bedeutung: Die – andauernde – Asymmetrie der Ge- schlechter ist vermutlich ein Grund dafür, Erstens hinsichtlich der Geschlechterpolitik warum die Thematisierung der Geschich- des „Dritten Reiches“, die sich sowohl in den te des Frauen-Konzentrationslagers stets Organisationsstrukturen des SS-Personals erneut mit Forderungen nach vermehrter und der geschlechtsspezifischen Konzepti- politischer, religiöser und/oder sozialer on und Betreibung des Lagers manifestiert, Teilhabe von Frauen verknüpft wird. Sozi- als auch in der Konstruktion sozial, poli- ale Bewegungen konstituieren und legiti- tisch und rassistisch definierter Feindbilder. mieren sich selbst, indem sie sich eine ei- Misogynie, Homophobie und Konstruktio- gene Geschichte geben. Dementsprechend nen devianter Weiblichkeit sind in der Ge- wird auch Ravensbrück immer wieder aus schichte dieses Lagers ohne Ende aufzufin- identitätspolitischen Interessen heraus in den. Um nur ein Beispiel zu nennen: Für die Anspruch genommen: Die Geschichte der strafrechtliche Verfolgung von Frauen im „Frauen von Ravensbrück“ wird häufig als Nationalsozialismus und damit auch für die Vorgeschichte des eigenen politischen, so- NS-Geschlechterpolitik waren mindestens zialen oder auch religiösen Handelns wahr- vier Maßnahmen symptomatisch: Die No- genommen. Dies gilt nicht nur für die nach vellierung des Abtreibungsparagrafen, das Magazin vom 24.02.2021 12
Zur Diskussion „Blutschutzgesetz“, die „Wehrkraftschutz- von Ausstellungen und Gedenkräumen, verordnung“ vom November 1939 sowie die der Dramaturgie öffentlicher Gedenkfeiern „Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und der Ravensbrück-Filme, sei es das Feld und Mutterschaft“ vom März 1943 (Roth der Memoirenliteratur, der politischen Re- 2009: 109–140). Die entsprechenden Straf- den und der nationalen wie internationalen prozessakten der in Ravensbrück inhaftier- Verbandsgeschichte. ten Frauen dokumentieren Bilder vermeint- Last but not least spielt die Kategorie Ge- lich minderwertiger – und deshalb häufig schlecht eine zentrale Rolle in der Bildungs- auch sexualisierter - Weiblichkeit im „Drit- arbeit der Gedenkstätte, die von Haus aus ten Reich“ in Fülle. mit einer schwierigen Erwartungshaltung Geschlechterhistorische Untersuchungsan- konfrontiert ist: Der Erwartung nämlich, sätze sind aber auch zentral für Studien zur der Gedenkstättenbesuch Jugendlicher „Häftlingsgesellschaft“ (Maja Suderland) im könne diesen zu einer „Marienerschei- weitesten Sinn: Seien es Themenfelder wie nung“ verhelfen (Heyl 2005), so als stünde die der Häftlingsgruppen, der Verfolgungs- an „moralisch hoch aufgeladenen Geden- kontexte und der Biografien oder Unter- korten“ wie Ravensbrück, gewissermaßen suchungen über die Lagergeschichte, über am „Tiefpunkt der Zivilisation die Orien- Zwangsarbeit, kulturelle und soziale Praxen, tierung für das richtige und angemessene Repressionsmaßnahmen bis hin zu Hinrich- Verhalten zur Verfügung“, wie Astrid Mes- tungspraktiken, die ohne die Kategorie Ge- serschmidt schreibt (Messerschmidt 2016: schlecht nicht adäquat zu fassen sind. 32). „Kritische Erinnerungsbildung“, fährt Hinzu kommt – drittens – die Nachge- sie fort, kann „keine ungebrochenen Bezie- schichte: „Seit der kulturalistischen Wen- hungen zwischen den NS-Verbrechen und de“, so Carola Sachse, dominiere in den der Gegenwart herstellen, jedoch auf Ver- geschlechterhistorischen Arbeiten zum Na- wandtschaften zu heutigem Denken und zu tionalsozialismus „die Auseinandersetzung heutigen gesellschaftlichen Praktiken auf- mit Geschlechterbildern und Formen der merksam machen.“ Dass ideologische Mus- Sexualisierung, die in den vergangenheits- ter, rassistische Zugehörigkeitsphantasmen politischen Bearbeitungen des National- und tradierte Geschlechterbilder fortwirken sozialismus, seinen geschichtspolitischen können, ist bekannt. Wie die eingangs er- Repräsentationen und den Inszenierungen zählte Geschichte von Annika Bremell und von Erinnerung und Gedenken identifiziert Matthias Heyl deutlich macht, ist Ravens- werden konnten.“ (Sachse 2012: 7). In der brück ohne Gendersensibilität nicht denk- Tat ist auch dieser Untersuchungsansatz bar. für die Nachgeschichte von Ravensbrück ausgesprochen ergiebig, sei es auf dem Feld der Denkmalskunst, der Konzeption Magazin vom 24.02.2021 13
Zur Diskussion Literatur Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschun- gen, Innsbruck, Wien, Bozen 2007, S. 22-68. Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, übersetzt von Eva Re- Astrid Messerschmidt, Postkoloniale Selbstbil- chel-Mertens, Reinbek bei Hamburg 1972. der in der postnationalsozialistischen Gesell- schaft, in: FKW// Zeitschrift für Geschlech- Matthias Heyl, Erziehung nach Auschwitz, In- terforschung und visuelle Kultur, 59/2016, S. terview zum Gedenktag für die Opfer des Nati- 024-037. onalsozialismus, 19. Januar 2005. Thomas Roth, „Gestrauchelte Frauen“ und „un- Matthias Heyl, Gender als Kategorie in der verbesserliche Weibspersonen“: Zum Stellen- gedenkstättenpädagogischen Praxis der Ge- wert der Kategorie Geschlecht in der nationalso- denkstätte Ravensbrück – ein Werkstatttext, zialistischen Strafrechtspflege, in: Elke Frietsch/ in: Annette Dietrich und Ljiljana Heise (Hg.), Christina Herkommer (Hrsg.), Nationalsozialis- Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozi- mus und Geschlecht. Zur Politisierung und Äs- alismus. Formen, Funktionen und Wirkungs- thetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexuali- macht von Geschlechterkonstruktionen im tät im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der 2009, S. 109–140. pädagogischen Praxis. Frankfurt am Main 2015, S. 275-284. Carola Sachse, Frauenforschung zum National- sozialismus. Debatten, Topoi und Ergebnisse Insa Eschebach, Zur Einleitung: Kontexte und seit 1976, in: Mittelweg 36, H. 2/1997, S. 24-36. Entwicklungen der Ravensbrück-Forschung, in: Dies. (Hg.), Das Frauen-Konzentrationslager Carola Sachse, Wissenschaft und Geschlecht in Ravensbrück. Neue Beiträge zur Geschichte und der NS-Medizin. Überlegungen zur Verbindung Nachgeschichte. Berlin 2014, S. 7-27. wissenschafts- und geschlechterhistorischer Untersuchungsansätze, in: Insa Eschebach und Susan Hogervorst, Erinnerungskulturen und Astrid Ley (Hg.), Geschlecht und „Rasse“ in der Geschichtsschreibung. Das Beispiel Ravens- NS-Medizin. Berlin 2012, S. 7-16. brück, in: Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, hrsg. v. Katharina Stengel (Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts, Bd. 12, Frankfurt a.M. 2008), S. 197–215. Susanne Lanwerd, Irene Stoehr, Frauen – und Über die Autorin Geschlechterforschung zum Nationalsozialis- Dr. Insa Eschebach ist Lehrbeauftragte am mus seit den 1970er Jahren. Forschungsstand, Institut für Religionswissenschaft der FU Berlin und freie Publizistin. Von 2005 bis 2020 war sie Veränderungen, Perspektiven, in: Johanna Geh- Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung macher, Gabriella Hauch (Hg.), Frauen- und Ge- Brandenburgische Gedenkstätten. schlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Magazin vom 24.02.2021 14
Zur Diskussion Detailliert, vielfältig und Als das Frauenlager in Birkenau im Herbst unmittelbar: Vergessene, 1944 sukzessive verkleinert wurde, teilte die frühe Zeugnisse weiblicher SS Anna Haas einem Transport von 1.000 Überlebender Frauen zu, der in das Außenlager Kurzbach im östlichen Niederschlesien gebracht wur- Von Andrea Rudorff de, das unter der Verwaltung des Konzen- Am 27. März 1945, sechs Wochen vor dem trationslagers Groß-Rosen stand. In einer Ende des Zweiten Weltkriegs, gab die 19-jäh- Scheune untergebracht, mussten die Frauen rige Jüdin Anna Haas im „Haus der Flücht- dort bei Regen, Wind und Frost Panzergrä- linge“ in Bukarest zu Protokoll, was ihr in ben ausheben, die die östliche Reichsgrenze den letzten zwölf Monaten passiert war. vor dem Einmarsch der Roten Armee schüt- Etwa ein Jahr zuvor hatte sie in ihrer Hei- zen sollte. Als die Front bereits sehr nahe matstadt Cluj in Siebenbürgen das Abitur war, trieb die SS die Frauen im Januar 1945 abgelegt. Kurz darauf begann die Ghettoi- zu Fuß zunächst ins Stammlager Groß-Ro- sierung der jüdischen Bevölkerung aus den sen. Wegen Trunkenheit der Begleitmann- ungarisch besetzten Gebieten Rumäniens. schaften gelang ihr dort die Flucht. Fernab Anna Haas wurde mit ihrer Familie und 18 der Heimat und ohne Ortskenntnis kehrte 000 jüdischen Einwohner*innen von Cluj sie zunächst an den Ort ihrer Gefangen- in die städtische Ziegelei gepfercht, wo sie schaft, in die Nähe des Außenlagers Kurz- unter freiem Himmel, auf der bloßen Erde, bach zurück. Einen Tag lang versteckte sie nächtigen mussten. Drei Wochen später sich in einem „polnischen Wirtshaus“, dann wurden sie von dort nach Auschwitz-Birke- marschierte die Rote Armee ein. Nach ei- nau abtransportiert. Bei der Ankunft an der ner Odyssee über Częstochowa, Kraków, Rampe von Birkenau stuften SS und Lager- Tarnów, Przemyśl, Lemberg und Kolomy- ärzte Anna als „arbeitsfähig“ ein. Sie wurde ja gelang es ihr sich bis Bukarest durchzu- Häftling im Lager und entging auf diese Wei- schlagen. se dem grausamen Tod in der Gaskammer. Dort hatte die Hilfsorganisation Joint Dis- Schon bald arbeitete sie als Läuferin für das tribution Committee im „Haus der Flücht- Krankenrevier, später wurde sie Schreiberin linge“ in der Calea Moșilor-Straße 128 einen im Block für Infektionskrankheiten. Dort Anlaufpunkt für Holocaust-Überlebende sah sie täglich, wie kranke Häftlinge für den eingerichtet, die in der Stadt eintrafen. In Tod in der Gaskammer ausgewählt wurden: der Regel hofften sie, eine Weiterreise nach „Die einzige Aufgabe des Spitals war es, die Palästina organisieren zu können. Sie er- Kranken hereinzulocken und je mehr Men- hielten Unterstützung und wurden gleich- schen zu verbrennen. Es kam vor, dass man zeitig gebeten, ihre Verfolgungsgeschich- auf einmal hundertzwanzig bis hundertfünf- te zu erzählen, die schriftlich festgehalten zig Frauen wegführte. Natürlich wären sie wurde. Am Ende der Schilderung notierten zu heilen gewesen.“ Magazin vom 24.02.2021 15
Zur Diskussion die Protokollant*innen die Namen von An- Viele von ihnen hatten, wie Anna Haas, die gehörigen und Bekannten, mit denen die letzte Kriegsphase in KZ-Außenlagern über- Berichtenden gemeinsam deportiert worden lebt. Der Anteil von jungen Frauen in dieser waren und von deren Schicksal sie zu die- Gruppe war hoch: ein Grund lag darin, dass sem Zeitpunkt meist nichts wussten, aber mit den Deportationen jüdischer Bevölke- Schlimmes ahnten. Beim Durchstöbern rung aus Ungarn und den ungarisch besetz- der Aussagen fällt auf, wie viele Überleben- ten Gebieten Rumäniens und der Tsche- de schon zu diesem frühen Zeitpunkt, im choslowakei seit Mai 1944 besonders viele Frühjahr und Sommer 1945, Befürchtungen Frauen nach Auschwitz-Birkenau kamen, da äußerten, mit ihren Berichten über die Ver- ein Großteil der ungarischen jüdischen Män- brechen zu langweilen und Altbekanntes zu ner – nämlich diejenigen, die die ungarische wiederholen. Armee zur Zwangsarbeit einsetzte – von den Deportationen ausgenommen war. Diese Anna Haas` vierseitiger Bericht wurde un- Frauen wurden nun verstärkt zu Arbeitsein- ter der Protokollnummer 35 abgelegt. Nüch- satzzwecken an die deutsche Rüstungsin- tern schildert sie darin von dem Erlebten, dustrie verteilt. Dies führte zwischenzeitlich nennt Namen von Tätern und Mitgefange- zu Irritationen bei der SS, im Rüstungsmi- nen. Eine Leerstelle bleibt das Schicksal ih- nisterium und in den Unternehmen, die sich rer Eltern und ihrer siebenjähriger Schwes- mehr junge Männer als Zwangsarbeitskräfte ter Maria, die vermutlich bereits während erhofft hatten. Schon bald jedoch gehörte der Eingangsselektion an der Rampe als der Einsatz von weiblichen KZ-Häftlingen „arbeitsunfähig“ eingestuft und in der Gas- in der deutschen Industrie oder bei Schanz- kammer ermordet wurden. arbeiten zur Normalität in Deutschen Reich. Anna Haas muss vom fabrikmäßigen Mord Im Januar 1945 waren 200.000 Frauen im berichten, zu einem Zeitpunkt, als es noch KZ-System gefangen: Ein Großteil von ih- keinen Namen dafür gibt. Sie muss, wie viele nen lebte in Außenlagern. andere, neue, eigene Begriffe für das Unsag- Forschungen haben ergeben, dass die bare finden. So beginnt sie die Beschreibung Sterblichkeit von weiblichen Häftlingen vom Lager Auschwitz-Birkenau mit den in den Außenlagern der Rüstungsindust- Worten: „Auschwitz macht im ersten Au- rie weitaus niedriger lag als die von Män- genblick den Eindruck eines Narrenhauses. nern. Die größte Gefahr für die jungen Es ist die Erfindung eines kranken phanta- Frauen und Mädchen entstand im Mo- sievollen Gehirns, gründlich und präzis aus- ment der Lagerräumungen. Im Januar gearbeitet und durchgeführt.“ 1945 begannen die Todesmärsche aus den Tausende von jungen Jüdinnen legten be- Lagern in den östlichen Teilen des Deut- reits vor Kriegsende oder unmittelbar schen Reichs, in denen sich Außenlager von danach Zeugnis von ihrer Verfolgung ab. Stutthof und Groß-Rosen befanden. Diesen Magazin vom 24.02.2021 16
Zur Diskussion Gewaltmärschen bei starkem Frost fielen sammelte. Auch in DP-Lagern entstanden viele Frauen zum Opfer. Sie verhungerten, umfangreiche Projekte zur Dokumentation erfroren oder wurden von den Begleitmann- der Erfahrungen von Überlebenden, darun- schaften erschossen, weil sie nicht schnell ter die einzigartigen Tonbandprotokolle, die genug liefen. Gleichzeitig erleichterte der der Psychologieprofessor David P. Boder im Umstand, dass auch die deutsche Bevölke- August 1946 aufnahm. rung aus diesen Regionen floh, den Frauen In den letzten Jahrzehnten stieg sowohl in und Mädchen die Möglichkeiten zu einer Deutschland als auch an den heute polni- Flucht. Leerstehende Häuser und Scheu- schen Standorten ehemaliger KZ-Außenla- nen boten Unterschlupf und in manchen ger das Interesse an der Geschichte dieser Küchen, Kammern und Kellern fanden sich Lager, die in fast jeder Stadt und in vielen gefüllte Lebensmittelmagazine. Niemand Gemeinden errichtet worden waren. Initi- war da, um sie zu bewachen und geflohene ativen setzten sich zum Ziel, Spuren zu su- KZ-Häftlinge den Behörden zu melden. An- chen und etwas über die Häftlinge und ihre gesichts der großen Gefahr, auf dem Todes- Leidenszeit in Erfahrung zu bringen. Sie marsch umzukommen, entschlossen sich suchen nach Berichten von Überlebenden, etliche Frauen und Mädchen, das Risiko ei- da erst die Verbindung mit konkreten Bio- ner Flucht einzugehen. Sie schlugen sich auf graphien die Geschichte anschaulich und oftmals abenteuerliche Weise in die befrei- vermittelbar macht. Die Bekanntheit und ten Gebiete durch. Dort fanden sie Unter- Zugänglichkeit gerade der frühen Quellen stützung bei jüdischen Hilfsorganisationen. ist jedoch bisher so eingeschränkt, dass In der Regel wurden dort die Erfahrungen Geschichtsaktivist*innen oftmals nicht ein- der Überlebenden schriftlich festgehalten. mal ahnen, wie viele frühe Berichte über das So bildeten sich in vielen Städten Polens jü- entsprechende Lager in Archiven schlum- dische Kommissionen, die rund 7.200 Be- mern. Zwar schreitet die Digitalisierung richte protokollierten. Die ungarische De- vieler Bestände voran und immer mehr portiertenfürsorge in Budapest sammelte werden im Internet zugänglich. Der Bericht seit Frühsommer 1945 bis zum April 1946 von Anna Haas jedoch liegt zusammen mit rund 4000 Berichte. Auch in vielen anderen 800 weiteren Berichten aus dem Bukares- europäischen Staaten bildeten sich ähnliche ter „Haus der Flüchtlinge“, die alle aus dem Initiativen. Um beispielsweise die Erfah- Zeitraum Frühjahr bis Herbst 1945 stam- rungen der 20 000 Konzentrationslager- men, in einem kleinen Archiv des Pinkas La- Überlebenden zu dokumentieren, die nach von Instituts im Norden von Tel Aviv. Auf- dem Krieg zur Erholung nach Schweden grund ihrer schweren Zugänglichkeit sind gebracht worden waren, gründete Zygmunt sie wissenschaftlich kaum ausgewertet. Łakociński in Lund das Polish Research Viele Überlebenden äußerten in ihren Institute, das mehrere hundert Berichte letzten Lebensjahren die Befürchtung, dass Magazin vom 24.02.2021 17
Zur Diskussion ihre Erfahrungen und ihre Perspektive auf Frühe Berichtesammlungen das Geschehene in Vergessenheit geraten (Auswahl) könnte. Gedenkstätten und Erinnerungs- Protokolle aus dem Haus der Flüchtlinge in initiativen arbeiten daran, dass dies nicht Bukarest, Archiv des Lavon-Instituts for La- geschieht. Es bedarf gemeinsamer Anstren- bour Research, Tel Aviv, Bestand L VII-123 gungen von Archiven, Historiker*innen (digitalisiert im Archiv des United States und Geschichtsaktivist*innen über Länder- Holocaust Memorial Museum, RG-68151M). grenzen hinweg, um vergessene Bestände Protokolle der Jüdischen Kommissionen mit frühen Erlebnisprotokollen durch die in Polen, Żydowski Instytut Historyczny, Erstellung von Findbüchern, Orts- und La- Warszawa, Bestand 301 (digitalisiert, nicht gerregistern sowie Digitalisaten und Über- online abrufbar, publiziertes Findbuch: setzungen zugänglicher zu machen. Die Marek Jóźwik (Hrsg.), Holocaust Survivors Stimmen der Überlebenden sollten an den Testimonies Catalogue, 7 Bände, Warszawa Orten ihrer Leidenserfahrungen gehört wer- 1998-2011 sowie PDF-Findbuch auf der Sei- den. te des Żydowski Instytut Historyczny und im Katalog des United States Holocaust Me- morial Museum). Protokolle der Deportiertenfürsorge in Bu- dapest (DEGOB), Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár (www.degob.org bzw. www.degob. hu und teilweise im Online-Archiv von Yad Vashem, Bestand O.15). Protokolle des Polish Research Institute in der Lund University Library, teilweise on- line unter www.alvin-portal.org. Tonbandaufnahmen von David P. Boder, „Voices of the Holocaust“, temporär über folgende Plattform abrufbar: https://iit.avi- aryplatform.com/collections/231. Volltexte von derzeit 135 deutschsprachigen frühen Berichten der Lagerliteratur, Uni- versitätsbibliothek Gießen: https://digisam. ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-fhl. Magazin vom 24.02.2021 18
Zur Diskussion Literatur (Auswahl) Frank Beer/Markus Roth (Hrsg.), Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift „Fun let- stn churn“ der Jüdischen Historischen Kom- Über die Autorin mission München 1946-1948, Berlin 2020. Dr. Andrea Rudorff ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Fritz Bauer Instituts im Regina Fritz/Éva Kovács/Béla Rásky Projekt »Polnische Strafverfahren gegen (Hrsg.), Als der Holocaust noch keinen Na- Angehörige der Lagerbesatzung von Auschwitz- Birkenau«. Zuvor arbeitete sie im Projekt »Die men hatte: zur frühen Aufarbeitung des NS- Geschichte des Konzentrationslagers Katzbach, Massenmords an den Juden, Wien 2016. Frankfurt am Main« und war Bearbeiterin des Bands 16 der Edition »Die Verfolgung und Laura Jockusch, Collect and record! Jewish Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945« Holocaust documentation in early postwar des Instituts für Zeitgeschichte München/Berlin. Europe, Oxford 2012. Andrea Rudorff/Claus Füllberg-Stolberg, Geschlechtsspezifische Mortalitätsraten in Konzentrationslagern. Ursachen, Interpre- tationen, Wahrnehmung, in: Janine Doer- ry/Thomas Kubetzky/Katja Seybold (Hrsg.), Das soziale Gedächtnis und die Gemein- schaften der Überlebenden. Bergen-Belsen in vergleichender Perspektive, Göttingen 2014, S. 35-48. Andrea Rudorff, Frauen in den Außenlagern des Konzentrationslagers Groß-Rosen, Ber- lin 2014. Magazin vom 24.02.2021 19
Zur Diskussion Rotarmistin, Kriegsgefangene, Dreifach beschwiegen Widerständlerin – und Die Erfahrungen von Antonina Konjakina- Aktivistin: die Ärztin Trofimowa, die mit schwerwiegenden ge- Antonina Konjakina-Trofimowa sundheitlichen Problemen aus Deutsch- (1914-2004) land zurückkehrt war, wurden aus weiteren Eine Biografie aus der neuen Online- Gründen beschwiegen: Obwohl Stalin schon Ausstellung „An Unrecht erinnern. unmittelbar nach dem Überfall auf die So- Auf den Spuren sowjetischer wjetunion am 22. Juni 1941 Frauen für den Kriegsgefangener“ Dienst in der Roten Armee angeworben und später auch zwangsweise mobilisiert hat- Von Ruth Preusse und Katja Seybold te (und damit die einzige Kriegspartei mit Im Oktober 1941 geriet die Zahnärztin Anto- Frauen in der kämpfenden Truppe schuf), nina Konjakina als Teil einer Sanitätskolon- wurden diese im offiziellen Erinnern von ne der Roten Armee in deutsche Kriegsge- Anfang an marginalisiert. Die Heldenvereh- fangenschaft. Sie überlebte die kommenden rung mit Paraden, großen Denkmälern und Jahre trotz der systematischen und rassis- Zeremonien war eindeutig männlich kon- tisch motivierten Unterversorgung durch notiert. Nur einzelne Frauen schafften es, die Wehrmacht. Nach Ende des Zweiten durch spektakuläre Einsätze, Angriffe oder Weltkriegs musste sie jedoch feststellen, Rettungsaktionen im Kampf als „Held der dass es in der sowjetischen Nachkriegsge- Sowjetunion“ (sic!) ausgezeichnet zu wer- sellschaft keinen Raum für Lebensgeschich- den. Die Mehrheit der Rotarmistinnen wur- ten wie die ihre gab und geben sollte. de nach dem Krieg aus der Armee entlassen Stalin wollte die Sieger*innen und und ihr Einsatz fortan nicht mehr erwähnt. Held*innen feiern und die Bevölkerung so Darüber hinaus hatte die Medizinerin Din- über die Millionen Toten hinwegtrösten. ge getan und erlebt, die für uns heute zwar Wer in Kriegsgefangenschaft geraten war, eindeutig mutig und dem eigenen Land galt schlimmstenfalls als Verräter*in, bes- gegenüber solidarisch erscheinen, damals tenfalls als feige. Für die offizielle Erinne- aber bei den sowjetischen Behörden vor rungskultur waren diese Männer und Frau- allem Misstrauen erzeugten: Sie war Teil en in jedem Fall ungeeignet. Weder die etwa einer Widerstandsgruppe im Kriegsgefan- 3,3 Millionen Menschen, die in deutscher genen-Mannschafts-Stammlager (Stalag) Gefangenschaft aufgrund gezielter Morde XI C (311) Bergen-Belsen gewesen. Überle- und Verelendung den Tod fanden, noch die benden, die sich „im Ausland aufgehalten Überlebenden dieser Torturen wurden ge- hatten“, wurde von offiziellen Stellen bei würdigt, jahrzehntelang. ihrer Rückkehr regelmäßig unterstellt, mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Muss- te das nicht besonders für solche gelten, Magazin vom 24.02.2021 20
Zur Diskussion die behaupteten, ein ganzes Netzwerk von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Widerständler*innen aufgebaut zu haben? Wannsee-Konferenz und MEMORIAL In- ternational Moskau will einen Beitrag dazu Doch Antonina Konjakina-Trofimowa wollte leisten, dieses Thema sichtbarer zu machen. sich mit dieser Art der Kriegserzählung und In Kooperation mit einer ganzen Reihe wei- -erinnerung nicht abfinden. Als Frührentne- terer Gedenkstätten und Initiativen, darun- rin engagierte sie sich ab 1961 bis zu ihrem ter auch der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Tod als Zeitzeugin im Sowjetischen Komi- wurde eine auf ein jugendliches Publikum tee für Kriegsveteranen (SKKV). Sie kämpf- zugeschnittene deutsch-russische Online- te dafür, auch die Geschichte der Frauen Ausstellung entwickelt. Unter www.un- in der Roten Armee, der Kriegsgefangenen recht-erinnern.info finden sich Biografien, und der Widerständler*innen zu einem Teil Themen- und Ortstexte, die in leicht ver- der post-stalinistischen Erinnerungskultur ständlicher Sprache nicht nur über die Ge- zum Zweiten Weltkrieg werden zu lassen. schichte der sowjetischen Kriegsgefangenen Ihr Erfolg, so muss man heute konstatieren, während des Krieges aufklären. Ganz zent- war nicht sehr nachhaltig. Heute dominiert ral geht es auch um den Umgang mit dieser in Russland wieder die Heldenerzählung in Geschichte nach 1945 in beiden deutschen der Erinnerung an den „Großen Vaterländi- Staaten und der Sowjetunion bzw. dem wie- schen Krieg“. Kriegsgefangene Frauen tau- dervereinten Deutschland und Russland, chen allenfalls in Zusammenhang mit Akti- der Ukraine und Belarus. Schüler*innen vitäten der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück sollen dazu angeregt werden, über Erinne- auf, wo sie innerhalb der Häftlingsgesell- rungskultur nachzudenken: Wer trägt bei schaft einen besonderen Platz einnahmen. und wieso, welche Funktionen soll sie er- Die Online-Ausstellung füllen? Auch die Geschichte von Antonina „An Unrecht erinnern“ Konjakina-Trofimowa wird hier erzählt. In Deutschland sind die Verbrechen an den Ein Leben in einem sowjetischen Kriegsgefangenen zu keiner bewegten Jahrhundert Zeit von der breiten Öffentlichkeit wirklich Antonina Konjakina wurde am 14. März 1914 wahrgenommen worden, obwohl sich eine in der Nähe von Zarizyn geboren. Zu ihren kleine und sehr engagierte Gedenkstätten- Lebzeiten wurde diese Stadt zweimal um- szene zum Thema entwickelt hat. Der Ort benannt: 1925 in Stalingrad, 1961 in Wolgo- Bergen-Belsen beispielsweise ist bleibend grad. Seit einigen Jahren gibt es Initiativen, wegen des später eingerichteten Konzent- die fordern, wieder zu dem Namen zurück- rationslagers, nicht wegen des von 1940 bis zukehren, der so untrennbar mit der ersten, Januar 1945 existierenden Kriegsgefangen- verlust-, aber letztlich siegreichen Schlacht lagers bekannt. gegen die Deutschen verbunden ist: Stalin- Ein binationales Projekt unter Leitung grad. Auch hier geht es um Erinnerungskultur Magazin vom 24.02.2021 21
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